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#110 Costa concordia: die verneigung

Mordlust
Laura, wie geht es dir?
Wir haben uns zwar jetzt seit gerade mal zwei Tagen nicht mehr gesehen nach Neujahr, aber wie geht es dir?
Ich muss sagen, es läuft schlecht mit diesen Vorsätzen, aber auch, weil der erste Sonntag war.
Es ist komisch, an einem Sonntag mit etwas Neuem zu beginnen und es ist eigentlich unmöglich.
Aber da haben wir ja auch gesagt, das ist ja auch absurd, so funktioniert das ja auch nicht.
Der erste Tag des neuen Jahres war ja der Montag, also der zweite.
Ja, wir beide sind da uns einig, aber mein Mann und ich nicht.
Das heißt, gestern gab es Diskussionen am Abend.
Wurde geschrien und geweint.
Ich habe fast geweint, aber es kam dann zu einem Kompromiss.
Und ich habe mir Gemüsechips bestellt.
Und habt ihr White Lotus weitergeguckt?
Ja.
Laura und ihr Mann machen nämlich einen Screen Detox.
Screen Detox und Zucker Detox.
Und weil wir aber eben beschlossen haben, noch schnell diese Staffel White Lotus, die zweite halt zu beenden.
Das war eh klar, dass das noch am Ersten passiert.
Und da habe ich gedacht, ja gut, wenn man halt diese eine Sache jetzt am Ersten noch macht, dann kann man ja eigentlich auch noch Zucker dazu essen.
Aber es ist ja eh schon alles nicht geschafft.
Das wollte er aber nicht.
Und dann war der Kompromiss halt diese, damit ich irgendwas dabei essen kann, waren es halt dann diese Gemüsechips.
Und bei dir?
Also es hat sich nicht viel getan in den zwei Tagen, aber mir geht es jetzt gut.
Ich habe gefühlt noch ziemlich viel Ballast im letzten Jahr gelassen.
Was mir ein bisschen schwierig gefallen ist, weil gefühlt alles aus dem letzten Jahr in den letzten drei Monaten passiert ist.
Und davor war nur Tour und alles andere ist sonst irgendwie komplett verblurrt.
Ja.
Aber ich habe auf jeden Fall den 13. Oktober weitestgehend im letzten Jahr lassen können und darüber freue ich mich sehr.
Ich mich auch.
Der 13. Oktober hat nämlich noch so seine Nachwirkungen für Lauras und mein Zusammenleben gehabt.
Auch für den Podcast, auch für ein Privatleben.
Laura und ich waren nämlich im Oktober im Urlaub zusammen auf Hawaii und hatten da anderthalb Wochen eine tolle Zeit und waren dann surfen.
Und da hatte ich einen Unfall.
Da ist mir mein eigenes Surfbrett durch eine Welle gegen den Arm geschleudert worden.
Und da war gleich klar, irgendwas stimmt nicht.
Also sind wir dann ins Krankenhaus.
Aber die konnten da nicht wirklich was finden, was die Knochen angeht.
Aber was da schon klar war, ich habe irgendwie so Nervenschaden, weil meine Finger die ganze Zeit getanzt haben wie verrückt.
Und ich konnte halt den Arm vor Schmerzen auch nur in einer Position halten.
Ja.
Die Tage danach.
Und das hat uns natürlich den Urlaub total verkackt.
Also dafür, für das, was wir uns erhofft hatten, was wir da noch machen können.
Ja.
Die restliche Zeit, ja.
Weil Hawaii macht man halt ja auch nicht oft.
Und das tat natürlich dann irgendwie doppelt weh.
Aber du hast trotzdem noch vieles mitgemacht, wo ich richtig stolz drauf war.
Also, dass du dich da durchgebissen hast.
Also erstmal habe ich vier Tage ja nur geschlafen wegen dieser Morphium-Medikamente, die die mir da gegeben haben.
Aber ja, danach haben wir natürlich schon noch einige Sachen gemacht.
Wir hatten da ja auch noch ein Video gepostet, wie ich meinen Coffee-to-go auf meiner dicken Armschlinge da abstelle.
So von wegen, ha, ha, ha, lustig.
Und dann waren wir aber wieder zurück in Berlin und ich war bei meinem Hausarzt Malik, der sich den Arm angesehen hat.
Und dann meinte so, du, der Arm, der ist ja gelähmt.
Den kannst du ja gar nicht bewegen.
Also halt den Ellenbogen, der war also komplett ausgestreckt und ich konnte den nicht beugen.
Und dann denkst du ja schon so, ja, okay, ich habe den Arm ja auch die ganze Zeit still gehalten, einfach weil er so weh tat.
Aber ich habe auch gar nicht gemerkt, dass ich den gar nicht mehr bewegen kann.
Und dann bin ich von Spezialist zu Spezialistin getingelt, jeden Tag, damit mir mal jemand sagt, was ich denn jetzt da habe im Arm.
Weil so richtig sagen konnte das halt niemand.
Und als Kassenpatientin in Deutschland ist das halt echt nicht feierlich, sich Termine zu machen bei Ärzten und Ärztinnen.
Naja, und in der Zeit konnte ich den Rechenarm auch gar nicht benutzen.
Also nicht schreiben.
Ich habe meine Mordlustzelle rein diktiert in den PC.
Ich habe mich immer so gefühlt, als würde ich so eine Rede diktieren, so eine Schreibkraft.
Und Laura hat den ganzen Rest gemacht und ich konnte nicht kochen, mir keinen Zopf machen, mir keine Hose ohne Gummizug anziehen, nichts.
Und irgendwann hat dann ein Ellenbogen-Spezialist dann doch noch ein Knochenstück zwischen zwei Knochen entdeckt, das da nicht hingehörte.
Und die haben gesagt, der Nerv, der ist auch so, also ich habe ein Taubheitsgefühl im kleinen Finger und im Ringfinger.
Und die haben dann gesagt, ja, der Nerv, der ist halt irritiert, weil dieses Knochenstück auch noch dazwischen sitzt.
Ja, und dann wurde ich operiert und dann haben die mir den Arm aufgeschnitten, um zu gucken, woher das Knochenstück kam.
Und dann bin ich in der Vollnarkose aufgewacht.
Oh Gott, ja, stimmt.
Jetzt habe ich schon wieder verdrängt.
Ja, ich verdränge das auch oft.
Es war eine Odyssee, die nicht mehr aufgehört hat.
So hat sich das angefühlt.
Ja, total.
Es war halt so ein Höllenritt nach dem anderen.
Auch, dass ich ja, also ich war ja dann schon wieder einen Monat in Deutschland, wo halt erst mal gar nichts passiert ist.
Und es ist jetzt aber nicht so, dass sie bei der OP gefunden hätten, wo das Knochenstück abgebrochen ist.
Also ich habe jetzt irgendwo in meinem Körper weniger Knochen als vorher.
Aber sei es drum.
Und vielleicht für die, die sich jetzt nichts darunter vorstellen können.
Paulina hat mir dieses Stück Knochen gezeigt.
Und es ist jetzt nicht ein mini kleiner Splitter, wie ich mir das vorgestellt hätte.
Nee, das ist so, das ist so Kaugummi groß, ne?
Wie wenn man sich so ein bisschen größer, also wie ein Kaug, oder ein bisschen größer, ja.
Wie ein Huba-Buba-Kaugummi, ja.
So sieht es aus.
Er wollte es mir auch irgendwo anders reinsetzen.
Von daher habe ich dieses Stück jetzt halt zu Hause.
Ja, und nach der OP hat der Arm dann trotzdem nicht funktioniert.
Und ich war überzeugt, das bleibt jetzt so.
Und das jetzt ohne funktionierenden Recht.
Es war natürlich auch noch der rechte Arm, ne?
Also rechter Arm, ich bin Rechtshänderin.
Und dementsprechend natürlich auch total eingeschränkt.
Und es hat sich halt die erste Zeit gar nichts getan.
Und ich habe schon überlegt, wie kann ich das jetzt verstecken?
Wie kann ich in Zukunft damit leben?
Und so, weil ich den schon abgeschrieben habe.
Und es war halt auch voll das psychologische Problem,
dass ich so dachte, ich habe den Arm jetzt halt nicht mehr.
Und deswegen habe ich den auch nicht doll bewegt
und nicht viel Beachtung geschenkt.
Obwohl der ja sehr geliebt werden muss, wie du auch gesagt hast.
Ja, genau.
Ich kann ein Baby sein eigentlich, dieser Arm.
Ja, weil du das eher dann als nicht zu dir gehörendes Teil
dann irgendwann empfunden hast, ne?
Weil er dir auch nicht mehr gedient hat.
Und er hat nichts gemacht.
Und ich habe gedacht, vielleicht hilft es,
wenn man es eher so behandelt wie ein verletztes Vögelchen.
Und dass man es eben lieben muss und hegen und pflegen.
Und irgendwann fliegt es dann wieder.
Und dann ist man ganz stolz, dass man es nicht abgeschrieben hat.
Was sagt das auch über mich aus, dass ich denke,
es nützt mir nicht mehr, also stoße ich es jetzt ab?
Aber das fiel halt auch schwer, weil ich einfach auch nach der OP,
ich habe wirklich fast spucken müssen,
als diese Haut so zusammengenäht war.
Und wenn man es nicht angucken will und nicht anfassen will,
dann ist es natürlich schwer, sich darum zu kümmern,
nur mit gut zureden.
Und dann hat mir aber ein Physiotherapeut gesagt,
da ist ein großes Trauma im Arm.
Und da hat sich alles zusammengezogen.
Und das hält jetzt alles fest am Ellenbogen,
weil es Angst hat und es ist hart und die Muskeln sind verkürzt
und das muss erst mal loslassen.
Und dann habe ich tatsächlich angefangen,
mit meinem Arm wieder zu reden
und habe den aber vor eineinhalb Wochen jetzt angefangen anzuschreien
und habe gesagt, er muss loslassen.
loslassen, loslassen soll er.
Ja.
Und was soll ich sagen, seitdem ist es wirklich wie ein Wunder,
kann ich den Arm wieder beugen.
Also wenn auch natürlich nicht ganz wie vorher.
Das dauert einfach noch.
Und die Finger haben auch noch dieses Taubheitsgefühl.
Das wird auch noch wahrscheinlich ein Jahr andauern.
Aber das passt jetzt schon alles.
Also mir geht es jetzt schon sehr viel besser.
Und ein kleiner Trost ist zum Beispiel auch,
dass ich mir aus diesem Knochenstück,
was ich mitgegeben bekommen habe,
so eine Form von einem Heizhahn machen lassen will.
Also das muss mir irgendwer fräsen,
weil es ja diese Surfer gibt,
diese Möchtegern-Surfer,
die diese Ketten haben,
die so aussehen, als würde da ein Heizhahn dranhängen,
weil die natürlich mit ihrem Surfbrett
den Hai erlegt haben oder was auch immer sie denken,
was sie da um den Hals haben.
Und sowas möchte ich gerne aus meinem Knochenstück machen.
Und was mir jetzt auch schon oft gesagt wurde,
ist, wenn man umtrainiert,
also von rechts auf links,
und dann beidhändig ist,
dann wird man sehr schlau.
Da merke ich zwar bisher noch nichts von,
aber da hoffe ich auch noch sehr doll drauf.
Guck, und da ist sie,
die positive, optimistische Paulina,
die sogar aus so einem schrecklichen Unfall
das Gute rauszieht,
schlauer werden
und eine stylische Kette.
Optimistisch war ich die letzten Wochen tatsächlich nicht so,
aber diese Aussicht auf dieses morbide Schmuckstück
erhält meine Stimmung schon sehr.
Und ich danke dir,
dass du mir und meinem Arm so viel Arbeit abgenommen hast,
weil ansonsten hätten wir gar nicht mehr veröffentlichen können jetzt.
Du meinst, dass ich dir so unter die Arme gegriffen habe.
Mir unter die Arme gegriffen hast,
mir die Hose hochgezogen hast,
mir deinen Zopf gemacht hast
und mir meine Bauchfalte gehalten hast,
damit ich mir mit links die Spritze setzen kann.
Das ist Freundschaft.
Und damit herzlich willkommen zu Mordlust,
einem Podcast der Partner in Crime.
Wir reden hier über Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
Auch im neuen Jahr wird es in den meisten Folgen
ein Oberthema geben
und zwei Kriminalfälle, die wir nacherzählen.
Wir werden auch darüber diskutieren
und mit Menschen mit Expertise sprechen.
In diesem Podcast geht es um True Crime,
also auch um Schicksale von Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
Das machen wir auch.
Selbst dann werden wir zwischendurch
auch mal etwas ungehemmter kommentieren.
Das ist für uns so eine Art Comic Relief,
aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
In ein paar Tagen, genauer am 13. Januar,
jährt sich an Verbrechen zum 11. Mal,
das mehr Leben gekostet hat,
als die meisten Straftaten,
die wir hier im Podcast erzählen.
Und diese Geschichte, von der wir gleich erzählen,
die ist schon allein wegen der hohen Opferzahl
recht außergewöhnlich,
aber auch, weil die Frage im Raum steht,
ob bis heute wirklich alle Verantwortlichen
zur Rechenschaft gezogen wurden.
Und weil uns wichtig ist,
der Geschichte und ihren Opfern genügend Raum zu bieten,
fangen wir das neue Jahr mit einem Spezial an
und widmen uns gemeinsam in dieser Folge
ausnahmsweise nur einem Fall.
Das Geräusch von Kofferrollen,
die hektisch über den Asphalt gezogen werden,
halbt durch den Hafen der norditalienischen Stadt Savona.
salziger Meergeruch steigt den Menschen in die Nase,
die am späten Nachmittag des 7. Januar 2012 erwartungsvoll
am Anlegesteg stehen.
Vor ihnen ragt ein riesiger weißer Stahlkoloss aus dem Wasser.
Ein Schiff, so hoch wie ein elfstöckiges Hochhaus
und fast 300 Meter lang.
Neben dem riesigen Kreuzfahrtschiff
wirken die Wartenden ganz klein.
Wie kleine Perlen einer Kette stehen sie aufgereiht vor der Gangway
und halten ihre Tickets in der Hand.
Wenn man genauer hinsieht,
kann man unter den wartenden Gesichter ausmachen.
Eins ist rund und wird von einer dicken, schwarzen, eckigen Brille eingerahmt.
Es gehört Matthias.
Der 38-jährige Mann mit Glatze steht direkt neben seinem Kumpel Marcel,
der genauso wenig Haare auf dem Kopf trägt wie er.
Marcel ist vier Jahre älter als Matthias
und hat ein freundliches Gesicht mit silberner Brille
und kleinem senkrechten Bartstreifen auf dem Kinn.
Die beiden Justizbeamten aus Leipzig
haben sich vor ein paar Jahren bei einem Fortbildungsseminar kennengelernt
und seitdem geht es immer mal wieder gemeinsam auf Männertour,
ohne Frauen und Kinder.
So wie jetzt auf Kreuzfahrt.
Für knapp 400 Euro haben die beiden die einwöchige Mittelmeerreise
mit dem Namen Profumo di Agrumi,
was so viel wie Duft der Zitrusfrüchte bedeutet, gebucht.
Sieben europäische Städte in sieben Tagen.
Von Savona aus nach Marseille,
dann weiter nach Barcelona,
Palma del Mallorca,
Cagliari, Palermo und Civitavecchia.
Als sich die Schlange vor ihnen langsam in Bewegung setzt,
steigt bei Matthias und Marcel die Vorfreude.
Welcome on board, ruft ein Crewmitglied,
während sie die Zugangsbrücke passieren.
Und mit dem ersten Schritt ins Innere des Schiffes
eröffnet sich den zwei Freunden ein Tor in eine andere Welt.
Wie Matthias es uns beschreibt.
Ja und dann, wir kommen dort rein und alles ist prunkvoll,
alles ist wahnsinnig hell, alles glänzt, alles glitzert.
Die Leute sind freundlich.
Wir werden dort empfangen, als ob man etwas Besonderes ist.
Ein Reich voller Luxus und Opulenz liegt vor ihnen.
die Schiffen und die Schiffen sind in den Schiffen, die Schiffen sind in den Schiffen.
Und überall leuchtet die Schiffen sind in den Schiffen, die Schiffen sind in den Schiffen.
Ein schmaler langer Gang führt sie zu einer der 1.500 Kabinen an Bord.
steht an der weißen Tür.
Die Außenkabine der Männer hat 16 Quadratmeter, Fernseher, Minibar, Klimaanlage,
24 Stunden Room Service und einen Balkon.
Den hat sie sich extra noch dazu gebucht.
Nachdem die zwei ihr Gepäck abgelegt haben, wird das Schiff erkundet.
Denn auf Matthias und Marcel warten 6.000 Quadratmeter Wellnessbereich,
13 Bars, verschiedene Discos, 5 Restaurants, ein 4D-Kino, ein Casino,
einen Formel-1-Simulator und ein Theater mit mehreren Bühnen.
Also irre.
Ich war ja auch einmal auf einem Kreuzfahrtschiff und habe mich wirklich gefühlt,
als wäre das eine kleine Stadt.
Ich kann mir das ehrlich gesagt überhaupt nicht vorstellen.
Also wie will man sich da dann auch zurechtfinden?
Weißt du, was ich meine?
Gar nicht, tust du nicht.
Man verläuft sich die ganze Zeit.
Ja, und dann macht sich der 50.000 Tonnen schwere,
schwimmende Tempel des Vergnügens,
der jetzt mit über 4.200 Menschen an Bord beladen ist,
auf zum ersten Etappenziel.
Im Theatro Athene werden gerade die Scheinwerfer angeschmissen.
Nach und nach füllen sich die Sitzplätze,
die über zwei Stockwerke im Halbkreis rund um die Bühne aufgebaut sind.
In einer Reihe mit gutem Blick auf die Bühne
lassen sich Angelika und Gabi auf die orangebraunen Polster plumpsen.
Die zwei Frauen aus Bayern sind beste Freundinnen.
Beide tragen Kurzhaarschnitt, Angelika in blond, Gabi in brünett.
Die beiden kennen sich schon seit zwölf Jahren und mit der Zeit sind sie zu einem eingespielten Team herangewachsen.
Beide sind alleinstehend, aber während die 57-jährige Angelika eine Tochter und ein Enkelkind hat,
die zu Hause auf sie warten, hat die 52-jährige Gabi kaum Angehörige mehr.
Nur noch ihr Bruder lebt, allerdings in Hamburg, was regelmäßige Besuche schwer macht.
Deswegen freut sich Gabi immer, wenn Angelika und sie was zusammen unternehmen.
Es muss auch nicht immer eine Reise sein.
Hauptsache, die beiden verbringen Zeit miteinander.
Umso glücklicher sind sie, dass sie jetzt hier sitzen, inmitten der vielen Leute,
die in den unterschiedlichsten Sprachen sprechen und allmählich verstummen,
als die Eröffnungszeremonie beginnt, die die neuen GästInnen an Bord begrüßen soll.
In eleganter Abendgarderobe stehen die Männer und eine Frau auf der Bühne und strahlen dem Publikum entgegen.
Einer von ihnen greift zu dem Mikrofon.
Wir danken ihnen, dass sie die Costa Concordia für ihre Reise gewählt haben.
Wir wünschen ihnen eine glückliche und unbeschwerte Kreuzfahrt, sagt der Mann auf Italienisch.
Dann nehmen alle ihre Sektgläser in die Hand, halten sie demonstrativ in die Höhe und prosten dem Publikum zu.
Beifall.
Dann wird der Mann in der Mitte der Crew vorgestellt.
Sein Gesicht ist von der Sonne braun gebrannt, sein volles Haar wählt sich leicht.
Es ist dunkel, im Gegensatz zu seinen Augen, die blau strahlen.
Begrüßen Sie Kapitän Francesco Schettino, ruft eine Stimme.
Einige erheben sich aus ihren Stühlen, um einen besseren Blick auf den Mann erhaschen zu können,
der jetzt über den Gang in der Mitte des Theaters schreitet, sich kurz feiern lässt
und dann mit den OffizierInnen im Schlepptau von dannen zieht.
Es ist ein schöner erster Abend und Angelika und Gabi freuen sich, dass noch viele weitere folgen werden.
In den darauffolgenden Tagen lassen die beiden Freundinnen es sich richtig gut gehen.
Sie entspannen sich an Deck, erkunden bei den Tagesausflügen die mediterranen Städte
und lassen sich abends kulinarisch verwöhnen.
Am Montag Barcelona, Dienstag Palma, Mittwoch Cagliari und am Donnerstag Palermo.
Wann bekommt man schon so viel zu Gesicht innerhalb von wenigen Tagen?
Kein Wunder, dass die Zeit wie im Flug vergeht.
Am Freitag legt die Costa Concordia am Hafen von Civitavecchia an, die letzte Station für Angelika und Gabi,
bevor das Schiff wieder Savona ansteuert und die beiden Freundinnen ihre Reise beenden müssen.
Ihren letzten Tag wollen die zwei aber noch in vollen Zügen auskosten und machen sich deshalb auf in die etwa 70 Kilometer entfernte Hauptstadt Rom.
Auf den Spuren der römischen Antike schlendern sie durch die kleinen Gassen und staunen über die Häuserfassaden,
die hier so ganz anders aussehen als in ihren kleinen Heimatdörfern in der Nähe von Nürnberg.
Sechs Stunden lang huschen sie von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit.
Es ist schon etwas kühl, als die beiden nach ihrem Ausflug zurück über die Gangway an Bord gehen.
Danach machen sie sich auf zu ihrer Kabine, wo jetzt erstmal Kofferpacken ansteht, bevor sie zum Abendessen aufbrechen.
Pünktlich um 19 Uhr legt die Costa Concordia in Civitavecchia ab.
Angelika und Gabi stehen oben an der Reling und beobachten, wie sich das Schiff seinen Weg durch das Wasser bahnt.
Beide sind erschöpft.
Der ereignisreiche lange Tag und die stundenlange Fußmärsche haben sie geschafft.
Trotzdem stehen Angelika und Gabi überglücklich an Deck, froh, den Tag ganz ausgekostet zu haben.
Sie sind dankbar, dass sie so eine Reise erleben durften.
Zur Feier des Tages wollen sich die beiden heute unbedingt einen Cocktail gönnen.
Darauf hatten sie schon die ganze Zeit Lust, doch die Drinks an Bord sind teuer,
deswegen haben sie sich diese Besonderheit bis zum Schluss aufgehoben.
Während die Costa Concordia Kurs auf ihre Endstation nimmt und das Schiff sich der kleinen Insel Giglio nähert,
nehmen die ersten PassagierInnen schon ihr Abendessen in den verschiedenen Restaurants des Schiffs zu sich.
Unter ihnen toniert auch ein Paar, das die Blicke der umliegenden Tische auf sich zieht.
Es ist Kapitän Schettino, der gerade die Aufmerksamkeit seiner Begleitung genießt.
Eine charmante, junge Dame im Abendkleid.
Der Kapitän und die Blondine mit dem kurzen Bob werfen sich romantische Blicke zu.
Sie ist sehr viel Jünger und nicht die Frau, mit der er verheiratet ist und zwei Kinder hat.
Der offensichtliche Betrug scheint dem 51-jährigen Kapitän nichts auszumachen
und so tauschen die beiden auch in aller Öffentlichkeit Zärtlichkeiten aus.
Das sündhafte Date wird plötzlich unterbrochen von einem Mann, der an den Tisch tritt.
Es ist Oberkellner Antonello.
Schettino kennt ihn, eigentlich hatte er gerade Urlaub,
ist aber für einen kranken Kollegen auf der Costa Concordia eingesprungen.
Schettino verspricht, ihm dafür an diesem Abend einen Gefallen zu tun.
Während der Kapitän sich wieder seiner bezaubernden Begleitung zuwendet,
ruft Oberkellner Antonello daraufhin seine Schwester an,
um ihr von der bevorstehenden Überraschung zu erzählen.
Was für eine Überraschung das ist, werden an diesem Abend noch alle PassagierInnen schmerzlich erfahren müssen.
Gegen halb zehn an diesem Abend sitzen Matthias und Marcel in der großen Bar auf Deck vier.
Die Männer stoßen auf ihren letzten Abend an, gemeinsam mit ihren Kabinen-NachbarInnen,
mit denen sie sich gleich von Beginn der Reise an super verstanden haben.
Die vier lassen ihren Urlaub jetzt nochmal Revue passieren, plaudern und schwelgen in Erinnerung.
Als die Gläser vor ihnen schließlich leer sind, steht Matthias auf und bahnt sich seinen Weg zur Theke,
um Nachschub zu holen.
Doch als der 38-Jährige an seinem Ziel ankommt, donnert plötzlich ein lauter, dumpfer Knall durch die Bar
und im nächsten Moment beginnt sich der Boden unter Matthias zu einer Seite zu neigen.
Sämtliche Getränke, sämtliche Gläser kommen ins Rutschen, fallen von den Tischen.
Die Leute werden panisch, die Leute stehen auf, fragen sich, was passiert hier gerade.
Und in dem Moment gehe ich dann auch wieder zu unserem Tisch und sage, hier ist irgendwas am Gange.
Ich weiß nicht, was hier passiert, aber hier ist irgendwas.
Nur wenige Augenblicke zuvor sitzen Angelika und Gabi wie am ersten Abend ihrer Rundreise im Theater.
Die Koffer haben sie fertig gepackt, alles ist bereit, um morgen früh von Bord zu gehen.
Am letzten Abend wollen sich die beiden Frauen verzaubern lassen.
Gespannt gucken Angelika und Gabi dabei zu, wie ein Magier seine Assistentin in Luft auflöst,
Als die beiden Freundinnen plötzlich ein Knirschen hören und die Sitze unter ihnen anfangen zu beben.
Nervöses Gemurmel schwadert durch das Publikum.
Gabi guckt verunsichert in Angelikas Richtung.
Diese Vibration, fragt Gabi, gehört das auch zur Zaubershow?
Angelika weiß darauf keine richtige Antwort.
Da müsste ja unter jedem Sitz ein Motor stecken.
Kurze Zeit später beginnt das Licht im Theater zu flackern
und ähnlich wie seine Assistentin verschwindet jetzt auch der Magier selbst von der Bühne.
Allerdings rennt er.
Danach ist komplette Dunkelheit.
Spätestens jetzt merkt das Publikum, dass hier etwas nicht stimmt.
Kinder schreien und die ersten verlassen den Saal.
Auch Angelika und Gabi stehen auf und machen sich auf den Weg zurück in ihre Kabine.
Doch auch in der gibt es kein Licht.
Offenbar gibt es keine Strom mehr.
Das beunruhigt sie.
In der Bar auf Deck 4 wollen Matthias und Marcel nachschauen, was es mit dem Knall auf sich hat.
Sie laufen kurz entschlossen nach draußen und werfen einen Blick über die Reling.
Ihr Blick geht nach unten, doch dort ist nur das dunkle Meer zu sehen.
Von hier können sie nichts erkennen, also machen sie sich auf zu ihrer Kabine, die höher liegt.
Vielleicht haben sie dort mehr Glück.
Stufe für Stufe erklimmen Matthias und Marcel ein Deck nach dem anderen,
als es auf einmal stockfinster um die beiden wird.
Wie aus dem Nichts verwandelt sich das hell erleuchtete Schiff in ein pechschwarzes Loch.
Perplex bleiben die Freunde stehen.
Von irgendwoher können Matthias und Marcel panische Schreie vernehmen.
Menschen, die in der Dunkelheit gestürzt sind.
Angst und Schrecken machen sich auf den dunklen Korridoren des Schiffes breit.
10, 20 Sekunden vergehen, dann springt das Licht wieder an.
Im nächsten Moment dröhnt die Stimme eines Crewmitglieds über die Lautsprecheranlage.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.
Wegen technischen Problemen haben wir gerade einen Blackout.
Es besteht kein Grund zur Panik.
Bitte bleiben Sie ruhig.
Unsere Techniker arbeiten schon daran, das Problem zu lösen.
Vielen Dank.
Ein Stromausfall.
Das beruhigt Matthias und Marcel, die sich jetzt wieder in Bewegung setzen.
Immer weiter Richtung Deck 8.
Wir sind auf unsere Kabine angekommen und gehen schnurstracks eigentlich auf den Balkon.
Dann gucken wir runter, weil von oben sieht man ja ein bisschen mehr als unten in der Ebene 4,
wo wir in der Bar gesessen haben.
Und plötzlich sehe ich da Strudel.
Die Luftblasen, die da rauskommen, die irritieren mich irgendwo.
Und das sage ich auch Marcel so, dass hier irgendwas am Laufen ist
und die uns bestimmt nicht die Wahrheit sagen.
Die Luftblasen, die um das Schiff blubbern und die Schieflage verwirren Matthias.
Zu einem Blackout passt das eigentlich nicht.
Panisch werden die beiden Männer aber nicht.
Sie sind sich sicher, das Schiff ist unsinkbar.
Deswegen nehmen die beiden auch ihre Rettungswesten aus der Kabine nicht mit.
Aber so sicher wie Matthias und Marcel sind sich viele andere GästInnen offenbar nicht mehr.
Das wird den Freunden klar, als sie sich zurück auf den Weg zur Bar auf Deck 4 machen.
So kommen ihnen ganze Trauben an Menschen entgegen, die bereits ihre Rettungswesten angelegt haben.
Einige von ihnen sind total aufgelöst und panisch.
Matthias und Marcel sehen, wie sie auf Deck 4 nach draußen strömen.
Dahin, wo sich die Notfallsammelpunkte und die Rettungsboote befinden.
Die Männer folgen den Menschenmassen und können ihren Augen nicht trauen.
Die Leute drängeln, drücken, schubsen und nehmen keine Rücksicht auf die Kinder, die zwischen ihnen stehen und vor Angst weinen.
Sie brüllen sich an und reißen sich gegenseitig die Schwimmwesten aus der Hand.
Um ca. 22.15 Uhr, etwa eine halbe Stunde nachdem der große Knall die Costa Concordia erschüttert hat,
versucht man von der Küstenwache in Livorno, einer Hafenstadt in der Toskana aus,
die Verantwortlichen auf der Costa Concordia zu erreichen.
Concordia, alles okay?
Positiv, antwortet eine Männerstimme per Funk.
Wir haben einen Stromausfall, erklärt der Mann.
Man sei bereits dabei, die Ursache zu überprüfen und sicher das Problem bald lösen zu können.
Die Küstenwache funkt zurück, dass sie von einer Tochter einer Passagierin kontaktiert wurden,
die berichtet hat, dass man an Bord des Kreuzfahrtschiffs angewiesen wurde, Rettungswesten anzulegen.
Es sei nur ein Stromausfall, betont der Mann nochmal.
Angelika und Gabi wollen ihre Kabine wieder verlassen.
Auf dem Flur kommt ihnen ein Angestellter des Schiffs entgegen.
Er sagt ihnen, sie sollen sich zu den Sammelstationen begeben.
Das beunruhigt Angelika und Gabi noch mehr.
Ob sie denn Rettungswesten brauchen, wollen sie wissen.
Der Stuart bejaht.
Also schnappen sich die beiden ihre Westen, schneiden sie sich um und machen sich auf den Weg nach Deck 4.
Im Laufschritt geht es für die beiden jetzt Richtung Ziel.
Doch die Gänge sind voller Menschen und genau vor der Treppe, die sie zu ihrem Sammelplatz bringen soll, staut es sich.
Nichts geht voran.
Dazu kommt noch, dass das Schiff langsam immer mehr an Schlagseite gewinnt.
Das macht es schwierig, das Gleichgewicht zu halten.
Die Backbordseite, auf der sie sich befinden, ragt immer höher auf, während die andere Seite immer weiter absinkt.
Aber warum ist das so?
Niemand vom Personal verliert auch nur ein Wort darüber, was hier eigentlich gerade vor sich geht.
Die einzige Information, die sie von den Crewmitgliedern, die ihnen über den Weg laufen und durch die Lautsprecher hören,
ist immer wieder, alles sei unter Kontrolle, gehen sie zurück auf die Kabinen oder ins Innere des Schiffs.
Im Moment besteht noch keine Gefahr.
Doch das, was ihnen immer wieder gesagt wird, passt nicht zu dem Bild, was Angelika und Gabi vor sich sehen.
Dicht an dicht stehen die PassagierInnen auf den Gängen, während sich das Schiff weiter neigt.
Sieht so keine Gefahr aus?
Um 22.26 Uhr meldet sich dann wieder die Küstenwache bei der Costa Concordia.
Sie will wissen, was genau los ist.
Kapitän Scatino meldet nun, dass das Schiff ein Leck auf der Backbordseite habe und schwankend weiterfahre.
Verletzte oder Tote gebe es nicht.
Evakuieren müsste man auch nicht, man brauche lediglich einen Schlepper, so der Kapitän.
Der Leiter der Küstenwache, Gregorio De Falco, entscheidet sich vorsichtshalber trotzdem dazu,
alle umliegenden Boote zu alarmieren und zur Costa Concordia zu schicken.
Ein Patrouillenboot der Polizei sieht, dass das Kreuzfahrtschiff bereits deutlich Schlagseite hat und ein Wendemanöver fährt.
Um 22.44 Uhr schlägt das Patrouillenboot dann Alarm, die Costa Concordia es gekent hat.
Es ist kurz vor elf, als die Alarmsirenen der Costa Concordia beginnen aufzuheulen.
Das Evakuierungssignal.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.
Wir müssen Sie bitten, Ruhe zu bewahren, sich mit Ihren Rettungswesten zu den Sammelstationen auf Deck 4 zu begeben
und den Anweisungen des Personals zu folgen.
Ich wiederhole, begeben Sie sich zu den Sammelstationen auf Deck 4.
Heilt es aus den Lautsprecheranlagen.
Mit dieser Ansage bricht Angst aus.
Offenbar hatte die Aussage, dass alles unter Kontrolle sei, noch einige Leute zurückgehalten, in völlige Panik zu verfallen.
Jetzt aber schieben und schubsen sich die Menschen in den Gängen umher.
Und mittendrin Angelika und Gabi.
Ihre Rettungswesten machen es ihnen nicht einfacher, sich zu bewegen.
Mit aller Kraft schaffen sie es aber doch irgendwie, sich durch die Menge zu quetschen
und erreichen endlich Deck 4 und die Rettungsboote.
Sie sind zum Meer hin seitlich an der Decke befestigt und müssen von der Crew zu Wasser gelassen werden.
Wegen der Schieflage gestaltet sich das allerdings schwierig und einen Platz zu ergattern ist schier ein Ding der Unmöglichkeit.
Denn die Evakuierung folgt keiner vorgegebenen Reihenfolge.
Hier gilt offenbar der Grundsatz First Come, First Serve.
In ihrer Angst zurückgelassen zu werden, rennen die Menschen nämlich von links nach rechts.
Einige schlagen sich sogar um Plätze.
Andere springen in bereits volle Boote.
In der Hoffnung, irgendwo auf friedliche Art noch einen Platz zu ergattern, laufen Angelika und Gabi unruhig von Rettungsboot zu Rettungsboot.
Doch andere sind schneller.
Zu schnell für Angelika und Gabi.
Und so lautet die Antwort, die die beiden Freundinnen vor jedem Boot erhalten, voll, voll, voll.
Sie sind schon fast am Ende des Schiffs angekommen, um für ein Rettungsboot anzustehen, als Crewmitglieder einige Menschen im Rollstuhl nach vorne schieben.
Angelika und Gabi gehen zur Seite, lassen sie vor und geben damit ihre letzte Chance auf einen Platz auf.
Vor ihnen wird ein Rettungsboot nach dem anderen ins Wasser gelassen und fährt davon.
Die beiden Freundinnen schauen verzweifelt hinterher.
Da kommt Gabi eine Idee.
Sollen wir springen?
Fragt sie.
Angelika schüttet den Kopf.
Das Schiff liegt schon zu schief.
Dann knallen wir auf Deck drei.
Angst steigt in Gabi auf.
Versprich, wir bleiben zusammen, bittet sie Angelika.
Während die beiden Frauen keine Ahnung haben, was sie jetzt tun sollen, taucht plötzlich wie aus dem Nichts ein Crewmitglied auf.
Schnell, schnell, schreit der Mann ihnen gehetzt zu.
Angelika und Gabi sollen ihm zur Steuerbordseite folgen.
Also der Seite, die bereits ins Wasser ragt.
Doch dort führt nur ein Weg hin.
Einmal quer durch das Schiff.
Auch Matthias und Marcel versuchen auf Deck vier einen Platz in einem Rettungsboot zu bekommen.
Wenn sie schon keine Rettungswesten haben, müssen sie wenigstens schnell in ein Boot.
Aber die Idee hatten offenbar hunderte andere vor ihnen auch.
Überall Menschen, Menschen, Menschen.
Da stehen alte Leute, drängeln sich vor und gehen mit Ellenbogen durch die Massen durch.
Ich habe eine Frau gesehen mit einem Baby auf dem Arm.
Da ist ein alterer Herr daneben gewesen, hat sie mit den Ellenbogen weggestoßen, nur damit er auf das Rettungsboot kommt und die Frau am Einsteigen gehindert hat.
Es spielen sich dramatische Szenen ab dort und wir stehen ganz hinten und wir wissen eigentlich, dass wir nicht in das Boot einsteigen können, weil zu viele Leute vor uns stehen.
Was den Männern da auch auffällt, beziehungsweise sie wundert, ist, dass definitiv nicht der Grundsatz gilt, Frauen und Kinder zuerst.
Was mich überhaupt nicht wundert, also aus welchem Jahrhundert ist diese Regel?
Es gibt ja Frauen, die sehr fit sind und alte, gebrechliche Menschen, egal welchen Geschlechts, die sehr schwach sind.
Ich könnte mir aber trotzdem vorstellen, dass einige Männer sich an diesen Satz einfach erinnern, weil man das irgendwie so kennt aus dem Film Titanic und dann so Gentleman-like, Helden-Positions-like die Frauen und Kinder vorlassen.
Also so hätte ich mir das zumindest vorgestellt.
Gewünscht auch.
Da habe ich hier in Vorbereitung witzigerweise eine Studie von der Universität Uppsala gelesen und zwar haben die sozusagen herausgefunden, dass dieses Verhalten Frauen und Kinder zuerst auf der Titanic eigentlich eher eine Ausnahme war.
Also die hatten 18 Schiffsunglücke begutachtet und es gab nur zwei Schiffskatastrophen, wo anteilig mehr Frauen als Männer gerettet wurden.
Und heute gibt es dafür aber ganz klare Evakuierungsvorgaben und die besagen eben, dass man Hilfsbedürftige und dazu zählen eben vor allem kranke, ältere Menschen und Kinder, dass man die zuerst bei der Rettung unterstützen muss.
Und das finde ich auch logisch.
Also als ob jetzt ein 90-Jähriger eher überlebt als ich.
Ja, das ist auch richtig.
Ich meine, bei der Costa Concordia sollte es ja auch geregelt ablaufen, aber daran hat sich dann halt keiner gehalten.
Matthias und Marcel sind sich jedenfalls sicher, dass sie auf dieser Seite des Schiffes kein Glück mehr haben werden.
Denn die Costa Concordia liegt inzwischen so schief, dass die Rettungsboote auf der Seite, die in die Höhe ragt, bald schon nicht mehr ins Wasser gelassen werden können.
Wenn man sie nämlich dann noch hinunterlassen würde, würden sie nicht mehr ins Meer, sondern auf die Decks darunter fallen.
Und langsam aber sicher steigt jetzt auch in den beiden Männern die Panik auf.
Sie müssen irgendwie versuchen, auf die andere Seite zu kommen.
Vielleicht sind da ja noch Plätze frei.
Während sie sich den Weg durch die Massen bahnen, fallen ihnen vier Menschen auf, die sich hilfesuchend umsehen.
Es sind zwei Crewmitglieder und zwei ältere Damen in Rettungswesten.
Elisabeth und Margarete, beide über 70 und völlig verängstigt.
Matthias und Marcel fragen, ob sie helfen können.
Die Crewmitglieder bitten die beiden Männer, den Seniorinnen zu erklären, dass es auf der anderen Seite noch Rettungsboote gibt und sie sich schnellstmöglich auf den Weg dorthin machen sollen.
Elisabeth und Margarete verstehen nämlich nur Deutsch, die Crewmitglieder aber nur Englisch.
Matthias und Marcel übernehmen und erklären den besorgten Frauen, dass sie sie auf die andere Seite begleiten werden.
Denn den Männern ist klar, dass Elisabeth und Margarete nicht in der Lage sein werden, den schwierigen Weg alleine zu meistern.
Zu viert betreten sie also das Innere der Costa Concordia.
Der Plan ist, das Schiff durch die Mitte zu durchqueren, um so schnell wie möglich auf der anderen Seite anzukommen.
Knapp 40 Meter liegen vor ihnen.
Nicht viel, wenn man jung und gesund ist und der Boden unter den Füßen sicher.
Doch mit ihren über 70 Jahren sind Elisabeth und Margarete nicht mehr gut zu Fuß und der Teppich im Inneren des Kreuzfahrtdampfers ist stellenweise glitschig von ausgelaufenem Öl.
Außerdem hat das Schiff mittlerweile so eine Schieflage, dass es überall steil bergab geht.
Matthias greift deshalb nach der Hand der einen Frau, Marcel nimmt die der anderen.
Sie müssen aufpassen, dass sie nicht ausrutschen und hinfallen.
Also kämpft sich die Vierergruppe im Zeitlupentempo voran.
Für die älteren Damen ist die ganze Situation zu viel.
Sie haben Todesangst.
Die Frau, die sich fest an Matthias Hand klammert, wendet sich schließlich verzweifelt an ihn.
Die gute Frau sagt zu mir, ich will nicht sterben.
Und ich sage zu ihr, sie werden nicht sterben.
Sie haben eine Rettungsweste.
Sie schwimmen immer über Wasser.
Und ihr Kopf wird immer über Wasser sein.
Auch Angelika und Gabi bahnen sich ihren Weg durchs Schiffinnere.
Im Moment stehen sie mittig in dem riesigen Bordrestaurant, in dem sie noch vor kurzem regelmäßig zu Abend gegessen haben.
Ordentlich aufgestellte Stühle, Teller, Besteck, Weingläser.
Das alles ist jetzt von der Schwerkraft zu Boden gefegt, liegt im Weg rum.
Und weil es hier drinnen so dunkel ist, dass Angelika und Gabi nicht mal ihre Hand vor Augen sehen können, werden die Gegenstände zu gefährlichen Stolper fallen.
Außerdem ist der Boden rutschig.
Jetzt nur nicht stolpern, denkt Angelika, die voraus geht.
Gabi folgt ihrer Freundin, bleibt ihr immer dicht auf den Fersen und umklammert dabei ihre Hand.
Nur noch ein kleines Stück.
Angelika und Gabi können die Tür schon sehen, die sie nach draußen auf die andere Seite bringen soll, als sie bemerken, dass sie hier drin nicht alleine sind.
Aus allen Richtungen bahnen sich Reisende den Weg durchs Restaurant zum Außendeck.
Und für einen Augenblick ist es so chaotisch, dass Angelika in all dem Gedränge Gabis Hand entgleitet.
Und es gibt kein Zurück.
Zu stark ist der Strom der Menschen um sie.
Angelika geht allein den Schritt durch die große Tür.
Hier hatte sie gehofft, mehr Rettungsboote zu finden.
Doch auf der Steuerbootseite angekommen, blickt Angelika nicht auf Rettungsboote.
Das Deck reicht bereits so tief ins Meer hinein, dass es komplett überspült ist.
Und da, wo einmal die Reling zu sehen war, ist jetzt nur noch Wasser.
Pech, schwarzes Wasser, auf dem helle, kleine Lichtlein schwimmen.
Angelika schaut genauer hin und erkennt, dass es die Lichter der Rettungswesten sind.
Direkt vor ihr befinden sich scharenweise Menschen im Wasser, denen die Todesangst ans Gesicht geschrieben steht.
Angelika begreift, dass sie sinken und dass sie auf dem Schiff nicht mehr sicher ist.
Sie muss ins Wasser, bevor der riesige Stahlkoloss untergeht und sie mit in den Tod reißt.
Wo ist Gabi?
Angelika kann nicht ohne ihre Freundin gehen.
Angelika! Angelika!
Tönt Gabis Stimme von irgendwoher.
Angelika blickt um sich.
Links, rechts, hinten.
Doch nirgends kann sie ihre Freundin entdecken.
Gabi?
Ruft sie voller Sorge.
Doch sie kann das Gesicht ihrer Freundin in all den anderen nicht erkennen.
An ihren Füßen schwappt ihr kaltes Wasser entgegen.
Nicht hinfallen, befiehlt sie sich.
Jetzt bloß nicht hinfallen.
Von hinten drängen immer mehr Leute und rücken gegen Angelika.
Ihr bleibt keine Wahl.
Die 57-Jährige nimmt ihren ganzen Mut zusammen, stößt sich ab ins Wasser und schwimmt ins Schwarz hinein.
Matthias und Marcel sind zusammen mit Elisabeth und Margarete in der Zwischenzeit schon fast auf der anderen Seite angekommen.
Der Seite, die immer tiefer ins Wasser ragt.
Doch jetzt strömt immer mehr Wasser um die Beine der vier, was alle ins Schwanken bringt.
Und mit jeder Sekunde lodert mehr und mehr Panik in Matthias und Marcel auf.
Zurück, zurück, zurück ist der einzige Gedanke, den die beiden noch fassen können,
bevor sie die zwei älteren Damen reflexartig am Arm packen, um sie in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen.
Dorthin, wo sie hergekommen waren, wieder auf die erhöhte Seite des Schiffes, bevor sie in den Fluten ertrinken.
Ein kleines Stück schaffen es die vier.
Doch weiter geht es nicht.
Matthias und Marcels Kräfte reichen nicht aus.
Immer wieder rutschen sie ab und werden vom Wasser, das um sie herum immer weiter steigt, zurück in die Tiefe gezogen.
Als sie wieder ungefähr bei der Mitte des Schiffes angekommen sind, sehen sie eine Möglichkeit dort, wo die Fahrstühle sind, kurz Halt zu machen.
Die Männer klammern sich an der Aufzugsverkleidung fest und atmen kurz durch.
Elisabeth und Margarete lehnen sich an die schweren Türen des Fahrstuhls, während das Wasser ihnen langsam bis zur Hüfte steigt.
Dann knallt es ganz laut.
Die Fahrstuhltüren brechen nach innen auf.
Ein starker Sog entsteht und das nächste, was Matthias und Marcel hören, ist ein kurzer, spitzer Schrei.
Ein Schrei voller Angst.
Er ist so herzzerreißend und grässlich, dass er Matthias und Marcel bis ins Mark erschüttert.
Und bevor sie den Frauen helfen können, werden Elisabeth und Margarete durch die Fluten in den Fahrstuhlschacht gerissen.
Um 23.37 Uhr will die Küstenwache wissen, wie viele Menschen noch an Bord sind.
Kapitän Scatino antwortet, noch etwa 300 Leute.
Nur 300?
Das würde bedeuten, dass fast 4000 entweder im Wasser sind oder bereits in Sicherheit gebracht wurden.
Schwer vorstellbar.
Aber die Lage ist unübersichtlich.
Weil man auf der 23 Quadratkilometer kleinen Insel Giglio nicht alle unterbringen kann,
werden einige Schiffbrüchige gleich weiter aus Festland gefahren.
Kapitän Scatino verspricht, weiter die Evakuierung zu koordinieren und bis zum Schluss an Bord zu bleiben.
Als die Küstenwache kurze Zeit später versucht, den Kapitän nochmal zu erreichen,
meldet der sich plötzlich nicht mehr zurück.
Auch nach mehrmaligen Versuchen bleibt es still an der Brücke der Costa Concordia.
Ein schlechtes Zeichen.
Elisabeth und Margarete sind im Fahrstuhlschacht verschwunden.
Der sichere Tod wartet am Ende auf die beiden Frauen.
Das wissen Matthias und Marcel.
Und jetzt steigt auch bei ihnen zum ersten Mal die Todesangst auf.
Jetzt geht es nur noch um das nackte Überleben.
Jeder muss selbst schauen, wie er aus dem Schiff rauskommt, das zu einer tödlichen Falle geworden ist.
Also blicken sie sich noch einmal kurz in die Augen und dann stößt sich Marcel ab.
Jetzt gilt jeder für sich selber.
Und diese Entscheidung verstehe ich nicht.
Was?
Ich verstehe nicht, warum das ein Vorteil sein soll.
In so einem Schiff, das mittlerweile schon so quer liegt, glaube ich, hat man viel bessere Überlebenschancen zu zweit.
Also weiß ich nicht, das kann sein.
Aber ich glaube nicht, dass man das noch sozusagen so logisch erfassen kann.
Sondern dass da bei denen, glaube ich, in dem Moment, als die Frauen da diesen Schacht runter sind, dass in dem Moment dieser Überlebensinstinkt bei den Männern auch eingesetzt hat.
Und das, also ich weiß nicht, kennst du das, wenn man so irgendwie in der Masse von Menschen steht und denkt, man wird zerquetscht?
Also ich kenn Panik in Menschenmassen, aber nicht, dass ich wirklich denke, ich werde zerquetscht jetzt gerade, weil ich auch zerquetscht werde.
Okay, also ich war mal in einer Situation, wo ich schon mit den Füßen nicht mehr auf dem Boden war und so hin und hergerissen.
Hey, wann war das?
Das war bei einer Abi-Party beim Anstellen.
Total krank.
Quatsch.
Doch, da haben die von hinten so gedrückt und ich stand relativ weit vorne und war halt so klein und dann sind meine Füße abgehoben.
Und da, da hat, und irgendwann war das auf jeden Fall nochmal dieses Gefühl, dass ich ganz schlimm finde und das so, also es ist ja, ist wahrscheinlich Panik, ja.
Und dass ich dann das Gefühl hatte, ich werde jetzt zu einem Tier und werde mich da raus bewegen, weil sonst sterbe ich.
Und mir ist es egal, was um mich herum passiert und ich habe das auch nicht mehr wahrgenommen, wer jetzt neben mir ist.
Und ich würde mal sagen, in dem Moment ist es mir dann auch egal, wenn ich jemand anderen verletze, weil in meinem Kopf quasi nur ist, raus, raus, raus, sonst sterbe ich jetzt.
Und vielleicht war das bei Matthias und Marcel in dem Moment auch nur, raus, raus, raus, ich muss jetzt hier raus.
Auf jeden Fall hatten Laura und ich neulich einen sehr intimen, rührenden Freundinnen-Moment, der mich über die letzten Tage getragen hat, bis sie heute zu mir sagte,
In so einer Situation würden wir auch aufeinander scheißen.
Ich konnte es nicht fassen, als ich das gehört habe, das hat mich vorhin wirklich sehr traurig gemacht.
Also ich kann mir das nicht vorstellen, dass man dann einfach alleine den anderen so abstößt, wie so ballast.
Echt nicht.
Ich sage ja nicht, dass es so nicht so sein wird, weil ich war noch nie auf einem sinkenden Schiff.
Ich sage nur, ich kann es mir wirklich schwer vorstellen, auch weil ich denke, dass man sich gegenseitig besser unterstützen kann und irgendwo hochziehen kann und keine Ahnung.
Ja, vielleicht ist es ja dann auch so, dass du in dem Moment da auch noch vielleicht rationaler dann so agieren kannst und andere nicht zum Beispiel.
Das könnte auch sein.
Aber nur, weil ich mich an diese Situation erinnert habe und das Gefühl in meinem Kopf und dieses raus und sonst kein und egal, wie ich das jetzt mache.
Und ich glaube, wenn wir auch so an die Katastrophe bei Love Parade denken und so, das war da ja auch bei ganz vielen Menschen dann so.
Einfach raus und dabei wurden Menschen darunter zertrampelt, ohne dass man das, sage ich jetzt mal, gemerkt hat oder darüber nachgedacht hat, was man hier gerade mit seinem Verhalten macht.
Einfach wegen diesem Überlebensinstinkt.
Ich glaube, eine Massenpanik ist aber nochmal ein bisschen was anderes, als wenn du so alleine in so einem Flur von einem Schiff bist.
Ja.
Weißt du?
Ja, ja.
Hoffen wir einfach mal sehr, dass wir nie herausfinden müssen, ob wir zu Feinden werden würden oder ob wir es mit Teamwork schaffen würden.
Also ich würde es dir raten, denn ich sage dir eins, ich bin stärker als du.
Aber ich bin mir sicher, dass Matthias und Marcel in dem Moment dachten, dass das das Richtige für sie ist.
Es ist ein und nachts. Der Wind pfeift eisig um Angelikas Ohren. Dazu kommen Hubschraubergeräusche.
Um sie herum ist alles dunkel. Nur die Lichter der Rettungswesten funkeln.
Sie hat keine Orientierung, weiß nicht, wohin sie soll.
Einfach erstmal vom Schiff weg, denkt sie sich und schwimmt los.
Das Wasser ist kalt. Ihre Rettungsweste hält sie oben.
Als sie genügend Abstand zum Schiff hat, sieht sie plötzlich, wie die Lichter der Schwimmwesten vor ihr aus dem Wasser aufsteigen.
Wie bei einer Himmelfahrt, denkt sie und schwimmt weiter auf die Lichter zu.
Ein paar Minuten vergehen. Dann stößt Angelikas Fuß auf einmal gegen etwas Hartes.
Es ist ein Felsen.
Sie sieht nach oben und erkennt, dass sie eine Klippe erreicht hat.
Sie hat es tatsächlich geschafft.
Angelika klettert die nassen Steine hoch und findet sich auf einem Felsvorsprung wieder.
Erst jetzt wird ihr bewusst, sie waren die ganze Zeit ganz dicht am rettenden Ufer.
Nur ungefähr 50 Meter liegen zwischen ihr und der Costa Concordia.
Und bis zur Insel Giglio sind es nur ca. 100 Meter mehr.
Das hatte ihnen niemand gesagt.
Während sich Angelika auf den Felsen gerettet hat, geht Matthias panischer Kampf nach draußen weiter.
Nur, dass er den jetzt ohne seinen Freund Marcel durchstehen muss.
Noch immer klammert er sich an der Verkleidung des Fahrstuhls fest.
Matthias fragt sich gerade, was der beste Weg nach draußen sein könnte,
als er irgendwo unter den Lasten des Wassers eine weitere Tür aufbrechen hört.
Schon wieder entsteht im Inneren der Costa Concordia ein unbändiger Sog.
Ohne weiter zu überlegen, beschließt Matthias los und sich vom Strom mitreißen zu lassen.
Denn dagegen anschwimmen kann er eh nicht.
Also hält Matthias die Luft an, lässt den Aufzug los und taucht unter.
Die Wassermassen spülen ihn zuerst durch einen Korridor und dann in den riesigen Essenssaal,
in dem er noch vor wenigen Stunden gegessen hatte.
Dort schlägt er in einer Ecke irgendwo gegen.
Matthias streckt seine Arme unter Wasser aus, das Ding vor ihm fühlt sich an wie eine Stange.
Matthias zieht sich daran hoch, bis er mit den Händen und dem Kopf wieder über Wasser ist und endlich nach Luft schnappen kann.
Dann sieht er, dass es sich um ein Treppengeländer handelt, das so breit ist, dass er darauf stehen könnte.
Also nimmt er all seine Kraft zusammen und klettert auf das Geländer.
Für einen kurzen Moment atmet Matthias erleichtert auf.
Fürs Erste konnte er dem Wasser entfliehen.
Doch bereits im nächsten Augenblick wird ihm ganz anders.
Er sieht, dass er in dem dunklen, großen Raum ganz allein ist.
Und ihm wird bewusst, dass ihm die Fluten schließlich unter sich begraben werden,
wenn er hier nicht schnell rauskommt und dass es nicht mal jemand mitbekommen würde, wenn er sterben würde.
Die EinwohnerInnen eilen mit Decken und warmen Getränken zum Ufer,
um die Schiffbrüchigen aus den Rettungsbooten zu ziehen und zu versorgen.
Die Kirche im Dorf wird zur Notunterkunft.
Während es die meisten schon ans Ufer geschafft haben,
blickt sich Angelika auf dem Felsvorsprung um, auf den sie gerade geklettert ist.
Sie sieht zwei Frauen ganz in der Nähe sitzen.
Bitte, sagt die eine höflich zu ihr, nehmen Sie doch Platz.
Doch Angelika bleibt erst einmal stehen.
Sie greift hinunter in das Wasser und hilft den Menschen, die nach ihr die Klippe erreichen.
Der Reihe nach zieht sie einen nach dem anderen aus dem Wasser
und wartet darauf, dass sich eine Hand wie die anfühlt,
die sie nur wenige Minuten zuvor loslassen musste.
Als sich Matthias schon von seinem Leben verabschiedet hat,
sieht er plötzlich irgendwo in der Ferne die Lichter von Rettungswesten aufblitzen.
Ohne lange zu fackeln, springt Matthias ins Wasser und schwimmt in Richtung der hellen Lichter.
Dabei ruft der 38-Jährige immer wieder laut nach Hilfe.
Doch eine Antwort bleibt aus.
Hallo? Hört mich jemand?
schreit er nochmals aus voller Kehle, als ihm plötzlich eine Stimme entgegenhalt.
Hey Mister! Mister, komm hier! Hier ist ein Exit!
Trotz der Dunkelheit zeichnen sich die Umrisse zweier Besatzungsmitglieder vor Matthias Augen ab.
Wie wild fuchteln sie mit einer Taschenlampe in der Luft herum.
Damit Matthias weiß, in welche Richtung er schwimmen muss,
leuchten sie ihm Stück für Stück den Weg durch den riesigen Essenssaal.
Erschöpft kommt er bei ihnen an.
Die beiden Männer reichen ihm die Hände und ziehen ihn mit vereinten Kräften aus dem Wasser.
Völlig orientierungslos schaut sich Matthias um.
Er befindet sich jetzt in einem kleinen Zimmer,
an dessen Decke, die wohl einmal eine Seitenwand war, ein Luftschacht verläuft.
Sein Weg in die Freiheit.
Doch nach oben klettern geht nicht.
Nirgends an dem glatten silbernen Metall des Schachts gibt es eine Möglichkeit, sich festzuhalten.
Zusammen mit den Crewmitgliedern muss er hier im sinkenden Schiff auf Hilfe von oben warten.
Als er gerade wieder einmal seinen Blick Richtung Himmel hebt,
erscheint auf der anderen Seite des Schachts auf einmal ein Gesicht.
Zwei weit aufgerissene Augen gucken Matthias entgegen.
Doch so schnell wie der Mann auf der anderen Seite aufgetaucht ist, ist er auch wieder verschwunden.
Eine kurze Zeit vergeht, dann sieht Matthias ihn wieder.
In seiner Hand hält er ein Seil.
Er wirft es Matthias zu, der sich daran festklammert.
Dann wird er hochgezogen.
Zentimeter für Zentimeter kann er so der tödlichen Falle endlich entfliehen.
Erst an Deck begreift Matthias, wie schief die Costa Concordia steht
und dass er sofort vom Schiff muss.
Die Rettungskräfte, die ihn und die anderen durch den Schacht gezogen haben,
führen ihn im Eiltempo zu einer Seite des Schiffes, an der eine Strickleiter befestigt ist und nach unten Richtung Meer führt.
40, 50 Meter ist sie lang.
Eine nach der anderen geht Matthias die wackeligen Sprossen hinunter.
Ganz langsam, damit er nicht ausrutscht.
Mit vereinten Kräften hieft ihn die Küstenwache schließlich auf ihr Boot.
Doch selbst dort fühlt Matthias sich immer noch nicht sicher.
Im Gegenteil, die panische Angst, dass die Costa Concordia jeden Moment absinken und das kleine Boot mit in die Tiefe reißen könnte, überkommt ihn.
Besorgt schaut er auf den Stahlkoloss vor ihm und dann in die Richtung, in die sie fahren.
Dort erkennt er in unmittelbarer Nähe einige Lichter.
Es sind Häuser.
Erst jetzt versteht auch Matthias, dass nur wenige Meter von dem Kreuzfahrtschiff entfernt das rettende Ufer liegt.
Sofort schießt ihm Marcel in den Kopf.
Vielleicht hat sein Freund es ja schwimmend an Land geschafft.
Er ist ein guter Schwimmer und er hat Ausdauer.
Matthias wünscht sich in dem Moment nichts mehr, als dass Marcel den Kampf ums Überleben auch gewonnen hat.
Es ist ungefähr Viertel vor fünf am Morgen, als das Boot der Küstenwache mit Matthias im Hafen der toskanischen Insel Giglio einfährt
und er eine Gestalt am Steg stehen sieht.
Schon von Weitem erkennt er in ihr seinen Freund.
Marcel hatte es tatsächlich geschafft.
Als Matthias ihn dort stehen sieht, werden seine Knie weich.
Er bricht zusammen und muss sich setzen.
Ungeduldigt wartet er im Sitzen ab, bis das Rettungsboot der Küstenwache endlich im Hafen anliegt.
Dann rennt er auf Marcel zu.
Die beiden fallen sich in die Arme und fangen an, bitterlich zu weinen.
Einige Zeit später geht die Sonne über Giglio auf.
Und mit dem anbrechenden Tageslicht offenbart sich das ganze Ausmaß der Katastrophe, die sich gestern Nacht ereignet hat.
Die riesige Costa Concordia liegt nur knapp 150 Meter vom Ufer entfernt.
Auf den Fotos, die die PressevertreterInnen schießen, wirkt das Schiff komplett deplatziert.
Fast so, als würde es sich dabei um eine Fotomontage handeln.
Die Bilder und Videos davon, wie der weiße Ozeanriese zur Seite gekippt, halbseitig von Wassermassen verschlungen, direkt vor einer Insel liegt, gehen um die Welt.
Und führen unweigerlich zu der Frage, wieso fährt ein so großes Kreuzfahrtschiff so nah an einer Insel vorbei?
Während immer mehr JournalistInnen dieser Frage auf den Grund gehen wollen und sich deshalb auf den Weg in die Toskana machen, kommen auch immer mehr Rettungskräfte an.
Die meisten PassagierInnen wurden zwar noch in der Nacht an Land gebracht, allerdings gab es bereits nachts die ersten Todesmeldungen.
Um Viertel vor fünf wurde die Evakuierung vorerst abgeschlossen.
Und wir wissen, man würde ja jetzt meinen, dass es mehrere Stunden nach einem Unglück keine Überlebenden mehr in den Teilen des Schiffes geben kann, die unter Wasser sind.
Weil ein Mensch nicht länger als maximal zehn Minuten ohne Sauerstoff überleben kann.
Aber woran sich viele in diesen Stunden klammern, sind mögliche Luftblasen im Wrack.
Acht Jahre vor der Havarie der Costa Concordia gab es nämlich einen Fall an der norwegischen Küste, wo ein Frachter auf Grund gelaufen und innerhalb einer Minute umgekippt war.
Im Inneren, in der Nähe des Maschinenraums, waren noch drei Männer der Besatzung.
Die Unterseite des Schiffes ragte dann also nach oben und so konnten die Männer sich mit Klopfgeräuschen bemerkbar machen.
Die Luft drin war das Einzige, was das Schiff nach oben hielt und die drei Männer von der Crew noch für einige Stunden am Leben, auch wenn die Luft natürlich nach und nach knapp wurde.
2013 überlebte ein Schiffskoch drei Tage lang in 30 Metern Tiefe am Meeresgrund im gesunkenen Schlepper Jackson 4 durch auch so eine Luftblase.
Allerdings ist die Hoffnung darauf im Fall der Costa Concordia nur gering.
Weil das Schiff relativ langsam zur Seite sackte, konnte schon viel Luft aus dem Schiff entweichen.
Trotzdem geben die ProfitaucherInnen nicht auf, um noch Lebende, aber natürlich auch die Leichen zu bergen.
Dabei ist die Arbeit schwierig.
Um sich den Zugang zum Inneren des Schiffs zu erleichtern, sprengen die Spezialkräfte Löcher in den Rumpf des Schiffes.
So versuchen sie sich ihren Weg zu Deck 5 zu bahnen, um dort vielleicht noch jene zu finden, die es nicht zu Deck 4 geschafft haben.
Das birgt aber das Risiko, dass das Schiff abrutscht und 70 Meter in die Tiefe sackt.
Eine Gefahr für alle Einsatzkräfte, die dann mitgerissen werden könnten.
Außerdem ist es schwierig, dort unten überhaupt was zu sehen.
Es ist dunkel, überall versperren schwimmende Möbel, Stoffe und schmutzt die Sicht.
Die Leichen erkennen sie meist erst richtig, wenn sie schon gegen sie geschwommen sind.
In der Schiffsküche erschwert überall aufgequollenes Brot die Arbeit.
Trotzdem können die Einsatzkräfte dort schließlich zwei Leichen von Crewmitgliedern bergen.
Im Bordrestaurant erwartet die TaucherInnen ein ebenso grausiges Bild.
Die Toten treiben im Smoking und Abendkleid durch den großen Saal.
Die traurige Zwischenbilanz nach drei Tagen Suche.
Es werden immer noch 29 Personen vermisst.
Und eine von ihnen ist immer noch Gabi.
Angelika hatte an dem Abend noch eine Weile auf dem Felsen vergeblich darauf gehofft,
dass ihre Freundin ebenfalls den Weg durchs Wasser an Land gefunden hatte.
Aber Gabi kam nicht an.
Angelika ist zurück nach Deutschland gekehrt und verfolgt von dort die Nachrichten.
Immer in der Hoffnung, dass Gabi doch noch lebend im Schiffsinneren geborgen wird.
Ihre Nerven liegen deswegen völlig blank.
Die Ungewissheit, nicht zu wissen, was mit Gabi passiert ist, wo sie ist, wie es ihr geht, frisst sie innerlich auf.
Sie kann nicht arbeiten.
Ihr Tag besteht nur aus Warten und Hoffen.
Manchmal ertappt sie sich dabei, wie sie nach ihrem Telefon greift und Gabis Nummer wählt.
So, wie sie es früher immer getan hat.
Doch auf der anderen Seite ist niemand erreichbar.
In den Momenten trifft es sie ganz hart.
Gabi ist nicht da.
Fast zwei Wochen geht das so und mit jedem Tag schwindet ihre Hoffnung ein kleines bisschen mehr.
Bis sich die bayerische Polizei bei Angelika meldet und sie bittet, auf die Wache zu kommen.
Der Beamte dort ist freundlich zu ihr.
Reicht ihr ein Glas Wasser?
Dann beginnt er zu erzählen.
Die italienischen Behörden haben Gabi gefunden.
Ihren Körper konnte die Polizei nur noch anhand ihrer DNA-Spur identifizieren.
Die Worte, die den Mund des Beamten verlassen, rauschen nahezu an Angelika vorbei.
Ihrer Trauer kann sie sich nicht stellen.
Noch nicht.
Sie kann das Gefühl der Einsamkeit noch nicht zulassen.
Sie muss jetzt funktionieren.
Es gibt viel zu tun.
Viel für Gabi zu tun.
Angelika kümmert sich um Gabis Wohnung, um eine Traueranzeige, die Feuerbestattung.
Sonst gab es niemanden um Gabis Leben, der sich jetzt darum kümmern würde.
Die Beschäftigung, das Huschen von Termin zu Termin, lenkt sie von dem riesigen Loch ab, das tief in ihrem Herzen klafft.
Angelika tut alles, damit es nicht still um sie wird.
Stille erträgt sie nicht.
Denn dann kommen die Gedanken und die Erinnerungen an die Schicksalsnacht.
Daran, dass sie in all dem Gedränge die Hand ihrer Freundin verlor und sie jetzt nie wiederhalten wird.
32 Menschen verlieren nach diesem Freitag den 13. Januar ihr Leben.
Neben Gabi noch weitere elf Deutsche.
Sieben Menschen aus Italien, sechs aus Frankreich, zwei aus Peru, ein Ehepaar aus den USA, sowie ein Inder, ein Spanier und ein Ungar.
32 Menschenleben sind ausgelöscht und das nur, weil ein Kreuzfahrtschiff vor einer Insel auf Grund gelaufen ist.
Die Frage danach, wieso etwas passieren konnte, interessiert natürlich nicht nur die Presse, sondern auch die Polizei.
Und so beginnen die Ermittlungen schon am Tag nach dem Unglück.
Zu diesem Zweck wird zunächst Kapitän Scatino befragt, der Mann, der die oberste Verantwortung auf dem Schiff hatte.
Außerdem wird die Blackbox, der Datenschreiber der Costa Concordia an Bord beschlagnahmt.
Der gibt den ermittelnden Aufschluss über die genaue Route des Schiffs.
Mit Hilfe von Telefonmitschnitten, der Analyse von Funkverkehr und zahlreichen ZeugInnen-Aussagen
entsteht ein immer klareres Bild von dem Abend und den Gründen, die zum Tod von so vielen Menschen geführt haben.
Es stellt sich heraus, dass mit voller Absicht so dicht an der Küste vorbeigefahren wurde.
Kapitän Scatino hatte das genau so gewollt, und zwar, weil er ein Manöver vorhatte.
Er wollte, dass sich die Costa Concordia vor der Insel Giglio verneigt.
Eine Praktik, bei der Kreuzfahrtschiffe ganz nah ans Festland heranfahren, langsamer werden und dann die Nebelhörner ertönen lassen.
So verbeugt sich das Schiff und seine Besatzung zum Gruß der Menschen an Land.
Ein waghalsiges Manöver, das schließlich für eine Verneigung des riesigen Schiffs und ein tödliches Ende der Kreuzfahrt gesorgt hatte.
Nachdem die Staatsanwaltschaft fast ein ganzes Jahr lang rund 50.000 Seiten Beweismaterial gesammelt hat,
ist man sich sicher, Kapitän Scatino und fünf andere sind schuld am Tod der Menschen.
Darunter der erste Offizier, der Steuermann und der Leiter der Krisenkoordination der Costa-Reederei.
Alle können mithilfe ihrer Rechtsbeistände ein Deal für sich rausschlagen, ohne dass es zu einem Prozess für sie kommt.
Auch die Reederei selbst.
Für eine Zahlung von einer Million Euro Strafe werden die Ermittlungen gegen sie eingestellt,
was für enorme Empörung bei den Opfern sorgt.
Der Einzige, für den ein Deal nicht funktioniert, ist Kapitän Scatino.
Der bietet der Staatsanwaltschaft 40 Monate Haft an, was die mit der Bemerkung lächerlich abtut.
Ab Mitte Juli 2013 will die ihn auf der Anklagebank sehen.
Ein Mammutprozess liegt vor der italienischen Justiz.
Insgesamt 4228 Menschen gelten als geschädigt.
250 NebenklägerInnen mit über 60 AnwältInnen sind vom Gericht zugelassen.
Außerdem kommt die Presse aus aller Welt.
Für diesen Andrang ist das Justizgebäude der toskanischen Provinzstadt Grosseto nicht gemacht.
So wird das städtische Theater kurzfristig zum Gerichtssaal umfunktioniert,
um die etwas andere Art von Aufführung zu beherbergen.
Der Auftritt, auf den alle warten, findet schließlich am 17. Juli um 9.30 Uhr statt.
Francesco Scatino betritt braun gebrannt und mit dunklem Anzug den Theatersaal.
Der mittlerweile 52-Jährige nimmt neben seinen beiden Anwälten rechts unten vor dem Orchestergrabenplatz.
Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich die Staatsanwaltschaft ein.
Kurze Zeit später geht's los.
Drei Richter laufen auf die Bühne und lassen sich an einem langen, rot betuchten Tisch nieder, dicht nebeneinander.
Auf der riesigen Leinwand hinter ihnen prangt in weißen Großbuchstaben der Satz auf Italienisch
»Vor dem Gesetz sind alle gleich«.
Dann wird die Anklage verlesen.
Mit verschränktem, arm- und teilnahmslosem Gesichtsausdruck lauscht Scatino dem Schriftstück,
das von 157 Menschen erzählt, die durch die Katastrophe körperliche und psychische Schäden davon getragen haben
und die Namen aller 32 Opfer auflistet, die an jenem Tag qualvoll gestorben sind.
Die 5-jährige Diana und ihr Vater fanden ebenso wie Angelika, Gabi, Matthias und Marcel keinen Platz in Rettungsbooten und ertranken.
Die 25-jährige Erika hatte einen Platz, fiel aber aus dem Boot und wurde vom Sog des sinkenden Schiffes unter Wasser gerissen,
weil sie keine Rettungsweste trug.
Russell, ein Kellner, fühlte sich mehr für die PassagierInnen verantwortlich als der Teil der Besatzung,
der eigentlich für die Evakuierung zuständig war.
Offenbar blieb er dabei zu lang an Bord und starb.
Scatino wird vorgeworfen, Schuld an dem Schicksal der Menschen zu sein.
Und das nicht nur aufgrund des riskanten Manövers, das er unbedingt fahren wollte,
sondern auch, weil er sich danach nicht um eine vorschriftsmäßige Evakuierung gekümmert hat.
Scatino selbst sieht das nicht so.
Seine Anwälte erklären nach der Anklageverlesung, dass ihr Mandant sich nicht als Hauptverantwortlicher für die Katastrophe sieht.
Ein Teil der Verantwortung sei er bereit zu übernehmen.
Aber eben nur ein Teil.
Doch mit jedem Auftritt der ZeugInnen wird Scatinos Ansicht mehr in Zweifel gezogen.
Ein Offizier nach dem anderen sagt aus, was der Kapitän in dieser Nacht an Anweisung erteilt hat.
Auch der Leiter der Küstenwache, Gregorio de Falco, kann Scatinos schwer belasten.
Um die Aussage der ZeugInnen zu untermauern, lässt die Staatsanwaltschaft immer wieder Telefonate und Funkgespräche zwischen der Costa Concordia und der Küstenwache abspielen
und Videos, die die Ereignisse auf der Kommandobrücke zeigen.
Das beharrliche, hektische Piepsen etlicher Alarmglocken halt durch das Theater
und lässt den Abend und die Nacht des 13. Januar 2012 im Gerichtssaal noch einmal aufleben.
Das Essen mit seiner geliebten Dominika läutet für Kapitän Scatino an diesem Freitag den Abend ein.
Gestört wird das romantische Dinner nur kurz durch den Oberkellner Antonello.
Er macht Scatino darauf aufmerksam, dass sie gleich an der Insel Giglio vorbeifahren werden.
Seine Mutter wohne dort und es wäre doch toll, wenn die Costa Concordia sich zur Begrüßung verneigen würde.
Scatino verspricht dem Kellner, sich darum zu kümmern.
Kurze Zeit später verlässt er dann mit Dominika das Restaurant und führt sie hoch auf die Kommandobrücke, wo sie eigentlich nichts zu suchen hat.
In dem Moment ist die Costa Concordia gerade mit 15 Knoten unterwegs.
Knapp 28 Kilometer pro Stunde, eine zügige Reisegeschwindigkeit, die Schiffe nur auf freier See machen.
Trotz der hohen Geschwindigkeit lässt Scatino seine Besatzung auf Handsteuerung umstellen.
Ein Steuermann schaltet daher den Autopiloten aus.
Während das Schiff nun viel zu schnell durch das Wasser vor der Küste von Giglio, das von Felsen übersät ist, jagt,
lässt Kapitän Scatino den Steuermann den Kurs mehrfach ändern.
Er will ganz nah an die Insel, so nah wie nur irgend möglich.
Will sich und den anderen zeigen, wie gut er das 50.000 Tonnen schwere Schiff im Griff hat.
Immer wieder gibt Scatino Anweisungen und Gradzahlen durch,
ordnet an, dass anstatt der üblichen 5 Seemeilen mit einer Entfernung von nur 0,5 Seemeilen an die Insel gefahren werden soll.
Und zwar noch schneller, mit 16 Knoten.
Die Kommunikation unter der Besatzung auf der Brücke ist chaotisch.
Überwiegend wird Italienisch gesprochen, weil das aber nicht alle verstehen,
teilweise aufgebrochenes Englisch gewechselt, was für Verständigungsprobleme sorgt.
Und dann schreit ein Offizier beim Blick aus dem Fenster entsetzt,
Wir sind links zu nah.
Danach gibt der Kapitän sofort den Befehl zum Gegensteuern.
Sein letztes Kommando ist nur noch ein Schrei.
Es ist zu spät.
Genau sieben Sekunden nach 21.45 Uhr schert das Heck der Costa Concordia durch die abrupte Ruderbewegung aus
und der Rumpf schrammt über einen Felsenriff.
Mein Gott, was habe ich getan?
brabbelt Kapitän Scatino noch vor sich hin.
Dann bricht ein ungeheuerlicher Lärm auf der Brücke aus.
Jede Gerätschaft, die irgendwie läuten kann, schlägt Alarm.
Jeder Bildschirm blinkt rot auf.
Drei Minuten später dingelt das Telefon auf der Kommandobrücke.
Scatino nimmt ab.
Der Chefingenieur am anderen Ende gibt ihm zu verstehen, dass der Maschinenraum komplett überflutet ist.
Kaum hat er wieder aufgelegt, fragt ein Crewmitglied den Kapitän, ob sie die Reisenden informieren sollen.
Scatino weist an, zu sagen, dass es sich um einen Stromausfall handele.
Er will die Reisenden beruhigen.
Kurz darauf klingelt wieder das Telefon.
Es ist die Küstenwache, die fragt, ob alles okay sei.
Scatino spielt die Katastrophe herunter, spricht von einem Stromausfall, was eine Lüge ist.
Nervös führt Scatino zig Telefonate mit der Reederei, während das Wasser im Schiff Zentimeter um Zentimeter steigt.
Erst ungefähr eine Dreiviertelstunde nach der Kollision teilt der Kapitän der Küstenwache mit, dass es ein Leck an Bord gibt.
Doch die Evakuierung leitet er noch immer nicht ein, obwohl Scatino weiß, dass das Schiff vollläuft.
Erst nachdem der Kapitän von seiner Besatzung dazu gedrängt wird, löst er den Alarm aus.
So wird erst mehr als eine Stunde nach der Kollision die Evakuierung eingeleitet.
Gegen halb zwölf telefoniert Scatino ein weiteres Mal mit der Küstenwache und sagt, dass er die Evakuierung der restlichen Reisenden koordiniert und bis zum Schluss an Bord bleibt.
Doch das stimmt nicht ganz, denn noch vor Mitternacht verlässt der Kapitän zusammen mit einigen anderen Besatzungsmitgliedern in einem Rettungsboot das sinkende Schiff.
Während Angelika, Gabi, Matthias und Marcel und hunderte andere Menschen Todesangst haben und um ihr Leben kämpfen.
Erst gegen halb eins erreicht die Küstenwache den Kapitän auf seinem Handy.
Der diensthabende Offizier will wissen, wie viele Menschen das Schiff noch verlassen müssen.
Scatino antwortet, dass noch etwa 40 Menschen vermisst würden.
Daraufhin fragt der Offizier, wie kann es sein, dass es nur so wenige Menschen sind?
Sind sie an Bord?
Der Kapitän, nein, ich bin nicht an Bord, weil das Schiff untergeht, wir haben es verlassen.
Entsetzt fragt der Offizier, was meinen Sie, Sie haben das Schiff verlassen?
Nein, nicht verlassen, ich bin hier und koordiniere die Rettungsaktion, lügt Scatino.
Nun herrscht der Offizier ihn an.
Was koordinieren Sie da?
Weigern Sie sich?
Gehen Sie zurück an Bord und koordinieren Sie die Rettungsaktion von dort.
Danach reißt der Kontakt zwischen der Küstenwache und dem Kapitän erneut ab.
Gegen Viertel vor zwei nimmt Scatino dann wieder ein Gespräch an seinem Handy entgegen.
Hören Sie, Scatino, es gibt Menschen, die an Bord eingeschlossen sind,
erklärt ihm diesmal der Leiter der Küstenwache, Gregorio De Falco.
Sie fahren jetzt mit ihrem Rettungsboot unter die rechte Seite des Bugs.
Da ist eine Leiter.
Sie gehen die Leiter hoch und an Bord des Schiffes.
Sie gehen an Bord und sagen mir, wie viele Personen dort sind.
Ist Ihnen das klar?
De Falco drängt und fordert, doch der Kapitän lenkt nicht ein.
Dann droht De Falco Scatino.
Sie haben sich vielleicht aus dem Meer gerettet, aber ich sorge dafür, dass Sie echte Schwierigkeiten bekommen.
Gehen Sie verdammt nochmal an Bord.
Mehrfach fordert er den Kapitän auf, zurückzukehren und zu helfen.
Doch Scatino kehrt nicht zurück.
Im Gerichtssaal sieht man, dass Kapitän Scatino die Aussagen angespannt verfolgt.
Immer wieder schüttelt er seinen Kopf und lacht ungläubig.
Doch in dem Moment, als De Falcos Worte, gehen Sie verdammt nochmal an Bord, ertönen, hält er kurz inne und senkt seinen Blick.
Unruhig später mit einem Stück Papier herum, das er in der Hand hält.
Einige Tage später möchte nun auch der Kapitän selbst etwas sagen.
Für all die Dinge, die ihm vorgeworfen werden, hat er nämlich eine Erklärung.
Und die lautet, eigentlich kann er für diese Katastrophe nicht wirklich was.
Eine These, die der Kapitän mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein vor Gericht vertritt.
Zunächst einmal erklärt er, dass es mehrere Gründe dafür gab, dass die Costa Concordia so gefährlich nahe an die Insel Giglio gefahren ist.
Ich wollte drei Fliegen mit einer Klappe schlagen, sagt Scatino zu den Richtern gewandt.
Erstens habe er ein bisschen Publicity für die Costa-Räderei machen wollen.
Zweitens habe ihn der Oberkenner gebeten, ihm diesen Gefallen zu tun, weil seine Mama auf Giglio wohnt und er sie gerne grüßen wollte.
Und drittens habe er einem ehemaligen Kollegen, der ein Haus auf Giglio besitzt, die Ehre erweisen wollen.
Die Nachfrage vom Vorsitzenden, ob nicht seine Affäre Dominica der Grund für das Manöver gewesen sei, verneint der Kapitän und meint,
alles in allem habe eine Dummheit zu der Katastrophe geführt.
Da sind eindeutig zugeordnete Aufgaben nicht erfüllt worden.
Und mit dieser Aussage verdeutlicht Scatino, wem er die Schuld daran gibt, dass die Costa Concordia mit mehr als 4200 Menschen an Bord auf einem Felsen aufgelaufen und gesunken ist, nämlich vor allem seiner Besatzung.
Denn die habe ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, dass das Schiff sich viel zu nah an der Küste befinde.
Ganz besonders sieht der Kapitän seinen indonesischen Steuermann in der Schuld.
Der habe die auf Englisch gegebenen Befehle nicht richtig verstanden und so nicht korrekt befolgt.
Auch der Costa-Reederei gibt Scatino eine Mitschuld.
Sie hätte aus kommerziellen Interessen nämlich die Verneigung der Kreuzfahrtschiffe vor den Küsten ausdrücklich gebilligt.
Die Frage des Vorsitzenden, was denn seine Funktion an Bord des Schiffes gewesen sei, beantwortet Scatino folgendermaßen.
Auf dem Schiff komme ich als Kapitän gleich nach Gott.
Immer wieder fällt Scatino mit solch arroganten und total realitätsfernen Äußerungen auf.
So erklärt er, nachdem er gefragt wird, ob es aufgrund der vielen schreienden Menschen nicht Grund für eine schnelle Evakuierung gegeben habe.
Die Menschen schreien auch in Achterbahn.
Und als der Richter nachfragt, warum er denn so früh von Bord gegangen sei, erklärt er, ich bin gestrauchelt und lag plötzlich im Rettungsboot.
Scatino sei also nicht freiwillig von Bord gegangen, sondern wegen der Schrägstellung des Schiffs gefallen.
Auch zwischen den Verhandlungstagen zeigt Scatino sich sehr mitteilsam.
Gerne gibt er den zahlreich angereisten Pressevertreter in Interviews,
tritt an der Universität von Rom als Gastredner in einem Masterkurs für Krisen- und Notfallmanagement auf
und erklärt der Welt seine Sicht der Dinge.
Nur entschuldigen, das mag der Kapitän sich nie.
Von den italienischen Medien erhält er dafür den Namen Kapitän Feigling und den Titel
Italiens meistgehasster Mann.
Für die Bild-Zeitung ist Scatino der Lügenkapitän
und auch im Spiegel lautet die Schlagzeile
Capitano Dilettante, der Amateurkapitän.
Anfang Februar ist nach fast 70 Sitzungstagen die Zeit reif für die Schlussplädoyers.
Zuerst äußert sich Scatinos Verteidigung.
Ich verlange für Scatino den Freispruch, weil so viele andere Umstände zum Ausgang dieses Ereignisses mit beigetragen haben.
Er ist nicht vorbestraft, er ist anständig, das war ein Unfall, Herr Vorsitzender.
Einer dieser verfluchten Unfälle, die jedem passieren können, der zu See fährt.
Seine Anwälte sind der Meinung, dass die Staatsanwaltschaft ihren Mandanten als alleinigen Angeklagten vorverurteilt habe,
während die anderen Mitverantwortlichen mit außergerichtlichen Einigungen belohnt worden seien.
Zum Vorwurf, der Kapitän habe den Alarm zu spät ausgelöst, heißt es im Plädoyer,
der Kapitän sei nicht tatenlos gewesen, sondern habe versucht herauszufinden, was zu tun sei.
Mehr als 4000 Menschen ins Wasser zu bringen, war die gefährlichste Sache.
Das Schiff ist immer das sicherste Rettungsboot.
Für den Tod von 32 Menschen sollen laut Schettinos Verteidigung vor allem die Kommunikationsprobleme
mit nicht-italienischsprachigen Besatzungsmitgliedern und ein technischer Defekt verantwortlich sein.
Das Unglück sei ein unvorhergesehenes, außergewöhnliches und nicht absehbares Ereignis gewesen.
Der Staatsanwalt ist da allerdings ganz anderer Meinung.
Er bezeichnet den Kapitän als unvorsichtigen Idioten, Feigling und Lügner.
Und er sagt, Gott soll Gnade mit ihm haben, weil wir keine haben können.
Er fordert 26 Jahre und drei Monate Gefängnis für Scatino.
Wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, fahrlässigen Herbeiführens einer Havarie,
fehlender Kommunikation mit den Behörden und Verlassen des Schiffs.
Den letzten Punkt fanden wir vor allen Dingen spannend, weil klar, man weiß, dass es diesen Satz gibt.
Der Kapitän geht als Letzter von Bord.
Und natürlich kennt man auch diese Szene aus der Titanic, in der der Kapitän das Ruder halt noch in der Hand hält,
während das Schiff schon fast im Meer versunken ist.
Aber rechtlich ist das nicht so einfach durchzusetzen.
Zumindest in Deutschland.
Das ist nirgends im Seerecht so explizit festgehalten.
Es gibt also keinen Paragrafen, der ausdrücklich besagt, dass der Kapitän oder die Kapitänin im Notfall an Bord bleiben muss.
Es handelt sich hierbei eher um einen alten Seemanns-Ehrenkodex, also so eine moralische Pflicht, die historisch so gewachsen ist.
Im italienischen Schifffahrtsgesetz sieht das allerdings ein bisschen anders aus.
Hier heißt es in Paragraf 303, Zitat,
Der Kapitän muss das Schiff als Letzter verlassen und dabei nach Möglichkeit die Karten und Lockbücher retten,
sowie die Wertgegenstände, die ihm anvertraut wurden.
KapitänInnen, die dagegen verstoßen, können in Italien zur Haftstrafe von bis zu zwölf Jahren verurteilt werden.
Und da die Costa Concordia in italienischen Gewässern gesunken ist und übrigens auch unter der italienischen Flagge fuhr,
kann die Staatsanwaltschaft ihn auch deswegen anklagen.
Warum SchiffsführerInnen allerdings auch in Deutschland nicht einfach so gehen können, wann sie wollen,
erklärt uns Max Johns, Professor für Maritimmanagement und ehemaliger Geschäftsführer des Verbands Deutscher Räder.
Der Kapitän ist in der Hauptfunktion als Kapitän oder Kapitänin dafür verantwortlich,
dass die ganze Besatzung und auch die ganzen Passagiere gerettet werden.
Das ist die Hauptpflicht.
Das Schiff kommt danach.
Das Schiff kann ruhig untergehen.
Das ist ein Sachschaden.
Es kommt auf die Menschen hier vor allem an.
Und es gibt zwei große Konventionen.
Das ist einmal die SOLAS-Konvention.
Da geht es um Sicherheit auf See.
Und es gibt die zweite Konvention der Vereinten Nationen, die STCW.
Da geht es um das Training und die Ausbildung von Seeleuten.
Und unter SOLAS ist festgeschrieben, dass Kapitän nicht nur für die sichere Navigation des Schiffes verantwortlich ist,
sondern auch die ultimative Verantwortung trägt.
Und das ist eben auch die ultimative Verantwortung im Rettungsfall.
Und da muss Kapitän und dann auch die Offiziere allen Menschen helfen, die in Gefahr geraten sind.
Und das zweite, da wird dann nochmal festgeschrieben in STCW, dass die Evakuierung eines Schiffes auf jeden Fall zu den Pflichten des Kapitäns gehört.
Und es ist, und das ist in einigen Sätzen dann auch vorgeschrieben und gehört natürlich zur Tradition auch dazu,
dass so eine Evakuierung nur von Bord aus wirklich koordiniert werden kann.
Der Kapitän bzw. die Kapitänin hat also eine Fürsorgepflicht für die Menschen an Bord.
Professor Dr. Johns hat erklärt, dass deshalb SchiffsführerInnen, wenn sie ihr Schiff im Notfall im Stich lassen,
auch in Deutschland mit Konsequenzen rechnen müssen.
Das können zum einen berufliche Konsequenzen sein, wie beispielsweise eine Kündigung, aber auch strafrechtliche.
Da gibt es am Ende dann kein Urteil wegen Verlassen des Schiffes, wie in Italien.
Aber natürlich kann jemand dann auch zum Beispiel wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt werden.
Das müssen die Gerichte aber dann immer im Einzelfall klären.
Am letzten Verhandlungstag ergreift dann auch Scatino noch einmal das Wort.
Unter Tränen sagt er, an diesem 13. Januar bin auch ich teilweise gestorben.
Von der ersten Stunde nach dem Schiffbruch bis zur letzten Phase dieses Prozesses
wurde mein Kopf in einer Verhandlung angeboten, die ein ganzes Unternehmen hätte einbeziehen sollen
und mich stattdessen als einzigen Angeklagten sieht.
Es ist schwierig, das, was ich lebe, ein Leben zu nennen.
Ja, lassen wir kurz so stehen.
Ja, vor allem in Anbetracht dessen, dass der Typ gar nicht in Haft sitzt.
Also der ist während der Verhandlung nicht in Untersuchungshaft, sondern in Hausarrest.
Als er diese letzten Worte ausspricht, versagt ihm unter heftigem Schluchzen die Stimme.
Als am 11. Februar 2015 die Richter zum letzten Mal auf der Bühne Platz nehmen,
bleibt unten vor dem Orchestergraben einsatzfrei.
Kapitän Scatino ist heute nicht anwesend.
Er habe Fieber, erklären seine Anwälte.
Dafür sind aber viele andere Menschen extra für den heutigen Tag angereist.
Die Anspannung im Theater ist groß.
Dann setzt der Vorsitzende an.
Francesco Scatino wird wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung und Körperverletzung,
wegen fahrlässigen Verursachens des Schiffbruchs,
wegen Zurücklassens Hilfebedürftiger in Tateinheit mit dem vorzeitigen Verlassen des Schiffs
und wegen der fehlenden Kommunikation zu 16 Jahren und einem Monat Haft verurteilt.
Das Gericht untersagt dem Kapitän außerdem fünf Jahre lang ein Schiff zu führen
und für den Rest seines Lebens ein öffentliches Amt zu begleiten.
Mit dem Urteil nehmen die Richter alle Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft auf.
Doch bleiben sie deutlich unter dem geforderten Strafmaß.
Die Anwaltschaft zeigt sich nach dem Urteilsspruch trotzdem zufrieden.
Der langwierige Prozess hat allen Nerven gekostet.
Doch schließlich konnte er antworten auf all die Fragen der über 3000 PassagierInnen
und fast 1000 Besatzungsmitglieder liefern,
die sich schon seit über drei Jahren die Frage stellen,
wie aus einem netten Urlaub so eine Todesfahrt werden konnte.
Die Fehler, die an jenem Abend gemacht wurden,
reihen sich aneinander wie die PassagierInnen an der Gangway,
bevor sie das erste Mal das Schiff bestiegen.
Rettungsübungen wurden nicht vorschriftsmäßig durchgeführt,
Besatzungsmitglieder wussten ihre Rollen nicht
und hatten teilweise nicht entsprechende Nachweise für ihre Rettungsausbildung.
Die Schiffsführung hätte bereits nach 15 Minuten nach der Kollision,
nachdem bekannt war, dass mindestens drei Abteilungen geflutet waren,
die Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung informieren
und die Evakuierung einleiten müssen.
Stattdessen tat sie dies erst kurz vor elf,
also knapp eine Stunde zu spät.
Außerdem wurden zuerst die Boote der Steuerbordseite benutzt,
also der Seite, die zum Land gerichtet war und ins Wasser hing,
obwohl abzusehen war, dass bei zunehmender Neigung der Costa Concordia
die Rettungsboote auf der anderen Seite
nicht mehr ins Wasser gelassen werden konnten.
Die Liste ist ewig lang und natürlich steht auf Scatinos Versagen darauf,
dass für seinen Rechtsbeistand zu hart verurteilt wurde.
Und auch Scatino selbst ist enttäuscht davon,
dass er wegen vorzeitigen Verlassen des Schiffes verurteilt wurde.
Weil er ja angeblich nichts für seinen vorzeitigen Abgang kann,
will er sich mit dem Urteil nicht zufrieden geben und legt Revision ein.
Doch die bleibt erfolglos.
Aus dem Gefängnis heraus legt er dann im Januar 2018 Beschwerde für seine Verurteilung
beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein.
Bis heute gibt es keine Entscheidung.
Wenn Scatino nicht gerade versucht, aus der Haft zu kommen,
soll er berichten, zufolge regelmäßig meditieren und Jura und Journalismus studieren.
Ansonsten soll er sich von seinen Verwandten gerne mehr Wasser ins Gefängnis mitbringen lassen,
um seine Haare damit zu benetzen.
Inzwischen darf er allerdings das Gefängnis tagsüber verlassen und gemeinnütziger Arbeit nachgehen.
Matthias und Marcel haben den Prozess und auch das, was Scatino danach veranstaltet hat,
von Deutschland aus engmaschig verfolgt.
Matthias hat sich sogar einen Google-Alert eingestellt,
um nicht eine Meldung über den Kapitän zu verpassen.
Was die beiden Männer von den 16 Jahren Haft halten, hat uns diesmal Marcel erzählt.
Ob das angemessen ist oder nicht, kann jeder für sich selber bewerten.
Was uns beiden im Nachhinein wirklich negativ aufgefallen ist
und was uns auch gestört hat, ist, dass nur Scatino und ich glaube ein, zwei Leute noch angeklagt wurden.
Wir sind der Auffassung, dass dort viel, viel mehr Leute zur Verantwortung hätten gezogen werden müssen.
Denn die ganze Riege der Offiziere hat sich, als das Unglück passiert ist,
vom Schiff gestohlen, auf gut Deutsch.
Die haben sich alle über eigene Rettungsboote in Sicherheit gebracht.
Dort war keiner da, der was organisiert hat, der was koordiniert hat.
Und die haben im Endeffekt die komplette Führungsriege, die Leute ihrem Schicksal überlassen.
Und das ist nie richtig aufgearbeitet worden.
Und das ist eine ganz große Sauerei aus unserer Sicht.
Ja, und das kann ich total nachvollziehen, dass man unzufrieden ist damit,
dass sich da alle schön mit so Deals aus der Affäre gezogen haben, mehr oder weniger.
Ja, also dafür gibt es doch die Strafverfolgungsbehörden,
damit ganz genau aufgeklärt werden kann, was passiert ist und wen welche Schuld trifft.
Und ganz ehrlich, natürlich trifft Scatino hier die größte Schuld,
aber es kommt halt auch ein bisschen so rüber wie das Bauernopfer,
weil die anderen sich so einfach aus der Affäre stehlen konnten
und mit Bewährungsstrafen davon gekommen sind.
Er bietet sich halt auch sehr als Bauernopfer an, muss man dazu sagen.
Ja, das stimmt.
Also Opfer möchte ich da auch wirklich nur in Anführungsstrichen setzen.
Ja.
Ehrlicherweise finde ich die 16 Jahre Haft für ihn gerechtfertigt.
Also das wäre in Deutschland eine Verurteilung wegen Mordes.
Also lebenslang ab 15 Jahren kann man dann einen Antrag auf Bewährung stellen.
Das finde ich schon in Ordnung.
Und was diese Schuldverteilung angeht, wissen wir ja auch aus deutschen Fällen,
wie bei der Love Parade, dass sobald da mehrere Leute ihre Finger im Spiel hatten
und die Schuld auf mehreren Schultern eigentlich liegt,
das halt auch eine super Umgebung ist, um sich dann nachher aus der Affäre ziehen zu können.
Ja, ich finde die 16 Jahre auch gerechtfertigt,
vor allem in Anbetracht dessen, wie Scatino sich nach diesem Manöver verhalten hat.
Also ja, schon alleine dieses Manöver zu fahren,
war komplett fahrlässig und hirnrissig und total bescheuert
und es geht gar nicht und peinlich und alles Schlimme.
Aber wie kann man danach so handeln, wie er das gemacht hat?
Weil ich kann mir vorstellen, dass wenn er danach direkt richtig gehandelt hätte,
man die Leute hätte retten können, weil es war ja nicht so weit weg von dem Festland
und es waren ja HelferInnen auch unterwegs, die wären doch so schnell da gewesen,
wenn er das nach diesen 15 Minuten gemacht hätte.
Und da muss man ja auch nochmal dazu sagen, dass die alle total Glück hatten,
dass der Wind an diesem Tag so war,
weil er das Schiff auch nachdem das schon nicht mehr richtig steuerfähig war,
so dicht noch an die Küste geschoben hat.
Denn unter anderen Windverhältnissen wäre das, das wurde nachher ermittelt,
weiter raus aufs Meer getrieben und dann wäre das Schiff in 100 Metern Tiefe gesunken
und dann hätte es viel mehr Todesopfer gegeben.
Ja.
Die Costa-Reederei hat danach jedem Passagier und jeder Passagierin 11.000 Euro als Entschädigung angeboten.
Marcel hält das für wenig.
Er meint, Zitat,
Costa hat den Betroffenen Hilfe zugesagt und dieses Versprechen löst das Unternehmen nicht ein.
Stattdessen geht es ihnen nur darum, sich in der Öffentlichkeit ins rechte Licht zu rücken
und alle Schuld aufs Gettino zu schieben.
Trotzdem nehmen er und Matthias die Zahlung am Ende an.
Und auch Angelika hat die Zahlung akzeptiert.
Ich habe ja keine Verletzung und die Gabi bringt mir kein Geld der Welt zurück, sagt sie.
Lange Zeit nach dem Unglück findet Angelika nur schwer in den Schlaf.
Albträume suchen sie heim.
Albträume, in denen sie plötzlich wieder auf der Costa Concordia ist.
Angelika läuft und läuft, doch sie kommt nicht vorwärts.
Dann kippt das Schiff um und Angelika schreckt aus ihrem Schlaf hoch.
Manchmal träumt sie auch davon, an Gabis Stelle gewesen zu sein.
Dann bleibt sie auf dem Schiff, sieht ihre Freundin wegschwimmen und schafft es selbst nicht mehr.
Die Frage, warum sie überlebt hat und ihre Freundin nicht, beschäftigt Angelika noch immer.
Die Kosten für Gabis Beerdigung hat die Costa-Reederei übernommen.
So oft sie kann, besucht Angelika das Grab ihrer Freundin.
Um weiterleben zu können, musste sie Gabis Tod akzeptieren und abschließen.
Dabei hat ihr vor allem auch der Trauergottesdienst in der kleinen Kapelle auf Giglio einen Monat nach dem Unglück geholfen.
Den hat Angelika gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem Enkel besucht.
Die Messe wurde auf Italienisch gehalten.
Deshalb hat Angelika kaum ein Wort verstanden.
Doch das musste sie auch nicht.
Dort war so eine friedliche Stimmung, erzählt sie.
Als würde Gabi sagen, lass los.
Alles ist gut.
Mir geht's gut.
Im Sommer 2012, ein paar Monate nach der Tragödie,
kehren auch Matthias und Marcel noch einmal gemeinsam mit ihren Frauen auf die Insel zurück.
Die Männer werden genau wie Gabi noch lange von der Unglücksnacht verfolgt.
Immer wieder sind sie da, die Bilder der panischen Menschen.
Und immer wieder hören sie auch den hohen, spitzen Schrei der alten Dame,
die gemeinsam mit ihrer Freundin von den Fluten in den Fahrstuhlschacht gerissen wurde.
Beide Männer brauchen in der Zeit danach psychologische Hilfe.
Marcel fährt es besonders schwer, sein Gedankenkarussell zu stoppen.
Weil mir wochenlang, monatelang, jahrelang der Gedanke durch den Kopf gegangen ist,
was wäre gewesen, wenn ich mit meinen Kindern an Bord gewesen wäre.
Hätte ich die alle retten können?
Hätte ich meine Familie in Sicherheit bringen können?
Nochmal einen Fuß auf ein Kreuzfahrtschiff setzen, ist nicht mehr drin für Marcel.
Sein Kumpel Matthias hingegen stellt sich seine Angst jetzt seit Jahren.
So erfolgreich, dass er mittlerweile wieder gerne auf den Meeren dieser Welt unterwegs ist.
Mittlerweile ist es so, dass ich mich wohlfühle auf dem Schiff,
dass ich wirklich den Urlaub genieße, den ich auf dem Schiff habe.
Ich fahre aber nur Costa.
Klingt vielleicht blöd, aber ich fühle mich trotz der Katastrophe sicher auf Costa-Schiffen.
Doch jedes Jahr im Januar kommen auch heute noch die Bilder zurück,
die sie an das Schrecklichste erinnern, was die beiden Männer in ihrem Leben je erlebt haben.
Es kommt ja im Endeffekt immer wieder so zum Jahrestag des Unglücks alles hoch.
Ich denke mal, wir sind beide Meister des Verdrängens.
Deshalb können wir mit der ganzen Geschichte auch ganz gut umgehen.
Wir können unseren Alltag ganz normal leben.
Aber wenn dann wieder der 13. Januar ansteht, dann kommen die Erinnerungen hoch.
Dann redet man drüber.
Und dann sind natürlich die Gedanken auch immer bei den zwei älteren Frauen,
die ihr Leben dort lassen mussten.
Und das wird uns auch unser ganzes Leben verfolgen.
Ja, und weil dieser Jahrestag eben jetzt auch wieder bald ansteht,
haben wir diese Folge extra jetzt auf dieses Veröffentlichkeitsdatum gesetzt,
damit wir alle diesen Opfern gedenken können.
Denn elf Jahre danach ist das immer noch ein Fall,
der in vielen, vielen Köpfen noch sehr präsent ist.
Ja, es ist ja wirklich so, wie Marcel jetzt gesagt hat,
also bei den Menschen, die auf der Costa Concordia waren,
das waren ja über 4000, ist das ja nicht vergessen,
wie würde ich mal sagen, bei den meisten Leuten,
die in den Tagen damals dann dieses Schiff gesehen haben
und sich gedacht haben, wie kann das denn sein?
Und immer irgendwie diesen Kapitän im Kopf haben.
Aber da gab es ja so viele Opfer, nicht nur die 32 Todesopfer,
sondern hunderte von Menschen, die bis heute unter dieser Katastrophe leiden
und unter den Fehlern, die dieser Mann da begangen hat.
Ja, und das sind eben auch nicht nur die 157,
die da NebenklägerInnen vor Gericht waren.
Also nur, weil sich nicht jeder damit hat auseinandersetzen können
und die Kraft besessen hat, da sich anwaltliche Hilfe zu holen,
heißt das ja nicht, dass die nicht genauso leiden wie die oder mehr.
Ja.
Ich meine, Angelika hat ihre Freundin verloren
und das wird immer ihr ganzes Leben lang so bleiben.
Ja.
Das riesige Wrack der Costa Concordia lag noch bis Juli 2014 vor der Insel Giglio,
bis sie mithilfe der aufwendigsten Aktionen in der Geschichte der Seefahrt geborgen
und anschließend im Hafen von Genua verschrottet werden konnte.
Die Entschädigungszahlung mitgerechnet kostet das die Costa-Reederei 1,5 Milliarden Euro.
2013 wurde direkt an der Unglücksstelle ein Felsen mit einer Gedenktafel ins Meer gelassen.
Darauf sind neben dem Namen Gabi Maria Grube auch noch diese 31 weiteren zu lesen.
Dianna Arlotti
William Arlotti
Elisabeth Bauer
Michael Blemont
Thomas Alberto Costilla-Mendoza
Maria Di Trono
Shandro Feher
Horst Galle
Christina Mathilde Gantz
Norbert Josef Gantz
Luisa Antonia Virzi
Giuseppe Girolamo
Pierre Grégoire
Jean Grégoire
Guglielmo Gual Boades
Barbara Anne Heil
Gerald Frank Heil
Egon Martin Höher
Milène Litzler
Giovanni Massia
Jean-Pierre Michaud
Margarete Neht
Russell Terence Rebello
Inge Schall
Johanna Margret Schröter
Francis Cervel
Erika Fani Zoria Molina
Siglinde Stumpf
Maria Grazia Trekariki
Brunhild Werb
Und Josef Werb
Und mit dem Gedenken an die Opfer verabschieden wir uns jetzt für diese Folge von euch.
Das war ein Podcast der Partner in Crime.
Hosts und Produktion Paulina Graser und Laura Wohlers.
Redaktion Vera Grün und wir.
Schnitt Pauline Korb