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Heute müssen wir mal über ein Thema sprechen, weil das ganz offenbar ziemlich viele Menschen
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bewegt. Und zwar geht es um die Anschuldigungen, die gegen die Band Rammstein erhoben werden.
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Falls einige hier die letzten Tage keine Medien konsumiert haben, hier nochmal die Zusammenfassung.
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Also es haben sich einige Frauen gemeldet, die der Band Machtmissbrauch vorwerfen.
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Da wird von einem System gesprochen, das diese Band entwickelt haben soll, um vor allem
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dem Frontsänger Till Lindemann während oder nach Konzerten der Band Frauen für Sex zuzuführen.
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Und nach Recherchen des NDR und der SZ gibt es auch zwei Frauen, die explizit von sexuellen
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Übergriffen berichten.
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Und wir wollen jetzt hier gar nicht die Anschuldigung an sich bewerten, sondern wir wollen über die
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Unschuldsvermutung sprechen, nach der gerade so viele schreien.
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Ich habe nämlich am Wochenende ziemlich viel im Internet gelesen und unter fast jedem Artikel
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schreien einem in dubio pro reo Kommentare in Versalien an.
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Und da müssen wir jetzt einmal klären, wann im Zweifel für den Angeklagten eigentlich
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Weil eigentlich ist das ja ein rechtlicher Begriff und bezieht sich jetzt erstmal auf ein
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Also das heißt, ein Angeklagter oder eine Angeklagte hat so lange als unschuldig zu gelten, bis in
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einem Verfahren das Gegenteil bewiesen ist.
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Jetzt zieht sich das natürlich nicht nur auf das Verfahren.
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Also Medien dürfen jetzt zum Beispiel auch nicht vorverurteilen und sagen, das haben die
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gemacht, wenn das nicht bewiesen ist.
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Das habe ich in der Berichterstattung, wo diese Kommentare drunter geschrieben wurden, aber auch
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gar nicht gesehen.
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Also die Medien berichten ja eigentlich nur über den Fall und dass es Anschuldigungen gibt.
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Und das ist wichtig, dass die das machen, weil so eine große Öffentlichkeit, die jetzt
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gerade erzeugt wird, die kann ja auch dabei helfen, einen Fall aufzuklären.
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Und zwar in beide Richtungen.
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Also vielleicht melden sich noch mehr Frauen, vielleicht melden sich aber auch andere Leute,
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die was pro Rammstein zu berichten wissen oder was, was diese Frauen diskreditiert oder so.
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Wichtig ist aber, nur weil ein Gericht bisher nicht schuldig oder unschuldig festgestellt
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hat, heißt das erstens nicht, dass nichts passiert ist.
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Und zweitens gibt es ganz viele Fälle, in denen es gar nicht erst zum Verfahren kommt.
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Ja, weil man sich vielleicht auch einfach nicht traut, eine Anzeige zu stellen.
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Und wenn man jetzt sieht, wie auf die Frauen, die sich gemeldet haben hier, verbal eingeschlagen
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wird, kann man das ja auch ganz gut nachvollziehen.
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Oder es kann halt auch sein, dass in einem Verfahren nichts nachgewiesen werden kann, weil
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Aussage gegen Aussage steht.
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Aber auch das bedeutet nicht immer, dass die Anschuldigungen da nicht stimmen.
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Das heißt, ein Gericht bzw. ein Urteil kann nicht die einzig alleinige Instanz in unserem
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Zusammenleben sein, die entscheidet, ob was passiert ist oder nicht.
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Nee, weil wenn dem so wäre, dann dürfte man ja jetzt zum Beispiel auch nicht sagen, dass
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Jack Unterweger, von dem ich in Folge 88 erzählt habe, ein Serienmörder ist.
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Weil der hat sich ja suizidiert, bevor das Urteil gegen ihn rechtskräftig wurde.
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Also dieses Urteil wegen der neuen Morde, die er begangen hat.
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Also müsste man bei ihm immer mutmaßlicher Serienmörder sagen, obwohl man in diesem Fall ja weiß, dass
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er es war, weil es in dem Verfahren nachgewiesen wurde.
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Ja, und an dem und an vielen anderen Beispielen sieht man halt, das liegt manchmal nicht nur an
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Gerichten, sondern auch an uns zu entscheiden, was gibt es für Anschuldigungen und Aussagen und sind die
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glaubhaft oder nicht.
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Und dann auch sowas wie, was ziehe ich als Arbeitgeber, als Fan oder Gruppierung dann da für Schlüsse draus.
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Und ich kann das bei dieser Bandsache wirklich sehr gut nachvollziehen, dass man wütend ist, weil
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Musik ja was super Emotionales ist.
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Vielleicht ist man dann auf die wütend, die die Anschuldigungen erheben.
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Vielleicht ist man aber auch auf die Band selbst wütend, weil man Sorge davor hat, dass da wirklich
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Ich weiß das halt noch.
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Ich war so emotional aufgewühlt und enttäuscht, als ich erfahren habe, dass Marilyn Manson Missbrauch
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vorgeworfen wurde und auch immer noch wird, weil das war halt meine Teenager-Vergangenheit.
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in der ich all meinen Schmerz durch das Grölen von Manson-Songs in meinem Kinderzimmer verarbeitet
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Und diese Vergangenheit, die wird jetzt irgendwie in Enttäuschung gedrängt.
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Also ich habe jetzt ein ganz anderes Gefühl zu dem Typen, den ich früher mal angehimmelt
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habe und das fuckt mich natürlich ab.
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Ja, und mir geht es da ähnlich mit Michael Jackson und seinen Songs, bei denen ich jetzt sicherlich
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nicht mehr im Club mitgröle wie früher.
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Und darüber, finde ich, eben kann man auch total traurig sein oder sauer sein, aber am
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wichtigsten sollte ja immer sein, dass die Wahrheit ans Licht kommt.
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Und wenn das für jemanden bedeutet, dass sein Held oder seine Heldin dann in einem schlechten
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Licht dasteht, dann muss man leider damit umgehen.
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Und halt vielleicht nicht ganz so emotional reagieren, weil am Ende sind das auch Menschen,
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die Verfehlungen im Leben begehen, wenn nicht sogar Straftaten.
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Also und die müssen dann halt aufgeklärt werden.
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Solange, ja, gilt die Unschuldsvermutung.
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Aber die Aufmerksamkeit ist auch wichtig, um halt Licht ins Dunkel zu bringen.
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Und damit herzlich willkommen zu Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
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Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
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Mein Name ist Paulina Kraser.
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Und ich bin Laura Wohlers.
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In jeder Folge gibt es ein Oberthema, zu dem wir zwei wahre Kriminalfälle nachher erzählen,
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über die diskutieren und auch mit Menschen mit Expertise sprechen.
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Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von Menschen.
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Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
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Das machen wir auch.
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Selbst wenn wir ab und zu mal ein bisschen ungehemmter kommentieren, das ist für uns so
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eine Art Comic Relief, aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
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Als ich jetzt letztens im Frankreich Urlaub war, waren wir auch mal für so einen Tagestrip
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in Aix-en-Provence.
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Und als ich da aus dem Auto ausgestiegen bin, kam es auf einmal aus mir raus, dass ich meinte,
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hier riecht es nach Japan.
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Und mein Mann hat mich nur so von der Seite ein bisschen komisch angeguckt und wusste nicht,
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wovon ich rede, weil es hat jetzt nicht irgendwie besonders gerochen.
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Und natürlich hat es nicht nach Japan gerochen, weil Japan...
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oder generell Länder ja keinen spezifischen Geruch haben.
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Deutschland riecht doch nach Bonawax und Bratwurst, oder nicht?
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Also wenn, dann ja wohl nach Döner und Apfelschorle.
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Aber egal, für mich hat es da jetzt ganz klar nach Japan gerochen.
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Also irgendwie lag da was in der Luft, was mein Gehirn ins Jahr 1997 nach Tokio katapultiert
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hat, also da, wo wir da mal eine Zeit lang gewohnt haben.
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Und ich kann dir jetzt gar nicht sagen, was das für ein Geruch war oder auch, wo der
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jetzt aus Frankreich überhaupt herkam.
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Also ich habe das auch nicht verorten können oder so.
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Mich hat das wie so ein Bits getroffen, dass das jetzt Japan ist.
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Schade, dass du nicht weißt, woran es liegt, weil ich hatte dasselbe ja mit dem DDR-Geruch.
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Da hat mich dann ja auch irgendwann mal jemand gefragt, woher weißt du eigentlich, wie die
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DDR gerochen hat, weil du bist ja nach der Wende geboren.
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Aber meine ganze Familie kommt ja aus der ehemaligen DDR.
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Und früher, wenn ich bei meinen Großeltern war oder bei anderen Verwandten und die so
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einen Gartenschuppen beispielsweise hatten, dann hat es da immer gleich gerochen.
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Und das ist der Geruch, den ich mit der DDR verbinde.
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Und ich habe auch so ein großes Nähkästchen, was eigentlich eher wie so ein Nachttisch ist,
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von meinen Großeltern geerbt.
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Und da drin riecht es genauso.
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Und dann hat mir mal irgendwer gesagt, dass das der Geruch von dem Kleber ist, mit dem
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früher in der DDR so Hölzer oder irgendetwas in Gebäuden zusammengeklebt wurde.
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Und deswegen gibt es diesen Geruch halt noch heute in ganz vielen DDR-Hütten oder Bauten
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oder was weiß ich.
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Und deswegen verbinde ich damit auch diesen Heimatgeruch, weil das ja immer Oma und Opa
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war oder Familie.
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Wahrscheinlich ist dieser Kleber hochgiftig und ich stecke da jedes Mal meine Nase rein und
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Wenn Paulina sich also mal wieder richtig wohlig fühlen will, steckt sie ihren Kopf in
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das Nähkästchen und atmet tief ein wie andere den Uhu-Kleber.
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Ja, oder manche Leute riechen am Tisch, ich rieche am Nähkästchen.
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Anyways, was ich so beeindruckend finde daran ist, dass man sofort so eine emotionale Verbindung
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zu seiner Vergangenheit da aufbaut bei diesen Gerüchen.
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Und das liegt daran, dass Dufterinnerungen älter und emotionaler sind als andere Erinnerungen,
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die durch andere Sinne hervorgerufen werden.
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Und das liegt daran, dass der Geruchssinn halt anders verschaltet ist im Hirn als die anderen
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Sinne, also viel unmittelbarer.
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Diese Düfte, die werden also über Nervenbahnen ins Riechhirn geleitet.
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Und da sind sie dann direkt bei den Arealen, die halt für das Gedächtnis und für Gefühle
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und für Triebe auch eine große Rolle spielen.
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Und deswegen merken wir uns diese Erlebnisse in Kombination mit Gerüchen besser.
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Und es gibt noch eine andere Theorie, die mit unserer Evolution zu tun hat, weil man damals
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quasi aus seinem Gedächtnis her abrufen musste, welche Nahrung giftig ist und welche nicht.
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Und das sollte man ja am besten schon erfahren haben, bevor man die gegessen hat.
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Ja, und bei den Gerüchen ist das eben besonders stark.
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Aber zum Beispiel funktioniert das Ganze auch bei Geräuschen, dass das so Erinnerungskeeper sind.
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Und deswegen habe ich bei dem Song Sexy Chick von Aiken und David Guetta auch immer meine
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erste Abi-Party im Kopf.
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Und ich weiß, also ich habe so ganz bestimmte Bilder, die da vor meinem inneren Auge ablaufen,
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wenn ich dieses Lied höre.
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Ich leider gerade auch.
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Und du hattest bestimmt eine sehr kleine Tasche und ein bauchfreies Top an.
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Ich habe das, aber das haben wir beide zusammen mit diesem Song Swalalala.
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Da müssen wir immer daran denken, dass Laura mal einen Beitrag gedreht hat mit einer Praktikantin.
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und da ging es um Modetrends.
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Und diese Praktikantin hat also ihren ganzen Po voller Glitzer bekommen.
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Und das war sozusagen ein Accessoire.
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Und die hat dann immer ihren Hintern so für die Kamera geshakt.
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Und bis heute muss ich daran denken, wie Laura einfach diese arme Praktikantin zweckentfremdet hat,
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um diesen Modetrend darzustellen.
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Aber das ist wirklich auch so.
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Wenn ich das Lied höre, immer diese eine Szene, wo der Po ganz close war und den ganzen Bildschirm eingenommen hat und sich dann so ein bisschen bewegt hat.
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Da hatten wir sehr viel Spaß im Schnitt.
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Das weiß ich noch.
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Eine Sternstunde unserer Karriere.
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Deiner vor allem.
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Hier nochmal eine Entschuldigung an die Praktikantin.
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Die hatte aber auch Spaß dabei.
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Also es war jetzt nicht so, dass ich die gezwungen habe.
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Nicht, dass das jetzt hier falsch rüberkommt.
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Und manchen Menschen sollte man trotzdem auch vor sich selbst schützen.
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Also woran wir uns besonders gut erinnern, sind natürlich Sachen, die irgendwie extrem für uns waren.
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Also positiv oder negativ.
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Auch wenn die schon lange zurückliegen.
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Also zum Beispiel sowas wie der erste Kuss.
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Bei mir ganz schlimm.
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Oder ganz toll bei mir.
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Der erste Moment, als man mir endlich meine feste Zahnspange rausgenommen hat.
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Und ich das erste Mal ohne die in die Schule gegangen bin.
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Das aber auch, wo man es rausbekommen hat, direkt danach, wo man mit seiner Zunge über die oberen Zähne gegangen ist.
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Und die sich so ganz schleimig und glatt angefühlt haben.
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Das habe ich aber ungefähr eine Woche gemacht.
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Und vor allem in der Schule, damit jeder auf meinen Mund guckt.
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Was wir uns auch gut merken, sind Dinge, die mit Scham behaftet sind.
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Es sei denn, man heißt Laura Wohlers.
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Dann verdrängt man die eher aus dem Gedächtnis.
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Ich muss sagen, da bin ich sehr froh über mein Siebhirn.
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Oder vielleicht ist das auch gar nicht das Siebhirn, sondern vielleicht ist das einfach eine Schutzfunktion von meinem Gehirn für meine peinliche Person.
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Weil ich so viele peinliche Sachen mache.
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Und jetzt bin ich auch noch in der Öffentlichkeit.
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Das ist ja dann nochmal Peinlichkeitsstufe höher.
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Und dadurch, dass ich das immer verdränge, geht es mir ja viel besser.
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Also da bin ich eigentlich echt froh drüber, dass ich das nicht habe.
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Also es ist auf jeden Fall deine Superpower und ich beneide dich darum, weil ich bekomme ja auch noch Jahre später so Blitzstöße ins Hirn, während ich einfach irgendwie koche oder durch meine Wohnung laufe und beschimpfe mich dann selber laut als peinliches Schwein, weil ich wieder an irgendeine Sache denken muss.
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Und abgesehen von diesen extremen Filtern unsere Gehirne halt einfach wahnsinnig viel, weil wir halt jeden Tag sehr viele Eindrücke aufnehmen, die wir halt gar nicht alle behalten können, müssen oder sollten.
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Genau, weil es ist ja nicht so, dass unser Gehirn wie so eine Computerfestplatte funktioniert, die man irgendwie ständig mit neuen Erlebnissen füttern kann und die das dann genauso abspeichern und wir uns für immer gleich daran erinnern können.
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Also egal, ob wir jetzt einen Tag später dran denken oder zehn Jahre später.
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Es ist ja tatsächlich ganz anders, weil was unser Gedächtnis beim Erinnern macht, ist rekonstruieren und nicht abspielen.
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Und dabei passieren natürlich Fehler, weil wir nachträglich nicht nur an das denken, was uns tatsächlich passiert ist, sondern weil da ganz viele unterschiedliche Quellen mit reinfließen.
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Also zum Beispiel auch, was andere gesagt haben oder was wir irgendwo zu dem Thema oder zu irgendwas, was dazu irgendwie im Zusammenhang steht, gelesen haben oder gehört haben oder geguckt haben.
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Aber teilweise auch, was wir geträumt haben oder was wir uns vielleicht wünschen, wie es gewesen wäre.
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Genau, und da spielt das Hirn von Laura Wohlers auch gerne mal mit.
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Da ist man dann auf einmal nicht mehr selbst die Person, die mit der gemeinsamen Arbeits-Mail-Adresse auf die Phishing-Mail reingefallen ist, sondern das soll dann plötzlich ich gewesen sein.
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Mein Gehirn macht sich die Erinnerung so, wie es mir gefällt.
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Zu meinem Leidwesen.
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Also wir sehen, manchmal erinnern wir uns falsch, manchmal erinnern wir uns an Sachen, die wir gar nicht erlebt haben oder manche Erlebnisse blenden wir eben komplett aus.
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Und mein Fall zeigt, welche Auswirkungen ein einziges Ereignis auf das Leben haben kann, selbst wenn man sich nicht daran erinnert.
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Einige Namen habe ich geändert.
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Und die Trigger-Warnung findet ihr in der Folgenbeschreibung.
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Mit Winter Wonderland ist dieses Jahr nix.
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Die Scheibenwischer gleiten hin und her, als Annika das Auto an Heiligabend 2016 über die regennasse Landstraße lenkt.
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Neben ihr hat es sich ihre Mama Bettina bequem gemacht, denn sie werden lange unterwegs sein.
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Von ihrem Zuhause, einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg, sind es bis nach Köln zu Annikas Oma gut sechs Stunden Fahrt.
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Die nehmen Mutter und Tochter aber gerne auf sich, damit die drei Generationen gemeinsam Weihnachten feiern können.
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Immerhin ist es das erste, seitdem sich Bettina und Annikas Vater Bernd getrennt haben.
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Den ersten Teil der Strecke sitzt Annika am Steuer.
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Die Blondine, die gerne große Ohrringe trägt, nutzt jede Gelegenheit, um zu üben.
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Bald wird sie 18, dann darf sie alleine fahren, nicht mehr nur in Begleitung ihrer Mutter.
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Annika setzt den Blinker und steuert den Wagen auf die Autobahn.
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Der richtige Zeitpunkt ist gekommen. Jetzt oder nie.
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Sie holt tief Luft und sagt, Mama, ich muss dich was fragen.
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Und dann stellt Annika die Frage, die ihr seit einiger Zeit auf der Seele brennt,
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und schaut danach kurz zum Beifahrersitz und fängt den Blick ihrer Mutter auf.
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Dann konzentrieren sich ihre braunen Augen sofort wieder auf die Straße.
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Doch der Moment reicht, um zu begreifen, dass sie mit dieser Frage das Tor zu einer Welt aufstößt,
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die ihr bisher verborgen war.
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Aber sie weiß nicht, dass das, was dahinter liegt, ihr Leben, so wie sie es kennt, zerstören wird.
00:15:45
Dass sie mit dieser einen Frage die Büchse der Pandora geöffnet hat.
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Zwölf Jahre zuvor.
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Die Blätter an den Bäumen färben sich bunt und durch den kleinen Ort im Nordschwarzwald fegt ein kalter Wind.
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Es ist schon seit ein paar Stunden dunkel an diesem Herbsttag.
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Für Annika bedeutet das Schlafenszeit.
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Die Fünfjährige, die am liebsten Klamotten so bunt wie der Regenbogen trägt und mit ihren semmelblonden schulterlangen Haaren wie ein kleiner Engel aussieht,
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kuschelt sich in ihrem Kinderzimmer in die weichen Laken.
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Es dauert nicht lange, bis sie tief und fest schläft.
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Und dann findet sich Annika plötzlich in einer Toilettenkabine wieder.
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Aber sie sitzt nicht auf dem Klo, sondern auf einem Wickeltisch.
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Links neben sich nimmt sie eine schwarze Silhouette wahr.
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Sie sieht kein Gesicht, ist sich aber sicher, dass da ein Mann steht.
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Rechts von ihr ist eine Tür, in die ein kleines Milchglasfenster eingelassen ist.
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Annika sieht, wie sich jemand von außen der Scheibe nähert.
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Es ist eine Frau mit langen Haaren.
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Auf dem einen Arm ein Baby, mit dem anderen klopft sie an die Tür.
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Einen Moment lang passiert nichts.
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Dann dreht sich die Frau um und geht.
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Und Annika wacht auf.
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Die Fünfjährige ist verwirrt.
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Es dauert einen Moment, bis sie begreift, sie hat geträumt.
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Einen merkwürdigen Traum, den sie nicht versteht.
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Egal, sie springt aus dem Bett und freut sich auf den neuen Kindergartentag.
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Doch je mehr Nächte vergehen, desto häufiger hat Annika diesen Traum.
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Soll sie vielleicht ihrer Mama Bettina davon erzählen?
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Annika überlegt.
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Nein, lieber nicht.
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Irgendwie schämt sie sich für das, was sich nachts in ihrem Kopf abspielt.
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So, als wäre es etwas Verbotenes.
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In den darauffolgenden Wochen und Monaten kehrt der Traum immer wieder zurück.
00:17:29
Mal mehrere Nächte aufeinander, mal nur einmal in der Woche.
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Und er verschwindet weder, als Annika in die Grundschule kommt, noch als sie aufs Gymnasium
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übertritt und auch dann nicht, als sie in der achten Klasse doch lieber auf die Realschule
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Aus dem Kindergartenkind wird ein Schulkind und schließlich eine Jugendliche.
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Doch der Traum ist eine Konstante in ihrem Leben.
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Allerdings scheint irgendwann auch der treueste Begleiter eigene Wege gehen zu wollen.
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Je älter Annika wird, desto seltener träumt sie von der Szene in der Toilette.
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Die Abstände werden größer und dann schleicht sich der Traum nach fast zehn Jahren ganz aus
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ihren Nächten davon.
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Annika bemerkt das, hat aber jetzt mit 14 andere Dinge im Kopf.
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Sie muss für die Schule lernen und vor allem mit ihren Freundinnen eine gute Zeit haben.
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Doch die nimmt drei Jahre später, im Sommer 2016, ein jähes Ende, als Annikas Eltern verkünden,
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dass sie sich trennen wollen.
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Annika ist darüber sehr traurig, aber sie ist inzwischen alt genug, um zu verstehen, dass
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das Ende einer Beziehung manchmal die beste Lösung ist.
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Auch wenn sie sich erstmal wie die Schlimmste überhaupt anfühlt.
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Aber sie weiß, dass ihre Eltern nach wie vor beide für sie da sind.
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Sie wohnen nur nicht mehr alle unter einem Dach.
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Während Vater Bernd zurückbleibt, mietet Bettina für sich und Annika ein paar Orte weiter
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Annikas 18-jährige Schwester Elisabeth zieht bei ihrem Freund ein.
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Für Annika ist die neue Situation ungewohnt.
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Ein offenes Ohr oder Ablenkung, je nachdem, was sie gerade braucht, findet sie in dieser
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Zeit bei ihren besten Freundinnen.
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Vier Schwestern, die Annika seit Kindertagen kennt, weil ihre Mama mit der Mutter der Mädchen
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Mit ihnen geht Annika Anfang Dezember 2016, ein halbes Jahr nach der Trennung
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ihrer Eltern auf eine Hausparty.
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Die Bude ist voll, der Bass dröhnt.
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Annika und ihre Freundinnen lachen, tanzen und trinken.
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Als Annika irgendwann auf die Toilette muss, begleitet einer der Schwestern sie, Kerstin.
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Sie plaudern ausgelassen, doch als sich Annika die Hände wäscht, verstummt Kerstin plötzlich.
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Nur das Plätschern des Wassers und die Musik außerhalb des Badezimmers sind zu hören.
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Dann sagt sie mit ernster Stimme, Anni, ich finde es total krass, wie du das alles verarbeitest.
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Annika ist gerührt, dass Kerstin trotz Partystimmung an ihre familiäre Situation denkt.
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Danke, sagt sie und nimmt die Freundin fest in den Arm.
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Sie schauen sich einen Moment in die Augen.
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Dann öffnet Annika die Tür und gemeinsam stürzen sie sich wieder ins Getümmel.
00:19:51
Als Annika am nächsten Morgen aufwacht, dröhnt ihr Schädel.
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Der Grund dafür ist aber keine wummernde Musik mehr und auch kein Kater.
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Vielmehr ist es ein Satz, der durch ihren Kopf heilt.
00:20:01
Anni, ich finde es total krass, wie du das alles verarbeitest.
00:20:05
Der Satz, den Kerstin gestern zu ihr gesagt hat.
00:20:08
Ihn hört Annika immer und immer wieder.
00:20:11
Allmählich formt er sich zu einem Gedanken, der ihren ganzen Kopf ausfüllt.
00:20:15
Hat Kerstin vielleicht gar nicht die Trennung ihrer Eltern gemeint, sondern etwas ganz anderes?
00:20:20
Annika überlegt fieberhaft.
00:20:23
Und langsam taucht eine Erinnerung auf, die lange irgendwo in ihrem Gedächtnis verschwunden war.
00:20:28
Als Annika sie greifen kann, ist sie irritiert.
00:20:31
Sie denkt an den Traum ihrer Kindheit.
00:20:33
Der, in dem sie als kleines Mädchen in einer Toilettenkabine sitzt.
00:20:37
Was hat das zu bedeuten?
00:20:39
Plötzlich trifft es sie wie ein Blitz.
00:20:42
Gibt es etwa eine Verbindung zwischen Kerstins Satz und dem Traum?
00:20:45
In den folgenden Tagen kommt Annika aus dem Grübeln nicht heraus.
00:20:50
Sie muss sich ihrer Mutter anvertrauen, auch wenn ihr das unangenehm ist.
00:20:54
Drei Wochen nach der Party bietet sich die Gelegenheit.
00:20:57
Ein Heiligabend macht sich Annika mit ihrer Mama auf den Weg nach Köln zu ihrer Oma.
00:21:01
Genug Zeit, um die Frage zu stellen, die sie seit Wochen umtreibt.
00:21:05
Als Annika von der Landstraße auf die Autobahn fährt, holt sie Tiefluft und sagt, Mama, ich
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muss dich was fragen.
00:21:11
Sie wiederholt, was Kerstin auf der Party zu ihr gesagt hat und erzählt von dem Traum,
00:21:15
der sie jahrelang begleitete und dem Gefühl, dass beides irgendwie zusammenhängt.
00:21:19
Und dann stellt sie die Frage, die Furcht und Hoffnung gleichermaßen bedeutet.
00:21:23
Stimmt das, Mama?
00:21:25
Hängt das irgendwie zusammen oder bin ich verrückt?
00:21:29
Annika wagt einen Blick zum Beifahrersitz.
00:21:31
Bettina hat ihre Brille abgenommen.
00:21:33
Tränen laufen über ihre Wangen.
00:21:34
Ein Sekundenbruchteil reicht Annika.
00:21:37
Diesen Blick ihrer Mutter hat sie noch nie gesehen.
00:21:39
Erzeugt von Schmerz und Trauer.
00:21:41
Und während sich Annikas Augen wieder auf die Straße konzentrieren, hört sie zu, wie
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ihre Mutter in die Vergangenheit zurückkehrt.
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Zu dem Tag, an den Annika offenbar keine Erinnerung hat und den Bettina am liebsten auch vergessen
00:21:58
Auf dem Campingplatz im Südschwarzwald herrscht an diesem sommerlichen Pfingstwochenende
00:22:03
Aus der Schweiz und aus Deutschland reisen viele Menschen an.
00:22:06
So wie Annikas Familie.
00:22:08
Vater Bernd liebt Camping.
00:22:10
Wenn seine Schicht als Busfahrer zu Ende ist, verbringt er seine Freizeit am liebsten mit
00:22:13
Heimwerken und hat so schon einige Wohnwagen wieder auf Vordermann gebracht.
00:22:17
Einer davon steht nun hier auf dem Dauercampingplatz, den er vor einem Jahr angemietet hat.
00:22:22
Seine Frau Bettina teilt Bernds Leidenschaft.
00:22:24
Vor allem seit sie nach den vielen Jahren, in denen sie sich nur um ihre beiden Töchter
00:22:28
gekümmert hat, wieder als Chemielaborantin arbeitet, schätzt sie die erholsame Zeit zwischen
00:22:33
Weinbergen und Obstgärten umso mehr.
00:22:35
Gemeinsam verbringt die Familie hier viele Wochenenden und Ferien, so wie jetzt an Pfingsten.
00:22:40
Kurz nach ihrer Ankunft saust die vierjährige Annika mit ihrer Schwester Elisabeth los zum
00:22:47
Den findet der kleine Blondschopf besonders toll, weil es immer etwas Neues zu entdecken
00:22:51
gibt und weil dort auch andere Spielgefährdinnen warten.
00:22:55
An diesem Tag ist unter anderem Chris da, ein Junge aus der Schweiz.
00:22:59
Annika und Elisabeth kennen ihn, auch seine Eltern haben einen Dauercampingplatz.
00:23:03
Chris gesellt sich zu den Mädchen, hilft Anschubsen auf der Schaukel und spielt die Spiele mit,
00:23:08
die sie sich ausdenken.
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Als Bettina und Bernd um die Ecke biegen, grüßen sie den 16-Jährigen.
00:23:14
Unter DauercamperInnen kennt man sich.
00:23:16
Dann erklären sie ihren Töchtern, dass sie eine Runde Tischtennis spielen gehen.
00:23:20
Annika und Elisabeth möchten lieber hier bleiben.
00:23:22
Okay, wenn was ist, wissen sie ja, dass die Tischtennisplatten nicht weit entfernt sind.
00:23:26
Nachdem sich die Eltern verabschiedet haben, bemerkt Annika ein neues Spielgerät.
00:23:31
Einen Planwagen, in dem Tische und Bänke stehen.
00:23:34
Da drinnen können sie jetzt spielen.
00:23:36
Die drei klettern in den Wagen, der einer Kutsche ähnelt und dessen Inneres von außen durch
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die Plane nicht einsehbar ist.
00:23:42
Nach einer Weile will Annika wieder raus.
00:23:46
Nicht nur klein, sondern auch groß.
00:23:48
Chris sagt, dass sie das doch auch einfach hier im Wagen machen könne.
00:23:51
Annika ist irritiert.
00:23:52
Wenn man muss, geht man doch auf die Toilette.
00:23:55
Chris beteuert jedoch, das gehe hier genauso.
00:23:58
Naja, Chris ist ja schon fast erwachsen.
00:24:01
Wer muss es wissen?
00:24:02
Vor den Augen ihrer Schwester und Chris hockt sie sich hin.
00:24:05
Sie uriniert und kotet in den Planwagen und macht sich mit Pflanzenblättern sauber.
00:24:09
Dann findet Chris aber doch, dass sie auf die richtige Toilette gehen sollte.
00:24:13
Die drei klettern aus dem Wagen.
00:24:15
Elisabeth läuft in Richtung der Tischtennisplatten davon.
00:24:18
Sie will ihrer Mama erzählen, was Annika gerade gemacht hat.
00:24:21
Und die fühlt sich auf einmal komisch.
00:24:23
Chris wirkt jetzt gar nicht mehr so nett.
00:24:25
Sie will nicht länger bei ihm bleiben, aber er packt sie und zerrt sie zum Toilettengebäude.
00:24:30
Sie versucht, ihren Arm aus seinem Griff zu lösen, hat aber keine Chance.
00:24:33
Chris schiebt sie vor sich in eine Kabine, die nicht nur mit einem Klo, sondern auch mit einem Wickeltisch ausgestattet ist.
00:24:39
Dann schließt er die Tür ab.
00:24:41
Annika sitzt in der Falle.
00:24:44
Sie muss zusehen, wie er ins WC uriniert.
00:24:46
Danach stellt er sich mit entblößtem Unterleib vor die Vierjährige und fordert sie auf, seinen Penis anzufassen.
00:24:52
Und ihn in den Mund zu nehmen.
00:24:54
Annika weigert sich.
00:24:57
Da droht Chris, wenn du das nicht machst, bringe ich dich um.
00:25:00
Und er sagt, dass er schon mal ein Mädchen getötet habe.
00:25:04
Annika bekommt es mit der Angst zu tun.
00:25:06
Sie kann diesem Jungen nichts entgegensetzen.
00:25:09
Er ist viel größer und stärker als sie.
00:25:11
Also tut sie schließlich, wozu er sie zwingt.
00:25:13
Bevor er seine Hose wieder hochzieht, setzt er Annika auf den Wickeltisch.
00:25:17
Annika will einfach nur raus.
00:25:19
Sie fixiert das Milchglasfenster, das in den oberen Teil der Tür eingelassen ist.
00:25:23
Auf einmal zeichnen sich dahinter Schemen ab.
00:25:25
Annika erkennt eine Frau mit langen Haaren, die ein Baby trägt.
00:25:29
Mit dem freien Arm klopft sie an die Tür.
00:25:31
Annika meint, dass ihr Herz stehen bleibt, als Chris sie packt.
00:25:34
Kein Mucks jetzt.
00:25:35
Sie starrt gebannt auf das Milchglasfenster und sieht, wie die Frau langsam wieder verschwindet.
00:25:40
Einige Augenblicke vergehen, bevor Chris die Tür aufschließt.
00:25:44
Annika hört seine Stimme in ihrem Ohr.
00:25:46
Wenn du das deinen Eltern erzählst, hau ich dir eine runter.
00:25:49
Und deine Familie bringe ich um.
00:25:51
13 Jahre später sitzt Annika mit Bettina im Auto auf dem Weg zu ihrer Oma.
00:25:56
Ihrer Mama laufen Tränen übers Gesicht.
00:25:58
Sie selbst spürt keine Emotionen.
00:26:00
Sie fühlt sich eher wie in Watte gepackt und begreift nicht wirklich, was sie da gerade gehört hat.
00:26:05
Sie ist weder schockiert noch überrascht.
00:26:08
Sie hat eher das Gefühl, diese Geschichte zu kennen.
00:26:10
Aber sie ist irgendwo in der hintersten Schublade ihres Gedächtnisses verwahrt.
00:26:15
Und um daran zu kommen, fehlt ihr offenbar der Schlüssel.
00:26:18
Als Annika nach den Weihnachtstagen wieder zu Hause ist, versucht sie noch immer zu verstehen, was die Worte ihrer Mutter bedeuten.
00:26:25
Ich wurde sexuell missbraucht.
00:26:27
Um das zu begreifen, schreibt sie den Satz hunderte Male in ihr Tagebuch.
00:26:31
Aber sie empfindet nichts dabei und spielt den Vorfall herunter.
00:26:34
Das sei ja gar kein richtiger Missbrauch.
00:26:37
Ihr wurde ja keine körperliche Gewalt angetan, redet sie sich ein.
00:26:40
Außerdem kann sie sich gar nicht richtig erinnern.
00:26:43
Und wenn sie keine Erinnerung hat, wie real war es dann?
00:26:46
Weil sie keinen Zugang findet, verdrängt Annika, was ihre Mutter ihr erzählt hat.
00:26:50
Der Alltag nimmt wieder Überhand.
00:26:52
Nach der Berufsschule geht Annika für eine dreijährige Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin nach Tübingen.
00:26:58
In die Heimat fährt sie dennoch regelmäßig.
00:27:00
Bei einem der Besuche verliebt sie sich in Niklas, den sie schon lange kennt,
00:27:04
der bisher aber nicht mehr als ein guter Bekannter war.
00:27:07
Sie werden ein Paar.
00:27:08
Allerdings wohnt Niklas inzwischen in Freiburg, wo er soziale Arbeit studiert, daher kann Annika ihn nur am Wochenende sehen.
00:27:14
Trotzdem ist sie dafür mehr als dankbar, denn im letzten Ausbildungsjahr beginnt ihr die Arbeit über den Kopf zu wachsen.
00:27:20
Annika macht etliche Überstunden und auch wenn sie frei hat, kreisen ihre Gedanken dauernd um die Arbeit.
00:27:26
Dabei will sie vor Erschöpfung einfach nur noch schlafen.
00:27:28
Mit Mühe und Not quillt sie sich durch die letzten Prüfungen und schafft ihren Abschluss.
00:27:33
Jetzt, mit 22, kann sie Tübingen den Rücken kehren.
00:27:36
Annika wünscht sich einen Neuanfang.
00:27:38
In Freiburg, bei Niklas.
00:27:39
Sie ist überzeugt, in einer neuen Stadt mit einer neuen Arbeit wird alles wieder gut.
00:27:45
Allerdings muss Annika nach dem Umzug im August 2021 feststellen, dass man vor Problemen nicht fliehen kann, wenn sie nicht an einem Ort liegen, sondern in einem selbst.
00:27:53
Sie fühlt sich immer noch gestresst, unruhig und erschöpft.
00:27:56
Daher beschließt sie, sich professionelle Hilfe zu suchen.
00:28:00
Als sie wenige Wochen später das erste Mal auf der weißen Couch der Therapeutin sitzt, schweift ihr Blick durch den Raum über sonnengelbe Wände und ein gewaltiges Bücherregal.
00:28:08
An einem Buch bleiben Annikas braune Augen hängen.
00:28:12
Der Rücken ist in unscheinbarem B-isch, darauf ist in schwarz der Titel gedruckt.
00:28:16
Er besteht aus nur zwei Wörtern.
00:28:19
Von diesem Buch fühlt sich Annika wie magisch angezogen.
00:28:23
Die ganze Sitzung über denkt Annika über das Buch nach.
00:28:26
Was verbirgt sich dahinter?
00:28:27
Zu Hause sucht sie online danach.
00:28:30
Der vollständige Titel lautet
00:28:32
Wege zur Selbstheilung für sexuell missbrauchte Frauen.
00:28:35
Sie bestellt sich das Buch und als sie es ein paar Tage später in den Händen hält, wird ihr nach den ersten Seiten klar,
00:28:41
dass nicht die Arbeit oder der Wohnort der Grund für ihren Stress sind,
00:28:44
sondern dass sie seit dem Gespräch mit ihrer Mutter im Auto vor fünf Jahren unbewusst einen Schlüssel sucht.
00:28:50
Ein Schlüssel, der die Schublade zum Pfingstwochenende 2003 öffnet.
00:28:54
Nun hat sie ihn gefunden.
00:28:56
Sie verschlingt die 360 Seiten, auf denen mehrere Frauen schildern,
00:29:00
wie sie als Kinder sexuell missbraucht wurden und jahrelang keinen Zugang zu ihren Erinnerungen hatten.
00:29:05
Bis sie durch ein Erlebnis oder einen Traum in ihr Bewusstsein gelangten.
00:29:09
Annika versteht, sie ist nicht allein mit ihrem Schicksal.
00:29:12
Das Buch zeigt ihr, dass noch immer sie die Autorin ihres Lebens ist.
00:29:16
Des Lebens, das sie nun endlich selbst in die Hand nehmen will.
00:29:19
Sie ruft ihre Mutter an und sagt,
00:29:21
Mama, du musst mir alles erzählen, was damals geschehen ist.
00:29:24
Ich muss die ganze Geschichte kennen.
00:29:27
Von der anderen Seite hört sie einen lauten Seufzer.
00:29:29
Dann nimmt ihre Mutter sie ein zweites Mal mit in die Vergangenheit.
00:29:34
Pfingsten 2003 findet das Tischtennismatch ein jähes Ende.
00:29:37
Bettina ist außer sich.
00:29:39
Das darf doch nicht wahr sein, was Elisabeth erzählt.
00:29:41
Hat Annika aus Faulheit einfach in den Planwagen gemacht?
00:29:45
Elisabeth entgegnet, Chris habe das befohlen.
00:29:48
Bettina schnappt sich ihre große Tochter, um die Kleine zur Rede zu stellen.
00:29:51
Aber Annika ist nicht mehr auf dem Spielplatz.
00:29:54
Mit ihrem Mann Bernd beginnt Bettina, den Zeltplatz abzusuchen.
00:29:57
Wo ist ihre Vierjährige?
00:29:59
Bei den Toiletten trifft Bernd auf Chris.
00:30:01
Der sagt, dass er Annika zuletzt auf ihrem Fahrrad gesehen habe.
00:30:04
Wohin sie fuhr, wisse er nicht.
00:30:06
Bettina beginnt sich Sorgen zu machen.
00:30:08
Was ist passiert?
00:30:10
Da biegt Annika auf ihrem Rad um die Ecke.
00:30:12
Erleichtert schließt Bettina sie in die Arme.
00:30:15
Doch dann wird sie streng.
00:30:16
Wo warst du denn so lange?
00:30:17
Annika kann darauf nichts sagen.
00:30:20
Auch da nicht, als Bettina wissen will, wie sie dazu kommt,
00:30:23
ihr Geschäft in einem Wagen zu verrichten.
00:30:25
Sie nimmt Annika bei der Hand.
00:30:27
Das machen wir jetzt sauber.
00:30:28
Damit hat sich der Vorfall für Bettina aber nicht erledigt.
00:30:31
Sie konfrontiert Chris mit dem, was Elisabeth ihr erzählt hat.
00:30:34
Doch der sagt, dass er zu dieser Zeit gar nicht in dem Wagen gewesen sei.
00:30:38
Bettina ist nicht überzeugt.
00:30:40
Von ihren Töchtern erfährt sie aber auch nicht mehr.
00:30:43
Zwei Monate nach den Pfingstferien verbringen Annika und ihre Familie
00:30:47
auch die Sommerferien wieder auf dem Campingplatz.
00:30:49
Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft
00:30:51
erfahren sie, dass Chris einen Platzverweis bekommen hat,
00:30:54
weil ihn zwei Familien bei der Polizei angezeigt hatten.
00:30:56
Wegen sexuellen Missbrauchs an ihren Kindern.
00:30:59
Als Bettina das hört,
00:31:01
denkt sie sofort an den Vorfall an Pfingsten.
00:31:03
Annika hat darüber kein Wort mehr verloren,
00:31:05
aber Bettina will darüber jetzt mit ihr sprechen.
00:31:07
Sie hat ein ungutes Gefühl,
00:31:09
als sie Annika mit den Worten
00:31:10
»Wir müssen mal miteinander reden« auf ihren Schoß setzt.
00:31:13
Sie weiß, dass sie behutsam vorgehen muss.
00:31:16
Sagt sie etwas Falsches,
00:31:17
könnte ihre vierjährige Tochter das nachplappern,
00:31:20
auch wenn es vielleicht gar nicht stimmt.
00:31:21
Sachte fragt sie, ob Chris sie angefasst, ausgezogen oder geküsst habe.
00:31:26
Annika verneint vehement.
00:31:28
Als Bettina wissen will, ob er seine Hose ausgezogen habe
00:31:32
und ob sie seinen Penis habe anfassen müssen,
00:31:34
sagt sie »Ja« und erzählt,
00:31:36
dass sie seinen Penis in den Mund genommen habe.
00:31:39
»Ach, das ist aber auch so furchtbar,
00:31:40
wenn du als Elternteil schon diese schlimme Vermutung hast
00:31:44
und dann sitzt da dein kleines Kind vor dir
00:31:45
und bestätigt das dann auch noch.«
00:31:47
»Ja«, Bettina ist entsetzt.
00:31:50
Ihr Herz rutscht ihr in die Hose.
00:31:51
Trotzdem bemüht sie sich, weiter ruhig mit Annika zu sprechen.
00:31:55
Um ganz sicher zu gehen, fragt sie ihre Tochter noch,
00:31:57
wie Chris' Penis aussah.
00:31:59
Und spätestens als Annika mit den Händen
00:32:02
einen Abstand von 10 bis 15 Zentimeter anzeigt,
00:32:04
hat Bettina traurige Gewissheit.
00:32:06
Ihr ist klar, das kann sich Annika nicht ausdenken.
00:32:09
Auch sie wurde offenbar von dem 16-Jährigen missbraucht.
00:32:13
Annika erzählt zudem,
00:32:15
dass sie nicht habe weglaufen können,
00:32:16
weil Chris sie in der Babytoilette,
00:32:18
so nennt sie das, eingesperrt habe.
00:32:20
Und dass er ihr, wenn sie jemanden davon erzähle,
00:32:22
eine runterhaue.
00:32:23
Für die Familie ist der Campingurlaub beendet.
00:32:27
Sie fahren zur Polizei.
00:32:28
Auf dem Schoß ihres Papas sitzt Annika jetzt vor einer Polizistin.
00:32:32
Aber gegenüber der fremden Frau
00:32:33
traut sie sich nicht, das zu wiederholen,
00:32:35
was sie Bettina erzählt hat.
00:32:36
Daher gibt die wieder, was ihre Tochter berichtet hat.
00:32:39
Die Polizei beginnt zu ermitteln.
00:32:42
Da der Verdächtige aber kein deutscher Staatsbürger ist,
00:32:44
übergibt sie den Fall bald an die KollegInnen in der Schweiz.
00:32:47
Dorthin fährt die Familie im Dezember 2004,
00:32:50
knapp eineinhalb Jahre nach der Anzeige.
00:32:52
Annika, inzwischen fast sechs Jahre alt,
00:32:54
soll diesmal selbst aussagen.
00:32:56
Zwei Videokameras dokumentieren,
00:32:58
als sie der Polizistin das erzählt,
00:33:00
was sie bislang nur ihrer Mutter anvertraut hat.
00:33:02
Es ist das letzte Mal,
00:33:04
dass Annika mit Erwachsenen über Pfingsten 2003 redet.
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Bettina möchte zwar, dass sie mit einer Person spricht,
00:33:09
die ihr helfen kann, das Erlebte zu verarbeiten,
00:33:12
doch weder in einer Spiel- noch in einer Maltherapie
00:33:15
verliert Annika auch nur ein Wort darüber.
00:33:16
Schließlich gibt Bettina auf.
00:33:18
Annika will offenbar verdrängen.
00:33:21
So hofft Bettina, dass ihre Tochter das Geschehene einfach vergisst.
00:33:24
Sie war damals noch so klein.
00:33:26
Vielleicht verblassen die Erinnerungen schnell und hinterlassen keine Spuren.
00:33:30
Und anscheinend geschieht genau das.
00:33:32
Nur einmal kommt Bettina etwas zu Ohren.
00:33:35
Eine Freundin von ihr, die selbst vier Töchter hat,
00:33:38
berichtet, dass Annika als Grundschulkind
00:33:39
ihren Mädchen von dem Vorfall in der Toilette erzählte
00:33:42
und wissen wollte, ob mit ihnen ein Mann
00:33:44
so etwas auch mal gemacht habe.
00:33:46
Als die erwachsene Annika das von ihrer Mama
00:33:48
im Herbst 2021 am Telefon hört,
00:33:51
versteht sie sofort.
00:33:52
Bettinas Freundin ist die Mutter von Kerstin.
00:33:56
was sich die heute 22-Jährige schon vor fünf Jahren dachte.
00:33:59
Damals im Bad auf der Party
00:34:01
spielte Kerstin nicht auf die Trennung ihrer Eltern an,
00:34:03
sondern auf das, was Annika als Kind widerfahren ist.
00:34:06
Annika atmet schwer.
00:34:08
Ihre Freundin hat es gewusst.
00:34:10
Kerstin wusste mehr über ihre Vergangenheit als sie selbst.
00:34:13
Dabei müsste sie selbst doch diejenige sein,
00:34:15
die die Hoheit über ihre Erlebnisse und Erinnerungen hat.
00:34:18
Deshalb setzt Annika jetzt alles daran, die zu bekommen.
00:34:22
Bettina erzählt ihr,
00:34:24
dass sie damals alle Unterlagen
00:34:25
in einem grauen DIN A4-Ordner abgeheftet hat.
00:34:28
Als Annika den wenig später in ihren Händen hält,
00:34:30
fühlt er sich an wie der heilige Gral.
00:34:32
Mit ihrem Freund Niklas setzt sie sich aufs Sofa
00:34:34
und blättert die Seiten mit zittrigen Fingern durch.
00:34:37
Die Aussage ihrer Mutter, ihre eigene.
00:34:39
Immer wieder taucht ihr Name auf,
00:34:41
neben dem von Chris.
00:34:42
Dazu Worte wie Polizei, Staatsanwalt und Jugendgericht.
00:34:45
Nach und nach begreift sie,
00:34:47
was sie all die Jahre nicht verstanden hat.
00:34:49
Das, was hier dokumentiert ist,
00:34:51
das, was ihr als Vierjährige widerfahren ist,
00:34:53
ist ein Verbrechen.
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Auf einmal strömen Tränen über ihre Wangen.
00:34:57
Sie schluchzt immer heftiger.
00:34:58
Doch so schrecklich es klingt,
00:35:00
so erleichtern fühlt es sich an.
00:35:02
Ich bin nicht verrückt,
00:35:03
wiederholt Annika immer wieder.
00:35:04
Auf ihren Knien liegt der Beweis.
00:35:07
Das Zeugnis ihrer Vergangenheit,
00:35:09
das sie jetzt akribisch durcharbeitet.
00:35:11
Was geschah nach ihrer Aussage bei der Polizei?
00:35:13
Die Antwort gibt es schwarz auf weiß.
00:35:16
2006 wird Chris, der inzwischen 19 ist und eine Lehre zum LKW-Fahrer abgeschlossen hat,
00:35:20
der Prozess gemacht.
00:35:22
Wegen sexueller Nötigung und sexueller Handlung mit einem Kind in mehreren Fällen.
00:35:26
Der mutmaßlich wurde nicht nur Annika Chris Opfer.
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Von Juni 2001 bis September 2003 soll er sich auf dem Campingplatz an insgesamt sechs Kindern vergangen haben.
00:35:35
Vier Jungen und zwei Mädchen.
00:35:38
Annika war mit vier Jahren das Jüngste.
00:35:39
Sie und ihre Familie reisen für die Verhandlung nicht in die Schweiz,
00:35:43
sondern lassen sich von ihrer Anwältin vertreten.
00:35:45
So müssen Bettina und Bernd nicht miterleben, wie Chris die Vorwürfe abstreitet.
00:35:50
Weil es kein Geständnis und auch keine Beweise wie DNA oder Faserspuren gibt,
00:35:58
ist es Aufgabe der drei RichterInnen zu prüfen,
00:36:01
wie glaubwürdig die Aussagen von Annika und den anderen Kindern sind.
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Dafür spielen die Videos, die von den Befragungen der Kinder gemacht wurden, eine wichtige Rolle.
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Mit anzusehen, wie die kleinen Mädchen und Jungen im Vernehmungsraum der Polizei von ihrem Missbrauch erzählen,
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ist selbst für die erfahrenen Justizmitarbeitenden schwer zu ertragen.
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Nach Sichtung der Videos kommen die RichterInnen zu dem Schluss,
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dass die Erzählungen nicht erfunden sind.
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Dass die Kinder etwa unter großer emotionaler Belastung viele Details wiedergeben konnten,
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sei ein deutliches Zeichen für real erlebtes Geschehen.
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Auch die sprunghafte Erzählweise spreche klar gegen erfundene, eingeübte Geschichten.
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Das Fazit, die Aussagen sind glaubhaft.
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Chris hat an Annika und den anderen wissentlich unrechtmäßige sexuelle Handlungen vorgenommen.
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Den Vorwurf der Nötigung sehen die RichterInnen jedoch nur bei Annika gegeben,
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dadurch, dass Chris sie auf der Toilette eingesperrt und ihr Gewalt angedroht hat.
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Chris sei egoistisch und skrupellos vorgegangen, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen
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und seine Macht auszuleben, heißt es.
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Dazu habe er auf dem Zeltplatz praktisch, Zitat,
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Jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um seinen Trieben nachzugehen und sich an seinen Opfern zu vergehen.
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Auch dass er sich vor Gericht nicht zu seinen Taten bekennt und gegenüber den Opfern keinerlei Empathie zeigt,
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wird ihm zur Last gelegt.
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Allerdings wirkt sich die Tatsache, dass er in geordneten persönlichen und beruflichen Verhältnissen lebt
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und bisher nie straffällig wurde, zu seinen Gunsten aus.
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Am 13. September 2006 fällt das Urteil.
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Chris hat sich des Versuchs und der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern
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sowie im Fall von Annika der sexuellen Nötigung schuldig gemacht.
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Verurteilt wird er zu sechs Monaten Haft,
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aber nur, wenn er sich in den nächsten drei Jahren noch einmal etwas zu Schulden kommen lässt.
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Heißt, er verlässt den Gerichtssaal als freier Mann.
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Für Annikas Eltern ist die Strafe ein Witz.
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Als Annika 15 Jahre später das Urteil liest, hat das Strafmaß für sie keine Bedeutung.
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Es ist nur ein Detail.
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Mit ihrer Therapeutin arbeitet Annika den ganzen Ordner in den nächsten Wochen durch.
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Sie hat das Gefühl, sich selbst noch einmal ganz neu, Stück für Stück zusammensetzen zu müssen.
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Dabei kommt ihr auch der Traum wieder in den Sinn,
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der jahrelang ihre einzige Erinnerung an den Missbrauch war.
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Auf einmal ist sie sich sicher.
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All die Jahre wollte ihr Unterbewusstsein ihr so zeigen,
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dass da etwas ist, das sie aufarbeiten muss.
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Aber erst, wenn sie bereit ist.
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Dass Kerstin dann auf der Party diesen Satz gesagt hat,
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sieht Annika im Nachhinein als Zeichen, dass sie ab da so weit war,
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sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
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In der Therapie schafft sie es mit der Zeit,
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den Traum, der für sie immer mit Scham behaftet war,
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in einen Traum der Hoffnung umzudeuten.
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Das liegt vor allem an der Frau vor der Milchglas-Scheibe.
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Sie hätte damals Annikas Rettung sein können,
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wenn Chrissy nicht gezwungen hätte, den Mund zu halten.
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Aber allein die Tatsache, dass Annika als Mädchen
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diese Frau vor der Tür erkannt hat,
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zeigt ihr jetzt, dass sie schon als Kind
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in schwierigen Situationen einen Hoffnungsschimmer sehen konnte.
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Nach fast eineinhalb Jahren Therapie
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fühlt sich Annika wie neu geboren.
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Anders als früher verdrängt sie ihre Geschichte heute nicht mehr,
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sondern nimmt sie an.
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Das, was sie erlebt hat, hat sie zu der Frau gemacht,
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die sie heute ist.
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Aber es bestimmt nicht mehr ihr Leben,
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auch nicht unterbewusst.
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Und mit dem Wissen um ihre ganze Vergangenheit
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fühlt sie sich endlich komplett.
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Durch die Therapie ist es ihr nach all den Jahren
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aber auch gelungen,
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die Büchse der Pandora wieder zu schließen
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und weit hinten in ihrem Gedächtnis zu verstauen.
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Mit dem Unterschied,
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dass sie jetzt bewusst entscheiden kann,
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ob sie diese Erinnerung hervorholt oder nicht.
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Ja, also wahnsinniger Fall.
00:39:30
Ich erinnere mich daran,
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als Annika uns damals diese E-Mail geschrieben hat,
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weil sie sich an uns gewandt hatte,
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damit wir mal über ihren Fall reden.
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Aber das ist jetzt auch schon wieder so lange her,
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dass ich mich überhaupt nicht mehr
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an irgendwelche Einzelheiten erinnern konnte.
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wie ich damals vor dieser E-Mail saß und gedacht habe,
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das ist ja unglaublich,
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was das Gedächtnis macht.
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Dass das eigene Gedächtnis in der Lage ist,
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einen vor solchen Erinnerungen zu schützen.
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Was ich mich jetzt die ganze Zeit gefragt habe,
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wie hätte die Mutter am besten damit umgehen sollen?
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welche Rolle hat sie in diesem Verdrängungsprozess,
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dass das offenbar ja jahrelang kein Thema mehr war?
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Und war das nicht vielleicht auch tatsächlich eine gute Option,
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nichts zu sagen,
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wenn Annika das selbst alles schon so verdrängt hat?
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sie hat ja das auch am Anfang versucht,
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dass man mit ihr darüber redet,
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mit diesen Therapien.
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Und klar ist es für alle wahrscheinlich auch einfacher,
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sich dann nicht mehr damit zu beschäftigen.
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Und für sie hat sich das ja auch die ganzen Jahre so angefühlt,
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als wäre alles gut.
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Und Annika hatte eine sorglose Kindheit.
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Und dann stelle ich mir das aber auch so furchtbar vor,
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wenn du dann merkst,
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deinem Kind geht es schlecht,
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hat es vielleicht mit der Vergangenheit zu tun?
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Ist es jetzt deine Aufgabe,
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ihr das zu erzählen?
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Oder machst du damit nur alles schlimmer?
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wenn jemand so einen sexuellen Missbrauch erfährt,
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dann zeigt dieser Fall ja eigentlich auch wieder ganz gut,
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wie viele andere Menschen da noch mit dranhängen
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und sozusagen mit betroffen sind in irgendeiner Art und Weise.
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und was ich auch ganz interessant finde,
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dass sich die Wahrheit am Ende dann doch immer irgendwie ihren Weg bahnt.
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Und mag sie noch so tief im Unterbewusstsein schlummern,
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dann kommt sie eben halt in der Nacht und reißt einen aus dem Schlaf.
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Annikas Traum war jetzt diese Verbindung zu dem,
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was sie als Kind erlebt hat.
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Und was das Träumen generell mit Erinnerungen zu tun hat,
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darum geht es jetzt in meinem Aha.
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wenn wir uns nicht immer dran erinnern können,
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mein Mann behauptet zum Beispiel,
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er würde sich nie dran erinnern können,
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träumen wir tatsächlich jede Nacht.
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Ob wir uns nach dem Wachwerden dann an die Träume erinnern können,
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hat normalerweise was damit zu tun,
00:41:50
wann wir wach werden,
00:41:51
also in welcher Schlafphase.
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In der sogenannten REM-Phase zum Beispiel träumen wir viel,
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da ist das Gehirn sehr aktiv
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und deshalb wachen wir da auch leichter auf
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und wissen dann oft,
00:42:00
was wir geträumt haben.
00:42:01
Wenn wir aber zum Beispiel in einer Tiefschlafphase,
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in der auch das Gehirn ruhiger ist,
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dann können wir uns seltener erinnern.
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Warum wir überhaupt träumen,
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ist in der Wissenschaft noch nicht final geklärt,
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was aber auf jeden Fall sicher ist,
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dass wir mehr träumen in Zeiten,
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die uns belasten.
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Also zum Beispiel,
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wenn eine wichtige Prüfung ansteht
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oder wenn wir Stress mit Mitmenschen haben.
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Und was man auch weiß,
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dass die Mehrzahl der Träume negativ ist.
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Also wir träumen offenbar häufiger von Situationen,
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die uns eben belasten
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oder die wir in irgendeiner Weise
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nicht gelöst kriegen.
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Und wenn man etwas häufiger träumt,
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dann spiegelt das eben logischerweise wieder,
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was einen irgendwie umtreibt.
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Jetzt könnte man denken,
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dass Menschen wie wir
00:42:40
oder die ZuhörerInnen,
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die sich viel mit Mord und Todschlag auseinandersetzen,
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auch davon träumen.
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Dabei ist tatsächlich das Gegenteil der Fall.
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Also bei mir ist es auch so,
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ich träume nie von den Fällen.
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Das ist ja eine Frage,
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die uns manchmal gestellt wird.
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den die Wissenschaft dafür sieht,
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dass wir uns quasi im echten Leben
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mit diesen Themen beschäftigen,
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dass unsere Träume
00:43:00
nicht mehr die Aufgabe haben,
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damit umzugehen.
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Jetzt muss man natürlich auch dazu sagen,
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dass wir uns mit dem Thema
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ganz anders auseinandersetzen
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als Betroffene beispielsweise.
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Also es ist eine ganz andere Art
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von Verarbeitung.
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dass uns das ja nicht selber betrifft,
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belastet uns das dann natürlich
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auch nicht so sehr.
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Und es ist natürlich schon so,
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dass wenn einem tatsächlich
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was Schlimmes passiert
00:43:21
und man nicht nur davon hört
00:43:23
dass diese Erlebnisse
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dann im Traum verarbeitet werden.
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Bei einer posttraumatischen
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Belastungsstörung zum Beispiel
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gehören Albträume
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zu den Symptomen.
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Psychologie-Professor
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Reinhard Petrovsky,
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der an der Uni in Düsseldorf
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zum Thema Träumen forscht
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und heute unser Experte ist,
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hat uns erzählt,
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dass man davon ausgeht,
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dass diese Albträume
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das Trauma im Schlaf zu verarbeiten,
00:43:45
damit man im Wachzustand
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besser damit klarkommt.
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Aber wir träumen ja auch vieles,
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mit der Realität zu tun hat,
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dass wir fliegen können oder so.
00:43:55
Deshalb darf man seinen Träumen
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auch nicht zu viel Bedeutung beimessen,
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auch beziehungsweise gerade dann,
00:44:02
wenn man träumt,
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zum Beispiel Gewalt erlebt zu haben.
00:44:05
Professor Petrovsky sagt dazu,
00:44:07
Wenn man so etwas träumt,
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ist es auf gar keinen Fall
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eine klare oder hundertprozentige Aussage,
00:44:14
dass es auch tatsächlich stattgefunden hat.
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Wir träumen ja häufig von Dingen,
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die in Wirklichkeit
00:44:20
gar nicht stattgefunden hat.
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im Traum ist unser Gehirn
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unheimlich kreativ,
00:44:25
also viel kreativer
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als im Wachzustand.
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im Traum sind alles Künstler
00:44:31
und können wirklich ganz tolle
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Geschichte und Filme entwickeln,
00:44:35
die uns im Wachzustand
00:44:36
nie einfallen würden.
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es ist wirklich Vorsicht geboten,
00:44:40
wenn solche Bilder
00:44:43
oder Erinnerungen kommen,
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die hinweisen könnten
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auf einen Traumort,
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auf einen Missbrauch.
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Also der Schluss ist nicht zulässig.
00:44:52
Da muss man wirklich einfach mehr wissen.
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Auf der anderen Seite ist es natürlich möglich,
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dass auch tatsächlich
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eine Traumatisierung stattgefunden hat,
00:45:01
die nur im Traum auftaucht
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und im Wachzustand nicht.
00:45:05
Aber der Umkehrschluss,
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alles, was man träumt,
00:45:09
hat auch in Wirklichkeit stattgefunden,
00:45:11
ist auf gar keinen Fall zulässig.
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Man muss mit solchen Träumen
00:45:14
also vorsichtig umgehen.
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Bei Annika war es aber jetzt tatsächlich so,
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ein reales Erlebnis zugrunde lag
00:45:21
und auch wenn sie sich im Wachzustand
00:45:24
gar nicht daran erinnern konnte,
00:45:25
hat sie ja durch dieses jahrelangen Träumen
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dass das was Wichtiges zu bedeuten hat.
00:45:31
Und sie selbst hat uns das so erklärt.
00:45:33
Ich habe nie über den Traum gesprochen,
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weil ich mich sehr dafür geschämt habe,
00:45:38
weil ich wusste,
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dass er was Schlechtes bedeutet.
00:45:40
Und ich konnte einfach niemanden fragen,
00:45:43
was er zu bedeuten hat
00:45:45
und warum er immer wieder kommt.
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Und nachdem ich jetzt einige Zeit
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damit gearbeitet habe,
00:45:52
dass meine Seele mich geschützt hat
00:45:56
vor dem, was passiert ist
00:45:57
und dass das Geschehene
00:45:59
ins Unterbewusstsein gekommen ist.
00:46:01
Und ja, so hat mir mein Körper
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eine sorglose Kindheit
00:46:06
und eine sorglose Jugend möglich gemacht.
00:46:08
Und der Traum war
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ja, eigentlich immer wieder Erinnerung daran,
00:46:14
dass es noch da ist.
00:46:15
Und er ist dann zu einem Zeitpunkt,
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an dem ich bereit dafür war,
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an dem ich damit umgehen konnte,
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ins Bewusstsein gekommen
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und so konnte ich dann damit arbeiten.
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Aber ich bin heute sehr dankbar dafür
00:46:29
und sehr erstaunt,
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was ein kleiner Körper mit vier Jahren schaffen kann,
00:46:35
um sich selber zu schützen.
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Und laut Professor Petrowski
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ist Annikas Umgang mit diesem Traum
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auch nachvollziehbar,
00:46:41
weil es eben sein kann,
00:46:42
dass traumatische Erlebnisse,
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wenn man noch so jung ist,
00:46:45
wie Annika das damals war,
00:46:46
noch gar nicht richtig bewältigt werden können.
00:46:48
Und dann ruht die Erinnerung daran sozusagen,
00:46:52
beziehungsweise taucht vielleicht wie bei Annika
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eben nur im Traum auf,
00:46:55
bis man bereit dazu ist,
00:46:56
sich damit bewusst auseinanderzusetzen.
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Aber es ist trotzdem was sehr Besonderes,
00:47:01
was Annika da erlebt hat,
00:47:03
weil ich glaube,
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das kennt auch jeder von uns.
00:47:06
Normalerweise erinnern wir uns ja gar nicht an Dinge,
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die so früh in der Kindheit passieren
00:47:10
und an die ersten zwei bis drei Jahre
00:47:13
tatsächlich gar nicht,
00:47:14
weil in dieser Zeit die Verknüpfungen im Gehirn
00:47:16
noch nicht vollständig ausgebildet sind.
00:47:18
Deshalb kann man sich zum Beispiel
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auch nicht an seine eigene Geburt erinnern,
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obwohl die wahrscheinlich sehr emotional war.
00:47:24
Boah, Gott sei Dank.
00:47:26
Also da kann ich gut und gerne drauf verzichten.
00:47:30
da hätten alle ein Trauma von.
00:47:31
In meinem Fall geht es um die Frage,
00:47:35
was schlimmer ist.
00:47:36
Nichts zu wissen oder alles zu wissen.
00:47:39
Die Triggerwarnung findet ihr in der Folgenbeschreibung.
00:47:42
Alex steht mit seinen beiden Brüdern
00:47:45
im zugemüllten Schlafzimmer seiner Mutter Jill.
00:47:48
Nach ihrem Tod hat er sich mit seinem Zwillingsbruder Marcus
00:47:51
und seinen zwei Halbgeschwistern dran gemacht,
00:47:53
das Elternhaus auszuräumen,
00:47:54
um es danach zu verkaufen.
00:47:56
Eine Mammutaufgabe,
00:47:57
die insgesamt ein Jahr in Anspruch nehmen wird.
00:48:00
Das große Cottage im Süden Englands
00:48:03
gleicht mit seinen vielen Räumen
00:48:04
und verwinkelten Gängen einem Labyrinth.
00:48:06
Ein Labyrinth, das Mutter Jill,
00:48:08
eine ehemalige Antiquitätenhändlerin,
00:48:10
mit ihrer Sammelleidenschaft
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nahezu undurchdringbar gemacht hat.
00:48:13
Möbel, Deko, Kleidung
00:48:15
und haufenweise Krimskram
00:48:17
stapeln sich zum Teil bis unter die Decke.
00:48:19
Jill hat gehortet.
00:48:21
Weshalb sich Alex und seine Geschwister
00:48:23
nun schon seit einiger Zeit
00:48:25
durch die Vergangenheit ihrer Mutter wöhlen.
00:48:27
Zimmer für Zimmer,
00:48:28
Schrank für Schrank,
00:48:29
Schublade für Schublade.
00:48:31
Und in einer davon
00:48:33
verbirgt sich ein dunkles Familiengeheimnis.
00:48:36
Es ist ein Foto aus längst vergangenen Zeiten,
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das Alex in die Hände fällt.
00:48:40
Darauf erkennt der 32-Jährige
00:48:42
zwei nackte Kinder am Strand.
00:48:44
Ihre Köpfe wurden abgeschnitten.
00:48:46
In den letzten 14 Jahren hat Alex viele Fragen gehabt.
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Mit diesem Foto hält er die Antwort auf einige davon selbst in den Händen.
00:48:55
Doch die Antwort hat einen Preis,
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denn die heile Welt, in der Alex gelebt hat, stürzt zusammen.
00:49:00
Er steht vor den Scherben seiner Existenz.
00:49:02
Und das bereits zum zweiten Mal.
00:49:08
Als Alex die Augen aufschlägt,
00:49:10
weiß er nicht, wo er ist.
00:49:12
Sein Blick schweift über Bettlaken,
00:49:14
schmucklose Wände,
00:49:15
piepsende Geräte und Schläuche,
00:49:16
die in seinen Körper führen.
00:49:20
Der 18-Jährige mit den dunklen Haaren
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lässt seinen Blick weiter wandern,
00:49:24
bis er endlich an etwas Vertrautem kleben bleibt.
00:49:26
Ihm gegenüber auf einem Stuhl sitzt ein bekanntes Gesicht.
00:49:30
Es ist ein junger Mann
00:49:31
mit derselben Frisur wie Alex
00:49:33
und ebenmäßigen Zähnen.
00:49:35
Alex öffnet den Mund,
00:49:36
zum ersten Mal seit langer Zeit.
00:49:40
schafft es Alex mit einer Stimme über die Lippen.
00:49:42
Im nächsten Moment stürzt Marcus auf Alex zu.
00:49:45
Seine Augen leuchten vor Erleichterung.
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Alex versteht die Euphorie nicht,
00:49:49
aber die Tatsache,
00:49:50
dass er seinen Zwillingsbruder begrüßt hat,
00:49:52
löst auf der Station des Guildford Hospitals
00:49:55
an diesem Tag im August 1982 etwas aus.
00:49:58
Ärztinnen und Pflegepersonal
00:50:00
versammeln sich aufgeregt um Alex.
00:50:02
Hallo, Liebling,
00:50:03
endlich bist du wieder wach?
00:50:05
ruft eine großgewachsene Frau um die 50
00:50:07
mit riesigen Händen und welligem Haar.
00:50:10
Die Frau macht Alex Angst,
00:50:12
erkennt sie nicht
00:50:13
und wendet sich deswegen fragend an Marcus.
00:50:15
Das ist unsere Mutter,
00:50:18
Alex kann es nicht richtig glauben,
00:50:20
er erinnert sich nicht an sie.
00:50:22
In seinem Kopf ploppen tausend Fragen auf,
00:50:24
bis ihm bewusst wird,
00:50:26
dass er sich an absolut gar nichts
00:50:28
in seinem Leben erinnert,
00:50:29
außer an seinen Zwillingsbruder Marcus.
00:50:31
Er weiß nicht mal,
00:50:32
wer er selbst ist.
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Er hat keine Erinnerung an sein Zuhause.
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welches Jahr und was sein Lieblingslied ist.
00:50:38
Er kennt keine einzige Fernsehserie,
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erinnert sich nicht an seinem Job im Hotel
00:50:42
und weiß auch nicht,
00:50:43
wieso er überhaupt im Krankenhaus ist.
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dass er einen schweren Unfall hatte.
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Er ist vom Motorrad gestürzt
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und hat sich den Schädel gebrochen.
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Daraufhin ist er ins Koma gefallen.
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Und jetzt, Tage später,
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ist nichts mehr wie zuvor.
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Im Krankenhaus muss Alex alles neu lernen.
00:51:01
Jede Information,
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die er aufnimmt,
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ist wie ein Mosaikstein,
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aus denen er sich langsam
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sein Leben und seine Identität zusammensetzt.
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Alex lernt schnell,
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doch auf seine Vergangenheit
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hat er noch immer keinen Zugriff.
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Nach einigen Monaten
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darf er endlich nach Hause,
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wie auch immer das aussehen mag.
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Alex hat davon keine Vorstellung.
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die ihn strahlend abholt,
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wie sie selbst sagt,
00:51:23
freut sich auf diesen Moment.
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Sie hat große Hoffnung,
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dass Alex sie endlich wieder erkennt.
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Doch das tut er nicht.
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Und akzeptieren mag
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die schrille Jill das auch nicht.
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Sie ist enttäuscht davon,
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dass Alex Genesung
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nicht schneller vorangeht.
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vor einem kleinen Ort
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im Süden Englands,
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vor einem langgezogenen Cottage,
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umschlossen von einem großen Garten.
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Das Anwesen wirkt schon von außen
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gewaltig und furchteinflößend auf Alex.
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Hier hat er also seine Kindheit verbracht.
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Gemeinsam mit seiner Mutter,
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seinem Stiefvater,
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Marcus und zwei jüngeren Halbgeschwistern.
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Nein, auch jetzt klingelt nichts bei Alex.
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In dem dunklen und verwinkelten Inneren
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fühlt er sich fast erschlagen
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von all den wuchtigen Möbeln
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und dem ganzen gehorteten Kram.
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Als Alex das erste Mal
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seinem Stiefvater begegnet,
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ist ihm mulmig zumute.
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Jack ist ein großer Mann,
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damit fast 20 Jahre älter
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als seine Frau Jill
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und trägt einen finsteren Blick.
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Förmlich streckt Jack Alex
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die Hand entgegen
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und stellt sich vor.
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Alex weiß in diesem Moment nicht,
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dass es seltsam ist,
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nach so langer Zeit im Koma
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so distanziert zu begrüßen
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und deswegen denkt er sich
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auch nichts weiter dabei.
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in denen Alex vom Kleinkind
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zu einem jungen Mann wurde,
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sind ausgelöscht.
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Jetzt ist er wieder
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fast wie ein kleiner Junge,
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sich allein zurechtzufinden.
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Doch anders als bei kleinen Kindern
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sind ihm seine Eltern
00:52:40
Die einzige Person,
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an die sich Alex klammern kann,
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Er ist ein Fels in der Brandung,
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ohne den ihn die Wellen
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dieser unbekannten Umgebung
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zu verschlingen drohen.
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Auch wenn Alex nichts mehr weiß,
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spürt er doch das unsichtbare Band
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und seinem eineigen Zwillingsbruder.
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Durch den Gedächtnisverlust
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steht Alex auf der Stufe
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eines Erstklässlers.
00:53:00
Von Marcus lernt er alles,
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was er wissen muss,
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um sich im Alltag zurechtzufinden.
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Wo ist das Bett?
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Wie funktioniert der Toaster?
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Wie fährt man Fahrrad?
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Was ist ein Fernseher?
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Alex stellt tausend Fragen
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und Marcus beantwortet sie geduldig.
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Alex saugt alles auf wie ein Schwamm.
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Statt auf seine eigenen Erinnerungen
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muss er nun auf die von Marcus zurückgreifen.
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Gemeinsam sitzen die beiden
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vor Familienfotos.
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Eines zeigt ihn und Marcus
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als Baby auf dem Arm seiner Mutter.
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Ein anderes die beiden im Planschbecken.
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Noch eines als kleine Jungs
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braun gebrannt am Meer.
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Alex will wissen,
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wie ihre Kindheit so war
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und ob sie in den Urlaub gefahren sind.
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antwortet Marcus
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und sagt Alex habe immer gerne
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Eis mit Schokosträußeln gegessen.
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Wir sind unsere Eltern,
00:53:41
Ihre Mom sei cool,
00:53:44
Das glaubt Alex gerne,
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denn er ist auf eine sehr seltsame Art
00:53:48
fasziniert von Jill,
00:53:51
und irgendwie auch dramatisch ist
00:53:54
wie man Leute um sich schaut.
00:53:55
Allerdings fehlt Jill
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für bestimmte Dinge.
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welche Kleidung man
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bei bestimmten Events trägt
00:54:01
oder dass sie nicht
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unangekündigt auftaucht,
00:54:04
wenn Alex und Marcus
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Freunde zu Besuch haben
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und dann Sachen erzählt,
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die dafür sorgen,
00:54:08
dass die Zwillinge
00:54:08
im Boden versinken wollen.
00:54:10
Ihr leiblicher Vater
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ist bei einem Autounfall gestorben,
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als die Zwillinge gerade einmal
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ein paar Wochen alt waren.
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Stiefvater Jack kam in die Familie,
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als die Zwillinge acht Jahre alt waren.
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Jack ist ein cholerischer,
00:54:22
und aggressiver Mann,
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dem Alex und Marcus
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nie etwas recht machen können.
00:54:25
Die beiden Kinder,
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die er gemeinsam mit Jill hat,
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werden bevorzugt behandelt.
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So müssen die Zwillinge,
00:54:30
etwa als sie 14 Jahre alt sind,
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in den Gartenschuppen ziehen,
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den man im Winter nicht beheizen kann,
00:54:34
obwohl das richtige Haus
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Platz genug bietet,
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um alle zu beherbergen.
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Jacks Bereich des Hauses
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dürfen sie erst gar nicht betreten
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und wenn er den Raum betritt,
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müssen die beiden aufstehen
00:54:44
und ihn mit Sir begrüßen.
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Ohne triftigen Grund
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dürfen sie ihn nicht ansprechen.
00:54:51
durch Marcus Erzählungen
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und Fotos aus Kindertagen
00:54:54
sein Gedächtnis.
00:54:55
Zwar bleiben seine eigenen Erinnerungen
00:54:58
aber durch Marcus gelingt es ihm
00:55:00
zumindest ein Bild davon zu bekommen,
00:55:01
wie sein Leben vorher
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ausgesehen haben könnte.
00:55:03
Bilder sind wichtig für Alex.
00:55:05
Deswegen wird ein Fotoapparat
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zu seinem treuen Begleiter.
00:55:08
Alles fängt da ein.
00:55:10
Immer mit der Angst im Nacken,
00:55:12
dass er sein Gedächtnis
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ein weiteres Mal verlieren könnte.
00:55:15
Alex, der schon einmal
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alles verloren hat,
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geben die Fotos Sicherheit.
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Egal was passiert,
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diesmal kann er die Erinnerungen
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zumindest damit festhalten.
00:55:24
Im Laufe der Jahre
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schafft es Alex auch wieder
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im Jobfuß zu fassen.
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Er arbeitet in der Gastro,
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wie vor seinem Unfall.
00:55:30
Dann gründen er und Marcus,
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die schon immer gut
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mit ihren Händen
00:55:33
arbeiten konnten,
00:55:34
ihre eigene Firma,
00:55:36
die Zwillingsrenovierer.
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Praktisches Arbeiten
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Die Geschäfte laufen gut.
00:55:43
bekommt er immer mehr
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die Welt zu verstehen
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zurechtzufinden.
00:55:46
Doch gerade als er das Gefühl hat,
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wieder alles beisammen zu haben,
00:55:50
lernt Alex erneut,
00:55:51
was Verlust bedeutet.
00:55:53
Stiefvater Jack kämpft
00:55:54
seit langem gegen den Krebs.
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Inzwischen ist klar,
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dass er diesen Kampf
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nicht gewinnen wird,
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denn die Krankheit
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hat den einst großen
00:56:01
stattlichen Mann
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in den vergangenen Monaten
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zu einem Schatten
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seiner selbst verwandelt.
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etwa acht Jahre nach Alex' Unfall,
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ruft Jack die Zwillinge
00:56:10
in sein dunkles,
00:56:10
holzvertefeltes Zimmer.
00:56:12
Dass Markus und er
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diesen Raum betreten dürfen,
00:56:14
kommt nur selten vor.
00:56:15
Daher weiß Alex,
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es ist etwas Ernstes.
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Mit seinem Bruder
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tritt er an den Mann heran,
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angeschrien niedergemacht hat.
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Doch kurz vor dem Tod
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ist für viele Menschen
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nochmal über ihr Leben
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Und Jack scheint offenbar
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erkannt zu haben,
00:56:30
vieles falsch gemacht zu haben.
00:56:31
In seinen Worten
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schwingt Reue mit.
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Könnt ihr mir verzeihen?
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einst so furchteinflößenden
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zögert er nicht lange.
00:56:42
Doch überraschenderweise
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sagt sein Bruder neben ihm,
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ich verzeihe dir nicht.
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Alex erschrickt.
00:56:48
Jack ist todkrank,
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Vergebung sein letzter Wunsch.
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will er ihm den nicht gewähren?
00:56:54
So verabschieden sich
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die Zwillinge von Jack.
00:56:57
Alex hat danach Fragen.
00:56:58
Wieso will Markus
00:57:00
ihm nicht verzeihen?
00:57:00
Doch Markus sagt nur,
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es ist kompliziert.
00:57:03
Alex ist irritiert
00:57:06
Aber weil aus Markus
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nicht mehr herauszukriegen ist,
00:57:09
hört Alex irgendwann auf,
00:57:10
darüber nachzudenken.
00:57:12
Als fünf Jahre später,
00:57:14
auch Jill im Alter von 64 Jahren
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an einem Hirntumor stirbt,
00:57:18
bricht Alex zusammen.
00:57:19
Dass er seine Mutter
00:57:20
so früh verlieren musste,
00:57:21
ist schrecklich für ihn.
00:57:22
Anders als Markus
00:57:24
nicht 31 Jahre lang,
00:57:25
sondern eigentlich nur 13.
00:57:27
An die ersten 18 Jahre mit ihr
00:57:29
hat er nach wie vor
00:57:30
keinerlei Erinnerungen mehr.
00:57:33
und als Jugendlicher
00:57:34
mit seiner Mutter erlebte,
00:57:35
hat Alex nicht wie andere
00:57:37
sondern nur vereinzelt auf Fotos.
00:57:40
weint er stundenlang.
00:57:41
Durch ihr Temperament
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und ihre Lautstärke
00:57:43
war Jill im Grunde immer da.
00:57:44
Sie hat so viel Raum
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dass er umso leerer wirkt,
00:57:48
als sie nicht mehr da ist.
00:57:49
Ihr Ableben hinterlässt
00:57:50
bei Alex ein tiefes Loch.
00:57:51
Zu seiner Überraschung
00:57:53
scheint es seinen
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Geschwistern damit
00:57:54
ganz anders zu gehen.
00:57:55
Denn weder Markus
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noch seine jüngeren
00:57:58
vergießen auch nur
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eine Träne über ihren Tod.
00:58:01
Es ist das erste Mal,
00:58:03
dass Alex realisiert,
00:58:04
dass irgendetwas Seltsames
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in seiner Familie vorgeht.
00:58:07
Nur hat er in diesem Moment
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noch nicht den Hauch
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was das sein könnte.
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Nach der Beerdigung
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beginnen die Geschwister
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das Haus auszuräumen.
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Als Antiquitätenhändlerin
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hat Jill alles gesammelt.
00:58:20
sagen wir eher gehortet,
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Nicht nur Möbel,
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sondern auch Kleidung,
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die sich in einigen Zimmern
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Die Zwillinge finden
00:58:27
von Bekannten der Eltern,
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die sie als Kinder
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nie bekommen haben,
00:58:30
abgelaufene Süßigkeiten,
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insgesamt 200 Stangen Zigaretten
00:58:34
und jede Menge Geldscheine
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in Marmeladengläsern
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und eingenäht in Vorhängen.
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Obwohl das Anwesen
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der Familie riesig ist,
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haben Alex und Markus
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zum Teil in Lumpen verbracht.
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gab es oft nicht genug
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Dass ihre Mutter
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offenbar alles andere
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als ärmlich war,
00:58:50
verwundert Alex.
00:58:53
vor einem der vielen Schränke,
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die Jill bis zu ihrem Tod
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mit 64 im Laufe ihres Lebens
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mit mehr oder weniger
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wertvollen Schätzen
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was Jill in dem Schrank
00:59:04
traut er seinen Augen nicht.
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mit Sexspielzeug.
00:59:07
Alex findet das verstörend.
00:59:10
Diese Gegenstände
00:59:11
passen nicht zu dem Bild,
00:59:12
das er von seiner Mutter hatte.
00:59:15
darüber informiert,
00:59:15
scheint denen das
00:59:16
überhaupt nicht zu überraschen.
00:59:17
Mach dir keine Gedanken,
00:59:18
lass uns weitermachen,
00:59:21
als hätte das keine Bedeutung.
00:59:24
arbeiten sich weiter
00:59:25
durch Jills Schlafzimmer.
00:59:26
Alles muss raus.
00:59:29
finden sie noch etwas anderes.
00:59:31
Alex verschlägt es die Sprache,
00:59:32
als es ihm in die Hände fällt.
00:59:34
Es ist ein Foto von ihm
00:59:35
und Markus aus Kindertagen,
00:59:37
das er noch nie gesehen hat.
00:59:38
Es sieht fast so aus wie die,
00:59:40
die ihm sein Zwillingsbruder
00:59:41
so oft gezeigt hat,
00:59:42
mit einem entscheidenden Unterschied.
00:59:46
zehn Jahre alten Jungs
00:59:49
sind weggeschnitten.
00:59:49
Auf Alex wirkt das Bild
00:59:51
irgendwie unpassend,
00:59:54
Was zur Hölle hat das zu bedeuten?
00:59:56
Alex will wissen,
00:59:57
was hier los ist.
00:59:58
Nach all den Jahren
01:00:00
mit tausend Fragen
01:00:01
hat er jetzt plötzlich
01:00:02
Wurden wir sexuell missbraucht?
01:00:05
Markus steht die Betroffenheit
01:00:07
ins Gesicht geschrieben.
01:00:10
Hat uns Mom sexuell missbraucht?
01:00:13
Fragt Alex später.
01:00:14
Markus nimmt all seine Kraft zusammen,
01:00:16
er legt Alex seinen Arm
01:00:18
um die Schultern
01:00:18
und sagt, ja, hat sie.
01:00:21
diese Worte ausspricht,
01:00:22
sind sie wie ein Windstoß,
01:00:23
der das Kartenhaus
01:00:24
zum Einsturz bringt,
01:00:26
14 Jahre lang gebaut hat.
01:00:28
Markus kann sich noch
01:00:30
sehr gut an den Tag erinnern,
01:00:32
der nicht nur Alex,
01:00:33
sondern auch sein eigenes Leben
01:00:34
von Grund auf verändert hat.
01:00:35
In den frühen Morgenstunden
01:00:37
des 1. August 1982,
01:00:40
so erzählt er es später,
01:00:41
schreckt der 18-jährige
01:00:42
Markus aus dem Schlaf.
01:00:43
Schweißgebadet weiß er intuitiv,
01:00:45
Alex ist etwas Schlimmes zugestoßen.
01:00:48
Sein Bruder war an diesem Abend
01:00:50
alleine auf einer Hochzeit
01:00:52
Markus alarmiert seine Mutter Jill,
01:00:54
doch die winkt ab.
01:00:55
Markus habe nur schlecht geträumt.
01:00:57
Nur eine Stunde später
01:00:58
klingelt das Telefon
01:00:59
alle im Cottage aus dem Schlaf.
01:01:01
Es ist das Krankenhaus.
01:01:02
Alex hatte einen Unfall.
01:01:04
In der Klinik wacht
01:01:05
Markus stundenlang an Alex' Seite.
01:01:07
Die piepsenden Maschinen
01:01:08
und die hektischen Schritte
01:01:09
der KlinikmitarbeiterInnen
01:01:10
begleiten ihn tagelang,
01:01:11
während er am Metallbett
01:01:13
seines Zwillingsbruders sitzt.
01:01:14
Die Tage vergehen
01:01:15
und die ÄrztInnen
01:01:16
erklären Markus und Jill,
01:01:17
die oft nach ihrem Sohn sieht,
01:01:19
dass sie nicht sagen können,
01:01:20
wie schwerwiegend Alex'
01:01:21
Kopfverletzungen sind
01:01:22
und ob er bleibende
01:01:23
Hirnschäden davon tragen wird.
01:01:26
ob er wieder als der Alex
01:01:28
den sie kannten.
01:01:29
Markus ignoriert die Worte
01:01:31
des Fachpersonals.
01:01:31
In sich spürt er
01:01:33
eine tiefe Gewissheit.
01:01:34
Alex hat keinen Hirnschaden.
01:01:35
Er wird wieder aufwachen
01:01:37
und so sein wie früher.
01:01:38
Davon ist Marcus
01:01:40
felsenfest überzeugt.
01:01:41
Als Alex dann endlich
01:01:43
die Augen aufschlägt
01:01:44
und seinen Zwillingsbruder
01:01:46
Hallo, Marcus begrüßt,
01:01:47
ist er überglücklich.
01:01:48
Zunächst scheint es,
01:01:49
als sei mit Alex
01:01:50
alles in Ordnung.
01:01:51
Doch dass das nicht stimmt,
01:01:54
als Alex seine eigene Mutter
01:01:55
nicht wiedererkennt.
01:01:56
Marcus ist der Einzige,
01:01:57
an den sich Alex erinnern kann.
01:01:59
Nachdem Alex entlassen wird,
01:02:01
dreht sich seine Welt
01:02:02
Der bringt seinem Zwillingsbruder
01:02:04
Alex vertraut ihm blind.
01:02:05
Welch große Verantwortung
01:02:07
das nach sich zieht,
01:02:08
ist Marcus zunächst
01:02:09
gar nicht bewusst.
01:02:10
Erst nach ein paar Monaten
01:02:12
wird Marcus klar,
01:02:12
er ist derjenige,
01:02:14
der die Kontrolle
01:02:14
über Alex' Gedächtnis
01:02:16
über seine Realität besitzt.
01:02:18
Alex weiß nichts
01:02:20
Familiengeheimnis,
01:02:21
das Marcus seit Jahren
01:02:22
schwer belastet.
01:02:24
existiert nur noch
01:02:25
eine große Leinwand.
01:02:26
Die dunklen Flecken,
01:02:28
die sich darauf über Jahre
01:02:29
eingebrannt haben,
01:02:30
sind ausgelöscht.
01:02:31
Etwas, das Marcus
01:02:32
in Bezug auf seine Kindheit
01:02:33
auch gerne hätte.
01:02:34
Denn er wünscht sich
01:02:36
nichts sehnlicher,
01:02:36
als all den Schmerz
01:02:38
und all die jahrelangen
01:02:39
Qualen vergessen zu können.
01:02:40
Also überlegt sich Marcus,
01:02:41
wie er sich an Alex'
01:02:43
Stelle fühlen würde.
01:02:44
Bei ihm gibt es kein Leid,
01:02:46
keine Flashbacks.
01:02:47
Wieso also sollte Marcus
01:02:50
den die beiden über Jahre
01:02:52
ins Bewusstsein bringen?
01:02:53
Marcus überlegt,
01:02:54
würde er es wissen wollen?
01:02:56
Und er ist sich sicher,
01:02:57
die Antwort darauf lautet
01:02:59
Wenn er nach einem schweren Unfall,
01:03:01
bei dem er sein komplettes Gedächtnis
01:03:02
verlor, erfahren würde,
01:03:03
was ihm als Kind angetan wurde,
01:03:05
und zwar von seiner eigenen Mutter,
01:03:07
dann würde das erneut
01:03:08
sein Leben zerstören.
01:03:09
Marcus beneidet Alex sogar darum,
01:03:11
keinerlei Erinnerungen mehr
01:03:12
an das Grauen seiner Kindheit
01:03:15
er wäre regelrecht sauer,
01:03:16
wenn Alex diese Entscheidung
01:03:17
nicht genauso treffen würde.
01:03:19
Und so beschließt Marcus,
01:03:21
nichts davon zu erzählen
01:03:23
und ihm damit ein Geschenk zu machen,
01:03:26
hat haben wollen.
01:03:30
nach seiner Kindheit fragt,
01:03:31
entscheidet sich Marcus
01:03:33
die schönen Seiten zu zeigen.
01:03:35
mithilfe der Fotos gut.
01:03:36
Dass es nicht ihre Eltern waren,
01:03:38
mit denen sie damals
01:03:39
am Strand waren,
01:03:40
Es ist zu kompliziert
01:03:43
dass sie manchmal
01:03:44
der Eltern verreisten,
01:03:46
weil ihre eigenen
01:03:46
kein Interesse daran hatten,
01:03:47
mit ihren Kindern wegzufahren.
01:03:49
Marcus bemüht sich,
01:03:50
nichts zu erfinden,
01:03:51
aber er scheut sich
01:03:53
in seinen Erzählungen
01:03:54
einige entscheidende
01:03:54
Details wegzulassen.
01:03:57
so aus den Momentaufnahmen,
01:03:58
die die Fotos abbilden
01:03:59
und ein paar Stichworten,
01:04:00
die Marcus ihm dazu gibt,
01:04:02
schönste Kindheitserinnerungen.
01:04:03
Und je schöner und bunter
01:04:05
er die Kindheit für Alex malt,
01:04:07
desto mehr überdecken
01:04:08
diese Farben auch seine
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eigenen dunklen Erinnerungen.
01:04:11
dass Marcus selbst
01:04:12
manchmal glaubt,
01:04:13
eine glückliche Kindheit
01:04:14
gehabt zu haben,
01:04:15
mit einer liebenden Mutter.
01:04:16
Mit dem schönen Schein
01:04:18
kann er sich selbst
01:04:19
genauso wie Alex
01:04:20
Über 14 Jahre hinweg
01:04:22
bis zu Jills Tod.
01:04:23
Zu keinem Moment
01:04:25
hinterfragt Alex,
01:04:26
was Marcus ihm erzählt.
01:04:27
Er vertraut ihm zu 100%
01:04:29
und ihm würde gar nicht
01:04:30
in den Sinn kommen,
01:04:32
nicht die Wahrheit sagt.
01:04:33
Als die Zwillinge
01:04:34
dann das Haus ausräumen
01:04:35
und unter Jills Sachen
01:04:36
das verstörende Foto
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von ihren nackten,
01:04:38
kopflosen Kinderkörpern finden,
01:04:39
stellt Alex die Frage,
01:04:41
wie Marcus all die Jahre
01:04:42
insgeheim fürchtete.
01:04:44
dass er seinen Bruder
01:04:45
nicht lügen kann.
01:04:47
dass Marcus Alex
01:04:48
den Missbrauch bestätigt,
01:04:49
ist es noch nicht getan.
01:04:50
Alex hat noch weitere Fragen,
01:04:52
auf die er antworten will.
01:04:55
die Welt erklärt,
01:04:56
doch bei dieser einen Sache
01:04:58
kann und will er Alex
01:05:00
Die ganzen letzten Jahre,
01:05:02
so empfindet es Marcus,
01:05:04
den Schmerz für beide getragen,
01:05:06
es nicht tun musste.
01:05:07
Niemals würde er ihm
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diesen Ballast aufhiefen.
01:05:10
Statt ihm also die Wahrheit
01:05:11
über seine Kindheit
01:05:14
sich in Schweigen.
01:05:15
Für Alex ist dieses Schweigen
01:05:17
schlimmer als jede Wahrheit.
01:05:18
Er weint tagelang.
01:05:20
denkt er an all die Jahre
01:05:21
mit seiner Mutter zurück,
01:05:22
an die er sich erinnern kann.
01:05:24
dass sie sonderbar war,
01:05:26
temperamentvoll und auffallend,
01:05:28
aber auch pädophil?
01:05:29
Wusste jemand davon?
01:05:31
Alex schlägt sich
01:05:33
mit den Fragen rum,
01:05:34
auf die er alleine
01:05:35
niemals eine Antwort finden wird.
01:05:36
Er kann sich an die Zeit,
01:05:38
in der der Missbrauch
01:05:39
stattgefunden hat,
01:05:41
was ihm alles widerfahren ist,
01:05:42
womit er als Kind
01:05:45
nur Marcus kann ihm dabei helfen.
01:05:47
sein Zwillingsbruder,
01:05:49
an das sich Alex erinnern konnte,
01:05:51
der für ihn die letzten Jahre
01:05:52
Halt, Hoffnung und Familie war,
01:05:54
gerade der will ihm nicht helfen,
01:05:55
die Wahrheit über seine Mutter
01:05:59
hat er ihm weiß gemacht,
01:06:00
er würde aus einer
01:06:00
stabilen Familie kommen.
01:06:03
setzte er seine Identität
01:06:04
aus den Baustellen zusammen,
01:06:05
die Marcus ihm gab.
01:06:06
Nun muss er damit klarkommen,
01:06:08
wie er es kennt,
01:06:09
so gar nicht existiert hat.
01:06:11
Es war schlimm genug,
01:06:12
sein altes Leben
01:06:13
ein erstes Mal zu verlieren.
01:06:14
Dass ihm das jetzt
01:06:15
ein zweites Mal passiert,
01:06:16
erträgt Alex kaum.
01:06:18
Kurze Pause an dieser Stelle.
01:06:20
Ich würde nämlich gerne mal
01:06:21
mit dir über die Entscheidung
01:06:22
von Marcus reden.
01:06:23
Kannst du die Entscheidung
01:06:25
von Marcus nachvollziehen,
01:06:27
dass er Alex jetzt nicht
01:06:29
komplett über den Missbrauch
01:06:31
und nicht mit ihm darüber reden möchte,
01:06:33
was genau passiert ist?
01:06:35
Ich kann ihn verstehen,
01:06:36
dass es für ihn wahrscheinlich
01:06:37
super schwer wäre
01:06:39
und er sich dann
01:06:40
wieder zurück sozusagen
01:06:43
um seinem Bruder
01:06:45
das zu erklären.
01:06:45
Aber er hat ja auch vorher,
01:06:48
um seinen Bruder zu schützen,
01:06:49
das alles verheimlicht.
01:06:51
Und jetzt möchte sein Bruder
01:06:53
das aber wissen,
01:06:54
damit er damit klarkommen kann.
01:06:55
Und deswegen finde ich das
01:06:58
ein bisschen schade
01:07:02
dass Marcus sich da nicht
01:07:03
so weit bringen kann.
01:07:05
Aber auf der anderen Seite
01:07:05
kann ich das natürlich
01:07:06
nicht nachvollziehen,
01:07:08
sexuell missbraucht worden zu sein
01:07:11
darüber zu reden.
01:07:11
Deswegen finde ich das schwierig,
01:07:13
so zu beurteilen von außen.
01:07:17
dass Alex ganz klar
01:07:19
die Wahrheit zusteht.
01:07:20
Also das ist seine Vergangenheit,
01:07:23
das ist seine Identität.
01:07:25
der hat ein Recht darauf,
01:07:26
das zu erfahren.
01:07:27
Ich habe mich jetzt zweimal
01:07:29
mit der Geschichte
01:07:30
von den beiden auseinandergesetzt.
01:07:31
Einmal vor drei oder vier Jahren
01:07:33
und einmal natürlich jetzt,
01:07:34
wo ich diesen Fall recherchiert habe.
01:07:36
Und ich muss sagen,
01:07:37
jetzt gerade im Laufe
01:07:38
der letzten Tage
01:07:39
habe ich irgendwie immer mehr
01:07:41
Verständnis für Marcus bekommen.
01:07:44
Interviews mit den beiden
01:07:45
und in den Interviews
01:07:48
was für ein gebrochener
01:07:52
Und dass es eben nicht
01:07:53
nur um Alex geht natürlich,
01:07:55
sondern es geht auch um Marcus.
01:07:56
Es ist auch seine eigene Vergangenheit,
01:07:58
von der ansonsten
01:08:01
in jeder anderen Geschichte
01:08:02
niemand erwarten würde,
01:08:04
sexuellen Missbrauchs
01:08:06
Nun ist es halt so,
01:08:08
die sind halt zusammen drin
01:08:09
und der eine möchte es wissen
01:08:10
und der andere nicht.
01:08:11
deswegen muss man einfach akzeptieren,
01:08:12
es ist beides da.
01:08:13
Also Alex sollte das Recht haben,
01:08:15
und Marcus sollte das Recht haben,
01:08:17
Und das ist natürlich
01:08:18
ein riesiges Dilemma,
01:08:19
in dem sich die Zwillinge
01:08:21
jetzt hier befinden.
01:08:23
Und es ist ja so.
01:08:24
Bisher verbannt die beiden
01:08:25
ein unsichtbares Band.
01:08:28
das gerade eineiige Zwillinge
01:08:30
Dass sie das Gefühl haben,
01:08:31
spüren zu können,
01:08:32
wie es der anderen Person geht,
01:08:33
ohne mit ihr gesprochen zu haben.
01:08:34
Diese Verbindung,
01:08:36
die Marcus in der Nacht
01:08:37
aus dem Bett hat,
01:08:38
hochschrecken lassen.
01:08:41
hat sie entzweit.
01:08:42
Jetzt eint sie nur noch
01:08:43
ihre Geschäftsbeziehungen.
01:08:44
Tage, Wochen, Monate vergehen.
01:08:47
Alex stürzt in eine Depression,
01:08:48
kämpft mit Suizidgedanken.
01:08:51
Um Abstand zu gewinnen
01:08:52
und sich ordnen zu können,
01:08:53
reist er nach Ägypten.
01:08:54
Im Flieger lernt er
01:08:55
eine Frau kennen,
01:08:56
Sie ist die erste Person,
01:08:58
zu der Alex annähernd
01:08:59
eine solche Verbindung
01:09:00
aufbaut wie zu Marcus.
01:09:01
Sie gibt ihm Halt
01:09:02
und arbeitet sich mit ihm
01:09:03
durch die Bruchstücke
01:09:04
seiner Vergangenheit.
01:09:06
nicht helfen will,
01:09:07
das Bild seiner Vergangenheit
01:09:08
zu vervollständigen,
01:09:10
mit einzelnen Puzzlestücken
01:09:12
Er befragt Bekannte
01:09:14
und Familienmitglieder.
01:09:15
Missbrauch ist ein Wort,
01:09:16
das nun viel Raum einnimmt.
01:09:18
Alex verbringt Jahre damit,
01:09:20
die Teile zusammenzusetzen,
01:09:21
die ihm zumindest
01:09:22
eine Vorstellung davon geben,
01:09:24
was als Kind mit ihm
01:09:26
In diesen Jahren heiratet Alex,
01:09:28
bekommt mit Camilla zwei Kinder.
01:09:29
Auch Marcus gründet
01:09:30
in der Zeit seine Familie.
01:09:31
Mit der Zeit gelingt es Alex,
01:09:34
sich Marcus wieder anzunähern
01:09:35
und er versucht zu akzeptieren,
01:09:36
dass sein Bruder
01:09:37
nicht mit ihm darüber reden will.
01:09:39
Obwohl genau das
01:09:40
sein sehnlichster Wunsch ist.
01:09:42
dass Marcus ihm sagt,
01:09:43
was passiert ist,
01:09:45
nur so wirklich wissen zu können,
01:09:47
Die Jahre vergehen.
01:09:49
Alex verbringt etliche Stunden
01:09:51
bei TherapeutInnen.
01:09:52
Marcus holt sich nie Hilfe.
01:09:53
Doch trotz all seiner Mühen
01:09:55
findet Alex keinen Frieden
01:09:56
mit der Vergangenheit.
01:10:00
fasst er einen Entschluss.
01:10:01
Er will die Geschichte
01:10:02
von ihm und seinem Bruder
01:10:04
Tatsächlich willigt Marcus ein,
01:10:06
das Projekt mit ihm umzusetzen.
01:10:07
Gemeinsam mit einer Autorin
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machen sie sich daran,
01:10:10
eine Autobiografie zu schreiben.
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Tell me who I am.
01:10:13
Doch Marcus gelingt es noch immer nicht,
01:10:16
mit seinem Bruder
01:10:16
über das allbeherrschende Thema
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Im Buch kann er den Missbrauch
01:10:20
der beiden zwar skizzieren,
01:10:22
aber es ist nicht das,
01:10:23
was Alex sich wünscht.
01:10:24
Er will die Geschichte
01:10:25
aus dem Mund von Marcus hören.
01:10:26
Er will das auch nicht nur für sich.
01:10:29
dass er sich Marcus
01:10:30
danach wieder genauso nahe fühlen kann
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Doch Marcus verneint noch immer.
01:10:34
Bis sieben Jahre später
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die Geschichte der Brüder verfilmt.
01:10:39
Doch im Gegensatz zu einem Buch
01:10:41
reicht es vor der Kamera
01:10:42
nicht nur aufzuschreiben,
01:10:43
was passiert ist.
01:10:44
Man muss auch sprechen.
01:10:45
Und obwohl Marcus
01:10:47
genau das all die Jahre nicht wollte,
01:10:49
entscheidet er jetzt mit Mitte 50,
01:10:51
dass er es versuchen will.
01:10:52
In einem Studio sprechen Marcus
01:10:54
und Alex getrennt voneinander
01:10:57
und grauen Longstief,
01:10:58
Marcus mit schwarzem T-Shirt
01:11:00
und Drei-Tage-Bart.
01:11:01
Sie zeichnen ihr Leben
01:11:04
als Alex alles neu lernen musste.
01:11:06
Und sie erzählen
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von dem Fund des Fotos
01:11:08
und wie ihre innige Beziehung
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seitdem Risse bekam.
01:11:12
wie wichtig ihm die Wahrheit ist
01:11:14
und Marcus erklärt,
01:11:15
wieso er sie Alex
01:11:15
seit fast 20 Jahren
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weitestgehend vorenthalten hat.
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Am letzten Drehtag
01:11:20
sitzen sich die Zwillinge
01:11:22
zwischen ihnen ein Tisch,
01:11:23
bei der Wirkung erschöpft.
01:11:25
weil er den Großteil
01:11:27
nach Informationen verbracht hat,
01:11:29
weil er genau diese
01:11:30
permanent versuchte
01:11:33
Denn nun sei er bereit,
01:11:36
was er sich so sehr wünscht,
01:11:37
seitdem ihm damals das Foto
01:11:38
in die Hand gefallen ist.
01:11:41
die Lüge muss aufhören,
01:11:42
damit ich wieder ein Leben habe.
01:11:44
Mein Leben ist nicht echt,
01:11:45
Du hast es erschaffen.
01:11:46
Du hast es bestimmt.
01:11:47
Ich brauche die komplette Geschichte.
01:11:49
Einen kurzen Moment
01:11:51
fassen sie sich an den Händen.
01:11:52
Dann steht Markus
01:11:53
vom Tisch auf und geht.
01:11:55
wird Markus nicht in der Lage sein,
01:11:57
seinem Bruder ins Gesicht zu sagen,
01:11:58
was passiert ist.
01:11:59
Zumindest nicht persönlich,
01:12:01
denn Markus hat bereits geredet.
01:12:03
Vier Minuten lang
01:12:04
hat er einer Kamera erzählt,
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was passiert ist.
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Die Videoaufzeichnung davon
01:12:08
befindet sich auf einem Laptop,
01:12:09
der jetzt vor Alex steht.
01:12:10
Als Alex auf Play drückt,
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hört er mit 54 Jahren
01:12:14
zum ersten Mal von Anfang bis Ende
01:12:16
die ganze Geschichte
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was mit ihm und Markus
01:12:18
in so vielen Nächten
01:12:19
ihrer Kindheit geschah.
01:12:20
Mehr als 45 Jahre zuvor
01:12:24
in dem die Zwillinge
01:12:25
damals aufwachsen.
01:12:26
Markus liegt nackt
01:12:28
im Bett seiner Mutter.
01:12:29
sein Zwillingsbruder.
01:12:30
Ihre Mutter ist auch dabei.
01:12:32
Jill hat die beiden nicht geholt,
01:12:34
um ihnen gute Nacht zu wünschen,
01:12:35
sondern um ihnen zu befehlen,
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sich gegenseitig anzufassen.
01:12:40
Doch Jill will nicht nur
01:12:42
sie will mitmachen.
01:12:43
Sie berührt ihre Jungen
01:12:44
und fasst ihnen zwischen die Beine.
01:12:45
Die beiden dürfen
01:12:48
als Jill entscheidet,
01:12:49
dass es soweit ist.
01:12:50
Als Markus neben Alex
01:12:51
am nächsten Morgen
01:12:52
in Jills Bett aufwacht,
01:12:53
als sei nichts geschehen.
01:12:56
wiederholt sich,
01:12:57
seitdem die Zwillinge
01:12:57
sechs Jahre alt sind,
01:13:00
fühlt sich Markus
01:13:02
Und obwohl er sonst
01:13:03
alles mit seinem Bruder
01:13:04
mit seinem Bruder Alex
01:13:05
über den Missbrauch.
01:13:06
Er geschieht nicht jeden Tag,
01:13:08
Und Jill ist nicht die Einzige.
01:13:10
Jill nimmt abwechselnd
01:13:12
Markus oder Alex mit,
01:13:13
wenn sie zu Bekannten fährt.
01:13:15
Wohin genau sie fahren,
01:13:16
erfährt Markus vorher nie.
01:13:18
Oft besuchen sie
01:13:19
Antiquitätenhändler
01:13:20
Sie essen gemeinsam,
01:13:22
Jill trinkt ein Glas Wein
01:13:23
und Markus sieht zu,
01:13:24
während Jill sich
01:13:25
mit dem jeweiligen Mann
01:13:28
bis seine Mutter
01:13:28
ihre Sachen packt und geht
01:13:30
und Markus mit dem fremden Mann
01:13:32
Nachts legt sich der Mann
01:13:33
dann zu ihm unter die Decke.
01:13:36
wird Markus so vergewaltigt.
01:13:37
Am nächsten Morgen
01:13:38
holt Jill ihn dann wieder ab.
01:13:40
Markus steigt ins Auto
01:13:41
und sagt kein Wort.
01:13:42
Obwohl Alex und er
01:13:43
nie über die Besuche reden,
01:13:46
dasselbe erleiden muss,
01:13:47
wenn Jill ihn abends mitnimmt.
01:13:49
Viele Nächte verbringen
01:13:50
die Zwillinge also nicht
01:13:51
in ihren Kinderbetten,
01:13:52
sondern bei fremden Männern.
01:13:54
Markus vertraut sich
01:13:55
nie jemandem an.
01:13:56
Er hat eine heidene Angst
01:13:57
davor, was passieren könnte,
01:13:59
jemandem erzählt.
01:14:02
da ist Markus gerade
01:14:02
zwölf Jahre alt,
01:14:03
gibt Jill eine Party.
01:14:05
Ihre beiden Jungs
01:14:06
hat sie eingespannt,
01:14:07
um Getränke und Häppchen
01:14:09
ein Mann ins Auge.
01:14:11
Er war einmal bei ihm.
01:14:12
Markus soll dem Mann
01:14:13
einen Drink bringen.
01:14:14
Vor seinem inneren Auge
01:14:16
läuft wieder ab,
01:14:17
was der Mann damals
01:14:17
mit ihm gemacht hat.
01:14:18
Es war furchtbar.
01:14:20
Das macht Markus
01:14:22
dass er sich auf der Party
01:14:23
in die Hose macht.
01:14:29
wird sein Wiederwillen.
01:14:30
Er findet es nicht richtig,
01:14:32
was bei diesen Ausflügen
01:14:35
wenn er wieder bei seiner Mutter
01:14:36
im Auto auf dem Weg
01:14:37
nach Hause sitzt,
01:14:38
fühlt er sich schrecklich,
01:14:38
schmutzig und benutzt.
01:14:42
da ist Markus gerade
01:14:44
mit Jill wegfahren.
01:14:45
Etwa zwei Stunden später
01:14:46
findet sich Markus
01:14:47
in London wieder
01:14:48
in einer Wohnung
01:14:48
eines Künstlers.
01:14:49
Nach dem Abendessen
01:14:50
verabschiedet sich Jill.
01:14:53
ins Schlafzimmer.
01:14:54
Markus legt sich
01:14:55
in das Himmelbett
01:14:56
beginnt ihn anzufassen.
01:14:58
die fremden Hände
01:14:59
an seinen Genitalien spürt,
01:15:00
nimmt er all seinen Mut zusammen.
01:15:02
Er setzt sich auf
01:15:03
und sagt mit deutlicher Stimme,
01:15:05
ich will das nicht.
01:15:05
Der Fremde wird aggressiv,
01:15:08
gibt nicht nach.
01:15:09
Zu lange hat er das
01:15:10
alles mit sich ergehen lassen.
01:15:12
das Bett zu verlassen.
01:15:13
Er packt seine Sachen,
01:15:14
stimmt aus der Wohnung
01:15:15
und läuft zum Bahnhof.
01:15:16
Er setzt sich in den Zug
01:15:17
und fährt Richtung Heimat.
01:15:18
Von der Haltestelle aus
01:15:20
geht er den ganzen Weg
01:15:21
zu Fuß nach Hause,
01:15:22
mitten in der Nacht.
01:15:23
Am Cottage angekommen,
01:15:24
läuft er schnurstracks
01:15:25
auf das Kinderzimmerfenster zu.
01:15:28
und Alex öffnet.
01:15:28
Markus wird heute
01:15:30
in seinem eigenen Bett schlafen.
01:15:31
Als er am nächsten Morgen
01:15:33
an den Frühstückstisch tritt,
01:15:35
sieht er das Erstaunen
01:15:36
in den Augen seiner Mutter.
01:15:37
Markus sagt nichts,
01:15:38
er schaut sie nur an.
01:15:39
Sie hält seinen Blick stand,
01:15:43
dass sich in diesem Augenblick
01:15:45
und er behält Recht.
01:15:47
müssen er und Alex
01:15:48
nie wieder irgendwo anders übernachten.
01:15:49
Nach etwa acht Jahren
01:15:51
gestohlener Kindheit,
01:15:52
die Jill ihren Jungs nahm,
01:15:53
um nicht nur ihre eigenen Bedürfnisse,
01:15:55
sondern auch die fremder Männer
01:15:57
ist der Horror endlich vorbei.
01:15:58
Ab diesem Zeitpunkt
01:16:00
sind die Zwillinge
01:16:01
aus ihrer Opferposition
01:16:03
Warum Jill ihre Kinder
01:16:04
auch noch an Fremde weiterreichte,
01:16:06
wird wohl eine von den Fragen bleiben,
01:16:07
die niemals jemand
01:16:08
beantworten kann.
01:16:09
Geld war es offenbar nicht,
01:16:11
aber vielleicht bekamen sie
01:16:12
im Austausch andere Jungs.
01:16:15
in dem ausgeleuchteten Raum sitzt
01:16:17
das Markus vorher aufgenommen hat,
01:16:19
beginnt er zu weinen.
01:16:20
Es ist Erleichterung.
01:16:22
weil er es nicht furchtbar findet,
01:16:24
was ihm und Markus
01:16:25
in der Vergangenheit passiert ist,
01:16:26
sondern weil dieses riesige Geheimnis
01:16:30
dass oft genug kaum Raum
01:16:32
für etwas anderes blieb.
01:16:33
Markus betritt das Zimmer wieder.
01:16:36
Das habe ich gebraucht.
01:16:37
Keine Lügen mehr.
01:16:38
Keine Geheimnisse mehr,
01:16:40
Er schaut Markus
01:16:41
direkt in die Augen.
01:16:42
Ich habe dich zurück,
01:16:44
Die beiden umarmen sich.
01:16:46
Jetzt ist da kein Schweigen mehr,
01:16:48
zwischen den Zwillingen schafft.
01:16:49
Markus wird später sagen,
01:16:51
dass er in diesem Moment
01:16:52
zwischen ihm und Alex spürte.
01:16:55
durch seinen Körper gefahren.
01:16:56
Als hätten die beiden
01:16:57
aus dem losen Faden,
01:16:58
der die vergangenen 20 Jahre
01:17:00
zwischen ihnen hing,
01:17:01
das starke Zwillingsband geschaffen.
01:17:05
Also das ist auch
01:17:06
eine Wahnsinnsgeschichte.
01:17:08
Ich kann es gar nicht glauben.
01:17:09
Du hast mir ja mal
01:17:11
aber dass das so,
01:17:12
dass das so emotional ist
01:17:14
und dass das dann quasi
01:17:15
vor laufender Kamera
01:17:16
auch noch passiert ist,
01:17:17
dass Alex endlich erfahren hat,
01:17:21
was wirklich passiert ist.
01:17:22
Also das ist ja,
01:17:22
also das kann man sich
01:17:24
ja gar nicht ausdenken.
01:17:26
Also es ist ja so,
01:17:27
dass es dieses Buch
01:17:28
schon vorher gab,
01:17:29
aber Alex sagt am Ende,
01:17:31
nach Beendigung des Buches
01:17:34
wusste er aus jetziger Perspektive
01:17:36
betrachtet ungefähr 30 Prozent
01:17:38
von dem, was er nachher wusste.
01:17:40
Also da waren noch
01:17:42
ziemlich viele Fragen offen.
01:17:44
Was mir jetzt auch erst gerade
01:17:45
so richtig klar geworden ist,
01:17:47
ist, wo Alex dann gesagt hat,
01:17:49
das habe ich gebraucht,
01:17:50
keine Geheimnisse mehr
01:17:52
Weil wenn du weißt,
01:17:55
du wurdest missbraucht
01:17:56
als Kind von deiner eigenen Mutter,
01:17:58
aber nicht genau weißt,
01:17:59
was passiert ist,
01:18:01
dann kann ich mir vorstellen,
01:18:02
kannst du ja wirklich
01:18:04
an nichts anderes mehr denken
01:18:05
und stellst dir diese ganzen
01:18:07
was könnte sie mit mir
01:18:10
was hat sie mir angetan,
01:18:12
warum bin ich vielleicht
01:18:14
heute unterbewusst,
01:18:16
hat das damit zu tun,
01:18:18
dass meine Mutter
01:18:18
das und das gemacht hat
01:18:19
und diese ganzen Vorstellungen,
01:18:21
die dann vielleicht
01:18:22
vor seinem inneren Auge
01:18:24
sich da manifestiert haben,
01:18:26
also stelle ich mir auch
01:18:27
ganz, ganz schlimm vor,
01:18:28
diese jahrelange Suche
01:18:30
nach der Wahrheit
01:18:31
oder dieses Nichtwissens
01:18:33
Also wie wir ja eben
01:18:35
schon gesagt haben,
01:18:36
kann man natürlich auch
01:18:37
Markus total nachvollziehen,
01:18:39
dass er nicht darüber reden wollte,
01:18:40
aber das mir jetzt vorzustellen,
01:18:43
die ganze Zeit gefühlt hat,
01:18:45
also finde ich einfach
01:18:48
Ja, ich möchte da
01:18:49
vollständigkeitshalber
01:18:50
aber noch eine weitere
01:18:52
Person einführen,
01:18:53
die sich sehr schrecklich
01:18:55
die in der Netflix-Dokumentation
01:18:57
gar keine Rolle gespielt hat
01:18:58
und die ich jetzt auch
01:18:59
nicht eingebaut habe,
01:18:59
weil einfach nicht genug
01:19:01
Informationen über ihn
01:19:03
aber Alex und Markus,
01:19:05
die hatten ja noch
01:19:05
zwei Halbgeschwister,
01:19:07
Amanda und Oliver
01:19:08
und Oliver ist zwölf Jahre
01:19:10
jünger und wurde ebenfalls
01:19:12
missbraucht von seiner Mutter
01:19:13
und das Problem ist so ein
01:19:17
als die Zwillinge 18 Jahre alt waren
01:19:19
und somit der Unfall passierte
01:19:21
da war Oliver gerade
01:19:24
und bei den Zwillingen
01:19:26
und auch bei Oliver
01:19:27
fing dieser Missbrauch
01:19:29
mit sechs Jahren an.
01:19:31
sind dann irgendwann ausgezogen,
01:19:33
auch in dieser Zeit rum
01:19:34
und Oliver sagt natürlich,
01:19:37
wenn dir dasselbe passiert ist,
01:19:39
dann lässt du keinen
01:19:40
sechsjährigen Jungen
01:19:41
einfach in diesem Haus zurück.
01:19:44
so, da hat man eigentlich
01:19:44
eine moralische Verantwortung
01:19:46
in diesem einen Interview,
01:19:48
das mit ihm gemacht wurde,
01:19:49
da lautet die Überschrift,
01:19:51
meine Brüder haben allen erzählt,
01:19:53
was unsere Mutter getan hat
01:19:55
und es ist ja natürlich auch seine Vergangenheit,
01:19:58
über die die da reden.
01:19:59
Er spielt in der öffentlichen Geschichte
01:20:02
aber gar keine Rolle
01:20:03
und er ist ein bisschen schockiert darüber,
01:20:05
dass die Zwillinge so in die Öffentlichkeit gehen,
01:20:08
aber keiner von ihnen den Missbrauch
01:20:10
mal bei der Polizei angezeigt hat.
01:20:12
Das hat wiederum Oliver
01:20:13
aber mit 22 Jahren gemacht.
01:20:15
Da war die Mutter schon tot
01:20:17
und die Ermittlungen wurden dann aber eingestellt
01:20:18
wegen unzureichender Beweise,
01:20:20
was vielleicht anders gewesen wäre,
01:20:22
wenn die Zwillinge auch ausgesagt hätten.
01:20:24
Natürlich kann man gegen eine tote Person
01:20:25
nicht ermitteln,
01:20:26
aber Oliver hat noch eine andere Anzeige gestellt
01:20:29
und zwar gegen einen der Typen,
01:20:30
wo er öfter war.
01:20:31
Dieser Mann muss zu diesem Zeitpunkt
01:20:33
ungefähr in den 60ern gewesen sein,
01:20:36
ihm geht es jetzt einfach nur darum,
01:20:38
dass dieser Mann
01:20:39
und natürlich auch noch die ganzen anderen,
01:20:41
die damals die Zwillinge missbraucht haben,
01:20:43
ja noch immer mehr Kinder missbrauchen könnten.
01:20:45
Und er fragt sich so ein bisschen,
01:20:47
warum bin ich denn damit komplett alleine?
01:20:49
Die Zwillinge hatten wenigstens sich selbst
01:20:52
aber er hatte halt niemanden.
01:20:55
auch in seinem Kampf jetzt
01:20:56
ist er immer noch allein.
01:20:57
Ja, das versteht man natürlich,
01:21:01
seinen älteren Brüdern Vorwürfe macht.
01:21:04
Ja, am Ende weiß man nicht,
01:21:09
wie man selber reagiert hätte,
01:21:10
wäre man auch einfach aus diesem Haus
01:21:12
geflohen und hätte wie Markus,
01:21:15
das ja auch später zeigt,
01:21:16
am liebsten nie wieder darüber geredet,
01:21:18
nie wieder sich irgendwie damit beschäftigt.
01:21:25
dass es diesen kleinen Jungen
01:21:26
da in dem Haus gibt
01:21:27
und dass die Mutter
01:21:29
wahrscheinlich nicht von heute
01:21:30
auf morgen aufhört damit.
01:21:32
also theoretisch gab es vier Jahre
01:21:34
Missbrauchspause in der Familie.
01:21:35
Aber wie gesagt,
01:21:38
eine Theorie ist ja auch,
01:21:39
auch vielleicht andere Jungs geholt hat
01:21:42
von denen, die nichts wissen.
01:21:45
den die Zwillinge hegen,
01:21:46
finde ich ganz interessant.
01:21:47
Und zwar geht es da darum,
01:21:49
als Alex diesen Unfall hatte,
01:21:51
hat sein Körper in dem Moment
01:21:53
auch einen Schutzmechanismus aufgebaut
01:21:55
und hat einfach gesagt,
01:21:57
wir löschen einfach alles.
01:21:58
Jetzt löschen wir einfach alles,
01:22:00
weil es so schlimm war.
01:22:01
Das kann man jetzt für Alex Fall
01:22:03
natürlich nicht so ganz ernsthaft beantworten,
01:22:06
aber bei anderen Betroffenen
01:22:08
kann man sich das schon durchaus fragen.
01:22:10
Und unter anderem darum
01:22:11
geht es jetzt in meinem Aha.
01:22:13
Also das, was Alex da hatte,
01:22:14
das nennt man Amnesie.
01:22:16
In seinem Fall war das eine retrograde Amnesie,
01:22:20
die durch seinen Unfall ausgelöst wurde.
01:22:22
der Ursprung war organisch.
01:22:24
Und bei der retrograden Amnesie
01:22:26
dass der oder die Betroffene
01:22:29
Vergangenes vergisst.
01:22:31
was vor einem bestimmten Ereignis passiert ist.
01:22:33
Und bei Alex war es ja sogar so,
01:22:35
dass der sämtliche Fähigkeiten,
01:22:37
also außer jetzt das Sprechen,
01:22:39
nicht mehr beherrschte.
01:22:40
Also Radfahren etc.
01:22:42
Das konnte er alles nicht mehr.
01:22:43
Und das liegt daran,
01:22:45
dass bei ihm auch der Teil
01:22:46
des Gedächtnisses betroffen war,
01:22:47
in dem die Prozesse
01:22:49
und Handlungsabläufe gespeichert sind.
01:22:51
Das passiert allerdings relativ selten.
01:22:54
Also meist ist nur das sogenannte
01:22:55
episodische Gedächtnis betroffen.
01:22:57
Also halt der Teil des Gehirns,
01:22:59
in dem Erinnerungen an Ereignisse
01:23:01
und Erlebnisse gespeichert werden.
01:23:03
Und in den meisten Fällen
01:23:05
bezieht sich dieser Gedächtnisverlust
01:23:07
auch nur auf einen kurzen Zeitraum
01:23:08
vor dem Ereignis.
01:23:11
So ein Fall wie Alex ist also wirklich eine Ausnahme.
01:23:13
Es gibt allerdings noch eine weitere,
01:23:15
mittlerweile recht bekannte Person,
01:23:17
der das passiert ist.
01:23:18
Und zwar Benjamin Keil.
01:23:20
Der wurde im Jahr 2004
01:23:22
irgendwann nackt und verletzt
01:23:25
und ohne was bei sich zu haben,
01:23:26
schlafend hinter einer Fastfood-Filiale gefunden.
01:23:29
Und die Angestellte,
01:23:31
die dachte halt erst,
01:23:31
das ist ein Obdachloser.
01:23:32
Der hatte halt auch schon total den Sonnenbrand.
01:23:35
Also er schien da länger gelegen zu haben.
01:23:37
Und als er dann wach war,
01:23:39
wusste er halt gar nichts mehr.
01:23:41
Also halt nicht, wer er ist.
01:23:43
Und den Behörden gelang das nicht,
01:23:46
den zu identifizieren.
01:23:47
Nicht mal Interpol oder dem FBI.
01:23:49
Und es fand sich halt auch niemand,
01:23:52
Obwohl man mit Hilfe vom Fernsehen
01:23:55
und etlichen Medienberichten
01:23:56
halt nach Leuten gesucht hat,
01:23:57
die Benjamin kannten.
01:23:59
Und der Mann fragte sich natürlich damals,
01:24:02
war ich denn in meinem früheren Leben
01:24:05
niemandem wichtig genug,
01:24:06
dass jemand mal nach mir sucht?
01:24:08
Weil dann wäre er ja wahrscheinlich
01:24:10
früher oder später gefunden worden.
01:24:12
Oder in halt einer Vermisstenkartei irgendwo.
01:24:16
Naja, und irgendwann sagte er dann,
01:24:18
dass er sich daran erinnern würde,
01:24:19
dass sein Name Benjamin war.
01:24:21
Also mit zwei A geschrieben.
01:24:23
Soweit ich weiß,
01:24:24
stimmte das am Ende nicht.
01:24:25
Aber das eigentliche Schlimme
01:24:27
an seiner Geschichte ist auch,
01:24:28
dass Benjamin halt viele Jahre
01:24:31
danach tatsächlich obdachlos war
01:24:33
und keine Arbeit finden konnte,
01:24:35
weil er keinen Ausweis
01:24:36
und auch keine Sozialversicherungsnummer hatte,
01:24:38
an die er sich erinnern konnte.
01:24:40
Und so funktioniert das dann halt in den USA.
01:24:43
Ja, also der hat dann tatsächlich
01:24:45
erst elf Jahre später
01:24:48
mithilfe von so einer Genealogin festgestellt,
01:24:51
die normalerweise Adoptivkindern dabei hilft,
01:24:54
ihre leiblichen Eltern zu finden.
01:24:56
Und er hat dann seine Familie auch getroffen,
01:24:58
hat dann herausgefunden,
01:24:59
dass er in seinem früheren Leben
01:25:01
sich mit denen entzweit hat
01:25:02
und die schon ewig nichts mehr von ihm gehört hatten.
01:25:05
Und er hat sich dann danach
01:25:07
seine Sozialversicherungsnummer
01:25:08
tätowieren lassen.
01:25:10
aus Angst, die nochmal zu vergessen.
01:25:11
Ja, gut, scheiße.
01:25:15
also Alex und Benjamins Amnesie,
01:25:17
die waren organisch,
01:25:18
also ausgelöst durch den Unfall,
01:25:19
beziehungsweise bei Benjamin
01:25:20
hat man halt angenommen,
01:25:22
dass der zusammengeschlagen
01:25:23
und natürlich dann ausgeraubt wurde.
01:25:26
So eine Amnesie kann aber auch beispielsweise
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durch eine Hirnhautentzündung auftreten
01:25:30
oder nach einem Schlaganfall,
01:25:32
oder wenn man Psychopharmaka zu sich genommen hat
01:25:34
und das übel ausging.
01:25:36
Manche Amnesien haben aber einen anderen Ursprung
01:25:38
und zwar einen psychologisch bedingten.
01:25:40
Das nennt man dissoziative Amnesie
01:25:43
und die kommt zum Teil
01:25:45
nach extremen seelischen Belastungen vor,
01:25:47
also beispielsweise nach Stress
01:25:49
oder halt sehr traumatischen Erfahrungen.
01:25:50
Da kann das dann auch sein,
01:25:52
dass betroffene Lücken
01:25:53
in ihrer ganzen Lebensgeschichte haben,
01:25:55
aber ist natürlich auch sehr selten.
01:25:57
Häufiger ist das,
01:25:57
dass man sich vor allem
01:25:59
an das auslösende traumatische Ereignis
01:26:02
halt nicht mehr erinnern kann.
01:26:03
Ja, und das war bei Annika im Grunde ja auch so,
01:26:05
obwohl das bei ihr jetzt nicht explizit
01:26:07
diagnostiziert wurde,
01:26:09
also keine Amnesie oder so.
01:26:10
Aber sie war ja auch noch sehr jung.
01:26:14
sie konnte sich nicht an die Tat erinnern,
01:26:15
aber zum Beispiel schon an das Haus,
01:26:17
in das sie dann kurz nach dem Vorfall gezogen ist.
01:26:20
Also daran konnte sie sich schon erinnern.
01:26:22
Ja, und was bei Annika ja auch noch dazu kam
01:26:24
und was bei dieser Art der Amnesie
01:26:25
tatsächlich häufig vorkommt,
01:26:27
ist, dass sich die Betroffenen
01:26:28
der eigenen Amnesie gar nicht bewusst sind
01:26:31
oder sie halt herunterspielen.
01:26:32
Wenn sich traumatische Ereignisse wiederholen
01:26:35
oder halt sehr lange anhalten,
01:26:36
vor allem wenn sie in der Kindheit passieren,
01:26:38
dann kann sich die Amnesie auch
01:26:39
über einen längeren Zeitraum ziehen.
01:26:40
Also beispielsweise,
01:26:41
dass man dann ein Jahr
01:26:42
oder einen Monat ausblendet oder so.
01:26:44
Und das macht der Körper,
01:26:46
weil das als so eine Art
01:26:47
Schutzmechanismus funktionieren kann.
01:26:49
Also weil man sich dann halt
01:26:50
mit diesen belastenden
01:26:52
und schmerzhaften Erinnerungen
01:26:53
nicht mehr auseinandersetzen muss,
01:26:55
wenn die abgespaltet sind.
01:26:56
Bei Annika hat das ja funktioniert,
01:26:58
also dass sie sich an das Ereignis
01:27:00
dann halt gar nicht mehr erinnern konnte.
01:27:01
Bei anderen ist es dann so,
01:27:02
das wird so wie eine Art Rohformat abgespeichert.
01:27:05
Also man kann sich dann nur an bestimmte Sachen erinnern,
01:27:07
an andere gar nicht.
01:27:09
Und ich habe mal mit einer Betroffenen geredet,
01:27:11
die eine Missbrauchserfahrung hatte.
01:27:13
Und die hat mir gesagt,
01:27:14
dass sie sich beispielsweise noch an Gerüche
01:27:16
von dem Tag erinnert
01:27:17
oder was vorher gesprochen wurde,
01:27:19
aber nicht an die zeitliche Abfolge
01:27:22
Also sie weiß die einzelnen Sachen,
01:27:24
aber nicht, wann was war.
01:27:26
So splitterartig ist das im Gehirn.
01:27:28
Überall hängen irgendwelche Teile,
01:27:29
aber es ist nicht zusammenhängend.
01:27:31
Jetzt könnte man ja meinen,
01:27:33
ach na ja, wenn sich jemand
01:27:34
gar nicht mehr an die Tat erinnert,
01:27:36
dann kann das ja super für die Person sein,
01:27:38
weil dann ist das ja,
01:27:39
als wäre das nicht passiert.
01:27:40
Das ist aber meistens eben nicht so,
01:27:42
weil diese Tat, die passiert ist,
01:27:44
die kann trotzdem
01:27:45
das aktuelle Verhalten beeinträchtigen,
01:27:47
auch wenn man sich gar nicht daran erinnert.
01:27:49
Also dass man beispielsweise Orte meidet
01:27:51
oder bei einem Geruch
01:27:52
auf einmal so ein ganz abstrakt
01:27:54
schlimmes Gefühl bekommt.
01:27:56
Man weiß aber nicht, woher oder was es ist.
01:27:59
Und das kann natürlich auch total belastend sein.
01:28:01
In dem Fall gibt es aber Hoffnung.
01:28:03
Also man kann diese Erinnerung
01:28:04
dann auch wieder zurückholen,
01:28:06
beispielsweise durch Therapie.
01:28:07
Aber die sind dann halt nicht immer vollständig.
01:28:10
Also es kann sein,
01:28:11
dass bestimmte Dinge
01:28:12
einfach immer im Dunkeln bleiben.
01:28:13
Und das kann abgesehen natürlich
01:28:16
von der eigenen Aufarbeitung
01:28:17
noch ganz andere Probleme mit sich bringen,
01:28:20
beispielsweise bei einem Prozess.
01:28:21
Und zwar sowohl,
01:28:24
wenn man das Opfer
01:28:25
mit Erinnerungsverlust oder Lücken ist,
01:28:27
als auch als beschuldigte Person.
01:28:29
Weil manche TäterInnen
01:28:30
wollen halt auch eine Amnesie
01:28:33
in Bezug auf die Tat haben.
01:28:34
Und da stellt sich dann natürlich
01:28:35
dem Gericht die Frage,
01:28:36
täuscht die Person das nur vor?
01:28:38
Also ein bekannter Fall
01:28:39
ist beispielsweise Rudolf Hess,
01:28:41
Und der gab während
01:28:43
der Nürnberger Prozesse an,
01:28:44
dass er sich nicht daran erinnern könne,
01:28:46
was im Dritten Reich passiert sei.
01:28:50
Später hat er dann aber zugegeben,
01:28:52
dass er das aus taktischen Gründen
01:28:54
nur behauptet hat.
01:28:55
Und es gibt tatsächlich
01:28:56
einige Untersuchungen dazu,
01:28:57
wie häufig so eine angebliche Amnesie
01:28:59
in Bezug auf Strafsachen vorkommt.
01:29:01
Und man kann sagen,
01:29:02
das sind so 25 bis 50 Prozent
01:29:06
die das vorgeben zu haben,
01:29:09
aber nicht immer,
01:29:10
also nicht von wegen,
01:29:11
ich erinnere mich an gar nichts,
01:29:13
aber die dann halt
01:29:13
eine partielle Amnesie
01:29:15
gelten machen wollen.
01:29:16
Also die sich dann auch
01:29:17
an bestimmte Dinge der Tat
01:29:18
nicht mehr erinnern.
01:29:19
Ja, und das ist natürlich
01:29:20
auch sehr schlau,
01:29:21
wenn es dann zum Beispiel
01:29:22
vielleicht um Mord
01:29:23
oder Totschlag geht
01:29:25
und die Person kann sich
01:29:26
aber dann nicht mehr
01:29:27
genau daran erinnern,
01:29:28
wie sie sich dem Opfer
01:29:29
jetzt genährt hat.
01:29:31
und die Person war
01:29:32
vielleicht arglos
01:29:33
oder doch von vorne.
01:29:34
ich kann mich jetzt
01:29:35
gar nicht mehr daran erinnern.
01:29:36
Ja, also ich würde sagen,
01:29:37
die bessere Variante
01:29:39
wäre immer zu schweigen.
01:29:41
also da muss natürlich
01:29:43
mit einem Gutachten
01:29:44
untersucht werden,
01:29:45
ob die Erinnerung
01:29:46
wirklich ausgelöscht ist
01:29:49
Weil wenn so eine Amnesie
01:29:52
auch wenn die nur partiell ist,
01:29:53
dann kann das halt auch
01:29:54
im Zweifel einen Einfluss
01:29:55
auf die Schuldfähigkeit
01:29:56
zum Beispiel haben.
01:29:57
Also ich kann mir schon vorstellen,
01:29:59
dass das bei einigen
01:30:01
tatsächlich stimmt.
01:30:02
Weil ich glaube nicht,
01:30:04
dass es so unbeeindruckend ist,
01:30:06
für viele Menschen zu töten
01:30:08
und dieses Erlebnis
01:30:10
dann durch so eine Dissoziation
01:30:12
weil man so viel Scham
01:30:14
und so viel Schuld,
01:30:15
wenn sie es denn tun,
01:30:16
dann ist das natürlich was,
01:30:18
was auf beiden Seiten funktioniert.
01:30:20
Also auch wenn du selbst
01:30:23
Ja, auf jeden Fall
01:30:25
Aber wenn ich höre,
01:30:26
25 bis 50 Prozent
01:30:28
wollen das Geld machen,
01:30:29
dann denkt man sich so,
01:30:31
Ja, klar, genau.
01:30:33
wenn jemand sagt,
01:30:34
er oder sie kann sich
01:30:35
an die Tat nicht erinnern
01:30:36
und die Erinnerungen
01:30:37
dann aber wichtig,
01:30:38
um den Fall aufzuklären,
01:30:39
dann fehlen dem Gericht
01:30:40
natürlich wichtige
01:30:41
Beweismittel zur Urteilsfindung.
01:30:43
Und diese Probleme
01:30:44
gibt es dann natürlich auch,
01:30:45
wenn die Betroffenen
01:30:47
dissoziativen Amnesie
01:30:48
oder partiellen Amnesie
01:30:50
in Bezug auf die Tat leiden.
01:30:51
Und damit können wir jetzt
01:30:52
vielleicht auch mal
01:30:52
diesem Reflex entgegenwirken,
01:30:54
dass die Leute sagen,
01:30:57
du wurdest da vergewaltigt
01:30:59
oder fast vergewaltigt.
01:31:01
ein schlimmes Ereignis.
01:31:02
Wie kann es sein,
01:31:03
dass du dich daran
01:31:04
jetzt nicht genau erinnerst?
01:31:06
Das hat man ja auch
01:31:07
schon öfter mal gehört.
01:31:09
einen Prozess haben,
01:31:10
in dem es Aussage
01:31:12
gegen Aussage steht,
01:31:13
das Opfer sich aber
01:31:14
erst Jahre später
01:31:15
und auch nur lückenhaft
01:31:17
und wir keine anderen Beweise
01:31:19
für einen sexuellen Missbrauch
01:31:20
sagen wir mal haben.
01:31:21
Was passiert dann?
01:31:23
Professorin Renate Vollbert,
01:31:25
rechtspsychologische Gutachterin,
01:31:27
hat uns erklärt,
01:31:29
das Gericht erst schauen muss,
01:31:31
auch einen anderen Hintergrund
01:31:33
als ein tatsächliches Erlebnis.
01:31:34
Also beispielsweise
01:31:35
eine absichtliche
01:31:36
Falschbeschuldigung
01:31:39
sich an etwas erinnern zu können,
01:31:41
was aber gar nicht
01:31:42
stattgefunden hat.
01:31:44
kommen wir gleich nochmal.
01:31:47
dass ein Gericht
01:31:48
für eine Verurteilung
01:31:49
einen konkreten Tathergang
01:31:51
zugrunde legen kann.
01:31:52
Und wenn es jetzt
01:31:52
Lücken bei peripheren
01:31:54
Informationen gibt,
01:31:54
also zum Beispiel,
01:31:57
Handlung zuerst geschehen ist
01:31:59
oder wie man genau
01:32:01
auf den Fußboden
01:32:03
oder ob man ein T-Shirt
01:32:04
oder eine Bluse anhatte
01:32:05
oder auch wann genau
01:32:07
ein Missbrauch geschehen ist,
01:32:09
das spielt in der Regel
01:32:10
keine relevante Rolle,
01:32:11
wenn sich die Lücke
01:32:12
aber auf größere
01:32:14
oder auf relevante
01:32:16
inhaltliche Aspekte
01:32:17
also zum Beispiel
01:32:18
einem Vergewaltigungsvorwurf,
01:32:19
wie man in die Wohnung
01:32:20
einer Person gekommen ist
01:32:22
oder ob es vorher
01:32:23
Gespräche über sexuelle
01:32:24
Handlungen gegeben hat,
01:32:25
dann kann sich eine Handlung
01:32:27
ganz anders darstellen,
01:32:30
was in dieser Lücke
01:32:33
keine anderen Beweise
01:32:33
als eine Aussage hat
01:32:35
und diese Aussage
01:32:37
relevanten Lücken
01:32:39
dieser Tatvergangenheit
01:32:42
Und generell können
01:32:44
ZeugInnen-Aussagen
01:32:45
problematisch sein.
01:32:46
Das hat auch damit zu tun,
01:32:48
dass man Erinnerungen
01:32:48
relativ leicht manipulieren kann.
01:32:50
Das hat die US-amerikanische
01:32:52
Gedächtnisforscherin
01:32:53
Elizabeth Loftus
01:32:55
sogar schon in den
01:32:56
70er Jahren gezeigt
01:32:57
und zwar mit einem Experiment,
01:32:59
bei dem sie ihren
01:33:00
ProbandInnen ein Video
01:33:04
verschiedene Fragen
01:33:06
Einmal wollte sie wissen,
01:33:07
wie schnell das Auto war,
01:33:09
als es das andere
01:33:10
und einmal wie schnell es war,
01:33:12
als es in das andere
01:33:13
Also die hat da nur
01:33:15
das Verb in der Frage
01:33:17
wie intensiv das Wort war,
01:33:18
haben die Teilnehmenden
01:33:20
die Geschwindigkeit
01:33:20
anders eingeschätzt.
01:33:21
Also bei Berühren
01:33:24
für sie langsamer,
01:33:26
Als sie dann eine Woche
01:33:27
später nochmal nachgefragt hat,
01:33:30
einschlagenden Auto
01:33:32
sogar angegeben,
01:33:33
dass sie in dem Video
01:33:36
zerbrochenes Glas
01:33:38
das es aber gar nicht gab.
01:33:41
eine Wort in der Frage
01:33:42
schon zu komplett
01:33:43
unterschiedlichen Antworten
01:33:44
geführt und ja sogar dazu,
01:33:46
dass Dinge erinnert wurden,
01:33:47
die gar nicht passiert sind.
01:33:49
Ja und ich sage mal,
01:33:51
da geht es jetzt halt
01:33:51
nur um das Tempo
01:33:53
in einem Straßenverkehr.
01:33:54
Also es war ein Versuch,
01:33:56
Ermittlungsverfahren,
01:33:58
da können solche
01:33:59
ZeugInnen auch sagen,
01:34:01
Konsequenzen haben.
01:34:03
also wenn es jetzt
01:34:04
oder Tötungsdelikte geht
01:34:05
und man ist sich ja
01:34:07
dieser Fehlbarkeit
01:34:08
von solchen Aussagen
01:34:11
müssen sie trotzdem
01:34:12
entscheidende Beweismittel
01:34:13
bei einer Verurteilung
01:34:14
Nun hat allerdings
01:34:16
das Innocence Project
01:34:18
dass falsche Erinnerungen
01:34:19
der häufigste Grund
01:34:21
in den USA sind.
01:34:22
Weil dieses Projekt,
01:34:23
das hat in den USA
01:34:24
300 Urteile untersucht,
01:34:26
wo sich dann halt später
01:34:27
anhand von DNA-Tests
01:34:28
herausgestellt hatte,
01:34:29
dass die Angeklagten
01:34:30
zu Unrecht verurteilt wurden
01:34:32
und mehr als 70 Prozent
01:34:34
landeten im Gefängnis,
01:34:36
weil sich die ZeugInnen
01:34:37
nicht richtig erinnert haben.
01:34:39
Jetzt ist uns aber klar,
01:34:41
trotzdem kann man ja
01:34:42
nicht darauf verzichten
01:34:43
und deshalb muss halt
01:34:44
ein Gericht immer entscheiden,
01:34:46
eine Aussage ist
01:34:47
und wie glaubwürdig
01:34:49
beziehungsweise die ZeugInnen.
01:34:50
Dieses Thema mit der
01:34:51
Glaubwürdigkeit,
01:34:52
das hatten wir auch schon mal
01:34:54
Da hatte ich diesen Fall
01:34:55
von dem vierjährigen Julian
01:34:57
vielleicht erinnert ihr euch,
01:35:00
in Oldenburg ermordet
01:35:04
im Dunkeln getappt,
01:35:05
bis sich irgendwann
01:35:07
des Opfers meldete
01:35:08
und meinte sich zu erinnern,
01:35:09
wie sie als Neunjährige
01:35:10
beobachtet hatte,
01:35:13
und zwar von seiner eigenen Mutter,
01:35:15
also von ihrer Tante
01:35:16
und sie erzählte dann
01:35:18
dass sie Mutter und Sohn
01:35:19
damals auf dem Fahrrad
01:35:22
ein Einkaufszentrum
01:35:23
und dann stellte sich
01:35:24
aber später heraus,
01:35:25
dass es dieses Einkaufszentrum
01:35:27
zu dem Zeitpunkt
01:35:28
noch gar nicht gab
01:35:29
und der Gutachter
01:35:31
der kam dann zu dem Schluss,
01:35:33
das aber nicht absichtlich
01:35:37
ranzukriegen oder so,
01:35:38
also nicht absichtlich lügt,
01:35:39
sondern halt eine
01:35:40
sogenannte Scheinerinnerung hat,
01:35:42
also sie glaubte sich
01:35:42
wirklich daran erinnern zu können
01:35:44
und weil sich dadurch
01:35:46
aber dann halt nicht mehr
01:35:48
was sind jetzt eigentlich
01:35:49
echte und was falsche Erinnerungen,
01:35:51
war ihre komplette Aussage
01:35:53
dann halt nicht mehr glaubhaft
01:35:54
und somit wurde die Tante
01:35:55
dann halt am Ende
01:35:56
auch freigesprochen.
01:35:58
Und solche Scheinerinnerungen,
01:35:59
die können unter anderem
01:36:01
in einer bestimmten Art
01:36:02
und Weise befragt werden,
01:36:03
zum Beispiel durch die Polizei.
01:36:04
Da ist es deswegen
01:36:06
besonders wichtig,
01:36:07
dass man ganz offen
01:36:11
keine falschen Erinnerungen
01:36:14
Und ich sage jetzt hier
01:36:19
vielleicht ein bisschen
01:36:20
problematisch finde,
01:36:21
weil ich ja jetzt
01:36:22
Polizeibeamtinnen
01:36:23
nicht vorwerfen würde,
01:36:24
dass das das Ziel wäre,
01:36:26
weil das würde ja
01:36:27
in eine falsche Richtung gehen.
01:36:28
Aber die Forschung
01:36:30
legt schon nahe,
01:36:31
dass man grundsätzlich
01:36:32
einpflanzen kann,
01:36:33
weil Erinnerungen
01:36:35
sind immer voller Lücken.
01:36:37
Ihr wisst ja jetzt,
01:36:38
wir rekonstruieren,
01:36:39
was früher passiert ist
01:36:41
und spulen das nicht
01:36:45
als Tor fungieren,
01:36:46
durch das man dann
01:36:47
falsche Erinnerungen
01:36:48
einschleusen kann.
01:36:49
Und besonders gut
01:36:51
Vertrauenspersonen,
01:36:52
irgendeine Verbindung hat.
01:36:54
Vertrauensperson
01:36:55
oder eine mit Autorität,
01:36:57
also zum Beispiel
01:36:57
eben PolizistInnen,
01:37:00
oder auch einfach
01:37:01
die eigenen Eltern.
01:37:03
jemandem zum Beispiel
01:37:06
mal verloren gegangen,
01:37:08
Psychologie-Professorin
01:37:10
mit einem Experiment
01:37:12
Und dafür hat sie
01:37:13
52 Versuchspersonen
01:37:15
dreimal befragt.
01:37:17
die Eltern der Teilnehmenden
01:37:19
und mit denen halt
01:37:21
früher gesprochen.
01:37:22
Und dann hat sie sich
01:37:23
irgendwann mit den
01:37:23
ProbandInnen hingesetzt
01:37:25
deine Eltern haben mir
01:37:26
erzählt, dass du damals
01:37:27
auf dem Campingplatz
01:37:28
in Italien verloren
01:37:30
Was weißt du noch
01:37:32
bei denen sie dann
01:37:33
oft nachgefragt hat
01:37:35
und immer wieder
01:37:36
denk doch noch mal
01:37:37
genauer darüber nach.
01:37:39
an was erinnerst du dich
01:37:41
Da waren sich dann
01:37:42
zum Schluss mehr als
01:37:43
die Hälfte der Personen
01:37:44
sicher, als Kind in diesem
01:37:45
Urlaub auch verloren
01:37:46
gegangen zu sein.
01:37:47
Und dass das funktioniert
01:37:48
hat, lässt sich einmal
01:37:50
darauf zurückführen,
01:37:51
dass Aileen Oebers
01:37:52
den ProbandInnen ja als
01:37:53
Wissenschaftlerin
01:37:55
mit einer gewissen
01:37:56
Und dann hat sie ja auch
01:37:58
noch auf die Eltern
01:37:59
als Autoritätspersonen
01:38:01
verwiesen, mit denen man
01:38:02
ja auch eine enge
01:38:03
Und sie hat halt sehr
01:38:04
suggestiv gearbeitet.
01:38:05
Also indem man zum Beispiel
01:38:06
von vornherein gesagt hat,
01:38:07
du bist da im Urlaub
01:38:09
verloren gegangen,
01:38:09
das ist ein Fakt.
01:38:10
Und in dem Zusammenhang
01:38:12
mit diesem Experiment,
01:38:13
da stellt sich natürlich
01:38:14
was kann man Menschen
01:38:16
noch alles einreden,
01:38:17
wenn die sich wirklich
01:38:18
an sowas dann auf einmal
01:38:20
Und eine englische Studie
01:38:21
aus dem Jahr 2015,
01:38:22
die wollte zum Beispiel
01:38:23
herausfinden, ob sich
01:38:24
Menschen auch an eine
01:38:26
Straftat erinnern,
01:38:27
die sie in Wirklichkeit
01:38:28
nie begangen haben.
01:38:29
Und zwar indem man am
01:38:30
Anfang nur gesagt hat,
01:38:31
ihre Eltern haben
01:38:33
erzählt, dass sie in dem
01:38:35
an dem und dem Ort
01:38:36
mal mit der Polizei
01:38:37
Und über suggestive
01:38:39
Befragungstechniken
01:38:42
eine vermeintliche
01:38:43
Erinnerung visualisiert,
01:38:44
hat das dann tatsächlich
01:38:46
bei knapp einem Drittel
01:38:47
der Teilnehmenden
01:38:49
Also die meinten dann,
01:38:51
sich tatsächlich
01:38:52
daran zu erinnern,
01:38:52
wie sie als Kind
01:38:53
mal was geklaut haben
01:38:55
oder einem anderen Kind
01:38:56
die Nase gebrochen haben.
01:38:59
Straftaten oder so,
01:39:00
weil da würde man
01:39:01
mit der Forschung
01:39:02
dann auch ein bisschen
01:39:02
an ethische Grenzen
01:39:04
Aber man hat halt
01:39:06
im Kleinen bewiesen,
01:39:07
dass es möglich ist,
01:39:08
dass man sich an so Sachen
01:39:10
die gar nicht passiert sind.
01:39:11
Es geht aber auch andersrum,
01:39:12
also dass man jemandem
01:39:14
Opfer gewesen zu sein.
01:39:15
Sowas funktioniert
01:39:18
auch durch Therapie.
01:39:19
Der Spiegel hat im März
01:39:21
einen Artikel rausgebracht
01:39:22
und herausgefunden,
01:39:25
in Deutschland gibt,
01:39:26
die die Erinnerungen
01:39:27
ihrer KlientInnen
01:39:28
so manipulieren,
01:39:30
dass die halt glauben,
01:39:32
eines satanischen Kults.
01:39:34
Und eine dieser Betroffenen
01:39:38
wegen ihres Stotterns
01:39:39
in Therapie gegangen
01:39:40
und dann hat man bei ihr
01:39:41
halt eine dissoziative
01:39:43
Identitätsstörung
01:39:45
Also das ist das,
01:39:45
wo man seine Persönlichkeit
01:39:47
in verschiedene Teile
01:39:50
laut ihrer Therapeutin
01:39:52
eines Satan-Kults
01:39:55
halt als sie noch
01:39:57
Da hätten die Täter
01:39:58
und ihr Stiefvater
01:40:01
so programmiert,
01:40:02
dass sie ihr ganzes Leben
01:40:06
Therapiesitzungen
01:40:07
wird Marlin dann halt
01:40:09
vermeintliche Erinnerungen
01:40:10
an Opferzeremonien
01:40:13
wo es dunkle Kutten gab
01:40:16
Und das sollte sie machen,
01:40:17
um sich halt davon zu lösen.
01:40:19
hat dann auch noch gesagt,
01:40:20
dass sie den Kontakt
01:40:21
zu ihrer Familie
01:40:22
und zu ihren FreundInnen
01:40:25
Und das Ding ist halt,
01:40:26
diese Therapeutin,
01:40:27
die hat das Ganze
01:40:29
um sich finanziell
01:40:30
an ihr zu bereichern,
01:40:31
weil Marlin dann ja
01:40:32
immer wieder hingehen muss,
01:40:33
um sich behandeln zu lassen,
01:40:34
sondern weil die halt auch
01:40:36
wirklich davon überzeugt war,
01:40:38
dass es diesen Kult gibt.
01:40:40
keine Beweise dafür.
01:40:43
kennt man ja schon
01:40:48
wie vielen Jahren.
01:40:49
Also da gab es in den
01:40:50
80er, 90er Jahren
01:40:54
Und das hat damals
01:40:56
dass ein Buch rauskam,
01:40:57
in dem eine Frau
01:40:58
zusammen mit ihrem Psychiater
01:41:00
dann auch beschreibt,
01:41:01
wie sie als fünfjährige Opfer
01:41:03
eines Satan-Kults
01:41:07
auf einmal tausende
01:41:08
Menschen gemeldet,
01:41:10
auch Erinnerungen
01:41:12
einen Missbrauch hatten.
01:41:15
schon vor etlichen Jahren,
01:41:16
gab es keine Beweise,
01:41:17
dass es diese Kulte gab.
01:41:20
bin ich auch so ein bisschen
01:41:22
dass das jetzt auf einmal
01:41:23
in Deutschland ein Thema ist.
01:41:26
mich hat das auch
01:41:27
total überrascht,
01:41:28
als ich das gelesen habe.
01:41:34
als sie ihrer Therapeutin
01:41:35
dass sie schwanger ist,
01:41:36
die ihr halt eingeredet hat,
01:41:39
dass das bei einer
01:41:39
rituellen Massenvergewaltigung
01:41:41
passiert sein soll.
01:41:43
Und die Therapeutin,
01:41:44
die erzählt das übrigens
01:41:45
nicht nur Marlin,
01:41:46
sondern halt auch
01:41:48
Und das schaltet
01:41:49
dann das Gericht ein.
01:41:50
Und das entscheidet
01:41:53
dass Marlins Kind
01:41:55
in eine Pflegefamilie muss.
01:41:57
es gibt bis heute
01:41:59
auf die Existenz
01:42:00
dieses Satan-Kults.
01:42:02
Und man fragt sich doch,
01:42:05
von dieser Therapeutin
01:42:06
plötzlich dieses Opfer
01:42:08
gewesen sein sollen,
01:42:09
vor allem auch noch
01:42:09
in der jetzigen Zeit.
01:42:10
Das ist ja nicht nur was,
01:42:12
was in der Vergangenheit
01:42:13
passiert sein soll.
01:42:14
Denn müsste es ja
01:42:15
irgendwelche Beweise geben.
01:42:17
Und mir tut es so leid
01:42:18
für diese Marlin.
01:42:19
Ich finde das auch so irre,
01:42:22
in Deutschland passieren kann.
01:42:24
Dass dieses Gericht,
01:42:25
der jetzt das Kind
01:42:26
weggenommen hat,
01:42:27
auf Grundlage von
01:42:28
einer Therapeutin,
01:42:29
die irgendwas erzählt.
01:42:32
da würde man ja schon hoffen,
01:42:34
dass es ein paar mehr
01:42:35
Indizien geben müsste,
01:42:39
so eine Entscheidung
01:42:41
Marlin hat jetzt
01:42:42
glücklicherweise
01:42:45
von so einem Kult war,
01:42:46
sondern ja am Ende
01:42:48
Opfer ihrer eigenen
01:42:49
Aber allein der Fakt,
01:42:51
dass man mittlerweile weiß,
01:42:52
dass durch bestimmte
01:42:53
in Therapien eben
01:42:55
Scheinerinnerungen
01:42:56
hervorgerufen werden können,
01:42:57
sorgt vor Gericht
01:42:58
natürlich für Probleme,
01:42:59
wie uns unsere Expertin
01:43:02
nochmal erklärt hat.
01:43:03
Also nehmen wir jetzt
01:43:04
von einer Person,
01:43:06
die eine Aussage macht,
01:43:07
dass sie halt eben
01:43:09
vergewaltigt wurde,
01:43:10
Und wir wissen erst mal
01:43:12
ob das stimmt oder nicht.
01:43:13
Also ob dem Ganzen
01:43:14
wirklich ein echtes
01:43:15
Erleben zugrunde liegt
01:43:16
Wenn es aber so ist,
01:43:18
dass diese Person
01:43:19
vorher suggestiv
01:43:20
entweder zum Beispiel
01:43:21
therapiert wurde
01:43:22
oder von Ermittlungsbehörden
01:43:23
suggestiv befragt würde
01:43:25
oder was auch immer,
01:43:26
dann muss man ganz klar sagen,
01:43:28
ein Kollege von mir
01:43:28
hat das immer beschrieben,
01:43:29
als dass es im Grunde
01:43:30
Beweismittelvernichtung,
01:43:32
weil man nicht mehr weiß,
01:43:33
ob diese Aussage
01:43:35
zustande gekommen ist,
01:43:38
therapiert wurde
01:43:44
tatsächlich stimmte.
01:43:50
ist suggestive Befragung,
01:43:51
suggestives Arbeiten
01:43:52
hochproblematisch,
01:43:54
auch in den Fällen,
01:43:55
wo wirklich etwas
01:43:57
dann eigentlich einfach
01:43:58
das nicht mehr sicher
01:44:00
weil vor Gericht
01:44:02
dass man zum Beispiel
01:44:03
jetzt aussagepsychologische
01:44:05
dann halt eben gucken,
01:44:07
ja, was wäre die
01:44:08
Alternativerklärung?
01:44:09
Eine Alternativerklärung
01:44:10
für echtes Erleben
01:44:11
es ist suggeriert worden,
01:44:12
wenn ich dann sehe,
01:44:13
in dieser Vergangenheit
01:44:14
davor wurde ganz viel
01:44:16
suggestiv gearbeitet,
01:44:17
dann kann ich das
01:44:18
nicht mehr ausschließen
01:44:19
und dann wird diese Aussage
01:44:21
glaubhaft bewertet.
01:44:23
mittlerweile eben
01:44:24
dass das ein Problem
01:44:25
wurde in Deutschland
01:44:26
jetzt vor kurzem
01:44:27
eine Expertinnenkommission
01:44:28
gegründet und die soll
01:44:30
sich jetzt vor allem
01:44:31
Scheinerinnerung im
01:44:32
Zusammenhang mit
01:44:33
ritueller Gewalt
01:44:37
Glaubhaftigkeit von
01:44:38
Aussagen beeinflussen
01:44:39
kann und wie man eben
01:44:40
dann vor Gericht damit
01:44:41
umgeht, wenn Zeuginnen
01:44:43
vorher in Therapie waren.
01:44:44
Aber vielleicht einmal
01:44:45
kurz zum Schluss, um das
01:44:47
in Relation zu setzen.
01:44:48
Renate Volbert, die als
01:44:51
Rechtspsychologie an der
01:44:52
Psychologischen Hochschule
01:44:53
Berlin die Glaubhaftigkeit
01:44:55
Strafverfahren beurteilt,
01:44:56
sagt in einem Interview mit
01:44:58
dem Magazin Spektrum der
01:44:59
Wissenschaft, dass
01:45:00
Scheinerinnerungen in der
01:45:02
Regel nicht entstehen, weil
01:45:03
ein Therapeut oder eine
01:45:04
Therapeutin sie bewusst
01:45:06
erzeugen möchte und dass die
01:45:08
auch nicht schnell und vor
01:45:10
allem auch nicht in der
01:45:11
Mehrheit der Therapien
01:45:12
entstehen, sondern dass das
01:45:13
ein Ergebnis von einer
01:45:14
Verkettung von Umständen
01:45:17
Also zum Beispiel eben
01:45:18
suggestiver Befragungstechniken
01:45:20
oder der Art und Weise, wie
01:45:22
die Therapeutin oder der
01:45:23
Therapeut die Aussagen dann
01:45:24
eben interpretiert.
01:45:25
Also ihr braucht keine Sorge
01:45:26
haben, dass jetzt zum Beispiel
01:45:27
nach eurer nächsten
01:45:28
Therapiestunde glaubt, ein
01:45:30
Opfer von einem Satanskult
01:45:31
gewesen zu sein.
01:45:32
Was ich für diese Episode
01:45:34
eigentlich vorhatte, ist dir
01:45:37
eine Erinnerung einzupflanzen
01:45:42
Und zwar hatte ich da schon
01:45:43
unser Redaktionsteam teilweise
01:45:45
eingeweiht und ich wollte das
01:45:47
auch mit deinem Vater machen,
01:45:49
also dass du auch so eine
01:45:50
doppelte Bestätigung hast.
01:45:52
Hä, das hätte auf jeden Fall
01:45:54
Ja, aber es wurde leider
01:45:57
Von dir oder was?
01:45:58
Von mir und aber auch von dem
01:46:01
Team, was ich auch was
01:46:03
überlegen sollte.
01:46:03
Boah, das hätte ich so cool
01:46:06
Und ja, es hätte auf jeden Fall
01:46:08
Aber ja, vielleicht ist auch gut,
01:46:11
dass du es nicht gemacht hast,
01:46:12
weil man weiß ja nicht, weiß ja
01:46:14
nicht, was du dir dann
01:46:15
ausgedacht hättest und vielleicht
01:46:17
wäre das für meine Psyche echt
01:46:18
schlecht gewesen, weil ich es dann
01:46:19
ja auch geglaubt hätte.
01:46:20
Ja, ich hätte auf jeden Fall
01:46:22
was psychisch Belastendes für dich
01:46:25
Aber ich weiß gar nicht, ob das so
01:46:27
funktioniert hätte, weil, weißt du,
01:46:28
ich glaube, du bist recht einfach
01:46:29
zu überzeugen, wenn wir dir
01:46:31
gesagt hätten, na, du hast uns doch
01:46:32
erzählt oder du hast da doch das
01:46:34
und das gemacht.
01:46:36
Aber du sagst dann immer so, naja, ich
01:46:38
soll ja das gemacht haben.
01:46:39
Weißt du, also ich glaube, du
01:46:41
hättest es dann schon irgendwann
01:46:43
Ich glaube aber nicht, dass du dich
01:46:44
ernsthaft daran erinnert hättest.
01:46:46
Ja, wahrscheinlich hätte das ein
01:46:47
bisschen mehr gebraucht, aber wenn
01:46:49
schon von verschiedenen Seiten und
01:46:51
dann noch meinen Papa mit
01:46:52
reingeholt, weil mein Papa, der
01:46:54
würde mich nie anlügen.
01:46:55
Also das würde ich wirklich so
01:46:58
Ja, dann hätte ich auf den eh
01:46:59
nicht zählen können.
01:47:00
Ja, wahrscheinlich.
01:47:01
Oder er hätte das so richtig
01:47:02
schlecht gemacht, dass ich das
01:47:03
direkt gemerkt hätte.
01:47:06
Da hätte ich dann eher Julian,
01:47:08
deinen Bruder, gefragt.
01:47:09
Aber dem glaubst du halt nicht
01:47:12
Das war ein Podcast der Partner
01:47:20
Hosts und Produktion Paulina
01:47:22
Kraser und Laura Wohlers.
01:47:24
Redaktion Magdalena Höcherl und
01:47:26
Schnitt Pauline Korb.