00:00:00
In Wirklichkeit bin ich doch ein guter Mensch, Laura, wer hat's gesagt, von all den TäterInnen, die wir bisher bei Mordlust behandelt haben?
00:00:19
Och, also das hört sich irgendwie nach einem Narzissten an. Bestimmt, aber er sagte es nicht zu der Zeit, als wir den Fall aufgenommen haben, sondern jetzt gerade. Dann habe ich das nicht mitbekommen, oder? Weiß ich nicht.
00:00:38
Ja, ich hoffe nicht, sonst habe ich dir ja nichts mehr Neues zu berichten. Und zwar sagt das Josef Fritzl.
00:00:43
Also der Mann aus Österreich, der seine Tochter 24 Jahre lang im Keller eingesperrt und mit ihr sieben Kinder gezeugt hat. Und weißt du, wo er das gesagt hat?
00:00:54
Erstmal muss ich dazu sagen, dass es auf jeden Fall nicht stimmt. Er ist kein guter Mensch. Nein, in keiner Hinsicht kann der ein guter Mensch sein.
00:01:03
Wo er das gesagt hat? Vielleicht in einem Interview, das er aus dem Gefängnis rausgemacht hat?
00:01:10
Nee, in seinem Buch, das er gemeinsam mit seiner Anwältin geschrieben hat.
00:01:14
Nein, nein, nein, nein.
00:01:16
Und dieses Buch verspricht eben, dass man was über die Beweggründe seiner Tat erfahren soll. Und da finden sich natürlich allerlei Ungeheuerlichkeiten des 87-Jährigen.
00:01:29
Also ich habe einige Fragen dazu. Wieso ist das überhaupt erlaubt, dass der ein Buch schreiben darf, was jetzt einfach veröffentlicht wird und der damit ja seinen Kindern und all seinen Angehörigen schadet?
00:01:42
Und zweitens, wenn er solche Ansichten über sich selber hat, dann finde ich, sollte es auch irgendwie einen Schutz für ihn geben, dass sowas nicht veröffentlicht wird.
00:01:56
Weil das zeugt für mich von totaler Realitätsferne und Unmündigkeit.
00:02:03
Also tatsächlich, finde ich, sollte man sich vielleicht mal generell die Frage stellen, gerade als Strafverteidigerin, deren Mandant demnächst einen Antrag auf Entlassung stellen möchte, ob die Veröffentlichung so eines Buchs, wo jemand schreibt, ich bin eigentlich ein guter Mensch, so förderlich ist und nicht vielleicht vermuten lässt, dass jemand sich da nicht genug mit seinen Taten auseinandergesetzt hat und auch nicht genug Reue zeigt.
00:02:30
Was mich ein bisschen schockiert hat, mal abgesehen von der Nachricht an sich.
00:02:33
Ich habe diese Meldung auf Instagram gesehen und die Kommentare darunter haben mich ein bisschen überrascht, weil viele geäußert haben, dass sie das Buch gerne lesen wollen würden, weil sie, Zitat, wissen wollen, wie so ein Psycho tickt.
00:02:47
Und jetzt stell dir vor, du bist seine Tochter und bekommst mit, dass das Buch deines Vaters, schrägstrich Vergewaltiger, schrägstrich Täters ein Bestseller wird, weil die Leute mal seine Seite der Geschichte erfahren wollen.
00:03:01
Nee, also ich meine, viele Leute hören ja auch unseren Podcast, weil sie wissen wollen, was Menschen dazu führt, Taten zu begehen und das interessiert mich auch, aber mich interessiert nicht, was er zu sagen hat, weil die Konsequenz wäre eben, dass sowas veröffentlicht wird und damit den Opfern schadet.
00:03:22
Und außerdem, woher wissen wir denn, dass wir wirklich wissen, was in seinem Kopf abgeht? Das heißt das ja überhaupt nicht, wenn er da ein Buch schreibt, kann ja auch alles gequillte Scheiße und Lügen sein. Also würde ich jetzt auch nicht unbedingt von ausgehen.
00:03:34
Ja, ja, ganz genau. Also es ist natürlich auf jeden Fall ein verklärter Blick und er wird natürlich das schreiben, was er über sich in die Welt tragen möchte.
00:03:42
Also da würde ich zum Beispiel sein psychologisches Gutachten vom Prozess viel interessanter finden, weil man sich dann zumindest auf eine objektive Quelle irgendwie beziehen kann.
00:03:51
Die BILD hat übrigens nach dieser Meldung ein Interview mit seiner Anwältin geführt und hat auch gefragt, wofür die Einnahmen aus dem Buch denn jetzt gut sein sollen.
00:04:00
Und sie sagte, es würde ihm nicht um persönliche Bereicherungen gehen, sondern dass sie gemeinsam überlegen wollen, wie das Geld sinnvoll eingesetzt werden kann.
00:04:08
Er denkt dabei unter anderem an seine Familie. Zitat.
00:04:14
Also ich denke, Josef Fritze hat in seinem Leben viel getan, aber nicht an seine Familie gedacht.
00:04:21
Von daher dachte ich, was ja gut wäre, wenn da jetzt ein öffentliches Interesse an dem Buch bestünde, dass es dann ja besser wäre, wenn nur eine Person das liest und dann einfach eine Zusammenfassung macht, dann muss es nicht so oft gekauft werden.
00:04:38
Und jetzt kannst du dir ja mal überlegen, wie ich meinen letzten Sonntag verbracht habe.
00:04:42
Du hast dir dieses Buch besorgt.
00:04:46
Genau. Und noch zu einem Überfluss habe ich es auch gelesen und ich sagte, das war keine Freude.
00:04:51
Und ich dachte, für die, die Interesse daran haben, können wir am Ende der Folge nochmal darüber sprechen und einen inhaltlichen Abriss darüber geben.
00:05:00
Uh, das ist ein Teaser. Also wenn in dieser Folge die Durchhörrate nicht 100 Prozent ist, dann weiß ich auch nicht mehr.
00:05:08
Und damit herzlich willkommen bei Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime. Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
00:05:15
Mein Name ist Paulina Kraser.
00:05:17
Und ich bin Laura Wohlers. In jeder Folge gibt es ein bestimmtes Oberthema, zu dem wir zwei wahre Kriminalfälle nacherzählen, über die diskutieren und auch mit Menschen mit Expertise sprechen.
00:05:27
Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von Menschen. Bitte behaltet das immer im Hinterkopf. Das machen wir auch, selbst dann, wenn wir zwischendurch mal ein bisschen ungehemmter kommentieren.
00:05:36
Das ist für uns so eine Art Comic-Relief, aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
00:05:39
Machen wir mit noch einem Schocker weiter, wie ich finde. Vielleicht nicht ganz so schockig wie Fritze schreibt ein Buch, aber dennoch.
00:05:49
Und zwar war Deutschland noch nie so krank wie jetzt, also die ArbeitnehmerInnen. 2022 war der Krankenstand nämlich so hoch wie nie zuvor.
00:06:00
Ja, wir haben da nichts von. Also wir sind ja nie krank.
00:06:04
Bei uns in der Folge geht es hier heute auch um Krankheiten mit einem erschreckenden Ende. Allerdings in einer anderen Form. Einige Namen habe ich geändert.
00:06:18
Es war mal wieder ein kräftezehrender Arbeitstag bei der Bundeswehr. Eigentlich hatte sich Ina auf einen entspannten Feierabend gefreut, den sie nach den letzten Monaten, die wirklich alles von ihr abverlangt haben, so dringend gebraucht hätte.
00:06:31
Doch selbst das ist ihr heute nicht vergönnt. Denn als Ina völlig arglos den Schlüssel ihres Briefkastens umdreht, fällt ihr ein Schreiben in die Hand, das sie stutzig macht.
00:06:38
Es ist der Absender, der sie Böses erahnen lässt. Doch wie übel ihr dieser Brief zusetzen wird, dass er ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen wird, davon ahnt Ina in diesem Moment noch nichts.
00:06:49
Ende Juli 2016. Zwei Jahre vor dem Brief.
00:06:55
Es geht schon wieder los. Unzählige Feuerzeuge verwandeln das Ufer der Elbe in ein funkelndes Lichtmeer.
00:07:11
Vor der Kulisse der Dresdner Altstadt drängen sich tausende von Menschen.
00:07:16
Der Grund dafür ist der Besuch des Kaisers höchstpersönlich. Also der des Schlagerkaisers. Roland Kaiser.
00:07:22
Auf der gigantischen Open-Air-Bühne gibt er hier gerade zum 13. Mal seine Musik zum Besten.
00:07:28
Hits wie Joanna,
00:07:32
Genau. Das singen einige der Anwesenden auch mit. Und deswegen hallen auch allerhand schiefe Töne durch die lauwarme Sommernacht.
00:07:41
Mitten in der glühenden Menge schunkeln im Takt Ina und ihr Freund. Die 45-Jährige mit den kurzen, blonden Locken und den blauen Augen, die heute ein bisschen mehr strahlen als sonst, genießt jede Sekunde der Kaiser-Mania.
00:07:54
Ihre Liebe zum Schlager hat Ina durch den Mann entdeckt, der an ihrer Seite, wie sie, fast jedes Lied vom Kaiser auswendig kann.
00:08:01
Frank. Die beiden sind schon seit 14 Jahren ein Paar.
00:08:04
Und auch als der Abend schon längst vorbei ist, trägt Ina das Hoch und die Euphorie noch über die nächsten Tage.
00:08:10
Wenn sie dann die Musik zu Hause in Radebeul, wo sie mit Freund Frank und ihrer 16-jährigen Tochter Denise wohnt, startet, ist es fast so, als wäre sie wieder dort.
00:08:18
Ina braucht die Musik zum Entspannen.
00:08:20
Vor allem, wenn sie von einem stressigen Arbeitstag nach Hause kommt.
00:08:24
Ihr Job als Verwaltungsangestellte bei der Bundeswehr bereitet ihr nur wenig Freude.
00:08:28
In Gedanken ist sie viel lieber schon bei der Kaiser-Mania 2017, weshalb sie sich an einem stressigen Arbeitstag im August nach Feierabend wieder ins Internet vertieft.
00:08:38
Ina ist gerne auf Facebook in diversen Roland-Kaiser-Fangruppen aktiv.
00:08:42
Und da ist heute sehr viel los.
00:08:44
Denn obwohl die letzte Kaiser-Mania nur wenige Tage zurückliegt, sind vor ein paar Stunden bereits die Karten für 2017 in den Vollverkauf gegangen.
00:08:52
Innerhalb kürzester Zeit sind sie allerdings restlos vergriffen.
00:08:55
Entsprechend hitzig ist die Stimmung in den Online-Gruppen.
00:08:58
Als Ina von einer Empörung darüber leer ausgegangen zu sein zur nächsten Squall, sticht ihr ein Post ins Auge.
00:09:04
Habe noch eine Karte für eine Freundin gekauft, auch wenn ich es selbst gar nicht mehr erleben werde, schreibt eine Frau.
00:09:11
Die Worte machen Ina neugierig.
00:09:13
Was hat es damit auf sich?
00:09:14
Das ist mal ein Beitrag, der hier einige, für die es keine größeren Probleme als das Verpassen eines Konzerts gibt, auf den Boden der Realität zurückholen wird, denkt Ina.
00:09:23
Ina klickt auf den Namen der Verfasserin.
00:09:27
Sie kommt aus Leipzig.
00:09:28
Auf ihrem Profil sieht Ina links das Foto einer jungen Frau mit raspelkurzen, blonden Haaren, die einen Hut trägt und in die Sonne blickt.
00:09:35
Sie wirkt sympathisch. Ina schätzt sie auf höchstens 30.
00:09:39
Wieso sollte eine 30-Jährige ein Konzert, das in einem Jahr stattfindet, nicht mehr erleben können?
00:09:44
Weil es in der Roland-Kaiser-Fangemeinde ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl gibt, schreibt Ina der fremden Frau eine Nachricht.
00:09:50
Und erstaunlicherweise geht Lara sehr offen auf ihr Schicksal ein.
00:09:53
Sie textet zurück, dass sie schwer an Krebs erkrankt sei.
00:09:56
Ein Nierenkarzinom.
00:09:58
Bereits zweimal habe sie erfolgreich gegen die Krankheit angekämpft, schreibt sie.
00:10:02
Doch dieses Mal bleibe ihr keine Chance.
00:10:04
Dieses Mal sei der Krebs unheilbar.
00:10:06
Lara schreibt, sie habe nicht mehr lange zu leben.
00:10:08
Maximal noch ein halbes Jahr.
00:10:10
Ina ist schockiert und ergriffen von dem, was sie da auf dem Bildschirm lesen muss.
00:10:14
Wie viel Unglück kann ein Mensch in so jungen Jahren ertragen?
00:10:17
Weil Ina so gerührt von Laras Geschichte ist und sie sie noch dazu sympathisch findet, schickt sie ihr ihre Nummer.
00:10:23
Von diesem Zeitpunkt an schreiben sich die beiden zwei-, dreimal die Woche.
00:10:26
Ihr Kontakt wird immer intensiver.
00:10:28
Nach ein paar Wochen telefoniert Ina fast jeden Morgen mit der 16 Jahre jüngeren Lara.
00:10:33
Lara erzählt Ina von ihren Behandlungen und Besuchen bei ÄrztInnen, während Ina von ihrem Alltag berichtet.
00:10:38
Von ihrem Job, von ihrem Freund Frank und ihrer Tochter Denise.
00:10:42
Lara vertraut Ina in kürzester Zeit ihren gesamten Schmerz an.
00:10:46
Sie erzählt von ihren Freundschaften, die wegen der Krankheit zu Bruch gegangen sind,
00:10:49
und von ihren beiden Katzen, die die einzigen sind, bei denen sie sich sicher sein kann, dass sie sie nicht fallen lassen.
00:10:54
Ina hat Mitleid mit Lara und gleichzeitig sieht sie in ihr eine Ablenkung von ihrem monotonen Arbeitsalltag
00:11:00
und ihrer Beziehung zu Frank, in der sie schon länger kriselt.
00:11:03
Ina bewundert Lara für ihre Stärke und Tapferkeit und für ihre ansteckende gute Laune, die sie trotz allem versprüht.
00:11:09
Klagen hört Ina von Lara kaum.
00:11:12
Manchmal kommt es vor, dass Lara traurig wird, wenn sie von Zukunftsplänen anderer hört, weil sie selbst keine mehr machen kann.
00:11:18
Doch plötzlich gibt es Anfang Oktober doch einen kleinen Lichtblick für Lara.
00:11:22
Lara berichtet Ina, dass ihre Ärztin, Dr. Fischer, vorgeschlagen habe, noch einmal eine Chemo zu machen.
00:11:27
Die Chancen, dadurch ihr Leben um ein paar Monate zu verlängern, stünden gut.
00:11:31
Und Zeit ist in Laras Leben die einzige Währung, die noch zählt.
00:11:34
Doch sie hat Zweifel, ob sie die Kraft dafür hat, die Chemo durchzustehen.
00:11:39
Nach vielem gut Zureden von Ina und dem Versprechen, dass sie sie dabei unterstützen wird, stimmt Lara schließlich zu.
00:11:45
Unter der Bedingung, dass sie vorher einmal gemeinsam in den Zoo gehen.
00:11:48
Lara würde so gerne noch einmal Tiere sehen, die es hier in der freien Wildbahn nicht gibt.
00:11:52
Und wer weiß, ob sie nach der Chemo es noch schafft, diesen Punkt von ihrer Bucketliste zu streichen.
00:11:56
Gegen halb elf steht Ina aufgeregt am Dresdner Hauptbahnhof, als eine große Frau mit kurzen Haaren schnurstracks auf sie zuläuft.
00:12:12
Der Hauboden wirkt fast tüchtern.
00:12:14
Ina schließt Lara sofort liebevoll in die Arme.
00:12:16
Eine knappe Viertelstunde später schlendern die beiden Frauen gemütlich durch die 13 Hektar des Zoos und plaudern ausgiebig.
00:12:22
Genauso, wie sie es die Monate zuvor am Telefon getan haben.
00:12:26
Schlager, Fußball, Motorsport.
00:12:28
Ina kommt es vor, als wäre Lara eine alte Vertraute.
00:12:31
Nur über eine Sache will Lara nicht reden.
00:12:34
Deshalb schneidet Ina das Thema auch nicht an und erzählt stattdessen von Tochter Denise und wie nahe sie ihr steht.
00:12:40
Lara wird traurig.
00:12:41
Ina versteht zuerst nicht, wieso.
00:12:43
Doch dann erzählt Lara ihr von ihrer Kindheit, die geprägt war von Gewalt und Unmenschlichkeit.
00:12:47
Erst sei sie in der DDR ihren leiblichen Eltern weggenommen, danach zwangsadaptiert worden und geriet zu allem Überfluss auch noch in die Hände von Menschen, die ihr ihre Erziehung mit Gewalt einprügeln wollten.
00:12:58
Bei denen jedes Mal Fäuste flogen, wenn sie statt einer Eins nur eine Zwei nach Hause brachte und sie tagelang mit Essensentzug straften.
00:13:04
Familienrückheit hat Lara also nie erfahren, beteuert sie.
00:13:09
Es ist ein schönes erstes Treffen, aber Ina muss das, was Lara alles hat erleiden müssen, erst mal verdauen.
00:13:14
Es gibt so viel Ungerechtigkeit auf der Welt, denkt Ina.
00:13:17
Da kommt ihr ein Gedanke.
00:13:18
Um Lara nicht tatenlos ihrem Schicksal zu überlassen, entscheidet Ina ihr, die letzte Zeit noch so angenehm wie möglich machen zu wollen.
00:13:25
Damit sie wenigstens jetzt auch mal die schönen Seiten des Lebens kennenlernt.
00:13:29
Und damit sie erfährt, dass es auch Menschen gibt, auf die sich Lara verlassen kann.
00:13:32
Gerade jetzt, wo ihre schlimmste Reise noch bevorsteht.
00:13:36
Zwei Monate später besucht Ina Lara das erste Mal zu Hause in Leipzig.
00:13:39
Vor einem weißen Familienhaus stellt Ina ihr Auto ab.
00:13:43
Im zweiten Stock lebt Lara zusammen mit ihren beiden Katzen.
00:13:46
Laras Gesicht wirkt müde und blass, als sie Ina die Tür zu ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung öffnet.
00:13:50
Sie trägt eine Mütze, um die lichten Haare zu verdecken.
00:13:53
Ihre Augenbrauen sind fast vollständig ausgefallen.
00:13:56
Die Chemotherapie scheint inzwischen sichtbare Spuren zu hinterlassen.
00:13:59
Lara lässt sich auf ihrem ausgeklappten Sofa im Wohnzimmer nieder.
00:14:03
Tagsüber muss sie hier viel liegen, vor allem seit der Chemo.
00:14:06
Seitdem müsste sie sich oft erbrechen, habe Kreislaufprobleme und epileptische Anfälle.
00:14:10
Ina ist überrascht, als Lara ihr sagt, dass sie in diesem Zustand gerne nochmal ein paar Tage verreisen würde.
00:14:16
Immer wieder wird sie von Lara durch ihren Lebenswillen beeindruckt und davon, das Beste aus ihrer Situation machen zu wollen.
00:14:22
Im März geht es für Ina und Lara deswegen auf eine viertägige Flusskreuzfahrt von Passau nach Wien, die Ina organisiert hat.
00:14:29
Auch sonst kümmert sich Ina um alles, wozu Lara wegen ihrer schwindenden Kräfte nicht mehr in der Lage ist.
00:14:33
Einkaufen, Wäsche machen, putzen, sich um die Katzen kümmern.
00:14:37
Sie ist für Lara all das, was diese in ihrem Leben bisher nie hatte.
00:14:41
Fürsorgliche Mutter, große Schwester, mit der sie quatschen kann
00:14:44
und starke Schulter, wenn sie eine zum Anlehnen braucht.
00:14:47
So hatte sie es ihr versprochen.
00:14:49
Doch zieht man an der einen Seite des Tischtuchs, fehlt auf der anderen Seite ein Stück.
00:14:53
Die Zeit, die Ina in Lara investiert, fehlt ihr für Freund Frank und Tochter Denise,
00:14:57
zu denen die Beziehung immer schwieriger wird.
00:14:59
Doch Lara einen Wunsch abzuschlagen, bringt Ina nicht übers Herz
00:15:02
und setzt wieder einmal Himmel und Hölle in Bewegung,
00:15:04
als Lara ihr mit trauriger Stimme und gesenkten Blick sagt,
00:15:07
dass sie so gerne mal Roland Kaiser,
00:15:09
der die beiden Frauen ja eigentlich zusammenbrachte, persönlich treffen würde.
00:15:16
Etwa eineinhalb Jahre vor dem Brief
00:15:18
Inas Blick schweift über die gigantische Mercedes-Benz-Arena in Berlin,
00:15:22
die sich mit ihrer gewölbten, verglasten Fassade vor ihr und Lara auftürmt.
00:15:26
Vor dem Eingang hat sich bereits eine riesige Schlange gebildet,
00:15:30
an der Ina und Lara getrost vorbeispazieren können.
00:15:32
Sie werden bereits am Seiteneingang erwartet.
00:15:34
Eine Fanbeauftragte von Roland Kaiser winkt schon mit den Backstage-Pässen.
00:15:38
Ina hatte die letzten Wochen mit ihr geschrieben und ihr von Laras Schicksal berichtet.
00:15:43
Daraufhin beschleust die Fanbeauftragte, Laras großen Wunsch wahr werden zu lassen.
00:15:47
Die Frau führt die beiden Backstage zu den Garderoben.
00:15:50
Vor einer Tür machen sie Halt, sie steht offen.
00:15:52
Ina lugt hinein.
00:15:54
Jetzt wird sie selbst etwas nervös.
00:15:55
Roland Kaiser höchstpersönlich kommt auf sie zu,
00:15:58
begrüßt die beiden herzlich, zeigt sich interessiert an seinen Fans.
00:16:02
Ina hält sich zurück,
00:16:03
Immerhin soll Lara die ganze Aufmerksamkeit des Kaisers genießen.
00:16:06
Doch die verstummt, als er sie nach ihrem Lieblingslied fragt.
00:16:09
Auch als er sich betroffen über Laras Krankheit zeigt, bringt sie keinen Ton raus.
00:16:13
Damit keine peinliche Stille entsteht, lenkt Ina das Gespräch auf Kaiser Mania
00:16:17
und plaudert für einige Minuten mit ihrem Idol,
00:16:19
bis es nach einer Viertelstunde Zeit wird, für die beiden sich in den Saal zu begeben.
00:16:23
Vorher knipsen sie aber noch ein Erinnerungsfoto.
00:16:26
Ina weiß, dass sie darauf irgendwann alleine blicken wird,
00:16:29
wenn Lara nicht mehr da ist und sich freuen wird,
00:16:31
dass sie ihr diesen besonderen Moment noch schenken konnte.
00:16:33
Nur wenige Monate später hat sich die Welt um Ina deutlich verdüstert.
00:16:38
Lara geht es seit einigen Wochen richtig schlecht.
00:16:40
Die Metastasen in ihrem Körper haben sich trotz Chemo weiter ausgebreitet
00:16:44
und bereits Oberschenkel und auch den Kopf erreicht,
00:16:46
weshalb Laras Sprachzentrum beeinträchtigt ist.
00:16:49
Das sieht Ina selbst an ihren Nachrichten.
00:16:51
Lara hat plötzlich Probleme mit der Grammatik.
00:16:54
Manche Worte vergisst sie ganz.
00:16:55
Wenn Ina Sätze wie
00:16:56
»Mir gehen schlecht« liest, bricht ihr das das Herz.
00:16:59
Lara hat mittlerweile außerdem offenbar Wasser in der Lunge,
00:17:02
weshalb sie jetzt ein- bis zweimal die Woche zur Dialyse muss.
00:17:04
Wenn die beiden etwas unternehmen,
00:17:06
muss Ina Lara jetzt häufiger im Rollstuhl schieben.
00:17:08
Inzwischen hat Ina auch die Kommunikation mit Laras Ärzte und Dr. Fischer übernommen.
00:17:13
Über WhatsApp gibt die drei- bis viermal die Woche Updates
00:17:15
zu Laras Gesundheitsstatus und zu den Behandlungsmethoden.
00:17:18
Dr. Fischer und deren Mann Ben,
00:17:20
der ebenso von Laras Schicksal berührt ist, sorgen sich um sie.
00:17:24
In Ben findet Ina schließlich sogar jemanden,
00:17:26
mit dem sie sich über ihre Ängste bezüglich Lara austauschen kann.
00:17:30
Er ist sehr verständnisvoll und einfühlsam.
00:17:32
Auch in Bezug auf Inas eigene Situation.
00:17:34
Sie fühlt sich seit Wochen immer ausgelaugter,
00:17:37
hat das Gefühl, dass der Krebs nicht mehr nur über Lara,
00:17:40
sondern auch langsam über sie selbst bestimmt.
00:17:43
Vor allem, weil Dr. Fischer Inas schlechtes Gewissen füttert,
00:17:46
wenn sie ihr von den schlimmen Stürzen und Anfällen berichtet,
00:17:48
die passieren, wenn Ina gerade nicht bei Lara ist.
00:17:50
Also besucht Ina Lara noch regelmäßiger, übernimmt noch mehr Aufgaben.
00:17:55
Einmal, da ist sie gerade bei Lara am Putzen,
00:17:57
als die plötzlich am ganzen Körper beginnt zu zittern.
00:18:00
So stark, dass sie sogar vom Sofa rutscht und auf dem Boden landet.
00:18:03
Ein lauter Rums halt durch den Raum.
00:18:05
Ina packt das Schrecken.
00:18:06
Sie beugt sich über Lara.
00:18:08
Sie scheint weggetreten zu sein.
00:18:09
Ina sprintet zum Kühlschrank.
00:18:11
Sie weiß, was jetzt zu tun ist.
00:18:12
Auf solche Situationen hat sie Dr. Fischer vorbereitet.
00:18:15
Im Kühlschrank lagern einige Einwegspritzen,
00:18:18
die die Anfälle stoppen sollen.
00:18:19
Sie greift sich eine davon, rennt zurück zu Lara,
00:18:22
die immer noch wild zuckt.
00:18:23
Das macht es schwierig für Ina, die Spritze zu setzen.
00:18:25
Sie zieht Laras T-Shirt nach oben.
00:18:27
Vor ihr offenbart sich ein zerstochener Bauch.
00:18:29
Dann jagt sie die Nadel in ihre Bauchfalte
00:18:32
und drückt den Kolben nach unten.
00:18:34
Fünf Minuten lang starrt Ina gebannt auf Lara.
00:18:36
Ganz langsam ebbt das Beben in ihrem Körper ab,
00:18:39
bis auch Ina wieder normal atmen kann.
00:18:42
Für Ina ist die Pflege von Lara mittlerweile
00:18:44
ein enormer emotionaler Drahtseilakt,
00:18:46
bei dem sie droht, die Balance zu verlieren.
00:18:48
Und trotzdem, auf keinen Fall lässt sie Lara allein.
00:18:51
Sie hat es ihr versprochen.
00:18:53
Und immerhin war sie es, die Lara zur Chemo überredet hatte.
00:18:56
Abhauen, wenn es schwierig wird, ist nicht.
00:18:59
Nur einer bitte kann Ina nicht nachkommen.
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Lara würde gerne bei ihr einziehen.
00:19:03
Sie merkt, dass die Krankheit immer weiter voranschreitet
00:19:06
Doch das kann Ina beim besten Willen
00:19:08
nicht auch noch bewerkstelligen.
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Mal abgesehen davon, dass sie emotional, psychisch
00:19:13
und auch körperlich komplett entkräftet ist,
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geht das auch wegen Freund Frank und Tochter Denise nicht.
00:19:17
Ihre Beziehung zu Frank leidet unter der Dauerbetreuung so sehr,
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dass sie Ende 2017, gut anderthalb Jahre,
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nachdem Ina Lara kennengelernt hat,
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in die Brüche geht.
00:19:26
Und auch mit Denise streitet Ina sich immer öfter.
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Ihre Tochter fühlt sich von ihr vernachlässigt
00:19:31
und Ina kann das nicht von der Hand weisen.
00:19:33
Ihr eigenes Leben ist komplett in den Hintergrund gerückt.
00:19:36
Sie hat gleichzeitig das Gefühl, niemandem mehr gerecht werden zu können.
00:19:39
Schon gar nicht Lara, die Ina immer häufiger Vorwürfe macht,
00:19:42
sie allein und mit ihrer Krankheit im Stich zu lassen.
00:19:45
Manchmal droht sie auch damit, sich umzubringen und ihrem Leid so schon vorher ein Ende zu setzen.
00:19:49
Ina weiß, dass das nicht wirklich Lara ist.
00:19:52
Es ist ihre Krankheit, die ihr Wesen verändert.
00:19:54
So erklärt es ihr Dr. Fischer immer wieder via WhatsApp.
00:19:57
Ben, Fischers Mann,
00:19:59
versucht Ina indessen gut zuzureden
00:20:00
und schlägt vor, Lara mit einer schönen Unternehmung zu überraschen,
00:20:03
um dem Alltag zu entkommen.
00:20:05
In knapp zwei Jahren organisiert Ina deswegen Flussreisen,
00:20:08
zwei Wellnessurlaube,
00:20:09
einen Ostseetrip,
00:20:10
eine Reise nach Mallorca,
00:20:11
vier Wochenendreisen,
00:20:12
mehrere Stadionbesuche,
00:20:14
mehrere Konzerte,
00:20:15
inklusive Treffen mit Roland Kaiser,
00:20:16
sowie ebenfalls ein persönliches Treffen
00:20:19
mit dem neunfachen Motorrad-Weltmeister Valentino Rossi.
00:20:24
zwei Monate vor dem Brief.
00:20:26
Ina sitzt mal wieder an genau so einer Planung.
00:20:29
Lara hatte geäußert,
00:20:31
vor ihrem Tod noch einmal das Meer sehen zu wollen.
00:20:33
Weil sie sich das allerdings nicht leisten kann,
00:20:35
kontaktiert Ina verschiedene Reedereien.
00:20:37
In einer rührenden E-Mail schildert sie Laras Schicksal
00:20:40
dass sich einer der Anbieter bereit erklärt,
00:20:41
ihnen eine rollstuhlgerechte Kabine anzubieten,
00:20:43
die vielleicht nicht ganz so teuer ist.
00:20:46
Tatsächlich dauert es nicht lange,
00:20:48
bis sich eine nette Mitarbeiterin der AIDA meldet
00:20:50
und den beiden eine Nordeuropareise anbietet.
00:20:52
Ina sollte nur die nötigen Atteste und Nachweise liefern
00:20:56
und dann sei man bereit, ihnen entgegenzukommen.
00:20:58
Nachdem Dr. Fischer alles bereitgestellt hat,
00:21:00
leitet Ina die Dokumente weiter
00:21:02
und freut sich bereits auf Laras Blick,
00:21:03
wenn sie von der Überraschung erfahren wird.
00:21:05
Doch zu Ina's Verwunderung
00:21:07
meldet sich in den nächsten Tagen niemand bei ihr.
00:21:10
Als Ina eines Tages den Hörer in die Hand nimmt
00:21:12
und bei der Ansprechpartnerin nachfragt,
00:21:14
ob es Neuigkeiten gäbe,
00:21:15
bekommt sie nur ein kurzes
00:21:16
»Sie hören von uns« erwidert.
00:21:18
Sieben Tage später, am 10. August,
00:21:21
kommt Ina gestresst von der Arbeit
00:21:23
und den Strapazen der letzten Woche nach Hause
00:21:25
und öffnet beim Reingehen ihren Briefkasten.
00:21:27
Ina nimmt den Inhalt raus,
00:21:29
wirft einen Blick auf den einen Brief, der in ihren Händen liegt
00:21:32
und hält kurz inne, als sie sieht, dass er von der Polizei ist.
00:21:35
Das ist seltsam.
00:21:37
Ina hatte abgesehen von normalen Verkehrskontrollen
00:21:39
noch nie mit der Polizei zu tun.
00:21:41
Skeptisch reißt sie den Umschlag auf.
00:21:43
In der Ermittlungssache Lara Schröder
00:21:46
wegen Betrugs ist ihre Vernehmung als Zeugin erforderlich,
00:21:49
steht in der ersten Zeile.
00:21:51
Ina versteht nicht und liest den Satz ein zweites Mal.
00:21:53
Doch der Inhalt bleibt weiter unverständlich.
00:21:56
Kurzum wählt sie die Nummer, die auf dem Schreiben steht.
00:21:59
Sie will wissen, ob es sich um ein Versehen handelt.
00:22:01
Eine Verwechslung vielleicht?
00:22:02
»Hat denn ihre Bekannte nicht mit ihnen gesprochen?«
00:22:05
fragt die Beamtin am anderen Ende.
00:22:07
»Nein«, antwortet Ina verunsichert.
00:22:09
Die Beamtin schlägt vor,
00:22:11
dass sie sie doch einfach mal fragen solle.
00:22:15
Das kommt für Ina nicht in Frage.
00:22:16
Lara wäre in ihrem Zustand vermutlich gar nicht in der Lage zu verstehen,
00:22:19
was ein Vorwurf wegen Betrug bedeutet
00:22:21
und würde sich womöglich noch aufregen
00:22:23
und damit wieder einen Anfall auslösen.
00:22:25
Ina versucht daher, sich nichts anmerken zu lassen.
00:22:28
Den Tag bis zur Aussage abzuwarten und Lara nicht zu belasten.
00:22:31
Sicherlich ist alles ein Missverständnis.
00:22:33
Daran glaubt Ina zumindest so lange,
00:22:36
bis sie im Internet auf Artikel stößt,
00:22:38
wovon zwei Frauen aus Leipzig berichtet wird,
00:22:40
die sich eine AIDA-Kreuzfahrt erschleichen wollten.
00:22:43
Ina weiß überhaupt nicht, wie sie das einordnen soll.
00:22:45
Damit wird doch nicht etwa sie gemeint sein.
00:22:48
Niemand hätte sich was erschleichen wollen.
00:22:50
Sie wollte doch nur ein Entgegenkommen der Reederei.
00:22:52
Hier muss was ganz gehörig schiefgelaufen sein,
00:22:54
und fiebert jetzt regelrecht dem Termin auf dem Revier entgegen.
00:22:58
Es ist der 28. August 2018,
00:23:01
circa drei Wochen nach dem Brief.
00:23:03
Heute ist der Tag, an dem Ina sich Antworten erhofft.
00:23:07
Doch als sie das Büro der Kommissarin betritt,
00:23:09
die sie bereits erwartet,
00:23:10
wird Ina wieder enttäuscht.
00:23:12
Statt Antworten bekommt sie eine Frage nach der nächsten.
00:23:14
Wie haben sie Lara Schröder kennengelernt?
00:23:17
Waren sie auch schon mal unangekündigt bei ihr zu Hause?
00:23:19
Hat sie nie offen mit ihnen geredet?
00:23:21
So langsam reicht es Ina.
00:23:23
Worüber denn geredet, will sie wissen.
00:23:25
Die AIDA habe Anzeige erstattet,
00:23:28
weil es Unstimmigkeiten mit Laras Dokumenten gegeben habe,
00:23:30
die ihre Krankheitsgeschichte belegen sollen.
00:23:32
Die Ermittlungen der Polizei hätten ergeben,
00:23:34
dass Lara völlig gesund sei.
00:23:36
Sie habe weder Krebs noch brauche sie einen Rollstuhl
00:23:39
und schon gar nicht sei sie krankheitsbedingt dem Tode geweiht.
00:23:42
Ina stockt der Atem.
00:23:43
Lara habe das alles erfunden, schildert die Beamtin weiter.
00:23:49
Das ist ja wohl der größte Unsinn, den sie jemals gehört hat.
00:23:52
Sie hat es doch mit ihren eigenen Augen gesehen,
00:23:54
verteidigt Ina Lara.
00:23:55
Die Anfälle, die Medikamente,
00:23:58
das kann man doch nicht alles vorspielen.
00:24:00
Wut steigt in Ina auf.
00:24:01
Einer Todkranken sowas zu unterstellen,
00:24:03
das ist ja eine Frechheit.
00:24:05
Dr. Fischer werde das sicher alles aufklären können,
00:24:08
Mit Laras Ärztin habe sie regelmäßig im Austausch gestanden,
00:24:11
die Beamtin könne sie gerne kontaktieren.
00:24:13
Ina gibt der Beamtin die Nummer von Dr. Fischer und von ihrem Mann Ben,
00:24:16
die sie daraufhin prüfen lässt.
00:24:18
Wenig später dreht sie Ina ihren Bildschirm zu.
00:24:21
Zu sehen sind beide Handy-Nummern,
00:24:23
darunter ein Vermerk, auf wen sie angemeldet sind.
00:24:27
Tatsächlich hatte Ina nie mit beiden telefoniert
00:24:29
oder sie gar persönlich gesprochen,
00:24:31
sondern immer nur WhatsApp-Kontakt gehabt.
00:24:33
Doch daran, dass die beiden existieren,
00:24:35
hatte Ina nie gezweifelt.
00:24:36
Tatsächlich gibt es eine Dr. Fischer in Leipzig,
00:24:38
die als Allgemeinmedizinerin praktiziert.
00:24:41
Das ist zu viel für sie.
00:24:43
Ihr Kopf brummt.
00:24:44
In Roland Kaisers Text heißt es,
00:24:46
das kann doch wohl nicht wahr sein,
00:24:48
dass man so den Halt verliert.
00:24:51
So fühlt sich Ina gerade,
00:24:53
nur ohne die stimmungsvolle Begleitmelodie.
00:24:56
Aufgebracht stürmt sie aus dem Polizeirevier.
00:24:58
Sie kann das alles nicht glauben.
00:24:59
Sie will das alles nicht glauben.
00:25:01
Sie hat doch nicht über zwei Jahre lang eine Lüge gelebt.
00:25:03
Was Ina zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß,
00:25:06
ist, dass es genau so war
00:25:08
und dass sie durch ihre eigene Fürsorglichkeit
00:25:09
und den Willen, Lara jeden Wunsch zu erfüllen,
00:25:12
selbst dazu beigetragen hatte,
00:25:13
den Schwindel auffliegen zu lassen.
00:25:15
Denn als die Mitarbeiterin der AIDA
00:25:17
gerade die Reise für die beiden vorbereiten wollte,
00:25:19
entschied sie, die Dokumente an den Schiffsarzt weiterzuleiten.
00:25:22
Weil der Nachfragen
00:25:24
zu der Medikamentenvergabe von Lara hatte,
00:25:26
meldete er sich kurzerhand bei der Praxis,
00:25:28
die auf dem Attest vermerkt war.
00:25:29
Dr. Fischer aus Leipzig.
00:25:31
Doch als er den Namen Lara Schröder nannte,
00:25:34
wurde ihm vom anderen Ende mitgeteilt,
00:25:35
dass in der Patientinnenkartei
00:25:37
niemand unter diesem Namen vermerkt sei.
00:25:39
Daher kann die Praxis auch gar keine Atteste
00:25:41
für diese Patientin ausgestellt haben.
00:25:43
Ergo, es handelt sich dabei um eine Fälschung.
00:25:45
Während Ina also noch auf Rückmeldung
00:25:48
der freundlichen AIDA-Mitarbeiterin wartete,
00:25:50
meldete die den Vorfall bereits der Polizei.
00:25:52
Was Ina für die Presse zu einer Mittäterin machte.
00:25:56
Als Ina langsam beginnt zu begreifen,
00:25:59
dass sie den Gedanken zulassen muss,
00:26:01
getäuscht worden zu sein,
00:26:02
läuft ihr ein Schauer über den Rücken.
00:26:04
Für sie bricht eine Welt zusammen.
00:26:05
Für was für einen Menschen
00:26:07
hatte sie sich da Tag für Tag aufgeopfert?
00:26:10
Ina beschließt, Lara aus der Reserve zu locken,
00:26:12
um so aus ihr vielleicht
00:26:13
ein paar mehr Informationen rauszubekommen.
00:26:15
Ich war heute übrigens bei der Polizei,
00:26:18
tippt sie in ihr Handy,
00:26:19
schickt die Nachricht aber nicht an Lara,
00:26:22
Sie tut so, als wüsste sie nicht,
00:26:24
dass Lara dahinter steckt
00:26:25
und berichtet davon,
00:26:26
dass gegen Lara eine Anzeige
00:26:27
wegen Betrugs vorliegt.
00:26:29
Natürlich meint Ben es besser zu wissen
00:26:31
und tut das alles als Missverständnis
00:26:33
und haltlose Unterstellung ab.
00:26:34
Ina platzt der Kragen.
00:26:36
Sie tippt, dass Lara aufhören soll,
00:26:38
sie für dumm zu verkaufen.
00:26:39
Die Antwort lässt einige Zeit auf sich warten
00:26:42
und hat entsprechend Schlagkraft.
00:26:43
Lara gibt alles zu.
00:26:45
Sie hatte nie Krebs,
00:26:46
sie braucht keinen Rollstuhl,
00:26:47
sie ist kerngesund.
00:26:48
Und ja, sie steckt auch hinter Dr. Fischer und Ben.
00:26:51
Alles war eine dicke, fette Lüge.
00:26:56
dass sie sich immer Freundinnen gewünscht hat,
00:26:58
doch nie welche hatte.
00:26:59
Den Krebs vorzutäuschen war ihr verzweifelter Versuch,
00:27:01
jemanden an ihre Seite zu binden,
00:27:03
der sie mag und sich um sie kümmert
00:27:04
und nicht wieder geht.
00:27:05
In Ina breitet sich ein Gefühl
00:27:07
der Leere und Kälte aus.
00:27:09
Ein Gefühl, das selbst bleibt,
00:27:10
als Lara die nächste Nachricht sendet.
00:27:12
Sie werde jetzt eine Menge Tabletten nehmen
00:27:14
und ihrem Leben ein Ende setzen.
00:27:15
Ina entlarvt den Text diesmal sofort als leere Drohung,
00:27:19
mit dem Motiv, sie wieder für sich zu gewinnen.
00:27:20
Ihr wird schlecht bei dem Gedanken,
00:27:22
wie sie Lara kilometerweit im Rollstuhl geschoben hat.
00:27:25
Immer bemüht sich nicht anmerken zu lassen,
00:27:27
wie erschöpft sie selbst war,
00:27:29
wie sie Bens und Dr. Fischers Anweisungen befolgt hat.
00:27:32
Obwohl dahinter eigentlich Lara steckte,
00:27:34
die für sich nur wieder was rausschlagen wollte,
00:27:36
einen weiteren Ausflug, eine weitere Reise.
00:27:38
Wie sie sich zwei Jahre lang aufgerieben hat,
00:27:41
für sie eine Freundin war,
00:27:42
aber nichts davon zurückkriegte.
00:27:43
Die sie ausgesaugt hat,
00:27:45
sich an ihr genährt hat wie ein Parasit.
00:27:48
Die Wut in Ina lodert noch tagelang
00:27:50
und bringt sie schließlich eine Woche später dazu,
00:27:52
Lara anzuzeigen.
00:27:53
Sechs Stunden lang sitzt sie auf dem Revier
00:27:55
und macht ihre Aussage,
00:27:56
während die BeamtInnen jedes einzelne ihrer Wörter
00:27:59
genauestens protokollieren.
00:28:00
Danach ist Ina innerlich so aufgewühlt,
00:28:03
dass sie anfängt, auf eigene Faust zu recherchieren.
00:28:05
Und tatsächlich stößt Ina auf drei weitere Frauen,
00:28:07
die von Lara auf ähnliche Weise betrogen und belogen wurden.
00:28:10
Sie kontaktiert sie und erfährt,
00:28:12
dass Lara bei einer von ihnen sogar
00:28:13
ihren eigenen Tod vorgetäuscht hat.
00:28:15
Als Ina einige Zeit später
00:28:17
mit ihrer Geschichte an die Medien geht,
00:28:19
melden sich immer mehr Opfer bei ihr,
00:28:21
die mit Lara genau dieselbe Erfahrung gemacht haben.
00:28:23
Immer gab sie vor, Krebs zu haben.
00:28:25
Immer untermauerte sie ihre Geschichte
00:28:27
mit verschiedenen erfundenen Identitäten.
00:28:30
Und dann, 2018, läuft im Frühstücksfernsehen
00:28:34
ein Beitrag wegen eines Spendenbetrugs.
00:28:36
Daraufhin fühlt sich Ina ermutigt,
00:28:38
auch ihre Geschichte zu teilen.
00:28:40
Und das tut sie damals auf der Facebook-Seite
00:28:42
vom Frühstücksfernsehen.
00:28:43
Und dann, mordlos Bullshit-Bingo,
00:28:46
habe ich eine Reportage darüber gemacht.
00:28:48
Also ich habe sie eigentlich nur vorbereitet,
00:28:51
weil ich dann am entscheidenden Drehtag nicht konnte.
00:28:54
Aber ich habe viel damals mit Ina telefoniert.
00:28:56
Daher kenne ich diesen Fall auch.
00:28:58
Und der entscheidende Drehtag,
00:29:00
an dem ich dann nicht konnte,
00:29:02
als wir Lara konfrontiert haben.
00:29:06
Das hat dann meine Kollegin Ulrike gemacht.
00:29:08
Und Lara sagt da ins Mikrofon,
00:29:11
dass ich Leute verarscht habe.
00:29:12
Aber die Gründe seien nicht Habgier
00:29:16
oder Bereicherung gewesen,
00:29:17
sondern der Grund sei gewesen,
00:29:19
dass sie es halt nicht schafft,
00:29:20
auf legalem Weg Freunde zu finden.
00:29:22
Und dass sie nie gelernt hat,
00:29:23
Freundschaften zu führen.
00:29:25
Aber ich glaube,
00:29:26
sie fand es auch ziemlich cool,
00:29:28
die ganzen Sachen zu machen
00:29:29
und für günstiger irgendwo hinzufahren
00:29:32
und zu irgendwelchen Konzerten
00:29:34
irgendwelche Promis zu treffen.
00:29:36
Also die hat ja etliche Vorteile,
00:29:38
auch die ganze Aufmerksamkeit.
00:29:40
Als Lara dann durch diese Konfrontation
00:29:45
auch Wind davon bekommt,
00:29:47
dass sich Ina gegen sie gewendet hat,
00:29:49
schreibt sie ihr,
00:29:50
ich kann auch ganz anders,
00:29:51
fang nicht an Lügen über mich zu verbreiten.
00:29:53
Doch davon lässt sich Ina nicht unterkriegen.
00:29:56
Sie ruft alle Betroffenen dazu,
00:29:58
auf Aussagen bei der Polizei zu machen.
00:30:00
Am Ende kommen so ungefähr 15 Berichte zusammen.
00:30:02
Aufgrund des ständigen Zustrums an Informationen
00:30:05
werden die Ermittlungen der Kriminalpolizei
00:30:07
allerdings immer komplexer
00:30:08
und ziehen sich jahrelang hin.
00:30:10
Schließlich stellen die BeamtInnen
00:30:12
auch Laras Medikamente sicher.
00:30:13
Und es kommt heraus,
00:30:14
Laras Krebsmedikamente waren nichts anderes
00:30:16
als handelsübliche Vitamintabletten,
00:30:18
in den Spritzen lediglich Kochsalzlösung.
00:30:20
Um ihren Schaden greifbar zu machen,
00:30:23
bittet die Polizei Ina,
00:30:24
eine Aufstellung über ihre finanziellen Ausgaben
00:30:27
Als Ina die Zahl am Ende der langen Liste liest,
00:30:29
ist sie selbst schockiert.
00:30:31
Über 12.000 Euro hat sie in Lara investiert.
00:30:33
Für die wöchentlichen Fahrten nach Leipzig,
00:30:36
Reisen, Ausflüge, Essen und, und, und.
00:30:39
Doch egal, wie hoch diese Summe auch ist,
00:30:41
ihren emotionalen Schaden kann sie niemals erfassen.
00:30:43
Der liegt weit höher.
00:30:45
Eine kleine Wiedergutmachung für all die Qualen,
00:30:48
die sie durch Lara erlitten hat,
00:30:49
erhofft sie sich von einem Prozess.
00:30:50
Doch ihre Hoffnung wird zerschmettert.
00:30:52
Denn eine Vielzahl an Tatvorwürfen,
00:30:54
von denen Ina und andere Betroffene berichtet haben,
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werden gar nicht erst zur Anklage gebracht.
00:30:59
Der Grund Mangel an Beweisen.
00:31:01
Und so wird Anfang Januar 2022
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lediglich ein Strafbefehl gegen Lara erlassen
00:31:06
und Lara aufgrund der AIDA-Angelegenheit
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wegen versuchten Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung
00:31:10
zu 120 Tagessätzen ab 14 Euro,
00:31:13
also knapp 1700 Euro Geldstrafe, verurteilt.
00:31:16
Lara akzeptiert den Strafbefehl.
00:31:18
Damit ist die Sache offiziell abgeschlossen.
00:31:20
Für Ina ist das Ganze ein Witz.
00:31:22
Ein Schlag ins Gesicht.
00:31:23
Für sie und alle anderen Opfer.
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Ina ist enttäuscht vom Justizsystem.
00:31:27
Für Gerechtigkeit muss sie schließlich selbst sorgen.
00:31:30
Sie bringt Lara dazu, eine Vereinbarung zu unterschreiben,
00:31:33
in der sie zusichert,
00:31:34
ihr die 12.000 Euro durch monatliche Raten zurückzuzahlen.
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Nichts im Vergleich zur wertvollen Lebenszeit,
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die sie verloren hat.
00:31:41
Zeit für ihre mittlerweile 18-jährige Tochter.
00:31:43
Nur weil sie jemand anderem
00:31:45
eine schöne Restlebenszeit bescheren wollte.
00:31:47
Doch das ist nicht das Einzige,
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was Ina geraubt wurde.
00:31:50
Heute fällt es ihr schwer, Menschen zu vertrauen.
00:31:52
Zum Glück hat sie Tochter Denise,
00:31:54
auf die sie sich immer verlassen kann.
00:31:55
Nachdem die Sache mit Lara rauskam,
00:31:58
fiel Denise ebenfalls vom Glauben ab.
00:31:59
Die gemeinsame Aufarbeitung
00:32:01
hat die beiden enger zusammengeschweißt,
00:32:02
als sie es vorher waren.
00:32:03
Und Ina aus einem tiefen Loch der Traurigkeit geholt,
00:32:06
in dem sie sehr, sehr lange steckte.
00:32:09
Doch dank Denise war Ina sich schnell sicher.
00:32:11
Bald geht's wieder los.
00:32:13
Und es wird auch nie vorbei sein,
00:32:16
wenn man so die Lust auf Leben spürt.
00:32:20
Und das tut Ina heute wieder.
00:32:23
Also darüber bin ich jetzt echt erleichtert,
00:32:26
weil das tut einem einfach so leid,
00:32:28
dass jemand wie Ina,
00:32:30
die einfach nur helfen wollte
00:32:33
und Mitleid mit jemandem hatte,
00:32:36
den sie ja gar nicht kannte
00:32:37
und ihr ganzes Leben aufgegeben hat,
00:32:40
nur um jemand anderem zu helfen,
00:32:42
die ja nicht mal jetzt ihre beste Freundin war
00:32:45
oder geworden ist oder so,
00:32:46
sondern weil sie einfach Empathie hatte
00:32:48
und selbstlos war.
00:32:50
Das tut einem dann irgendwie noch mal mehr leid,
00:32:53
wenn so jemand dann so hinters Licht geführt wird,
00:32:56
so emotional und ihr dadurch irgendwie
00:33:00
dieses Vertrauen in die Menschen genommen wird.
00:33:03
Ja, und das ist halt auch nicht nur Ina passiert.
00:33:07
Also ich finde einfach,
00:33:09
dass die so einen krassen Kollateralschaden hinterlassen hat
00:33:13
bei ganz vielen.
00:33:15
der diverse Angehörige,
00:33:17
Freundinnen und auch Partner
00:33:21
beziehungsweise hatte,
00:33:23
weil sie verstorben sind,
00:33:25
bin ich wirklich absolut ungehalten,
00:33:28
was diese Frau angeht.
00:33:30
Das ist so schlimm,
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eine Chemo durchzumachen.
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Das ist natürlich für die Leute schlimm,
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die die Krankheit haben
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und die durch diese Behandlung müssen.
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Aber es ist auch so schlimm
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für die Angehörigen
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und für die Zugehörigen,
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die sich um die kümmern,
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die sich um die sorgen,
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die einfach Angst haben,
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dass die am nächsten Tag aufwachen
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und die Person ist nicht mehr da,
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weil sie verstorben ist.
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Und dieses Zaffern einfach
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während dieser Krankheit,
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dass man das alles so imitiert
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und mit diesen Ängsten spielt
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und ich wirklich,
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also ich bin auch froh,
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dass ich Lara nicht getroffen habe.
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ich hätte das so wütend gemacht.
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Ich hätte das Mikrofon,
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auf den Kopf geschlagen.
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Also einmal mit dem Pop-Schutz,
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damit es nicht ganz so doll wehtut.
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Aber das habe ich natürlich nicht gemacht.
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Aber ich weiß nicht,
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ich kann das einfach nicht verstehen.
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Doch, ich kann das voll verstehen,
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Also ich denke mir aber auch,
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aber dann sagt sie ja auch direkt,
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ja, stimmt, war eine Lüge.
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ich wollte eigentlich nur Freunde haben
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und man denkt sich so,
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ja, frag dich mal,
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warum du keine Freunde hast, ja?
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Wenn du so eine Person bist, ja,
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die sich sowas ausdenken kann
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und anderen Leuten sowas antun kann,
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so manipulativ sein kann,
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dann hast du keine Freunde.
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Also so viel Energie,
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wie die in dieses Rollenspiel gesteckt hat,
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steckt doch einfach so viel Energie da rein,
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eine nette Person zu spielen.
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Dann bist du wenigstens auch für die andere Person
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eine Bereicherung zu spielen.
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Weil sie ist es ja wahrscheinlich,
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also sie kann es ja offenbar nicht sein,
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aber das kann man ja dann auch spielen.
00:35:01
Dann ist man wenigstens für die,
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für sein Gegenüber auch eine Bereicherung.
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Aber so war sie,
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wie du das geschrieben hast,
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einfach nur ein Parasit.
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Naja, das Ding ist, weißt du,
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eine Freundschaft ist natürlich,
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aber wenn das in einem gesunden Maß ist,
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also hört das dann ja auch irgendwann mal auf,
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dass man sich so aufgibt.
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Ich meine, wenn du zu mir sagst,
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Paulina, organisier jetzt mal bitte
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Schlussreisen, Konzerte.
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Ich will mal Jassem Biber sehen.
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Kannst du das mal einfädeln,
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dass wir den persönlich treffen?
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Wenn du nicht krank bist,
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würde ich irgendwann sagen,
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es reicht, Laura.
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Das kannst du dir einmal im Jahr
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zum Geburtstag wünschen.
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Dann kann ich versuchen,
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irgendwas in die Wege zu leiten.
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Deine Kontakte spielen zu lassen.
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Also einmal im Jahr würde ich so sagen,
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okay, und dann hört es halt auf.
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Aber diese Androhung des Todes
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und ich bin bald nicht mehr da
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und man muss jetzt alles noch erleben,
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das löst natürlich in dem Gegenüber
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eine viel größere Bereitschaft aus,
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sich dem so zu widmen
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und sich dem aufzuopfern.
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Weil man denkt ja immer,
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es ist ja jetzt auch bald vorbei.
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Das Ding ist nur,
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bei Lara ging das ja immer weiter.
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und wäre das nicht aufgeflogen,
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die hätte das ja noch immer weitergespielt.
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Die war ja unermüdlich.
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Und Ina sagt tatsächlich in diesem Beitrag,
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den wir mit ihr gedreht haben,
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dass sie sich nicht darüber freuen kann,
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dass am Ende rauskam,
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dass Lara nicht krank war.
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Ja, das kann ich verstehen.
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Krankheiten werden von einigen dazu genutzt,
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Straftaten zu begehen
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und darüber sprechen wir auch in der heutigen Folge.
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Meist handelt sich das bei diesen Taten,
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wie jetzt in Laras Fall,
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um Betrugsdelikte.
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Menschen täuschen körperliche oder psychische Beschwerden vor
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und daraus emotionale oder finanzielle Vorteile
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für sich zu gewinnen.
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Wobei man eben sagen muss,
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dass wenn man von Betrug
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als Straftat spricht,
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muss es irgendwie immer
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um einen Vermögensvorteil
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für die Täterin gegangen sein.
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Also wenn man jetzt nur
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in Anführungsstrichen
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für die andere Person,
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die sich eben krankgestellt hat,
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alles macht und alles aufgibt,
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aber dabei sozusagen
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kein Geld verliert,
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dann wäre es schwierig,
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da vor Gericht sozusagen
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ein Urteil am Ende zu haben.
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Und das finde ich bei Lara hier auch ganz interessant.
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Also sie wurde natürlich dann zu diesem Strafbefehl
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wegen dieser AIDA-Sache,
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wo ihr ein finanzieller Vorteil entstanden wäre,
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Aber ihre eigentliche Motivation
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war ja natürlich was anderes.
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Diese ganzen finanziellen Ausgaben,
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die ihre Freundinnen,
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sag ich jetzt mal in Anführungsstrichen,
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das war ja eher so eine Begleiterscheinung,
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um ihr das Leben noch schön zu machen.
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Aber Lara an sich ging es nach dem,
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was ich über sie gehört habe,
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eigentlich vor allem um die Zeit
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um die Aufmerksamkeit
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und darum im Mittelpunkt zu stehen.
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dafür wird man von einem Strafgericht
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schon gar nicht verurteilt.
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Da fühlen sich natürlich einige Opfer
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ein bisschen hilflos,
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weil sie natürlich trotzdem
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große seelische Schäden
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davon getragen haben.
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Weil sie sich halt auch missbraucht
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und benutzt fühlen.
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Das ist im Grunde genommen
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ja auch wie beim Tinder-Swindler.
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Also da ist einmal das Finanzielle
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und dann aber das Seelische.
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Und das sehen wir halt auch an Ina,
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was das letztendlich für Auswirkungen haben kann.
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sie geht heute mit viel mehr Skepsis
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und Misstrauen durchs Leben.
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Wir haben Ina für diese Folge auch gesprochen
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und sie hat uns dankenswerterweise
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sehr bei der Aufarbeitung des Falls unterstützt.
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Und wir haben sie natürlich auch darauf angesprochen,
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ob sie Leuten jetzt generell misstraut erst mal.
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zu Beginn, also nachdem die Sache beendet war,
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hatte ich komplett das Vertrauen in jeden
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und vor allem in die Sache.
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Es fiel mir anfangs schwer,
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von selbst wieder auf Menschen zuzugehen.
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Das konnte ich dann abstellen,
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indem ich mir einen Nebenjob im Bereich
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Gastroservice und Eventmanagement gesucht habe,
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ganz bewusst, um wieder mit Menschen zu arbeiten,
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unter Menschen zu sein
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und wieder Selbstbewusstsein zu bekommen.
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Bei anderen neuen Bekanntschaften
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bin ich aber nach wie vor sehr vorsichtig,
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begegne vielen Menschen
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und vielen Geschichten mit gesunder Skepsis.
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Ich unterfrage sehr viel, auch mich selbst.
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Ich habe zwei Menschen außer meinem Partner
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und meiner Tochter in meinem Leben,
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die ich als Freunde bezeichne.
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Und mein Bekanntenkreis ist absichtlich
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sehr klein gehalten.
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Ja, das kann man ja auch voll gut nachvollziehen,
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weil wenn man einmal sowas erlebt hat,
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wo man vorher ja bestimmt denkt,
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man hat irgendwie eine Menschenkenntnis,
00:39:19
aber dann erfährt,
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dass man fast zwei Jahre komplett verarscht wurde,
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dann zweifelt man ja auch immer irgendwie an sich selber,
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dass man das nicht gesehen hat
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und fragt sich, warum habe ich das nicht gesehen?
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Naja, das fragt man sich
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und welche Frage natürlich auch immer im Kopf kreist,
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ist, warum machen Leute das?
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Also, was ist los in deren Köpfen?
00:39:43
Und um einen Erklärungsansatz,
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dafür geht es jetzt in meinem Aha.
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Das, was Lara gemacht hat,
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das haben wir sicherlich alle schon mal
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in irgendeiner abgeschwächten Form gemacht,
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also das Simulieren von Krankheiten.
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Wann du zuletzt, Laura?
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Ja, also, gute Frage,
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weil seitdem ich selbstständig bin,
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bringt mir dieses Simulieren ja irgendwie gar nichts mehr.
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Das haben wir ja schon am Anfang gemerkt,
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dass man ja einfach nicht krank sein kann.
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Ich habe das aber früher schon gemacht,
00:40:14
aber vor allen Dingen halt,
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wenn ich auf irgendwas keine Lust hatte.
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Das war jetzt nicht bei der Arbeit so,
00:40:20
sondern eher so in der Schule.
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Und dann habe ich das halt simuliert
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und ich habe es so gut simuliert,
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dass ich mich dann wirklich schlecht und krank gefühlt habe.
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Ja, man hat sich dann da immer selber so reingesteigert.
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Aber eigentlich auch blöd,
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weil dann geht es einem nachher wirklich schlecht.
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Ich kann mir das bei dir auch tatsächlich richtig gut vorstellen,
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wie du so mit großen Augen und so leicht schmollendem Mund dann im Bett liegst
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und dann so, mir geht es schlecht.
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Es war aber halt auch immer so schön,
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weil wenn ich krank war als Kind,
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hat das bedeutet,
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dass meine Mutter zu Hause geblieben ist von ihrer Arbeit,
00:40:57
was sonst ja natürlich nicht passiert,
00:41:00
wenn man voll berufstätig ist.
00:41:02
und dann durfte ich mich immer unten ins Wohnzimmer auf die Couch legen
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und laut irgendeine Kassette anhören
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und bekam dann eben halt was auch immer,
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Tee und Salzstangen und Cola an diese Couch gebracht
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und viel Aufmerksamkeit von meiner Mutter.
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Und das war natürlich echt ein Vorteil,
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den ich mir dann dadurch überschafft habe.
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Ja, bei mir waren das Kelloggs
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und vor allem die Bettdecke und Fernsehen im Wohnzimmer,
00:41:27
wo man damals ja auch noch keinen im eigenen Zimmer hatte.
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Ich habe mal meine Mutter versucht,
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hinters Licht zu führen mit einem Fieberthermometer
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und habe das dann halt immer so halb unter eine Lampe gehalten
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und das Blöde ist,
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dass meine Mutter mir da natürlich auf die Schliche gekommen ist,
00:41:43
weil immer wenn sie im Zimmer blieb und Fieber maß,
00:41:46
hatte ich keins.
00:41:47
Und immer wenn sie mir das in den Mund steckte
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und dann mal kurz den Raum verließ,
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war ich einmal wieder sehr hoch.
00:41:52
Aber war es denn dann so eine normale Temperatur,
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so 38 oder hat diese Lampe das dann so auf so unnatürliche 46 Grad erhitzt?
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Ne, also das Fieberthermometer ist unter der Lampe natürlich zerschmolzen.
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So, dass ich dann das ganze Quecksilber im Bett hatte.
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Dann mussten wir ins Krankenhaus.
00:42:11
Nein, das stimmt natürlich nicht.
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Das hat sich gelohnt.
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Also ich glaube, wenn man Kinder hat, muss man sich auch darauf einstellen,
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dass die früher oder später mal simulieren werden.
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Das ist aber natürlich, wie wir wissen, keine echte Krankheit,
00:42:24
weil man mit diesem Simulieren ein ganz konkretes Ziel,
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nämlich dieses solchen Vorteil daraus ziehen, verfolgt.
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Und der kann natürlich ganz unterschiedlich aussehen.
00:42:33
Also Professor Kapphammer,
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ehemaliger Vorstand der Klinik für medizinische Psychologie und Psychotherapie in Graz,
00:42:40
der erzählt beispielsweise,
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dass diese Vorteile auch so aussehen können,
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dass man sich durch das Simulieren mehr Unterstützung vom Staat
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oder auch Vergünstigungen erhofft.
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Was aber auch sein kann,
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ist, dass man sich durch so eine vorgespielte Krankheit
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vor einer Verantwortung drückt oder halt vor Strafen.
00:42:55
Und deswegen ist Simulation auch ein Ding in Gefängnissen oder vor dem Gericht.
00:43:00
Und ich erinnere mich da auch an einen Fall,
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den ich mal besprochen hatte.
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Da war so ein sehr alter Mann vor Gericht.
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Ich weiß leider nicht mehr, welcher Fall das war.
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Aber es ging um einen Mord.
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Das weiß ich noch, weil das so lange her war
00:43:13
und jede andere Straftat wäre verjährt gewesen.
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Und da hatten die vor Gericht nämlich auch den Verdacht,
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dass der Angeklagte simuliert,
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weil der immer sehr zittrig in den Gerichtssaal gegangen ist
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und immer so getan hat, als ob der gar nichts versteht,
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auch schon taub und so.
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Nee, verstehe ich alles gar nicht mehr.
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Und draußen, wenn die Pause war,
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hat er sich immer ganz normal mit seinem Strafverteidiger unterhalten.
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Ja, und es gab doch auch den Fall,
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von dem haben wir auch mal in der Diskussion erzählt.
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Da hat ein Täter aus den USA versucht zu simulieren,
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dass er eine Persönlichkeitsstörung hat
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und eigentlich zwei Persönlichkeiten
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und dass die andere Persönlichkeit diese Tat begangen hat
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und dass er deswegen quasi schuldunfähig gesprochen werden sollte.
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Das hat man dem aber auch nicht abgenommen.
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Genau, also viele Gründe dafür, Krankheiten vorzutäuschen.
00:44:02
Es gibt allerdings noch einen anderen.
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Und zwar, weil man tatsächlich psychisch krank ist
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und unter einer sogenannten artifiziellen Störung leidet.
00:44:10
Und tatsächlich hatte Lara auch bei der Konfrontation
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mit dem Frühstücksfernsehen gesagt,
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dass bei ihr auch eine psychische Erkrankung dahinter stecken würde.
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Jetzt wissen wir natürlich nicht,
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ob sie die wirklich diagnostiziert bekommen hat
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oder sie sich einfach selbst diagnostiziert hat.
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Oder einfach wieder lügt.
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Ja, das Ding ist, man kann tatsächlich von außen betrachtet
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jetzt erstmal nicht sofort sagen, simuliert die Person
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oder hat die eine artifizielle Störung,
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weil die natürlich dasselbe tun.
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Also die dramatisieren, täuschen halt Krankheiten vor.
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Und im Grunde ist auch jede Krankheit denkbar,
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also psychische oder körperliche.
00:44:43
Dann haben die manchmal Wunden, die nicht verheilen,
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Fieber, Harnwegsinfekte oder Blutarmut.
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Und die Betroffenen, die beherrschen diese Täuschung auch so perfekt,
00:44:52
dass sie selbst SpezialistInnen jahrelang hinters Licht führen können
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und dann halt auch nicht entlarvt werden.
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Und das kommt daher, weil sie halt häufig
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über ein großes medizinisches Wissen verfügen.
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Und zwar entweder, weil sie sich das selber angeeignet haben
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oder weil sie zu dem ein Drittel der Betroffenen gehören,
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die einen medizinischen oder paramedizinischen Hintergrund haben.
00:45:10
Das Ding ist, Menschen, die unter einer artifiziellen Störung leiden,
00:45:13
die haben erstmal so von außen betrachtet keinen Grund, das zu tun.
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Und das ist halt der entscheidende Punkt und der Unterschied,
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weil die Betroffenen ihr eigenes Verhalten gar nicht kontrollieren können.
00:45:24
Also das heißt, sie müssen das quasi machen,
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weil es für die eine Art Zwang ist.
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Und wenn wir jetzt sagen, dass die ihr Verhalten nicht richtig kontrollieren können
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oder das halt eben irgendwie zwanghaft ist,
00:45:35
dann stellt sich ja auch immer die Frage nach der Schuldfähigkeit.
00:45:38
Wie wir wissen, kann man nach § 20 Strafgesetzbuch
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schuldunfähig beziehungsweise nach § 21 vermindert schuldfähig gesprochen werden,
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wenn man jetzt zum Beispiel aufgrund einer seelischen Störung
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das Unrecht der Tat nicht einsehen kann oder nicht danach handeln kann.
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Und wenn das so ist, dann kommen die Betroffenen unter Umständen eben nicht ins Gefängnis,
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sondern in die forensische Psychiatrie.
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Und es ist so, dass diese artifiziellen Störungen zum Teil eine große Macht über die Betroffenen haben
00:46:05
und auch ihre gesamte Lebensführung bestimmen.
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Aber wie sehr die ihre Handlungen dann noch kontrollieren können,
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kommt natürlich immer auf den schwere Grad der Erkrankung an.
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Und das müssen dann immer psychiatrische Gutachter individuell beurteilen.
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Wir wissen, dass von anderen psychischen Störungen,
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wie zum Beispiel der histrionischen Persönlichkeitsstörung oder auch bei Borderline,
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dass die jetzt eher selten dazu führen, dass man komplett schuldunfähig gesprochen wird.
00:46:30
Bei den artifiziellen Störungen ist die Schuldfähigkeit normalerweise aber auch zumindest eingeschränkt.
00:46:36
Das Ganze wird so ein bisschen verständlicher,
00:46:38
wenn man sich die Motivation der Betroffenen anschaut.
00:46:41
Also die Motivation von Leuten mit artifizieller Störung
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ist nämlich im Gegensatz zu den SimulantInnen in erster Linie
00:46:47
in die Rolle der Patientin oder des Patienten zu schlüpfen
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und dann halt behandelt zu werden.
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Was genau da so bei denen hintersteckt, das ist noch nicht ganz erforscht.
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Aber ExpertInnen vermuten, dass es denen halt natürlich auch darum geht,
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Aufmerksamkeit und Fürsorge von ihrem Umfeld
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oder halt von medizinischem Fachpersonal zu bekommen.
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Die haben halt ein Verlangen danach, dauerhaft krank sein zu wollen.
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Und das geht sogar so weit, dass sie dann halt auch nicht davor zurückschrecken,
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sich selbst zu verletzen, um eben diese Krankheiten auch herbeizuführen.
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Und das heißt, ungefähr 70 Prozent der Betroffenen,
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die spielen die Krankheit nicht nur vor,
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sondern die lösen die tatsächlich selber aus.
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Und das machen die, indem sie beispielsweise ihre Haut mit Säure einreiben,
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die schlucken Abführmittel, die spritzen sich Speichel
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oder nehmen sich selbst große Mengen an Blut ab.
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Einige fälschen dann halt auch noch zur Untermauerung ihre Krankenakten,
00:47:37
geben falsche Daten an oder unterschlagen Vorbefunde.
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Und das machen SimulantInnen in der Regel halt nicht.
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Wie häufig jetzt eine artifizielle Störung vorkommt,
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das ist schwer zu sagen.
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Also gerade im Hinblick darauf, dass natürlich nicht alle Fälle erkannt werden.
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ExpertInnen schätzen aber, dass jährlich ungefähr ein bis zwei Prozent aller PatientInnen,
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die in Krankenhäusern behandelt werden, eigentlich unter einer artifiziellen Störung leiden.
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Wir haben mit Professor Annegret Eckhardt Hennen gesprochen,
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die sich seit 40 Jahren mit artifiziellen Störungen beschäftigt
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und ärztliche Direktorin der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Stuttgart ist.
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Und haben sie gefragt, ob es so etwas wie typische PatientInnen von artifiziellen Störungen gibt
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und was die so ausmacht.
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Patienten mit artifiziellen Störungen sind oft Frauen, also viel häufiger Frauen als Männer.
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Sie sind sozial nicht sofort auffällig.
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Sie zeigen kein spektakuläres, auffälliges Verhalten,
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sondern wirken erst mal wie ein durchschnittlicher, normaler Patient.
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Sie haben oft begleitende psychische Störungen, Persönlichkeitsstörungen,
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aber auch andere Störungen wie zum Beispiel depressive Erkrankungen, auch manchmal Essstörungen.
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Meistens beginnt die Krankheit durchschnittlich Mitte 30, kann aber auch früher beginnen.
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Ansonsten ist es eine heterogene Gruppe, wo man nicht sagen kann, die sind immer so und so,
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sondern es ist eine heterogene Gruppe, die auch individuell unterschiedliche Vorgeschichten haben.
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Also dieses unauffällig heißt, die sind sozial angepasst, haben irgendwie Familien und Freundinnen
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und auch wenn die ins Krankenhaus kommen, sind die total freundlich
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und werden eigentlich meist von dem ganzen Personal da gemocht.
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Und wenn ich da jetzt so an Lara denke, also ich meine, wir können keine Ferndiagnosen stellen,
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wollen wir auch gar nicht, aber sie ist zwar eine Frau, okay,
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aber ansonsten treffen diese Merkmale von einer artifiziellen Störung nicht wirklich auf sie zu.
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Also die war sozial nicht unauffällig und integriert auch gar nicht.
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Also weder familiär noch gesellschaftlich noch beruflich.
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Und Lara hatte offenbar auch tatsächlich große Probleme mit ihrer Familie.
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Also sie wurde offenbar auch wirklich adoptiert und hatte halt auch kaum Freundinnen außer Ina
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und sie war arbeitslos zu dem Zeitpunkt.
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Ja und Lara hat ja offenbar auch schon alles immer sehr genau kontrolliert,
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was ihre vorgetäuschten Krankheiten anging.
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Also die hat ja jetzt sich nicht wirklich in Gefahr begeben.
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Genau und zum Beispiel auch diese Spritzen, die sie vorbereitet hat im Kühlschrank.
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Da war ja nichts drin, was dazu geführt hätte, dass es ihr schlechter geht,
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sondern das war halt diese Kochsalzlösung.
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Professorin Eckhardt Henn hat uns da von ganz anderen Beispielen erzählt,
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die zeigen, wie weit Menschen gehen, die tatsächlich eine artifizielle Störung haben.
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Ich habe mehrere Patienten im Lauf der Jahre kennengelernt,
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die aufgrund der artifiziellen Störung zum Beispiel durch Selbsteinspritzung von verschmutzten Lösungen
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so weit gekommen sind, dass sie Gliedmaßen amputiert bekommen haben.
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Bis hin, dass wir Patienten gesehen haben, die nur noch einen Oberschenkel stumpf hatten.
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Also wo das ganze Bein dann schließlich so stückweise amputiert worden ist.
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Oder andere Patienten, die zum Beispiel 20 bis sogar 40 Bauchoperationen und Bauchspiegelungen hinter sich haben.
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Ja und Lara hat sich halt nie so verletzt oder Krankheiten selbst ausgelöst,
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dass sie dann wirklich von Ärztinnen hätte behandelt werden müssen.
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Das hat sie alles gefälscht, das hat sie alles als Lügenkonstrukt aufgebaut.
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Ja und das ist bei Menschen mit artifizieller Störung eben anders.
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Professorin Eckart Hennen hat uns erklärt, dass Betroffene ihren Körper nicht als zu Hause ansehen,
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sondern als Mittel zum Zweck, um eben das zu erreichen, was sie möchten.
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Weil ihr Körper gehört ihnen und denen können sie beherrschen.
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Wenn andere darunter leiden, dann reagieren sie oft sehr kalt.
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Das kommt daher, dass ungefähr ein Drittel bis zur Hälfte der Betroffenen in ihrer Kindheit immer wieder traumatisiert wurde.
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Beispielsweise durch Gewalt, Missbrauch oder auch Vernachlässigung.
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Mein Fall zeigt, was passieren kann, wenn andere von dir Besitz ergreifen.
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Alle Namen habe ich geändert.
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Es ist der Tag vor Heiligabend.
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Das Café Extrablatt in Wuppertal erstrahlt in festlichem Glanz.
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Überall funkelt und glitzert es.
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Unzählige rote Schleifen, goldene Sterne und große Christbaumkugeln hängen von der Decke,
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während der Duft von Tannenzweigen und süßem Gebäck den Raum erfüllt.
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An den kleinen eckigen Tischen stimmen sich die Gäste vorfreudig auf die kommenden Feiertage ein,
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als plötzlich ein dumpfer Knall das besinnliche Treiben unterbricht.
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Es ist der wuchtige Körper eines Mannes,
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der ungebremst auf dem dunklen Holzboden des Lokals landet und dort liegen bleibt.
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Nach einigen Sekunden des Schreckens stürmen mehrere Menschen zu dem beleibten Mann mittleren Alters
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und beugen sich voller Sorge über ihn.
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Gemeinsam versuchen sie zu helfen, ihn aufzurichten.
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Zu groß sind die Schmerzen des Mannes mit Halbglatze, der sich auf dem Boden krampfhaft windet.
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Hat er einen Kreislaufzusammenbruch?
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Oder vielleicht sogar einen Herzinfarkt?
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Im Café Extrablatt weiß man nicht weiter.
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Auf der Suche nach Hilfe wählt jemand kurzerhand die 112.
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Nur wenige Minuten später eilt ein Notarzt im Laufschritt heran.
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Verdacht auf Epilepsie, lautet sein Fazit.
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Schnellstmöglich wird der Patient mit dem Rettungswagen ins nahegelegene Heliosklinikum gebracht.
00:53:16
Dass das seit Ende November bereits die vierte notfallmäßige Einlieferung des Mannes in ein Krankenhaus ist,
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ahnt hier niemand.
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Etwa einen Monat zuvor.
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Es ist bereits 22 Uhr, als in Kurt Beckers kleiner Dachgeschosswohnung im nordrhein-westfälischen Minden das helle Sohn der Türglocke ertönt.
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Überrascht macht sich der 58-Jährige auf zum Eingang.
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Draußen im Dunkeln erwartet den hageren Mann mit weißem Haar und Schnurrbart ein Paketbote, der ihm wortkarg einen Karton in die Hand drückt.
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Kurt wundert sich.
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Er kann sich nicht erinnern, etwas bestellt zu haben.
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Verwirrt geht er zurück in seine Wohnung und wirft einen Blick in das Paket.
00:53:54
Es sind blau-weiße Sportschuhe in Größe 42.
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Na, die hat er sicher nicht gekauft.
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Das ist ja nicht mal seine Größe.
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Wahrscheinlich hat da irgendjemand etwas verwechselt.
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Kurt beschließt, die Schuhe einfach an das Warenhaus, das sie versendet hat, zurückzuschicken.
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Zehn Tage später ist Nikolaus Tag.
00:54:11
Doch anstelle von Süßigkeiten, die in sauber geputzten Stiefeln stecken, bekommt Kurt heute zum zweiten Mal unerwartete Post.
00:54:18
Dieses Mal ist es ein dicker Brief vom St. Elisabeth-Hospital in Gütersloh.
00:54:23
Ohne groß darüber nachzudenken, öffnet Kurt ihn.
00:54:25
Eine mehrseitige Rechnung fällt in seine Hände.
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Für mehr als 160 Telefongespräche, die auf den Seiten einzeln aufgelistet sind, fordert die Klinik 90 Euro von ihm.
00:54:35
Kurt wühlt sich durch die Verbindungsnachweise nach München, Köln, Wiesbaden, Bielefeld, Berlin, Gütersloh und Wuppertal.
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Er stößt auf Nummern von Online-Shops, Versandhäusern, Paketdiensten und Sex-Hotlines,
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die Kurt während eines Aufenthalts vom 23. November bis 5. Dezember 2016 angerufen haben soll.
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Kurt versteht nicht und so langsam beschleicht ihn das Gefühl, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmt.
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Auf der Rechnung steht zwar sein Name, seine Adresse und sogar sein Geburtsdatum,
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aber in dem Krankenhaus in Gütersloh war er nie.
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Das weiß er zu 100 Prozent und erst recht nicht zu dem angegebenen Zeitpunkt.
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Vom 30. November bis 2. Dezember war Kurt nämlich gerade in einer anderen Klinik in Senderhorst in der Nähe von Münster in Behandlung.
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Denn seit zwei Jahren leidet er unter Rheuma, das so schwer ist, dass er immer wieder für längere Zeit ins Krankenhaus muss
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und sogar seinen Beruf als LKW-Fahrer aufgeben musste.
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Seither ist Kurt früh Rentner, doch die Krankheit ist nicht der einzige Schicksalsschlag, den er in den letzten Jahren verkraften muss.
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Kurz vor seiner Diagnose stirbt seine zweite Ehefrau Hilda.
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Von jetzt auf gleich steht Kurt plötzlich ohne alles da.
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Ohne Frau, ohne Job, vereinnahmt von Einsamkeit.
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Um in der Nähe von seinen ehemaligen Freundinnen und Bekannten irgendwie wieder auf die Beine zu kommen,
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kehrt er 2014 in seine Heimatstadt Minden zurück.
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Doch sein Plan geht nicht auf.
00:55:55
In der Stadt angekommen, muss Kurt schmerzlichst feststellen, auch hier ist er ganz auf sich alleine gestellt.
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Er kennt fast niemanden mehr.
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Viele aus seinem früheren Bekanntenkreis sind weggezogen oder bereits verstorben.
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Es gibt keinen Menschen, der Kurt empfängt, der ihn mal auf ein Bier einlädt oder zum Essen.
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Jetzt lebt der Frührentner also an einem Ort, an dem er zwar aufgewachsen ist, aber an dem er sich inzwischen unwohl fühlt.
00:56:17
Mit Entzündungen und Schmerzen in seinen Gelenken, die inzwischen so stark sind, dass er kaum noch etwas greifen kann.
00:56:24
Doch eine Pflege oder Hilfe im Haushalt kann Kurt sich nicht leisten.
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Dazu reicht die winzige Rente, die er bekommt, nicht aus.
00:56:30
Bereits jetzt muss er jeden Cent zweimal umdrehen.
00:56:33
Gerade deshalb bereitet ihm eine Rechnung, wie er sie jetzt gerade in der Hand hält, auch große Sorgen.
00:56:38
90 Euro kann er nicht so einfach aus der Portokasse ziehen.
00:56:41
Und was Kurt zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, ist, dass das erst der Anfang eines Albtraums ist, der noch Jahre andauern wird.
00:56:50
Es dauert keine Woche, bis an einem Vormittag im Dezember ein Postbote mit einem Paket zur Nachnahme erneut bei Kurt klingelt.
00:56:57
Knapp 50 Euro verlangt ein großes deutsches Versandhaus von ihm.
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Fassungslos drückt Kurt dem Mann an seiner Tür einige Scheine in die Hand.
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Doch damit nicht genug.
00:57:06
Als Kurt am Nachmittag desselben Tages zu seinem Briefkasten läuft, erwartet ihn ein Schreiben von Promondo, einem Onlineshop.
00:57:12
Es ist an Dr. Kurt Beckerstein adressiert.
00:57:16
Kurt scheint jetzt sowohl einen Doppelnamen als auch einen Doktortitel verliehen bekommen zu haben.
00:57:21
Wäre es nicht so traurig, könnte Kurt darüber lachen.
00:57:24
Als er den Brief öffnet, findet er darin eine Rechnung über weitere 50 Euro für eine schwarze Reisetasche.
00:57:30
Und damit hört die Flut an Rechnungen nicht auf.
00:57:33
Wenige Tage später steckt ein weiterer Brief in seinem Postkasten.
00:57:37
Dieses Mal kennt Kurt den Absender bereits.
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Es ist das St. Elisabeth-Hospital, das jetzt 3.522,79 Euro für die mehrtägige Behandlung als Privatpatient und Unterbringung in einem Zweibettzimmer fordert.
00:57:50
Dabei ist der gleiche Zeitraum wie damals auf den Telefonrechnungen angegeben.
00:57:54
Als Kurt die Summe von über 3.500 Euro liest, entgleisen ihm seine Gesichtszüge.
00:58:01
Ohne weiter zu zögern, greift er zum Telefon und wählt die Nummer des Krankenhauses.
00:58:05
Das muss er jetzt sofort klären.
00:58:07
Denn dieser Betrag würde seinen finanziellen Ruin bedeuten.
00:58:10
Nachdem es ein paar Mal klingelt, nimmt am anderen Ende der Leitung jemand ab.
00:58:14
Ausführlich erklärt Kurt seine Situation.
00:58:16
In seiner Stimme schwingt eine Mischung aus Verzweiflung und Frust mit.
00:58:20
Doch zu seiner Erleichterung glaubt man ihm, nachdem er nachweisen kann, dass er zu dem Zeitpunkt selbst woanders in Behandlung war und ein Foto seines Personalausweises an die Rechnungsstelle des Krankenhauses schickt.
00:58:30
Denn die Person, die im St. Elisabeth-Hospital war, sieht ganz anders aus als die Person auf dem Foto.
00:58:37
Und damit steht fest, hier ist eindeutig jemand in Kurts Namen unterwegs.
00:58:41
Doch auch wenn das Krankenhaus ihm zusichert, dass er die Rechnung nicht bezahlen muss, kann sich Kurt nur schwer beruhigen.
00:58:47
In seinem Kopf herrscht Chaos.
00:58:50
Wer macht sowas?
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Woher hat die Person überhaupt seinen Namen und seine Adresse?
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Und wieso gerade er?
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Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, beschließt der 58-Jährige am nächsten Tag zur Polizei zu gehen.
00:59:01
Die BeamtInnen vor Ort hören Kurt aufmerksam zu.
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Sie unterstützen ihn, eine Anzeige wegen Betrugs gegen Unbekannt zu erstatten und haben aufgrund ihrer Erfahrung sogar noch einige Tipps für ihn.
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Sie raten ihm, sowohl eine neue Kontonummer als auch eine neue Nummer für sein Festnetztelefon zu beantragen und ein neues Handy zu kaufen,
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schließend, dass seine Daten weiter missbraucht werden.
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Zurück in seiner Dachgeschosswohnung macht Kurt sich gleich daran, die Ratschläge umzusetzen.
00:59:26
Er telefoniert mit seiner Bank, mit seinem Telefonanbieter und kauft sich ein neues Handy, das kurz letzten Notgroschen auf seinem Konto verschlingt.
00:59:34
Aber die Kosten sind das eine. Die ganzen Umstände rauben ihm auch Kraft.
00:59:38
Es ist ein riesiger Aufwand, alles zu organisieren, im Anschluss alle Behörden über die neuen Bank und Kommunikationsverbindungen zu informieren
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und die Menschen, die ihm noch nahestehen, abzutelefonieren und in Kenntnis zu setzen.
00:59:49
Zeit, seine Kraft wieder zu sammeln, findet Kurt in den darauffolgenden Monaten nicht.
00:59:54
Im Gegenteil, immer wieder kommen Sendungen und Rechnungen an seine Adresse in Minden an.
00:59:59
Die PostzustellerInnen geben sich förmlich die Klinke in die Hand.
01:00:01
Drei Tage Chefarztbehandlung im St. Franziskus Hospital Bielefeld, Kostenpunkt knapp 2000 Euro.
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Eine Brille von Vielmann für 1000 Euro.
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Und später kommen noch mehrere Führerscheine aus Tschechien für 2000 Euro dazu.
01:00:14
Eine Rolex für 25.000 und ein Inkasso-Unternehmen wird ihn für eine unbezahlte Mitgliedschaft auf einem Erotikportal verwahren.
01:00:21
Nach nur fünf Monaten belaufen sich die Zahlungsaufforderungen auf mehr als 40.000 Euro.
01:00:30
Daraufhin erklärt die Schufa Kurt im März als kreditunwürdig.
01:00:34
Von jetzt an kann er seine Bankkarte nicht mehr benutzen, sondern nur noch mit Bargeld bezahlen.
01:00:38
Dabei ist allerdings viel mehr als nur seine Kreditwürdigkeit verloren gegangen.
01:00:42
Seine gesamte Identität existiert nicht mehr.
01:00:45
Wenn er jetzt in eigener Sache mit Ämtern telefonieren muss, endet das Gespräch, sobald er seinen Namen ausspricht.
01:00:50
Dann leuchtet in den Computern der Angestellten nämlich ein Vermerk mit Betrug auf.
01:00:54
Deshalb muss Kurt jetzt jeden noch so kleinen Behördengang persönlich wahrnehmen und stundenlange Wartezeiten in Kauf nehmen.
01:01:01
Inzwischen ist der frühe Rentner mit seinen Nerven völlig am Ende.
01:01:05
Er will nur noch, dass dieser Albtraum endlich aufhört.
01:01:07
Und deshalb sucht er sich Unterstützung.
01:01:10
Bei einem Anwalt aus Minden, der sich um die Mahnung und Rechnung kümmert und auch mit der Polizei in Kontakt steht,
01:01:16
die seit kurz Anzeige dem geheimnisvollen Unbekannten nachjagt.
01:01:20
Vor allem die Krankenhausrechnungen, die alle paar Wochen bei Kurt eintrudeln, beschäftigen die Gütersloher KriminalpolizistInnen.
01:01:25
Einmal logiert das Phantom in Bielefeld, dann in Gütersloh, danach in Wuppertal.
01:01:30
Eine Bande schließen die Ermittlungen daher schnell aus.
01:01:33
Denn außer einer Unterkunft und kostenlosem Essen springt bei solchen Taten kaum etwas raus.
01:01:38
Es fehlen irgendwelche Vermögenswerte, die sich unter den Bandenmitgliedern verteilen lassen würden.
01:01:42
Es muss sich also um einen Einzeltäter handeln.
01:01:45
Trotzdem fehlt den BeamtInnen jegliche Informationen über den Mann, der statt Kurt tatsächlich in den Krankenhausbetten liegt.
01:01:51
Deshalb befragen sie in den kommenden Monaten unzählige ZeugInnen und suchen die verschiedenen Kliniken auf.
01:01:57
Doch um ein Phantombild zu erstellen, reichen die Hinweise nicht aus.
01:02:01
Und so tappt die Polizei weiter im Dunkeln.
01:02:03
Selbst als der Mann Ende Dezember 2016 im Wuppertaler Krankenhaus seine Reisetasche mitsamt Rechnungen von Online-Versandhäusern und Versicherungen vergisst,
01:02:12
stehen die Ermittlungen weiter vor einem Rätsel.
01:02:14
Denn an dem Inhalt können sie zwar DNA-Spuren sicherstellen, doch auch diese bringen sie nicht weiter.
01:02:19
Im August 2018, etwa eineinhalb Jahre nachdem Kurt das erste Paket erreicht hat,
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zeichnet eine Überwachungskamera im evangelischen Krankenhaus Mettmann das Phantom dann auf.
01:02:31
Es ist ein Mann mit kräftiger Statur, schütterem Haar und einer Brille.
01:02:35
Endlich haben die Ermittlerinnen jetzt ein Bild.
01:02:37
Damit sind sie einen Schritt weiter.
01:02:39
Doch ein Name fehlt ihnen weiterhin.
01:02:41
Noch ein ganzes Jahr verlaufen die Ermittlungen im Sand,
01:02:44
bis im August 2019 in Remscheid ein Mann bei einer Ausweiskontrolle angehalten wird.
01:02:49
Gegen ihn liegt ein Haftbefehl vor,
01:02:51
weil er mehreren Leuten auf Ebay eine Stichsäge verkauft hat, ohne die Ware jemals zu verschicken.
01:02:57
Die BeamtInnen nehmen den Mann fest.
01:02:59
Anschließend wird er auf dem Revier vernommen und zur DNA-Probe gebeten.
01:03:02
Und plötzlich blinkt im Polizeisystem ein Treffer auf.
01:03:06
Dieser Mann, der gerade vor den Ermittelnden sitzt, ist derselbe,
01:03:09
der vor ungefähr zweieinhalb Jahren seine Tasche im Wuppertaler Krankenhaus vergessen hat,
01:03:13
wo er sich als Kurt Becker hat umsorgen lassen.
01:03:16
Damit hat das Phantom jetzt endlich einen Namen.
01:03:21
Jens Herrmann ist kein unbeschriebenes Blatt.
01:03:25
Innerhalb der letzten 30 Jahre wurde er bereits ein Dutzend Mal verurteilt.
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Und zwar immer wegen Diebstahls oder Betrugs.
01:03:32
Und das in hunderten Fällen.
01:03:34
Deshalb kennt Jens so gut wie jedes Gefängnis in Nordrhein-Westfalen von innen.
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Mit dem Leben hinter Gittern ist er bestens vertraut.
01:03:41
Draußen allerdings, in Freiheit, sieht es anders aus.
01:03:45
Hier steht er vor dem Nichts.
01:03:47
Und genau das bekommt Jens im September 2015 mal wieder zu spüren.
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Die Überwachungskamera der JVA Remscheid schwenkt über das massive Eingangstor
01:03:55
und fokussiert den 51-jährigen Mann.
01:03:58
Vorsichtig setzt Jens seinen ersten Fuß in die Freiheit.
01:04:01
Nachdem er jahrelang wegen schweren Diebstahls und Betrugs saß, darf er jetzt wieder raus.
01:04:06
Doch anstatt erleichtert zu sein, überkommt ihn ein Gefühl der Bedrückung.
01:04:10
Ohne Job und Wohnung steht er vor einem tiefen Abgrund.
01:04:13
Ohne Perspektiven und Möglichkeiten.
01:04:15
Weil Jens nicht weiß, wo er sonst hin soll,
01:04:17
findet er zunächst einmal Zuflucht in einer Notschlafstelle in Remscheid.
01:04:20
Doch inmitten der drogensüchtigen BewohnerInnen,
01:04:23
deren lautes Geschrei durch die kargen Wände halt,
01:04:26
umschwingt Jens das Unbehagen.
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Während seiner Zeit dort grübelt er deshalb darüber nach,
01:04:31
wie er sich aus dieser misslichen Lage befreien könnte.
01:04:33
Denn er weiß, dass er hier nicht lange bleiben kann.
01:04:36
Also braucht er einen Plan.
01:04:38
Zum Glück hat er ja bereits einiges an Erfahrung damit,
01:04:41
wie man an Geld kommen kann.
01:04:43
Und es dauert nicht lange, da hat Jens eine Idee.
01:04:45
Eine Idee, die ihm zahlreiche kostenlose Krankenhausaufenthalte beschert,
01:04:50
die Aufmerksamkeit von Fachpersonal sichert
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und die ihn dank eines kleinen Fehlers am Ende doch vor Gericht bringt.
01:04:56
Und so erscheint Jens Herrmann im Januar 2020 vor dem Amtsgericht Wuppertal
01:05:01
in Begleitung mehrerer BeamtInnen,
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die den inzwischen 55-Jährigen aus der U-Haft in den kleinen Gerichtssaal führen.
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Er trägt einen schwarzen Pulli und nimmt auf der Anklagebank neben seinem Verteidiger Platz.
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Gleichzeitig lässt sich jemand anderes im Zuschauerraum nieder.
01:05:15
Es ist Kurt Becker, der Echte.
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Der Mann, für den sich der Angeklagte die letzten Monate in allen möglichen Krankenhäusern ausgegeben hat
01:05:23
und er jetzt unglaublich erleichtert darüber ist, dass das Phantom endlich gefasst wurde.
01:05:28
Für den heutigen Tag hat Kurt extra die zweistündige Anreise aus Minden auf sich genommen,
01:05:33
um dem Mann in die Augen blicken zu können, der ihm über Jahre hinweg sein Leben zur Hölle gemacht hat.
01:05:39
Denn es ist die eine Frage, die ihm keine Ruhe lässt.
01:05:41
Warum hat er ihm das angetan?
01:05:43
Eine Antwort erhofft Kurt sich von dem Prozess,
01:05:46
der jetzt durch die Verlesung der Anklageschrift eröffnet wird.
01:05:49
Jens wird wegen gewerbsmäßigem Betrugs angeklagt.
01:05:52
Mit fester Stimme trägt die Staatsanwaltschaft Straftaten vor,
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die er in verschiedenen Krankenhäusern begangen haben soll.
01:05:58
Insgesamt geht es um über 11.000 Euro, die er sich dort erschlichen haben soll.
01:06:02
Damit sich das Gericht ein umfassendes Bild von Jens Taten machen kann,
01:06:06
werden sie in der Anklageschrift einzeln aufgelistet und die Anwesenden damit zurück an die Tatorte geführt.
01:06:12
20. November 2016
01:06:15
Auf offener Straße, mitten in Bielefeld, lässt sich Jens auf den Asphalt fallen.
01:06:20
Der schnellen Reaktion einiger PassantInnen verdankte es, dass er als Notfall in die Klinik eingeliefert wird.
01:06:26
Dort angekommen, checkt er unter dem Namen Kurt Becker ein,
01:06:30
erklärt, dass er privat versichert sei und selbst für die Kosten aufkommen werde.
01:06:34
Ein Einzelzimmer benötige er nicht, allerdings besteht er darauf, von der Chefärztin persönlich behandelt zu werden.
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Drei ganze Tage verbringt Jens daraufhin in einem Zwei-Bett-Zimmer,
01:06:43
in dem er immer wieder über brennende Schmerzen am ganzen Körper klagt und Morphin-Pflaster verlangt.
01:06:48
Abgesehen davon nutzt er den Aufenthalt aber auf seine ganz eigene Art.
01:06:53
Als wäre er in einem Hotel, genießt er die erfrischenden Duschen, das kostenlose Essen nach Wahl und shoppt bequem von seinem Bett aus.
01:06:59
Dabei bestellt er nicht nur die blau-weißen Sportschuhe, sondern auch andere Dinge,
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die er entweder selbst gut gebrauchen kann oder die sich gut verhökern lassen.
01:07:07
Wieder nutzt er dafür kurz Namen, gibt jedoch als Lieferadresse die Anschrift des Krankenhauses an.
01:07:12
Doch weil die Schuhe erst eintreffen, als Jens das Krankenhaus schon längst wieder verlassen hat,
01:07:17
schickt die Klinik diese einfach weiter an die Adresse, unter der Kurt gemeldet ist.
01:07:21
Jens ist da schon längst wieder über alle Berge, weil er weiß, dass es immer etwa drei bis vier Tage dauert,
01:07:27
bis die Kliniken misstrauisch werden und von den Versicherungen mitbekommen haben,
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dass da niemand unter dem angegebenen Namen versichert ist.
01:07:33
Deshalb haut er dann immer ab, bevor man ihn erwischt,
01:07:36
während die Rechnung für seinen stationären Aufenthalt und die Behandlung durch die Chefärztin
01:07:40
Kosten in der Höhe von knapp 2000 Euro sich auf den Weg zu Kurt macht.
01:07:44
Noch am selben Tag landet Jens wieder in einem Rettungswagen.
01:07:48
Die ErsthelferInnen bringen ihn als Notfall ins St. Elisabeth-Hospital in Gütersloh.
01:07:52
Als Jens dort ankommt, geht er zur Patientenaufnahme und gibt an, dass er Kurt Becker Stein heißt
01:07:57
und als Selbstzahler im Krankenhaus behandelt werden möchte.
01:08:00
Wieder wird er in einem Zwei-Bett-Zimmer untergebracht und wieder begrüßt der Chefarzt Jens jeden Morgen bei seiner Visite.
01:08:05
Obwohl Jens vor ihm über große Schmerzen klagt, geht er mehrmals im Tag in die Eingangshalle
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und erkundigt sich, ob die Pakete, die er erwartet, bereits eingetroffen sind.
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Ansonsten vergnügt er sich ausgiebig beim Telefonsex,
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sobald die Pflegekräfte, die ihn mit Schmerzmitteln versorgen, wieder aus seinem Zimmer verschwunden sind.
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Als er diesmal nach zwölf Tagen auscheckt, weil er sich hier als Selbstzahler und nicht als Privatversicherter ausgibt,
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hat er für seine besondere Art der Erholung Kosten von über 3.500 Euro verursacht.
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Fünfmal wiederholt sich das gleiche Muster.
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Jens spielt unterschiedliche Krankheiten und Zusammenbrüche vor.
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Mal gibt er an, an Epilepsie zu leiden, mal täuscht er einen Schlaganfall vor,
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dann wiederum einen Herzinfarkt oder sogar Krebs.
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Dabei bedient er sich nicht nur Kurznamen, sondern auch anderer Identitäten,
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um an kostenlose Mahlzeiten und eine Unterkunft zu gelangen und die Krankenhäuser als Zentrale für seine Betrügereien zu nutzen.
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In einer Klinik in Wuppertal vergisst er dann seine Tasche,
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in der sich seine Rechnungen von Online-Versandhäusern und Versicherungen und somit auch seine DNA befindet,
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die ihn heute in diesen Gerichtssaal gebracht hat.
01:09:11
Als die Anschuldigungen der Anklageschrift durch den Raum hallen, überrollen Kurt all die schrecklichen Erinnerungen.
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Verzweifelt versucht er, den dicken Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken,
01:09:20
während sich Jens bereit macht, seine Version der Geschichte zu erzählen.
01:09:24
Seiner Ansicht nach ist die Anklage nämlich eine absolute Fehlinterpretation seiner Handlung.
01:09:30
Denn Jens sagt aus, dass er tatsächlich sehr schwer krank sei.
01:09:33
So habe er bereits zwei Schlaganfälle hinter sich und Knochenkrebs,
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weshalb er wirklich ärztliche Hilfe benötige und vor allem die Morphinpflaster, um seine Schmerzen zu lindern.
01:09:43
Allerdings habe er in den Krankenhäusern nie seinen echten Namen angeben können,
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weil er bei einer seiner früheren Inhaftierungen nach einem Ausgang nicht zurückgekehrt sei.
01:09:51
Stattdessen habe er dann Kurznamen angegeben,
01:09:54
wenn er mal in einer Kneipe getroffen habe und er ihn bei sich habe übernachten lassen.
01:09:59
In dieser Nacht habe er die Geburtsdaten von Kurt gefunden, behauptet er.
01:10:02
Gedanken darüber, dass der echte Kurt Becker die Rechnungen erhält, habe er sich nicht gemacht.
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Doch nicht nur die Aussicht auf Behandlung seiner Krankheiten habe ihn angetrieben,
01:10:11
sondern auch seine Drogensucht.
01:10:13
Ausführlich berichtet Jens, dass er bereits seit den 90er Jahren Heroin- und Tablettenabhängig sei
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und sich auch habe einliefern lassen, um diese Sucht zu stillen und die Entzugserscheinungen abzuschwächen.
01:10:23
Doch während Jens sich selbst als das eigentliche Opfer darstellt,
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spricht die Aussage des Sachverständigen, der danach im Zeugenstand Platz nimmt, eine andere Sprache.
01:10:31
Der psychiatrische Gutachter kann nämlich weder eine medizinische Erkrankung
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noch eine Drogenabhängigkeit bei Jens feststellen.
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Jens würde schon ab und zu Drogen konsumieren,
01:10:41
eine Sucht liegt laut Gutachten aber nicht vor.
01:10:44
Dafür diagnostiziert der Sachverständige ihm eine Persönlichkeitsstörung mit Schizoiden und Paranoiden Anteilen,
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wodurch Jens Selbstwahrnehmung gestört ist, und das sogenannte Münchhausen-Syndrom,
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was aber keine Auswirkungen auf Jens Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit hat.
01:10:58
Diese Einschätzungen haben große Auswirkungen auf das Urteil, das am 17. Februar verkündet wird.
01:11:04
Die RichterInnen schenken Jens Darstellungen keinen Glauben und so wird er wegen gewerbsmäßigen Betrugs
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in fünf Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt.
01:11:12
Als das Urteil gesprochen wird, zeigt Jens kaum eine Reaktion.
01:11:16
Für ihn ist es ein weiterer Eintrag in seinem bereits umfangreichen Strafregister,
01:11:20
ein weiterer Aufenthalt im Gefängnis.
01:11:22
Doch für Kurt ist das Urteil ein Schock.
01:11:24
Er kann es nicht fassen und ist entsetzt darüber, dass Jens maximal vier Jahre ins Gefängnis muss.
01:11:29
Außerdem weiß Kurt, dass Jens selbst vor Gericht noch gelogen hat.
01:11:33
Denn Kurt hat diesen Mann vor dem Prozess noch nie in seinem Leben gesehen,
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geschweige denn bei sich übernachten lassen.
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Kurt hat seine ganz eigene Theorie, wie Jens an seine Daten gelangt ist.
01:11:44
Er vermutet, dass er und Jens sich einmal im selben Krankenhaus aufgehalten haben müssen
01:11:48
und während Kurt dort wegen seines Rheumas behandelt wurde,
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muss Jens sich unbemerkt seinen Ausweis geschnappt und heimlich fotografiert haben.
01:11:55
Ah, ich habe mich schon gefragt, wie er auf den kam.
01:12:00
Doch kurz entsetzend über das Urteil ist nicht das Einzige, was ihn plagt.
01:12:04
Er hat jetzt nicht nur Angst vor dem Tag, an dem Jens wieder entlassen wird,
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ihn erreichen selbst Monate nach dem Prozess noch immer regelmäßig Pakete und offene Rechnungen.
01:12:12
Inzwischen fordern die knapp 90 übrigen GläubigerInnen über 200.000 Euro von ihm.
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Zum Briefkasten zu gehen, ohne dabei in Schweiß auszubrechen, kann Kurt nicht.
01:12:22
Das Geschehene hat tiefe Spuren bei ihm hinterlassen.
01:12:25
Er tut sich schwer, das alles richtig zu verarbeiten und zur Ruhe zu kommen.
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Er quält sich von einer schlaflosen Nacht zur anderen,
01:12:32
muss sogar stationär behandelt werden und er leidet einen Herzinfarkt.
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Zu seiner schweren Räumererkrankung und dem Tod seiner geliebten Frau war der Umstand,
01:12:41
dass Jens von seiner Identität Besitz ergriffen hat, einfach zu viel für Kurt.
01:12:44
Zu viel für seinen sowieso schon kranken Körper und seine geschwächte Seele.
01:12:48
So viel, dass er etwa ein Jahr nach dem Urteil, im Alter von nur 63 Jahren, verstirbt.
01:12:55
Als Kurt zurück nach Minden gezogen ist, hatte er die Hoffnung,
01:12:58
im Kreis seiner alten Freundinnen endlich wieder neue Kraft, Halt und Geborgenheit zu finden.
01:13:03
Er wollte sich von den Sorgen der Vergangenheit befreien,
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die schönen Seiten des Lebens und einen unbeschwerten Lebensabend genießen.
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Doch durch Jens hat er seine letzten Jahre mit dem verzweifelten Kampf um seine Identität verbracht.
01:13:15
Er musste sich neben dem ständigen Ringen mit finanziellen Sorgen
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gleichzeitig mit seinen angeschwollenen, steifen und schmerzhaften Gelenken abmühen.
01:13:22
Denn im Gegensatz zu Jens, der seine Leiden nur vorgespielt hat,
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war Kurzerkrankung bittere Realität.
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Also das ist so gemein.
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Vor allem auch, weil diese Existenzangst diesen Mann ja psychisch offenbar so sehr belastet hat.
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Und ich meine, wenn man finanziell jetzt schon nur limitierte Möglichkeiten hat
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und dann jedes Mal darauf wartet, dass da wieder was kommt,
01:13:42
was für ein Psychoterror das gewesen sein muss.
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Ja, und auch wenn Kurt dann irgendwann sozusagen diese Gewissheit hatte,
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konnte das ihn irgendwie ja nicht mehr beruhigen.
01:13:55
Und weil auch einfach immer weiterhin noch Pakete ankamen
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und er am Ende einfach zu schwach dafür war, das alles irgendwie durchzustehen.
01:14:03
Und der Kurt hat ja dann auch ein paar Interviews gegeben und
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Nee, also das ist halt wirklich so ein grauhaariger, hagerer, kleiner Mann,
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der auch schon ein bisschen aussieht wie so ein Opi,
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der das einfach nicht ertragen konnte,
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weil er ja letztendlich auch niemanden hatte,
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der ihn irgendwie darin unterstützt hat
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oder mit dem er irgendwie sein Leid so teilen konnte.
01:14:31
Und ja, bei Betrug, das haben wir ja schon in vielen anderen Fällen jetzt auch gesehen,
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in Folgen, die wir gemacht haben.
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Es trifft halt oft irgendwie die, die eh schon am Boden sind
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oder die, die besonders hilfsbereit sind oder eben besonders empathisch.
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Und das macht das alles nochmal viel bitterer.
01:14:52
Der psychiatrische Gutachter hat Jens im Prozess ja sowohl eine Persönlichkeitsstörung
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mit Schizoiden und Paranoiden-Merkmalen
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als auch das Münchhausen-Syndrom diagnostiziert.
01:15:02
Münchhausen kennen wir bisher aus dem Podcast ja nur als By-Proxy-Syndrom,
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also beispielsweise von Müttern, die ihre Kinder absichtlich krank machen
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oder so tun, als wären die krank.
01:15:13
Und dieses Syndrom, genau wie das Münchhausen-Syndrom,
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fallen unter die artifiziellen Störungen, die Paulina eben vorgestellt hat.
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Münchhausen gilt dabei als eine besonders schwere chronische Unterform.
01:15:24
Die Betroffenen verletzen sich zwar selten selbst,
01:15:28
die sind aber andauernd bei Ärztinnen.
01:15:31
Also die betreiben dieses sogenannte Ärztinnen-Hopping
01:15:34
oder Krankenhauswandern
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und sind deswegen dauernd damit irgendwie in Kontakt.
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Es gibt da Betroffene, die in einem Jahr irgendwie bis zu 60 Mal
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in verschiedenen Krankenhäusern aufgenommen werden,
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wobei sie sich in den meisten Fällen dann aber auch selbst wieder entlassen,
01:15:51
wie das bei Jens ja auch der Fall war.
01:15:53
Dieses Ärztinnen-Hopping, ganz kurz,
01:15:55
das machen ja auch zum Beispiel Menschen mit Hypochondrie,
01:15:58
also die dann so panische Angst davor haben, krank zu sein,
01:16:01
aber natürlich aus einem ganz anderen Grund,
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wo mehr so eine Vorsorge dahinter steckt,
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weil die halt checken wollen, ob alles in Ordnung ist
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oder auch weil sie vorherige Diagnosen,
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also zum Beispiel, nee, ist alles gut,
01:16:14
dass sie das dann anzweifeln von anderen Ärztinnen,
01:16:16
dass sie gesund sind.
01:16:18
Und die sind dann halt auch oft in Krankenhäusern oder Praxen unterwegs.
01:16:21
Aber da ist halt der Unterschied,
01:16:22
dass diese Leute ja dann tatsächlich glauben,
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dass sie krank sind und eigentlich aber gesund sein wollen.
01:16:28
Ja, und bei den Menschen, die an dem Münchhausen-Syndrom leiden,
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die lügen ja, dass sie krank sind.
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Die sind ganz oft notorische LügnerInnen,
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also je nachdem, wie schwer das Syndrom bei denen ausgeprägt ist,
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ist das Lügen für sie oft zwang- und unkontrollierbar.
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Das heißt, die lügen dann nicht nur in Bezug auf ihre Krankheiten,
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sondern dichten dann irgendwie auch noch gerne abenteuerliche Geschichten dazu,
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wie die entstanden sind.
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Und sie manipulieren auch ihr Umfeld,
01:16:51
indem sie unterschiedliche Identitäten und Namen annehmen
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und passend dazu eben ihre Lebensgeschichte ändern.
01:16:56
Und manchmal können sich die Betroffenen dann so in ihre Geschichten hineinsteigern,
01:17:02
dass sie selbst irgendwann nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden können.
01:17:06
Aber es gibt auch Münchhausen-PatientInnen,
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die das Ganze sehr bewusst machen.
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Für manche ist es dann fast wie so ein Spiel, was sie antreibt,
01:17:16
also wo der Nervenkitzel dann quasi daraus besteht,
01:17:19
ob die die Rolle gut genug spielen oder ob sie entlarvt werden.
01:17:24
Also diese Betroffenen wissen genau, was sie tun.
01:17:26
Und wenn das so ist, dann werden die vor Gericht dann natürlich auch als voll schuldfähig erklärt,
01:17:30
so wie Jens, bei dem ja das Syndrom auch festgestellt wurde.
01:17:33
Ich bin übrigens ganz happy, dass wir jetzt mal geschafft haben,
01:17:36
eine Folge darüber zu machen,
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weil dieses Münchhausen bei Proxy, das kennt ihr halt alle,
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weil das eine Straftat ist,
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ja auch irgendwie eine recht spektakuläre,
01:17:45
wenn Verwandte, gerade Mütter ja häufig ihre Kinder krank machen.
01:17:50
Und beim Münchhausen-Syndrom ist das ja aber so,
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dass das nicht immer unbedingt mit einer Straftat verbunden ist,
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wenn man nicht irgendwie auf Kosten anderer das macht.
01:17:59
Weil du schadest dir eigentlich erstmal niemandem, außer dir selber vielleicht.
01:18:04
Und da müssen natürlich dann schon irgendwie bestimmte Sachen erfüllt sein,
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damit das überhaupt aufliegt, weil so viele Leute irgendwie betroffen sind
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oder bei Krankenhäusern dann dahinter kommen.
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Aber es ist von der Schwere der Tat natürlich schon was anderes,
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ob du selbst vorgibst, krank zu sein oder dich selbst krank machst oder andere.
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Weil du da ja in deren Gesundheitsbereich reingehst und den dann manipulierst.
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Genau, das ist dann ja auch von dem Strafmaß auch ein ganz anderes.
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Wenn man jetzt sich irgendwie die schwere Körperverletzung anguckt oder eben den Betrug,
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wenn der leicht ist, dann sieht man ja auch im Fall von Lara,
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kann man mit einer Geldstrafe davon kommen.
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Bei Jens war das jetzt nicht so.
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Der hat das ja gewerbsmäßig gemacht, weil das halt immer wieder vorgekommen ist.
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Und deswegen und auch wegen seiner ganzen Vorstrafen stand er am Ende ja vier Jahre.
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Und eigentlich kann Jens auch als typischer Betroffener herangezogen werden,
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weil auch wenn die artifiziellen Störungen im Allgemeinen, wie wir eben gehört haben,
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ja häufiger bei Frauen auftreten, leiden unter dem Münchhausen-Syndrom oft Männer mittleren Alters,
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die nicht verheiratet sind und meist wenig oder keinen Kontakt zu ihrer Familie oder Freundinnen haben.
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Außerdem haben die Betroffenen in ihrer Kindheit und Jugend häufig Kontakt mit Alkohol,
01:19:26
Verlust, Gewalt oder Missbrauch erlebt.
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Eine Sache, die auch Jens von sich behauptet,
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also zumindest, dass er seit dem Tod seiner Mutter ein Alkoholproblem hatte.
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Gut, wie wir wissen, man kann den Betroffenen jetzt auch nicht alles glauben,
01:19:40
aber es ist eben so, dass das bei vielen Münchhausen-Betroffenen der Fall ist.
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Aber um das alles in Perspektive zu setzen,
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das Münchhausen-Syndrom soll nur etwa fünf bis zehn Prozent aller artifiziellen Störungen ausmachen
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und damit kommt das schon sehr selten vor.
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Aber wenn das dann mal vorkommt, dann sorgt das ja logischerweise für großes Aufsehen
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und dass sich eben die Medien da draufschmeißen.
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Ich möchte an dieser Stelle mal eine Geschichte erzählen, die mir wirklich seit Jahren nicht aus dem Kopf geht.
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Und zwar hatte mir mal eine Person, eine Hörerin des Podcasts auf Instagram geschrieben,
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dass ich mir doch mal das Profil von einer Frau angucken soll.
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Und das Profil wirkte auf mich erstmal wie normales Profil, in Anführungszeichen, einer Frau, die ein Krebsleiden hat.
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Zu der Zeit bin ich eh ein paar Betroffenen gefolgt und deswegen war das jetzt nicht das erste Profil von jemandem,
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der irgendwie übers Internet über die Krankheit berichtet hat und so.
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Und da wirkte jetzt für mich auch nichts auffällig.
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Und diese Person schrieb dann aber, dass sie der festen Überzeugung ist, dass diese Person ihre Krankheit vorspielt.
01:20:52
Ich meine mich zu erinnern, dass sie meinte, dass sie auch entweder selber Betroffene war oder in der Familie jemanden hat
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und sich deswegen viel mit so Leidensgeschichten von Erkrankten auseinandersetzt und viel auf solchen Profilen auch unterwegs ist.
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Und ihr wären da ein paar Unstimmigkeiten aufgefallen.
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Ich habe dann damals, glaube ich, ein bisschen forsch zurückgeschrieben, dass das eine krasse Anschuldigung ist.
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Ich fand tatsächlich jetzt die Auffälligkeiten nicht so schlüssig.
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Also ein Verdachtsmoment hatte sich bei ihr zum Beispiel ergeben, weil sie über einen längeren Zeitraum beobachtet hat,
01:21:20
dass die Person nie so lange Freundschaften pflegt und die Leute nicht irgendwann wieder auftauchen auf dem Profil.
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Das war jetzt nur eine der Sachen, aber mich hat das irgendwie bis heute nicht losgelassen.
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Und manchmal gucke ich noch auf dieses Profil von dieser Person und ich glaube es eigentlich nicht.
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Aber irgendwas ist da jetzt so in meinem Hinterkopf.
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Und ich würde das so gerne wissen, weil mich das so wütend machen würde.
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Die Person hat sich auch eine große Volksschaft an Followern schon aufgebaut.
01:21:50
Also gerade natürlich von Betroffenen selber, die sich irgendwie einen Austausch wünschen und meinen, da vielleicht jemanden gefunden zu haben, der einen ähnlichen Leidensweg geht.
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Und jemanden, mit dem sie sich identifizieren können.
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Und das lässt mir wirklich keine Ruhe mit dieser Person.
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Das verstehe ich.
01:22:10
Und das Blöde ist ja auch, dass du das nicht erfahren wirst.
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Weil, also höchstwahrscheinlich.
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Weil es ist ja auch so, wenn man keine stichhaltigen Beweise hat oder sowas, dann ist das, wie du ja gesagt hast, total die schreckliche Unterstellung.
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Wenn das jetzt mal, sag ich jetzt mal, wenn man das jetzt schreiben würde oder unter jemand anfangen würde, das unter ihre Postings zu schreiben.
01:22:34
Und wenn man sich dann vorstellt, dass sie wirklich erkrankt ist, dann ist das so schlimm.
01:22:41
Weil das weiß ich auch noch aus eigener Erfahrung, dass wenn jemand quasi sagt, keine Ahnung, die tut nur so oder die macht das nur des und deswegen, obwohl man schon krank ist, dass das einen so verletzt, weil man sich so denkt, warum sollte ich mir das bitte ausdenken?
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Ja, weil einem das irgendwie ja nie einfallen würde, außer man ist ein Betrüger oder eine Betrügerin oder hat halt eben eine Erkrankung, ja.
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Also, ja, ich finde das auch total schwierig, da mit so einem Vorwurf um die Ecke zu kommen.
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Und deswegen bin ich auch froh, dass die sich nur an mich gewandt hat.
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Dieses Phänomen, das hat übrigens auch Namen und zwar heißt das Münchhausen bei Internet.
01:23:24
Das ist ja eine spezielle Form des Syndroms und auf die ist der US-amerikanische Professor für Psychiatrie Mark Feldman schon im Jahr 2000 gestoßen.
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Und bei dem Syndrom ist das eben so, dass Betroffene ihre Lügen und Täuschungen halt eben hauptsächlich im Internet verbreiten und gar nicht in der realen Welt.
01:23:40
Und dann nutzen sie dafür halt beispielsweise Online-Selbsthilfegruppen, Webseiten oder halt eben Instagram oder andere soziale Medien, um dann da auch teilweise unter falschen Namen und mithilfe von mehreren Identitäten auch Krankheiten vorzutäuschen.
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Und dieser Content, der kommt halt auch an, vor allem halt bei Leuten, die selber irgendwie betroffen sind.
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Und wir alle kennen Leute, die schon mal Krebs hatten und die sich dann auch für so ein Schicksal irgendwie potenziell interessieren können, weil man dann eben auf deren Profil verfolgt, von was für Problemen die reden, was für Schmerzen die haben und wie die von ihren Behandlungen erzählen und Hoffnungen und ja auch irgendwie Niederschlägen.
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Und bei Leuten, die dieses Syndrom haben, ist das dann aber halt auch manchmal so, dass die Postings irgendwann so völlig dramatisch werden.
01:24:27
Also so wie das ja bei einer Krankheit auch manchmal ist, dass sie dann sagen, die stehen jetzt kurz vorm Tod oder die werden dann plötzlich wie durch ein Wunder geheilt.
01:24:34
Was ich eigentlich nicht schlau finde, weil damit nehmen sie sich ja selbst ihre Aufmerksamkeitsquelle.
01:24:40
Bei der Person, von der ich rede, die hat halt tatsächlich auch diese Krankheit jetzt schon mehrere Jahre.
01:24:45
Also das ist sechs Jahre sein und gefühlt tut sich da immer nichts.
01:24:50
Dann wird es mal wieder schlimmer, dann wird es mal wieder besser.
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Aber was soll die Person auch anders machen?
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Also sollte die Person kein Krebs haben, wenn sie dann so tut, als wäre sie tot, dann kann sie das ja nicht mehr machen im Internet.
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Also zumindest nicht unter dem Profil, wo ihr ja jetzt schon viele Leute folgen.
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Manche machen das aber, manche inszenieren tatsächlich ihren eigenen Tod, so wie auch Lara aus meinem Fall.
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Und manchmal kreieren die dann auch fiktive Angehörige, die dann halt ihr Ableben verkünden.
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Also es ist doch scheußlich.
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Das ist nicht scheußlich und schäbig.
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Aber klar, diese virtuelle Welt eignet sich dafür natürlich besonders gut, weil man da eben viel schneller als im echten Leben irgendwelche Identitäten aufbauen kann.
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Stichwort Fake-Profile.
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Und durch die Plattform kann man ja natürlich auch auf einen Schlag viel mehr Menschen erreichen, als wenn du jetzt ins Krankenhaus spazierst und dann da vor drei Ärztinnen stehst.
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Und das spielt den Betroffenen von Münchhausen bei Internet halt perfekt in die Karten, weil es ihnen meistens eben um Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Unterstützung geht.
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Laut Feldman deswegen, weil es ihnen genau daran in der Kindheit oft gefehlt hat.
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Und eine andere mögliche Motivation ist auch die Kontrolle, also Kontrolle über das eigene Leben oder das, was sie als ihr eigenes Leben darstellen oder wie sie halt ihr eigenes Leben selbst sehen wollen, weil sich online die Betroffenen ja eine ganz eigene Welt aufbauen können.
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Also theoretisch wie bei den Sims damals, ja.
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Und damit können sie dann halt auch das Bild, was andere von ihnen haben, beeinflussen.
01:26:24
Also die können ja theoretisch in jede Rolle schlüpfen, die sie sein möchten, selbst mit dem eigenen Gesicht.
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Und in diesem Fall von Münchhausen bei Internet ist die Rolle dann eben das Opfer oder die kranke Person.
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Worum es den Betroffenen nicht so sehr geht, also laut Mark Feldman, ist einen finanziellen Nutzen aus diesen vorgetäuschten Krankheiten zu ziehen.
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Aber dass dabei auch viel Geld rumkommen kann, zeigt der Fall Madison Russo.
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Der wird einem bei YouTube direkt ins Gesicht springen, wenn man nach Fake-Disorder-Cringe sucht.
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Da findet man hunderte Videos von irgendwelchen Internetberühmtheiten, die angeblich schwerwiegende Krankheiten faken.
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Naja, auf jeden Fall teilt Maddy Russo ihren Followern auf TikTok im Februar 2022 mit, dass sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt sei.
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Und die 19-Jährige aus Iowa erzählt, dass sie einen Tumor so groß wie ein Football habe.
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Und deshalb seien ihre Überlebenschancen jetzt ungefähr bei 11 Prozent.
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Kurze Zeit später folgt noch eine Diagnose, Leukämie.
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Und ihre Community ist, klar, schockiert.
01:27:35
Und sie regt etliche aufmunternde Nachrichten und hat eben viel Aufmerksamkeit und so weiter.
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Innerhalb von ein bisschen mehr als einem halben Jahr muss Maddy angeblich 15 Chemotherapien und 90 Bestrahlungen über sich ergehen lassen.
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Und darüber erzählt die sogar im Podcast der Nationalen Bauchspeicheldrüsenkrebsorganisation.
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Und damit Maddy ihre dringend notwendigen Behandlungen finanzieren könne, geht eine Spendenkampagne für sie online.
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Über umgerechnet 35.000 Euro kommen so zusammen.
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Aber im Januar dieses Jahres fällt dann einigen ihrer Follower in, so wie der Person, die dir eine Nachricht geschickt hat, ein paar Unstimmigkeiten bei Maddys Beiträgen auf.
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Und zwar Schläuche und Nadeln, die falsch an ihrem Körper angebracht sind und Fotos, die offensichtlich von anderen Krebspatientinnen stammen, die Maddy aber als ihre eigenen ausgibt.
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Nach anonymen Hinweisen schaltet sich dann die Polizei ein, die daraufhin Maddys Wohnung und ihre Krankenakte überprüft und dabei feststellen, die 19-Jährige ist komplett gesund.
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Ja, und inzwischen wurde Maddy wegen Betrugs angeklagt und ihr drohen jetzt bis zu 10 Jahre Haft.
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Ja, sowas könnte der Maddy in Deutschland auch drohen.
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Normalerweise steht auf Betrug hier zwar nur eine Geldstrafe oder halt eine Freiheitsstrafe von maximal fünf Jahren.
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Aber in so besonders schweren Fällen kann das Strafmaß dann auch größer ausfallen.
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Und so ein Fall ist beispielsweise gegeben, wenn durch den Betrug halt ein sehr großer finanzieller Schaden entstanden ist.
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Das ist in Deutschland tatsächlich laut BGH erst ab 50.000 Euro der Fall.
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Aber man kann auch wegen schweren Betrugs verurteilt werden, wenn der oder die Täterin beabsichtigt hat, sehr vielen Menschen finanziell zu schaden.
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Inzwischen hat die Internetplattform, über die diese Spendenkampagne für Maddy lief, übrigens allen SpenderInnen ihr Geld zurück überwiesen.
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Und wo wir gerade bei Geld sind, diese vorgetäuschten Krankheiten, die können auch schweineteuer für unser Gesundheitssystem werden.
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Marc Feldman geht beispielsweise davon aus, dass in Deutschland jährlich etwa 2,4 bis 4,8 Milliarden Euro für sinnlose medizinische Maßnahmen ausgegeben werden.
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Die Zahl, die ist jetzt aus dem Jahr 2006, aber das ist einfach eine enorme finanzielle Belastung für ein Gesundheitssystem, was eh, naja, viel zu tragen hat.
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Ja, und die Kosten sind ja nur das eine.
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Das andere ist ja, dass diese Menschen, egal ob jetzt mit artifiziellen Störungen oder einfach SimulantInnen, dass die natürlich auch ärztliches Personal, Krankenhausbetten, Operationstermine und was weiß ich belegen,
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worunter dann ja letztendlich die Menschen leiden, die wirklich medizinische Behandlung benötigen.
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Und deshalb ist es super wichtig, dass solche Fälle erkannt werden, man diese raussiebt und ihnen, wenn sie es eben brauchen, auch Hilfe zukommen lässt.
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Apropos Hilfe, habe ich Sonntag gedacht, als ich das Fritzl-Buch gelesen habe.
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Also es war wirklich grauenhaft.
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Erstmal sag, wie viele Seiten?
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Weiß ich nicht, weil Kinder.
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Weiß ich nicht, 100.
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Also es ist nicht sehr umfangreich, schon gar nicht inhaltlich und es war grauenhaft, aber auf eine ganz andere Art, als ich dachte.
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Also erstmal macht die Anwältin Astrid Wagner gleich klar, dass sie die Perspektive der Opfer nicht einnehmen.
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Sie sagt aus Schutz, später wird aber auch klar, dass sie medienrechtlich offenbar gar nicht über die Tat reden dürften.
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Und deswegen geht es dann in dem Buch auch um alles, nur nicht um die Tat.
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Also in seinem Manuskript hat er offenbar schon über die Tat geschrieben, aber davon erfahren wir nichts.
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Und das ist auch besser so.
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Nach dem Buch habe ich nämlich tatsächlich eine sehr genaue Vorstellung davon, wie der Typ tickt.
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Das kann ich euch auch recht fix erklären, aber erstmal was zu dieser Anwältin.
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Also Fritzl hat die ausgesucht, unter anderem, weil er ein Buch rausbringen wollte und weil sie auch schon einige Bücher geschrieben hat.
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Unter so Titeln wie Aug in Aug mit dem Bösen, Schwarze Liebe oder Abnorm.
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Und ihm hatte offenbar auch gefallen, wie sie über Jack Unterweger geschrieben hat.
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Also er hat sich die Anwältin extra ausgesucht.
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Das ist aber jetzt nicht die, die sich dann in den verliebt hat, oder?
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In den Jack Unterweger.
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Boah, das weiß ich nicht.
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Das müssen wir mal kurz nachgucken.
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Hier steht, in den 90ern verliebt sich Strafverteidigerin Astrid Wagner in Österreichs berühmtesten Frauenmörder.
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Und das hat sich der Fritzl auch gewünscht.
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Und weißt du, und das passt schon wieder alles so gut zusammen.
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Also es fügt sich ja wirklich.
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Kann nicht mehr, ey.
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Das ist ja geil.
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Also in den ersten 10% dieses Buchs geht es erstmal nur aus ihrer Sicht darum, wie sich die beiden kennengelernt haben und wie sie das Buch redigiert hat.
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Und zwischendurch sagt sie dann auch mal, dass sie fast schon selbst wie besessen von der Geschichte ist.
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Also wir sehen, Objektivität gibt es in diesem Buch bei weitem nicht.
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Und es schmerzt auch wirklich, weil es an dieser Perspektive auf jeden Fall fehlt.
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Also sie schreibt ganz viel so aus ihrer Sicht, wie sie ihn kennenlernt.
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Und dann zwischendurch werden immer Absätze aus seinem Manuskript einfach so eins zu eins wiedergegeben.
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Und in diesen Absätzen, da geht es vor allem um die schwierige Beziehung, die er zu seiner Mutter hatte.
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Die ihn nie umarmt hat, sondern an den Tisch gefesselt hat, wenn sie weg war.
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Aber auch in welchen Fächern er gut war.
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Und das ist auch wirklich einfach nur langweilig.
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Es geht viel darum, was er im Leben geschafft hat.
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Vor allem beruflich, dass er ja so erfolgreich gewesen sei.
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Und das ist halt unterbrochen, auch manchmal von Einwürfen von der Anwältin, dass sie davon beeindruckt ist.
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Und mehr passiert auch erstmal nicht.
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Dann kommt es zum größten Teil des Buches.
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Und ich habe mir wirklich einiges gedacht, was in diesem Buch passieren könnte.
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Aber da war ich nicht drauf vorbereitet.
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Also er beschreibt einfach seine, und das ist jetzt eine Anmerkung der Redaktion,
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er beschreibt von seinen angeblichen etlichen Affären, mit denen er seine Frau betrogen hat.
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Und dass er ja so ein leichtes Spiel bei Frauen hatte.
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Und das ist wirklich die Essenz des Buches.
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Eine Gelegenheit, die ich nicht auslassen konnte.
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Sie empfing mich im Negligé, packte mich sogleich an der Krawatte,
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zog mich in ihr Zimmer und befreite mich im Eiltempo von meiner Bekleidung.
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Ihre Begierde war atemberaubend.
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Ich kam rasch in Fahrt und beglückte sie nach allen Regeln der Liebeskunst.
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Und dann werden da Szenen beschrieben, wie er mit einer anderen Geliebten nach Ghana fährt,
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wo er 20 Jahre zuvor mit einer anderen ein Kind gezeugt hatte,
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die ihn angeblich mit leidenschaftlichen Küssen empfängt,
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obwohl er eine Begleitung dabei hat und obwohl er 20 Jahre lang keinen Unterhalt bezahlt hat.
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Und die beiden Frauen gehen dann angeblich zusammen shoppen,
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während er von einem Zimmermädchen verführt wird, was er aber ablehnt.
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Und woraufhin dann er selbst staunt, dass er so standfest bleiben kann.
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Witzigerweise bezeichnet er sich selbst seiner Frau gegenüber als treuen Affen.
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Und ich sage mal so, eines davon mag stimmen.
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Und ja, also es geht um irgendwelche Frauen.
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Er schreibt, dass er Frauen vor allem dann mag, wenn sie zugänglich sind,
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was man sich vorstellen kann bei seiner Geschichte.
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Und diese Szenen, die er beschreibt, die rundet er manchmal mit so einem Satz ab wie
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Sie wussten ja nicht, was ich in der Zeit für ein Geheimnis hütete.
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Also that's it zur Tat.
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Und zwischendurch angespeckt mit so Nichtigkeiten,
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dass die Anwältin mal eine angeklagte Hundequälerin verteidigte,
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in demselben Gerichtssaal, wo auch Josef Fritzl verurteilt wurde.
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Also wie gesagt, ich habe eine andere Art von Schrecken erwartet.
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Und ich habe mir tatsächlich nur einen Satz notiert,
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einen einzigen, der für mich als Erklärungssuchende
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das bedient hat, weshalb ich mir so ein Buch gekauft hätte.
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Also wenn ich das Buch jetzt freiwillig gerne gelesen hätte.
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Und das war, ich hatte beruflich wenig Zeit für meine Familie und hatte Angst,
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dass mir etwas zu entgleiten drohte.
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Und das ist natürlich sehr dürftig, wenn du erwartest,
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hinter die Fassade und in die Psyche eines ganz schrecklichen Verbrechers blicken zu können.
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Und am Ende war es halt vor allem deswegen so kaum zu ertragen,
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weil er dieses Selbstdarstellerische ohne Konterpart machen konnte.
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Also die Anwältin sagt halt am Ende einmal,
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dass er die Geschehnisse oft anders beschreibt,
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als das Gericht sie festgestellt hat.
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Und da wird sie Recht mit haben.
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Und deswegen wäre es auch ganz schlimm gewesen,
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wenn er die Tat hätte beschreiben dürfen.
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Ich hätte ihm davon auch kein einziges Wort geglaubt,
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weil der sieht sich nicht als die Person, die er ist.
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Also er sagt selbst, er sei im Grunde kein Verbrecher.
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Und vielleicht kann man sich jetzt ausmalen, was er damit meint.
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Also er setzt sich mit der Tat nicht auseinander.
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Im Buch wird das Ganze auch nicht eingeordnet.
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Vielleicht war das ja auch eine Bedingung von ihm.
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Und nur am Ende sagt sie,
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dass er sich seine eigene Deutung der Ereignisse zurechtgezimmert hat.
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Und dem gibt sie leider in diesem Buch voll den Raum.
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Ja, das habe ich mir auch gedacht.
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Also was soll das von dieser Anwältin?
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Aber was ist da anderes zu erwarten, sage ich jetzt mal auch,
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mit ihrer Vorgeschichte?
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Das hätte ich auch niemals erwartet.
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Also diesen Inhalt.
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Aber er zeigt eigentlich, was ich ja auch am Anfang vermutet habe.
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Und zwar, dass es einfach gequillte Scheiße ist.
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Und das, was du gesagt hast,
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dass er einfach ein Bild von sich gibt,
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das er selber hat oder haben möchte.
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Aber dieses Bild, was er da jetzt abgibt,
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das hilft ihm ja auch gar nicht.
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Er kann das gar nicht reflektieren,
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wie das jetzt rüberkommt
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und was das jetzt auch für seine Angehörigen bedeutet.
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Vor allem auch für seine Frau.
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Seitenlang über andere Frauen
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und seine sexuellen Abenteuer mit denen zu schreiben.
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Ich bin geschockt.
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Ja, also ich kann wirklich nur dringend abraten
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und ich würde mir jetzt gerne einen Tag freinehmen dafür,
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dass ich das am Sonntag alles noch gemacht habe.
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Grund, psychologische Folgen einer Recherche.
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Das war ein Podcast der Partner in Crime.
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Hosts und Produktion Paulina Graser und Laura Wohlers.
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Redaktion Vera Grün und wir.
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Schnitt Pauline Korb.