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#122 Memento

Heute müssen wir mal über ein Thema sprechen, weil das ganz offenbar ziemlich viele Menschen
bewegt. Und zwar geht es um die Anschuldigungen, die gegen die Band Rammstein erhoben werden.
Falls einige hier die letzten Tage keine Medien konsumiert haben, hier nochmal die Zusammenfassung.
Also es haben sich einige Frauen gemeldet, die der Band Machtmissbrauch vorwerfen.
Da wird von einem System gesprochen, das diese Band entwickelt haben soll, um vor allem
dem Frontsänger Till Lindemann während oder nach Konzerten der Band Frauen für Sex zuzuführen.
Und nach Recherchen des NDR und der SZ gibt es auch zwei Frauen, die explizit von sexuellen
Übergriffen berichten.
Und wir wollen jetzt hier gar nicht die Anschuldigung an sich bewerten, sondern wir wollen über die
Unschuldsvermutung sprechen, nach der gerade so viele schreien.
Ich habe nämlich am Wochenende ziemlich viel im Internet gelesen und unter fast jedem Artikel
schreien einem in dubio pro reo Kommentare in Versalien an.
Und da müssen wir jetzt einmal klären, wann im Zweifel für den Angeklagten eigentlich
gilt.
Weil eigentlich ist das ja ein rechtlicher Begriff und bezieht sich jetzt erstmal auf ein
Strafverfahren.
Also das heißt, ein Angeklagter oder eine Angeklagte hat so lange als unschuldig zu gelten, bis in
einem Verfahren das Gegenteil bewiesen ist.
Jetzt zieht sich das natürlich nicht nur auf das Verfahren.
Also Medien dürfen jetzt zum Beispiel auch nicht vorverurteilen und sagen, das haben die
gemacht, wenn das nicht bewiesen ist.
Das habe ich in der Berichterstattung, wo diese Kommentare drunter geschrieben wurden, aber auch
gar nicht gesehen.
Also die Medien berichten ja eigentlich nur über den Fall und dass es Anschuldigungen gibt.
Und das ist wichtig, dass die das machen, weil so eine große Öffentlichkeit, die jetzt
gerade erzeugt wird, die kann ja auch dabei helfen, einen Fall aufzuklären.
Und zwar in beide Richtungen.
Also vielleicht melden sich noch mehr Frauen, vielleicht melden sich aber auch andere Leute,
die was pro Rammstein zu berichten wissen oder was, was diese Frauen diskreditiert oder so.
Wichtig ist aber, nur weil ein Gericht bisher nicht schuldig oder unschuldig festgestellt
hat, heißt das erstens nicht, dass nichts passiert ist.
Und zweitens gibt es ganz viele Fälle, in denen es gar nicht erst zum Verfahren kommt.
Ja, weil man sich vielleicht auch einfach nicht traut, eine Anzeige zu stellen.
Und wenn man jetzt sieht, wie auf die Frauen, die sich gemeldet haben hier, verbal eingeschlagen
wird, kann man das ja auch ganz gut nachvollziehen.
Ja, voll.
Oder es kann halt auch sein, dass in einem Verfahren nichts nachgewiesen werden kann, weil
Aussage gegen Aussage steht.
Aber auch das bedeutet nicht immer, dass die Anschuldigungen da nicht stimmen.
Das heißt, ein Gericht bzw. ein Urteil kann nicht die einzig alleinige Instanz in unserem
Zusammenleben sein, die entscheidet, ob was passiert ist oder nicht.
Nee, weil wenn dem so wäre, dann dürfte man ja jetzt zum Beispiel auch nicht sagen, dass
Jack Unterweger, von dem ich in Folge 88 erzählt habe, ein Serienmörder ist.
Weil der hat sich ja suizidiert, bevor das Urteil gegen ihn rechtskräftig wurde.
Also dieses Urteil wegen der neuen Morde, die er begangen hat.
Also müsste man bei ihm immer mutmaßlicher Serienmörder sagen, obwohl man in diesem Fall ja weiß, dass
er es war, weil es in dem Verfahren nachgewiesen wurde.
Ja, und an dem und an vielen anderen Beispielen sieht man halt, das liegt manchmal nicht nur an
Gerichten, sondern auch an uns zu entscheiden, was gibt es für Anschuldigungen und Aussagen und sind die
glaubhaft oder nicht.
Und dann auch sowas wie, was ziehe ich als Arbeitgeber, als Fan oder Gruppierung dann da für Schlüsse draus.
Und ich kann das bei dieser Bandsache wirklich sehr gut nachvollziehen, dass man wütend ist, weil
Musik ja was super Emotionales ist.
Ja.
Vielleicht ist man dann auf die wütend, die die Anschuldigungen erheben.
Vielleicht ist man aber auch auf die Band selbst wütend, weil man Sorge davor hat, dass da wirklich
was dran ist.
Ich weiß das halt noch.
Ich war so emotional aufgewühlt und enttäuscht, als ich erfahren habe, dass Marilyn Manson Missbrauch
vorgeworfen wurde und auch immer noch wird, weil das war halt meine Teenager-Vergangenheit.
in der ich all meinen Schmerz durch das Grölen von Manson-Songs in meinem Kinderzimmer verarbeitet
habe.
Und diese Vergangenheit, die wird jetzt irgendwie in Enttäuschung gedrängt.
Also ich habe jetzt ein ganz anderes Gefühl zu dem Typen, den ich früher mal angehimmelt
habe und das fuckt mich natürlich ab.
Ja, und mir geht es da ähnlich mit Michael Jackson und seinen Songs, bei denen ich jetzt sicherlich
nicht mehr im Club mitgröle wie früher.
Und darüber, finde ich, eben kann man auch total traurig sein oder sauer sein, aber am
wichtigsten sollte ja immer sein, dass die Wahrheit ans Licht kommt.
Und wenn das für jemanden bedeutet, dass sein Held oder seine Heldin dann in einem schlechten
Licht dasteht, dann muss man leider damit umgehen.
Genau.
Und halt vielleicht nicht ganz so emotional reagieren, weil am Ende sind das auch Menschen,
die Verfehlungen im Leben begehen, wenn nicht sogar Straftaten.
Also und die müssen dann halt aufgeklärt werden.
Solange, ja, gilt die Unschuldsvermutung.
Aber die Aufmerksamkeit ist auch wichtig, um halt Licht ins Dunkel zu bringen.
Und damit herzlich willkommen zu Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
In jeder Folge gibt es ein Oberthema, zu dem wir zwei wahre Kriminalfälle nachher erzählen,
über die diskutieren und auch mit Menschen mit Expertise sprechen.
Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
Das machen wir auch.
Selbst wenn wir ab und zu mal ein bisschen ungehemmter kommentieren, das ist für uns so
eine Art Comic Relief, aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
Als ich jetzt letztens im Frankreich Urlaub war, waren wir auch mal für so einen Tagestrip
in Aix-en-Provence.
Und als ich da aus dem Auto ausgestiegen bin, kam es auf einmal aus mir raus, dass ich meinte,
hier riecht es nach Japan.
Und mein Mann hat mich nur so von der Seite ein bisschen komisch angeguckt und wusste nicht,
wovon ich rede, weil es hat jetzt nicht irgendwie besonders gerochen.
Und natürlich hat es nicht nach Japan gerochen, weil Japan...
oder generell Länder ja keinen spezifischen Geruch haben.
Wieso?
Deutschland riecht doch nach Bonawax und Bratwurst, oder nicht?
Was?
Also wenn, dann ja wohl nach Döner und Apfelschorle.
Aber egal, für mich hat es da jetzt ganz klar nach Japan gerochen.
Also irgendwie lag da was in der Luft, was mein Gehirn ins Jahr 1997 nach Tokio katapultiert
hat, also da, wo wir da mal eine Zeit lang gewohnt haben.
Und ich kann dir jetzt gar nicht sagen, was das für ein Geruch war oder auch, wo der
jetzt aus Frankreich überhaupt herkam.
Also ich habe das auch nicht verorten können oder so.
Mich hat das wie so ein Bits getroffen, dass das jetzt Japan ist.
Schade, dass du nicht weißt, woran es liegt, weil ich hatte dasselbe ja mit dem DDR-Geruch.
Ja.
Da hat mich dann ja auch irgendwann mal jemand gefragt, woher weißt du eigentlich, wie die
DDR gerochen hat, weil du bist ja nach der Wende geboren.
Aber meine ganze Familie kommt ja aus der ehemaligen DDR.
Und früher, wenn ich bei meinen Großeltern war oder bei anderen Verwandten und die so
einen Gartenschuppen beispielsweise hatten, dann hat es da immer gleich gerochen.
Und das ist der Geruch, den ich mit der DDR verbinde.
Und ich habe auch so ein großes Nähkästchen, was eigentlich eher wie so ein Nachttisch ist,
von meinen Großeltern geerbt.
Und da drin riecht es genauso.
Und dann hat mir mal irgendwer gesagt, dass das der Geruch von dem Kleber ist, mit dem
früher in der DDR so Hölzer oder irgendetwas in Gebäuden zusammengeklebt wurde.
Und deswegen gibt es diesen Geruch halt noch heute in ganz vielen DDR-Hütten oder Bauten
oder was weiß ich.
Und deswegen verbinde ich damit auch diesen Heimatgeruch, weil das ja immer Oma und Opa
war oder Familie.
Wahrscheinlich ist dieser Kleber hochgiftig und ich stecke da jedes Mal meine Nase rein und
denke, schön.
Wenn Paulina sich also mal wieder richtig wohlig fühlen will, steckt sie ihren Kopf in
das Nähkästchen und atmet tief ein wie andere den Uhu-Kleber.
Ja, oder manche Leute riechen am Tisch, ich rieche am Nähkästchen.
Anyways, was ich so beeindruckend finde daran ist, dass man sofort so eine emotionale Verbindung
zu seiner Vergangenheit da aufbaut bei diesen Gerüchen.
Und das liegt daran, dass Dufterinnerungen älter und emotionaler sind als andere Erinnerungen,
die durch andere Sinne hervorgerufen werden.
Und das liegt daran, dass der Geruchssinn halt anders verschaltet ist im Hirn als die anderen
Sinne, also viel unmittelbarer.
Diese Düfte, die werden also über Nervenbahnen ins Riechhirn geleitet.
Und da sind sie dann direkt bei den Arealen, die halt für das Gedächtnis und für Gefühle
und für Triebe auch eine große Rolle spielen.
Und deswegen merken wir uns diese Erlebnisse in Kombination mit Gerüchen besser.
Und es gibt noch eine andere Theorie, die mit unserer Evolution zu tun hat, weil man damals
quasi aus seinem Gedächtnis her abrufen musste, welche Nahrung giftig ist und welche nicht.
Und das sollte man ja am besten schon erfahren haben, bevor man die gegessen hat.
Ja, und bei den Gerüchen ist das eben besonders stark.
Aber zum Beispiel funktioniert das Ganze auch bei Geräuschen, dass das so Erinnerungskeeper sind.
Und deswegen habe ich bei dem Song Sexy Chick von Aiken und David Guetta auch immer meine
erste Abi-Party im Kopf.
Und ich weiß, also ich habe so ganz bestimmte Bilder, die da vor meinem inneren Auge ablaufen,
wenn ich dieses Lied höre.
Ich leider gerade auch.
Und du hattest bestimmt eine sehr kleine Tasche und ein bauchfreies Top an.
Wahrscheinlich.
Ich habe das, aber das haben wir beide zusammen mit diesem Song Swalalala.
Da müssen wir immer daran denken, dass Laura mal einen Beitrag gedreht hat mit einer Praktikantin.
und da ging es um Modetrends.
Und diese Praktikantin hat also ihren ganzen Po voller Glitzer bekommen.
Und das war sozusagen ein Accessoire.
Und die hat dann immer ihren Hintern so für die Kamera geshakt.
Zu Swalalala.
Und bis heute muss ich daran denken, wie Laura einfach diese arme Praktikantin zweckentfremdet hat,
um diesen Modetrend darzustellen.
Aber das ist wirklich auch so.
Wenn ich das Lied höre, immer diese eine Szene, wo der Po ganz close war und den ganzen Bildschirm eingenommen hat und sich dann so ein bisschen bewegt hat.
Da hatten wir sehr viel Spaß im Schnitt.
Das weiß ich noch.
Eine Sternstunde unserer Karriere.
Deiner vor allem.
Hier nochmal eine Entschuldigung an die Praktikantin.
Die hatte aber auch Spaß dabei.
Also es war jetzt nicht so, dass ich die gezwungen habe.
Nicht, dass das jetzt hier falsch rüberkommt.
Und manchen Menschen sollte man trotzdem auch vor sich selbst schützen.
Aber ja.
Gut.
Also woran wir uns besonders gut erinnern, sind natürlich Sachen, die irgendwie extrem für uns waren.
Also positiv oder negativ.
Auch wenn die schon lange zurückliegen.
Also zum Beispiel sowas wie der erste Kuss.
Bei mir ganz schlimm.
Oh Gott, ja.
Oder ganz toll bei mir.
Der erste Moment, als man mir endlich meine feste Zahnspange rausgenommen hat.
Und ich das erste Mal ohne die in die Schule gegangen bin.
Halleluja.
Das aber auch, wo man es rausbekommen hat, direkt danach, wo man mit seiner Zunge über die oberen Zähne gegangen ist.
Und die sich so ganz schleimig und glatt angefühlt haben.
Das war toll.
Ja, genau.
Das habe ich aber ungefähr eine Woche gemacht.
Und vor allem in der Schule, damit jeder auf meinen Mund guckt.
Was wir uns auch gut merken, sind Dinge, die mit Scham behaftet sind.
Es sei denn, man heißt Laura Wohlers.
Dann verdrängt man die eher aus dem Gedächtnis.
Ja.
Ich muss sagen, da bin ich sehr froh über mein Siebhirn.
Oder vielleicht ist das auch gar nicht das Siebhirn, sondern vielleicht ist das einfach eine Schutzfunktion von meinem Gehirn für meine peinliche Person.
Weil ich so viele peinliche Sachen mache.
Und jetzt bin ich auch noch in der Öffentlichkeit.
Das ist ja dann nochmal Peinlichkeitsstufe höher.
Und dadurch, dass ich das immer verdränge, geht es mir ja viel besser.
Also da bin ich eigentlich echt froh drüber, dass ich das nicht habe.
Also es ist auf jeden Fall deine Superpower und ich beneide dich darum, weil ich bekomme ja auch noch Jahre später so Blitzstöße ins Hirn, während ich einfach irgendwie koche oder durch meine Wohnung laufe und beschimpfe mich dann selber laut als peinliches Schwein, weil ich wieder an irgendeine Sache denken muss.
Und abgesehen von diesen extremen Filtern unsere Gehirne halt einfach wahnsinnig viel, weil wir halt jeden Tag sehr viele Eindrücke aufnehmen, die wir halt gar nicht alle behalten können, müssen oder sollten.
Genau, weil es ist ja nicht so, dass unser Gehirn wie so eine Computerfestplatte funktioniert, die man irgendwie ständig mit neuen Erlebnissen füttern kann und die das dann genauso abspeichern und wir uns für immer gleich daran erinnern können.
Also egal, ob wir jetzt einen Tag später dran denken oder zehn Jahre später.
Es ist ja tatsächlich ganz anders, weil was unser Gedächtnis beim Erinnern macht, ist rekonstruieren und nicht abspielen.
Und dabei passieren natürlich Fehler, weil wir nachträglich nicht nur an das denken, was uns tatsächlich passiert ist, sondern weil da ganz viele unterschiedliche Quellen mit reinfließen.
Also zum Beispiel auch, was andere gesagt haben oder was wir irgendwo zu dem Thema oder zu irgendwas, was dazu irgendwie im Zusammenhang steht, gelesen haben oder gehört haben oder geguckt haben.
Aber teilweise auch, was wir geträumt haben oder was wir uns vielleicht wünschen, wie es gewesen wäre.
Genau, und da spielt das Hirn von Laura Wohlers auch gerne mal mit.
Ja.
Da ist man dann auf einmal nicht mehr selbst die Person, die mit der gemeinsamen Arbeits-Mail-Adresse auf die Phishing-Mail reingefallen ist, sondern das soll dann plötzlich ich gewesen sein.
Mein Gehirn macht sich die Erinnerung so, wie es mir gefällt.
Zu meinem Leidwesen.
Also wir sehen, manchmal erinnern wir uns falsch, manchmal erinnern wir uns an Sachen, die wir gar nicht erlebt haben oder manche Erlebnisse blenden wir eben komplett aus.
Und mein Fall zeigt, welche Auswirkungen ein einziges Ereignis auf das Leben haben kann, selbst wenn man sich nicht daran erinnert.
Einige Namen habe ich geändert.
Und die Trigger-Warnung findet ihr in der Folgenbeschreibung.
Mit Winter Wonderland ist dieses Jahr nix.
Die Scheibenwischer gleiten hin und her, als Annika das Auto an Heiligabend 2016 über die regennasse Landstraße lenkt.
Neben ihr hat es sich ihre Mama Bettina bequem gemacht, denn sie werden lange unterwegs sein.
Von ihrem Zuhause, einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg, sind es bis nach Köln zu Annikas Oma gut sechs Stunden Fahrt.
Die nehmen Mutter und Tochter aber gerne auf sich, damit die drei Generationen gemeinsam Weihnachten feiern können.
Immerhin ist es das erste, seitdem sich Bettina und Annikas Vater Bernd getrennt haben.
Den ersten Teil der Strecke sitzt Annika am Steuer.
Die Blondine, die gerne große Ohrringe trägt, nutzt jede Gelegenheit, um zu üben.
Bald wird sie 18, dann darf sie alleine fahren, nicht mehr nur in Begleitung ihrer Mutter.
Annika setzt den Blinker und steuert den Wagen auf die Autobahn.
Der richtige Zeitpunkt ist gekommen. Jetzt oder nie.
Sie holt tief Luft und sagt, Mama, ich muss dich was fragen.
Und dann stellt Annika die Frage, die ihr seit einiger Zeit auf der Seele brennt,
und schaut danach kurz zum Beifahrersitz und fängt den Blick ihrer Mutter auf.
Dann konzentrieren sich ihre braunen Augen sofort wieder auf die Straße.
Doch der Moment reicht, um zu begreifen, dass sie mit dieser Frage das Tor zu einer Welt aufstößt,
die ihr bisher verborgen war.
Aber sie weiß nicht, dass das, was dahinter liegt, ihr Leben, so wie sie es kennt, zerstören wird.
Dass sie mit dieser einen Frage die Büchse der Pandora geöffnet hat.
Zwölf Jahre zuvor.
Die Blätter an den Bäumen färben sich bunt und durch den kleinen Ort im Nordschwarzwald fegt ein kalter Wind.
Es ist schon seit ein paar Stunden dunkel an diesem Herbsttag.
Für Annika bedeutet das Schlafenszeit.
Die Fünfjährige, die am liebsten Klamotten so bunt wie der Regenbogen trägt und mit ihren semmelblonden schulterlangen Haaren wie ein kleiner Engel aussieht,
kuschelt sich in ihrem Kinderzimmer in die weichen Laken.
Es dauert nicht lange, bis sie tief und fest schläft.
Und dann findet sich Annika plötzlich in einer Toilettenkabine wieder.
Aber sie sitzt nicht auf dem Klo, sondern auf einem Wickeltisch.
Links neben sich nimmt sie eine schwarze Silhouette wahr.
Sie sieht kein Gesicht, ist sich aber sicher, dass da ein Mann steht.
Rechts von ihr ist eine Tür, in die ein kleines Milchglasfenster eingelassen ist.
Annika sieht, wie sich jemand von außen der Scheibe nähert.
Es ist eine Frau mit langen Haaren.
Auf dem einen Arm ein Baby, mit dem anderen klopft sie an die Tür.
Einen Moment lang passiert nichts.
Dann dreht sich die Frau um und geht.
Und Annika wacht auf.
Die Fünfjährige ist verwirrt.
Es dauert einen Moment, bis sie begreift, sie hat geträumt.
Einen merkwürdigen Traum, den sie nicht versteht.
Egal, sie springt aus dem Bett und freut sich auf den neuen Kindergartentag.
Doch je mehr Nächte vergehen, desto häufiger hat Annika diesen Traum.
Soll sie vielleicht ihrer Mama Bettina davon erzählen?
Annika überlegt.
Nein, lieber nicht.
Irgendwie schämt sie sich für das, was sich nachts in ihrem Kopf abspielt.
So, als wäre es etwas Verbotenes.
In den darauffolgenden Wochen und Monaten kehrt der Traum immer wieder zurück.
Mal mehrere Nächte aufeinander, mal nur einmal in der Woche.
Und er verschwindet weder, als Annika in die Grundschule kommt, noch als sie aufs Gymnasium
übertritt und auch dann nicht, als sie in der achten Klasse doch lieber auf die Realschule
wechselt.
Aus dem Kindergartenkind wird ein Schulkind und schließlich eine Jugendliche.
Doch der Traum ist eine Konstante in ihrem Leben.
Allerdings scheint irgendwann auch der treueste Begleiter eigene Wege gehen zu wollen.
Je älter Annika wird, desto seltener träumt sie von der Szene in der Toilette.
Die Abstände werden größer und dann schleicht sich der Traum nach fast zehn Jahren ganz aus
ihren Nächten davon.
Annika bemerkt das, hat aber jetzt mit 14 andere Dinge im Kopf.
Sie muss für die Schule lernen und vor allem mit ihren Freundinnen eine gute Zeit haben.
Doch die nimmt drei Jahre später, im Sommer 2016, ein jähes Ende, als Annikas Eltern verkünden,
dass sie sich trennen wollen.
Annika ist darüber sehr traurig, aber sie ist inzwischen alt genug, um zu verstehen, dass
das Ende einer Beziehung manchmal die beste Lösung ist.
Auch wenn sie sich erstmal wie die Schlimmste überhaupt anfühlt.
Aber sie weiß, dass ihre Eltern nach wie vor beide für sie da sind.
Sie wohnen nur nicht mehr alle unter einem Dach.
Während Vater Bernd zurückbleibt, mietet Bettina für sich und Annika ein paar Orte weiter
eine Wohnung.
Annikas 18-jährige Schwester Elisabeth zieht bei ihrem Freund ein.
Für Annika ist die neue Situation ungewohnt.
Ein offenes Ohr oder Ablenkung, je nachdem, was sie gerade braucht, findet sie in dieser
Zeit bei ihren besten Freundinnen.
Vier Schwestern, die Annika seit Kindertagen kennt, weil ihre Mama mit der Mutter der Mädchen
befreundet ist.
Mit ihnen geht Annika Anfang Dezember 2016, ein halbes Jahr nach der Trennung
ihrer Eltern auf eine Hausparty.
Die Bude ist voll, der Bass dröhnt.
Annika und ihre Freundinnen lachen, tanzen und trinken.
Als Annika irgendwann auf die Toilette muss, begleitet einer der Schwestern sie, Kerstin.
Sie plaudern ausgelassen, doch als sich Annika die Hände wäscht, verstummt Kerstin plötzlich.
Nur das Plätschern des Wassers und die Musik außerhalb des Badezimmers sind zu hören.
Dann sagt sie mit ernster Stimme, Anni, ich finde es total krass, wie du das alles verarbeitest.
Annika ist gerührt, dass Kerstin trotz Partystimmung an ihre familiäre Situation denkt.
Danke, sagt sie und nimmt die Freundin fest in den Arm.
Sie schauen sich einen Moment in die Augen.
Dann öffnet Annika die Tür und gemeinsam stürzen sie sich wieder ins Getümmel.
Als Annika am nächsten Morgen aufwacht, dröhnt ihr Schädel.
Der Grund dafür ist aber keine wummernde Musik mehr und auch kein Kater.
Vielmehr ist es ein Satz, der durch ihren Kopf heilt.
Anni, ich finde es total krass, wie du das alles verarbeitest.
Der Satz, den Kerstin gestern zu ihr gesagt hat.
Ihn hört Annika immer und immer wieder.
Allmählich formt er sich zu einem Gedanken, der ihren ganzen Kopf ausfüllt.
Hat Kerstin vielleicht gar nicht die Trennung ihrer Eltern gemeint, sondern etwas ganz anderes?
Annika überlegt fieberhaft.
Und langsam taucht eine Erinnerung auf, die lange irgendwo in ihrem Gedächtnis verschwunden war.
Als Annika sie greifen kann, ist sie irritiert.
Sie denkt an den Traum ihrer Kindheit.
Der, in dem sie als kleines Mädchen in einer Toilettenkabine sitzt.
Was hat das zu bedeuten?
Plötzlich trifft es sie wie ein Blitz.
Gibt es etwa eine Verbindung zwischen Kerstins Satz und dem Traum?
In den folgenden Tagen kommt Annika aus dem Grübeln nicht heraus.
Sie muss sich ihrer Mutter anvertrauen, auch wenn ihr das unangenehm ist.
Drei Wochen nach der Party bietet sich die Gelegenheit.
Ein Heiligabend macht sich Annika mit ihrer Mama auf den Weg nach Köln zu ihrer Oma.
Genug Zeit, um die Frage zu stellen, die sie seit Wochen umtreibt.
Als Annika von der Landstraße auf die Autobahn fährt, holt sie Tiefluft und sagt, Mama, ich
muss dich was fragen.
Sie wiederholt, was Kerstin auf der Party zu ihr gesagt hat und erzählt von dem Traum,
der sie jahrelang begleitete und dem Gefühl, dass beides irgendwie zusammenhängt.
Und dann stellt sie die Frage, die Furcht und Hoffnung gleichermaßen bedeutet.
Stimmt das, Mama?
Hängt das irgendwie zusammen oder bin ich verrückt?
Annika wagt einen Blick zum Beifahrersitz.
Bettina hat ihre Brille abgenommen.
Tränen laufen über ihre Wangen.
Ein Sekundenbruchteil reicht Annika.
Diesen Blick ihrer Mutter hat sie noch nie gesehen.
Erzeugt von Schmerz und Trauer.
Und während sich Annikas Augen wieder auf die Straße konzentrieren, hört sie zu, wie
ihre Mutter in die Vergangenheit zurückkehrt.
Zu dem Tag, an den Annika offenbar keine Erinnerung hat und den Bettina am liebsten auch vergessen
würde.
Juni 2003
Auf dem Campingplatz im Südschwarzwald herrscht an diesem sommerlichen Pfingstwochenende
reges Treiben.
Aus der Schweiz und aus Deutschland reisen viele Menschen an.
So wie Annikas Familie.
Vater Bernd liebt Camping.
Wenn seine Schicht als Busfahrer zu Ende ist, verbringt er seine Freizeit am liebsten mit
Heimwerken und hat so schon einige Wohnwagen wieder auf Vordermann gebracht.
Einer davon steht nun hier auf dem Dauercampingplatz, den er vor einem Jahr angemietet hat.
Seine Frau Bettina teilt Bernds Leidenschaft.
Vor allem seit sie nach den vielen Jahren, in denen sie sich nur um ihre beiden Töchter
gekümmert hat, wieder als Chemielaborantin arbeitet, schätzt sie die erholsame Zeit zwischen
Weinbergen und Obstgärten umso mehr.
Gemeinsam verbringt die Familie hier viele Wochenenden und Ferien, so wie jetzt an Pfingsten.
Kurz nach ihrer Ankunft saust die vierjährige Annika mit ihrer Schwester Elisabeth los zum
Spielplatz.
Den findet der kleine Blondschopf besonders toll, weil es immer etwas Neues zu entdecken
gibt und weil dort auch andere Spielgefährdinnen warten.
An diesem Tag ist unter anderem Chris da, ein Junge aus der Schweiz.
Annika und Elisabeth kennen ihn, auch seine Eltern haben einen Dauercampingplatz.
Chris gesellt sich zu den Mädchen, hilft Anschubsen auf der Schaukel und spielt die Spiele mit,
die sie sich ausdenken.
Als Bettina und Bernd um die Ecke biegen, grüßen sie den 16-Jährigen.
Unter DauercamperInnen kennt man sich.
Dann erklären sie ihren Töchtern, dass sie eine Runde Tischtennis spielen gehen.
Annika und Elisabeth möchten lieber hier bleiben.
Okay, wenn was ist, wissen sie ja, dass die Tischtennisplatten nicht weit entfernt sind.
Nachdem sich die Eltern verabschiedet haben, bemerkt Annika ein neues Spielgerät.
Einen Planwagen, in dem Tische und Bänke stehen.
Da drinnen können sie jetzt spielen.
Die drei klettern in den Wagen, der einer Kutsche ähnelt und dessen Inneres von außen durch
die Plane nicht einsehbar ist.
Nach einer Weile will Annika wieder raus.
Sie muss mal.
Nicht nur klein, sondern auch groß.
Chris sagt, dass sie das doch auch einfach hier im Wagen machen könne.
Annika ist irritiert.
Wenn man muss, geht man doch auf die Toilette.
Chris beteuert jedoch, das gehe hier genauso.
Naja, Chris ist ja schon fast erwachsen.
Wer muss es wissen?
Vor den Augen ihrer Schwester und Chris hockt sie sich hin.
Sie uriniert und kotet in den Planwagen und macht sich mit Pflanzenblättern sauber.
Dann findet Chris aber doch, dass sie auf die richtige Toilette gehen sollte.
Die drei klettern aus dem Wagen.
Elisabeth läuft in Richtung der Tischtennisplatten davon.
Sie will ihrer Mama erzählen, was Annika gerade gemacht hat.
Und die fühlt sich auf einmal komisch.
Chris wirkt jetzt gar nicht mehr so nett.
Sie will nicht länger bei ihm bleiben, aber er packt sie und zerrt sie zum Toilettengebäude.
Sie versucht, ihren Arm aus seinem Griff zu lösen, hat aber keine Chance.
Chris schiebt sie vor sich in eine Kabine, die nicht nur mit einem Klo, sondern auch mit einem Wickeltisch ausgestattet ist.
Dann schließt er die Tür ab.
Annika sitzt in der Falle.
Mit Chris.
Sie muss zusehen, wie er ins WC uriniert.
Danach stellt er sich mit entblößtem Unterleib vor die Vierjährige und fordert sie auf, seinen Penis anzufassen.
Und ihn in den Mund zu nehmen.
Annika weigert sich.
Sie ekelt sich.
Da droht Chris, wenn du das nicht machst, bringe ich dich um.
Und er sagt, dass er schon mal ein Mädchen getötet habe.
Annika bekommt es mit der Angst zu tun.
Sie kann diesem Jungen nichts entgegensetzen.
Er ist viel größer und stärker als sie.
Also tut sie schließlich, wozu er sie zwingt.
Bevor er seine Hose wieder hochzieht, setzt er Annika auf den Wickeltisch.
Annika will einfach nur raus.
Sie fixiert das Milchglasfenster, das in den oberen Teil der Tür eingelassen ist.
Auf einmal zeichnen sich dahinter Schemen ab.
Annika erkennt eine Frau mit langen Haaren, die ein Baby trägt.
Mit dem freien Arm klopft sie an die Tür.
Annika meint, dass ihr Herz stehen bleibt, als Chris sie packt.
Kein Mucks jetzt.
Sie starrt gebannt auf das Milchglasfenster und sieht, wie die Frau langsam wieder verschwindet.
Einige Augenblicke vergehen, bevor Chris die Tür aufschließt.
Annika hört seine Stimme in ihrem Ohr.
Wenn du das deinen Eltern erzählst, hau ich dir eine runter.
Und deine Familie bringe ich um.
Boah.
13 Jahre später sitzt Annika mit Bettina im Auto auf dem Weg zu ihrer Oma.
Ihrer Mama laufen Tränen übers Gesicht.
Sie selbst spürt keine Emotionen.
Sie fühlt sich eher wie in Watte gepackt und begreift nicht wirklich, was sie da gerade gehört hat.
Sie ist weder schockiert noch überrascht.
Sie hat eher das Gefühl, diese Geschichte zu kennen.
Aber sie ist irgendwo in der hintersten Schublade ihres Gedächtnisses verwahrt.
Und um daran zu kommen, fehlt ihr offenbar der Schlüssel.
Als Annika nach den Weihnachtstagen wieder zu Hause ist, versucht sie noch immer zu verstehen, was die Worte ihrer Mutter bedeuten.
Ich wurde sexuell missbraucht.
Um das zu begreifen, schreibt sie den Satz hunderte Male in ihr Tagebuch.
Aber sie empfindet nichts dabei und spielt den Vorfall herunter.
Das sei ja gar kein richtiger Missbrauch.
Ihr wurde ja keine körperliche Gewalt angetan, redet sie sich ein.
Außerdem kann sie sich gar nicht richtig erinnern.
Und wenn sie keine Erinnerung hat, wie real war es dann?
Weil sie keinen Zugang findet, verdrängt Annika, was ihre Mutter ihr erzählt hat.
Der Alltag nimmt wieder Überhand.
Nach der Berufsschule geht Annika für eine dreijährige Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin nach Tübingen.
In die Heimat fährt sie dennoch regelmäßig.
Bei einem der Besuche verliebt sie sich in Niklas, den sie schon lange kennt,
der bisher aber nicht mehr als ein guter Bekannter war.
Sie werden ein Paar.
Allerdings wohnt Niklas inzwischen in Freiburg, wo er soziale Arbeit studiert, daher kann Annika ihn nur am Wochenende sehen.
Trotzdem ist sie dafür mehr als dankbar, denn im letzten Ausbildungsjahr beginnt ihr die Arbeit über den Kopf zu wachsen.
Annika macht etliche Überstunden und auch wenn sie frei hat, kreisen ihre Gedanken dauernd um die Arbeit.
Dabei will sie vor Erschöpfung einfach nur noch schlafen.
Mit Mühe und Not quillt sie sich durch die letzten Prüfungen und schafft ihren Abschluss.
Jetzt, mit 22, kann sie Tübingen den Rücken kehren.
Annika wünscht sich einen Neuanfang.
In Freiburg, bei Niklas.
Sie ist überzeugt, in einer neuen Stadt mit einer neuen Arbeit wird alles wieder gut.
Allerdings muss Annika nach dem Umzug im August 2021 feststellen, dass man vor Problemen nicht fliehen kann, wenn sie nicht an einem Ort liegen, sondern in einem selbst.
Sie fühlt sich immer noch gestresst, unruhig und erschöpft.
Daher beschließt sie, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Als sie wenige Wochen später das erste Mal auf der weißen Couch der Therapeutin sitzt, schweift ihr Blick durch den Raum über sonnengelbe Wände und ein gewaltiges Bücherregal.
An einem Buch bleiben Annikas braune Augen hängen.
Der Rücken ist in unscheinbarem B-isch, darauf ist in schwarz der Titel gedruckt.
Er besteht aus nur zwei Wörtern.
Trotz allem.
Von diesem Buch fühlt sich Annika wie magisch angezogen.
Die ganze Sitzung über denkt Annika über das Buch nach.
Was verbirgt sich dahinter?
Zu Hause sucht sie online danach.
Der vollständige Titel lautet
Trotz allem.
Wege zur Selbstheilung für sexuell missbrauchte Frauen.
Sie bestellt sich das Buch und als sie es ein paar Tage später in den Händen hält, wird ihr nach den ersten Seiten klar,
dass nicht die Arbeit oder der Wohnort der Grund für ihren Stress sind,
sondern dass sie seit dem Gespräch mit ihrer Mutter im Auto vor fünf Jahren unbewusst einen Schlüssel sucht.
Ein Schlüssel, der die Schublade zum Pfingstwochenende 2003 öffnet.
Nun hat sie ihn gefunden.
Sie verschlingt die 360 Seiten, auf denen mehrere Frauen schildern,
wie sie als Kinder sexuell missbraucht wurden und jahrelang keinen Zugang zu ihren Erinnerungen hatten.
Bis sie durch ein Erlebnis oder einen Traum in ihr Bewusstsein gelangten.
Annika versteht, sie ist nicht allein mit ihrem Schicksal.
Das Buch zeigt ihr, dass noch immer sie die Autorin ihres Lebens ist.
Des Lebens, das sie nun endlich selbst in die Hand nehmen will.
Sie ruft ihre Mutter an und sagt,
Mama, du musst mir alles erzählen, was damals geschehen ist.
Ich muss die ganze Geschichte kennen.
Von der anderen Seite hört sie einen lauten Seufzer.
Dann nimmt ihre Mutter sie ein zweites Mal mit in die Vergangenheit.
Pfingsten 2003 findet das Tischtennismatch ein jähes Ende.
Bettina ist außer sich.
Das darf doch nicht wahr sein, was Elisabeth erzählt.
Hat Annika aus Faulheit einfach in den Planwagen gemacht?
Elisabeth entgegnet, Chris habe das befohlen.
Bettina schnappt sich ihre große Tochter, um die Kleine zur Rede zu stellen.
Aber Annika ist nicht mehr auf dem Spielplatz.
Mit ihrem Mann Bernd beginnt Bettina, den Zeltplatz abzusuchen.
Wo ist ihre Vierjährige?
Bei den Toiletten trifft Bernd auf Chris.
Der sagt, dass er Annika zuletzt auf ihrem Fahrrad gesehen habe.
Wohin sie fuhr, wisse er nicht.
Bettina beginnt sich Sorgen zu machen.
Was ist passiert?
Da biegt Annika auf ihrem Rad um die Ecke.
Erleichtert schließt Bettina sie in die Arme.
Doch dann wird sie streng.
Wo warst du denn so lange?
Annika kann darauf nichts sagen.
Auch da nicht, als Bettina wissen will, wie sie dazu kommt,
ihr Geschäft in einem Wagen zu verrichten.
Sie nimmt Annika bei der Hand.
Das machen wir jetzt sauber.
Damit hat sich der Vorfall für Bettina aber nicht erledigt.
Sie konfrontiert Chris mit dem, was Elisabeth ihr erzählt hat.
Doch der sagt, dass er zu dieser Zeit gar nicht in dem Wagen gewesen sei.
Bettina ist nicht überzeugt.
Von ihren Töchtern erfährt sie aber auch nicht mehr.
Zwei Monate nach den Pfingstferien verbringen Annika und ihre Familie
auch die Sommerferien wieder auf dem Campingplatz.
Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft
erfahren sie, dass Chris einen Platzverweis bekommen hat,
weil ihn zwei Familien bei der Polizei angezeigt hatten.
Wegen sexuellen Missbrauchs an ihren Kindern.
Als Bettina das hört,
denkt sie sofort an den Vorfall an Pfingsten.
Annika hat darüber kein Wort mehr verloren,
aber Bettina will darüber jetzt mit ihr sprechen.
Sie hat ein ungutes Gefühl,
als sie Annika mit den Worten
»Wir müssen mal miteinander reden« auf ihren Schoß setzt.
Sie weiß, dass sie behutsam vorgehen muss.
Sagt sie etwas Falsches,
könnte ihre vierjährige Tochter das nachplappern,
auch wenn es vielleicht gar nicht stimmt.
Sachte fragt sie, ob Chris sie angefasst, ausgezogen oder geküsst habe.
Annika verneint vehement.
Als Bettina wissen will, ob er seine Hose ausgezogen habe
und ob sie seinen Penis habe anfassen müssen,
sagt sie »Ja« und erzählt,
dass sie seinen Penis in den Mund genommen habe.
»Ach, das ist aber auch so furchtbar,
wenn du als Elternteil schon diese schlimme Vermutung hast
und dann sitzt da dein kleines Kind vor dir
und bestätigt das dann auch noch.«
»Ja«, Bettina ist entsetzt.
Ihr Herz rutscht ihr in die Hose.
Trotzdem bemüht sie sich, weiter ruhig mit Annika zu sprechen.
Um ganz sicher zu gehen, fragt sie ihre Tochter noch,
wie Chris' Penis aussah.
Und spätestens als Annika mit den Händen
einen Abstand von 10 bis 15 Zentimeter anzeigt,
hat Bettina traurige Gewissheit.
Ihr ist klar, das kann sich Annika nicht ausdenken.
Auch sie wurde offenbar von dem 16-Jährigen missbraucht.
Annika erzählt zudem,
dass sie nicht habe weglaufen können,
weil Chris sie in der Babytoilette,
so nennt sie das, eingesperrt habe.
Und dass er ihr, wenn sie jemanden davon erzähle,
eine runterhaue.
Für die Familie ist der Campingurlaub beendet.
Sie fahren zur Polizei.
Auf dem Schoß ihres Papas sitzt Annika jetzt vor einer Polizistin.
Aber gegenüber der fremden Frau
traut sie sich nicht, das zu wiederholen,
was sie Bettina erzählt hat.
Daher gibt die wieder, was ihre Tochter berichtet hat.
Die Polizei beginnt zu ermitteln.
Da der Verdächtige aber kein deutscher Staatsbürger ist,
übergibt sie den Fall bald an die KollegInnen in der Schweiz.
Dorthin fährt die Familie im Dezember 2004,
knapp eineinhalb Jahre nach der Anzeige.
Annika, inzwischen fast sechs Jahre alt,
soll diesmal selbst aussagen.
Zwei Videokameras dokumentieren,
als sie der Polizistin das erzählt,
was sie bislang nur ihrer Mutter anvertraut hat.
Es ist das letzte Mal,
dass Annika mit Erwachsenen über Pfingsten 2003 redet.
Bettina möchte zwar, dass sie mit einer Person spricht,
die ihr helfen kann, das Erlebte zu verarbeiten,
doch weder in einer Spiel- noch in einer Maltherapie
verliert Annika auch nur ein Wort darüber.
Schließlich gibt Bettina auf.
Annika will offenbar verdrängen.
So hofft Bettina, dass ihre Tochter das Geschehene einfach vergisst.
Sie war damals noch so klein.
Vielleicht verblassen die Erinnerungen schnell und hinterlassen keine Spuren.
Und anscheinend geschieht genau das.
Nur einmal kommt Bettina etwas zu Ohren.
Eine Freundin von ihr, die selbst vier Töchter hat,
berichtet, dass Annika als Grundschulkind
ihren Mädchen von dem Vorfall in der Toilette erzählte
und wissen wollte, ob mit ihnen ein Mann
so etwas auch mal gemacht habe.
Als die erwachsene Annika das von ihrer Mama
im Herbst 2021 am Telefon hört,
versteht sie sofort.
Bettinas Freundin ist die Mutter von Kerstin.
Jetzt ist klar,
was sich die heute 22-Jährige schon vor fünf Jahren dachte.
Damals im Bad auf der Party
spielte Kerstin nicht auf die Trennung ihrer Eltern an,
sondern auf das, was Annika als Kind widerfahren ist.
Annika atmet schwer.
Ihre Freundin hat es gewusst.
Kerstin wusste mehr über ihre Vergangenheit als sie selbst.
Dabei müsste sie selbst doch diejenige sein,
die die Hoheit über ihre Erlebnisse und Erinnerungen hat.
Deshalb setzt Annika jetzt alles daran, die zu bekommen.
Bettina erzählt ihr,
dass sie damals alle Unterlagen
in einem grauen DIN A4-Ordner abgeheftet hat.
Als Annika den wenig später in ihren Händen hält,
fühlt er sich an wie der heilige Gral.
Mit ihrem Freund Niklas setzt sie sich aufs Sofa
und blättert die Seiten mit zittrigen Fingern durch.
Die Aussage ihrer Mutter, ihre eigene.
Immer wieder taucht ihr Name auf,
neben dem von Chris.
Dazu Worte wie Polizei, Staatsanwalt und Jugendgericht.
Nach und nach begreift sie,
was sie all die Jahre nicht verstanden hat.
Das, was hier dokumentiert ist,
das, was ihr als Vierjährige widerfahren ist,
ist ein Verbrechen.
Auf einmal strömen Tränen über ihre Wangen.
Sie schluchzt immer heftiger.
Doch so schrecklich es klingt,
so erleichtern fühlt es sich an.
Ich bin nicht verrückt,
wiederholt Annika immer wieder.
Auf ihren Knien liegt der Beweis.
Das Zeugnis ihrer Vergangenheit,
das sie jetzt akribisch durcharbeitet.
Was geschah nach ihrer Aussage bei der Polizei?
Die Antwort gibt es schwarz auf weiß.
2006 wird Chris, der inzwischen 19 ist und eine Lehre zum LKW-Fahrer abgeschlossen hat,
der Prozess gemacht.
Wegen sexueller Nötigung und sexueller Handlung mit einem Kind in mehreren Fällen.
Der mutmaßlich wurde nicht nur Annika Chris Opfer.
Von Juni 2001 bis September 2003 soll er sich auf dem Campingplatz an insgesamt sechs Kindern vergangen haben.
Vier Jungen und zwei Mädchen.
Annika war mit vier Jahren das Jüngste.
Sie und ihre Familie reisen für die Verhandlung nicht in die Schweiz,
sondern lassen sich von ihrer Anwältin vertreten.
So müssen Bettina und Bernd nicht miterleben, wie Chris die Vorwürfe abstreitet.
Weil es kein Geständnis und auch keine Beweise wie DNA oder Faserspuren gibt,
ist es Aufgabe der drei RichterInnen zu prüfen,
wie glaubwürdig die Aussagen von Annika und den anderen Kindern sind.
Dafür spielen die Videos, die von den Befragungen der Kinder gemacht wurden, eine wichtige Rolle.
Mit anzusehen, wie die kleinen Mädchen und Jungen im Vernehmungsraum der Polizei von ihrem Missbrauch erzählen,
ist selbst für die erfahrenen Justizmitarbeitenden schwer zu ertragen.
Nach Sichtung der Videos kommen die RichterInnen zu dem Schluss,
dass die Erzählungen nicht erfunden sind.
Dass die Kinder etwa unter großer emotionaler Belastung viele Details wiedergeben konnten,
sei ein deutliches Zeichen für real erlebtes Geschehen.
Auch die sprunghafte Erzählweise spreche klar gegen erfundene, eingeübte Geschichten.
Das Fazit, die Aussagen sind glaubhaft.
Chris hat an Annika und den anderen wissentlich unrechtmäßige sexuelle Handlungen vorgenommen.
Den Vorwurf der Nötigung sehen die RichterInnen jedoch nur bei Annika gegeben,
dadurch, dass Chris sie auf der Toilette eingesperrt und ihr Gewalt angedroht hat.
Chris sei egoistisch und skrupellos vorgegangen, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen
und seine Macht auszuleben, heißt es.
Dazu habe er auf dem Zeltplatz praktisch, Zitat,
Jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um seinen Trieben nachzugehen und sich an seinen Opfern zu vergehen.
Auch dass er sich vor Gericht nicht zu seinen Taten bekennt und gegenüber den Opfern keinerlei Empathie zeigt,
wird ihm zur Last gelegt.
Allerdings wirkt sich die Tatsache, dass er in geordneten persönlichen und beruflichen Verhältnissen lebt
und bisher nie straffällig wurde, zu seinen Gunsten aus.
Am 13. September 2006 fällt das Urteil.
Chris hat sich des Versuchs und der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern
sowie im Fall von Annika der sexuellen Nötigung schuldig gemacht.
Verurteilt wird er zu sechs Monaten Haft,
aber nur, wenn er sich in den nächsten drei Jahren noch einmal etwas zu Schulden kommen lässt.
Heißt, er verlässt den Gerichtssaal als freier Mann.
Für Annikas Eltern ist die Strafe ein Witz.
Als Annika 15 Jahre später das Urteil liest, hat das Strafmaß für sie keine Bedeutung.
Es ist nur ein Detail.
Mit ihrer Therapeutin arbeitet Annika den ganzen Ordner in den nächsten Wochen durch.
Sie hat das Gefühl, sich selbst noch einmal ganz neu, Stück für Stück zusammensetzen zu müssen.
Dabei kommt ihr auch der Traum wieder in den Sinn,
der jahrelang ihre einzige Erinnerung an den Missbrauch war.
Auf einmal ist sie sich sicher.
All die Jahre wollte ihr Unterbewusstsein ihr so zeigen,
dass da etwas ist, das sie aufarbeiten muss.
Aber erst, wenn sie bereit ist.
Dass Kerstin dann auf der Party diesen Satz gesagt hat,
sieht Annika im Nachhinein als Zeichen, dass sie ab da so weit war,
sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
In der Therapie schafft sie es mit der Zeit,
den Traum, der für sie immer mit Scham behaftet war,
in einen Traum der Hoffnung umzudeuten.
Das liegt vor allem an der Frau vor der Milchglas-Scheibe.
Sie hätte damals Annikas Rettung sein können,
wenn Chrissy nicht gezwungen hätte, den Mund zu halten.
Aber allein die Tatsache, dass Annika als Mädchen
diese Frau vor der Tür erkannt hat,
zeigt ihr jetzt, dass sie schon als Kind
in schwierigen Situationen einen Hoffnungsschimmer sehen konnte.
Nach fast eineinhalb Jahren Therapie
fühlt sich Annika wie neu geboren.
Anders als früher verdrängt sie ihre Geschichte heute nicht mehr,
sondern nimmt sie an.
Das, was sie erlebt hat, hat sie zu der Frau gemacht,
die sie heute ist.
Aber es bestimmt nicht mehr ihr Leben,
auch nicht unterbewusst.
Und mit dem Wissen um ihre ganze Vergangenheit
fühlt sie sich endlich komplett.
Durch die Therapie ist es ihr nach all den Jahren
aber auch gelungen,
die Büchse der Pandora wieder zu schließen
und weit hinten in ihrem Gedächtnis zu verstauen.
Mit dem Unterschied,
dass sie jetzt bewusst entscheiden kann,
ob sie diese Erinnerung hervorholt oder nicht.
Ja, also wahnsinniger Fall.
Ich erinnere mich daran,
als Annika uns damals diese E-Mail geschrieben hat,
weil sie sich an uns gewandt hatte,
damit wir mal über ihren Fall reden.
Aber das ist jetzt auch schon wieder so lange her,
dass ich mich überhaupt nicht mehr
an irgendwelche Einzelheiten erinnern konnte.
Ich weiß noch,
wie ich damals vor dieser E-Mail saß und gedacht habe,
das ist ja unglaublich,
was das Gedächtnis macht.
Ja.
Dass das eigene Gedächtnis in der Lage ist,
einen vor solchen Erinnerungen zu schützen.
Was ich mich jetzt die ganze Zeit gefragt habe,
ist,
wie hätte die Mutter am besten damit umgehen sollen?
Also,
welche Rolle hat sie in diesem Verdrängungsprozess,
darüber,
dass das offenbar ja jahrelang kein Thema mehr war?
Und war das nicht vielleicht auch tatsächlich eine gute Option,
nichts zu sagen,
wenn Annika das selbst alles schon so verdrängt hat?
Ja.
Ich meine,
sie hat ja das auch am Anfang versucht,
dass man mit ihr darüber redet,
mit diesen Therapien.
Und klar ist es für alle wahrscheinlich auch einfacher,
sich dann nicht mehr damit zu beschäftigen.
Und für sie hat sich das ja auch die ganzen Jahre so angefühlt,
als wäre alles gut.
Und Annika hatte eine sorglose Kindheit.
Und dann stelle ich mir das aber auch so furchtbar vor,
wenn du dann merkst,
oh Gott,
deinem Kind geht es schlecht,
hat es vielleicht mit der Vergangenheit zu tun?
Ist es jetzt deine Aufgabe,
ihr das zu erzählen?
Oder machst du damit nur alles schlimmer?
Also,
wenn jemand so einen sexuellen Missbrauch erfährt,
dann zeigt dieser Fall ja eigentlich auch wieder ganz gut,
wie viele andere Menschen da noch mit dranhängen
und sozusagen mit betroffen sind in irgendeiner Art und Weise.
Ja,
und was ich auch ganz interessant finde,
ist zu sehen,
dass sich die Wahrheit am Ende dann doch immer irgendwie ihren Weg bahnt.
Ja.
Und mag sie noch so tief im Unterbewusstsein schlummern,
dann kommt sie eben halt in der Nacht und reißt einen aus dem Schlaf.
Genau,
Annikas Traum war jetzt diese Verbindung zu dem,
was sie als Kind erlebt hat.
Und was das Träumen generell mit Erinnerungen zu tun hat,
darum geht es jetzt in meinem Aha.
Weil auch,
wenn wir uns nicht immer dran erinnern können,
mein Mann behauptet zum Beispiel,
er würde sich nie dran erinnern können,
träumen wir tatsächlich jede Nacht.
Ob wir uns nach dem Wachwerden dann an die Träume erinnern können,
hat normalerweise was damit zu tun,
wann wir wach werden,
also in welcher Schlafphase.
In der sogenannten REM-Phase zum Beispiel träumen wir viel,
da ist das Gehirn sehr aktiv
und deshalb wachen wir da auch leichter auf
und wissen dann oft,
was wir geträumt haben.
Wenn wir aber zum Beispiel in einer Tiefschlafphase,
in der auch das Gehirn ruhiger ist,
wach werden,
dann können wir uns seltener erinnern.
Warum wir überhaupt träumen,
ist in der Wissenschaft noch nicht final geklärt,
was aber auf jeden Fall sicher ist,
dass wir mehr träumen in Zeiten,
die uns belasten.
Also zum Beispiel,
wenn eine wichtige Prüfung ansteht
oder wenn wir Stress mit Mitmenschen haben.
Und was man auch weiß,
ist,
dass die Mehrzahl der Träume negativ ist.
Also wir träumen offenbar häufiger von Situationen,
die uns eben belasten
oder die wir in irgendeiner Weise
nicht gelöst kriegen.
Und wenn man etwas häufiger träumt,
dann spiegelt das eben logischerweise wieder,
was einen irgendwie umtreibt.
Jetzt könnte man denken,
dass Menschen wie wir
oder die ZuhörerInnen,
die sich viel mit Mord und Todschlag auseinandersetzen,
auch davon träumen.
Dabei ist tatsächlich das Gegenteil der Fall.
Also bei mir ist es auch so,
ich träume nie von den Fällen.
Das ist ja eine Frage,
die uns manchmal gestellt wird.
Und der Grund,
den die Wissenschaft dafür sieht,
ist,
dass wir uns quasi im echten Leben
schon so viel
mit diesen Themen beschäftigen,
dass unsere Träume
nicht mehr die Aufgabe haben,
damit umzugehen.
Jetzt muss man natürlich auch dazu sagen,
dass wir uns mit dem Thema
ganz anders auseinandersetzen
als Betroffene beispielsweise.
Also es ist eine ganz andere Art
von Verarbeitung.
Und dadurch,
dass uns das ja nicht selber betrifft,
belastet uns das dann natürlich
auch nicht so sehr.
Genau.
Und es ist natürlich schon so,
dass wenn einem tatsächlich
was Schlimmes passiert
und man nicht nur davon hört
oder liest,
wie wir jetzt,
dass diese Erlebnisse
dann im Traum verarbeitet werden.
Bei einer posttraumatischen
Belastungsstörung zum Beispiel
gehören Albträume
zu den Symptomen.
Psychologie-Professor
Reinhard Petrovsky,
der an der Uni in Düsseldorf
zum Thema Träumen forscht
und heute unser Experte ist,
hat uns erzählt,
dass man davon ausgeht,
dass diese Albträume
dazu da sind,
das Trauma im Schlaf zu verarbeiten,
damit man im Wachzustand
besser damit klarkommt.
Aber wir träumen ja auch vieles,
was gar nichts
mit der Realität zu tun hat,
zum Beispiel,
dass wir fliegen können oder so.
Deshalb darf man seinen Träumen
auch nicht zu viel Bedeutung beimessen,
auch beziehungsweise gerade dann,
wenn man träumt,
zum Beispiel Gewalt erlebt zu haben.
Professor Petrovsky sagt dazu,
Wenn man so etwas träumt,
ist es auf gar keinen Fall
eine klare oder hundertprozentige Aussage,
dass es auch tatsächlich stattgefunden hat.
Wir träumen ja häufig von Dingen,
die in Wirklichkeit
gar nicht stattgefunden hat.
Das heißt,
im Traum ist unser Gehirn
unheimlich kreativ,
also viel kreativer
als im Wachzustand.
Ich glaube,
im Traum sind alles Künstler
und können wirklich ganz tolle
Geschichte und Filme entwickeln,
die uns im Wachzustand
nie einfallen würden.
Also das heißt,
es ist wirklich Vorsicht geboten,
wenn solche Bilder
oder Erinnerungen kommen,
die hinweisen könnten
auf einen Traumort,
auf einen Missbrauch.
Also der Schluss ist nicht zulässig.
Da muss man wirklich einfach mehr wissen.
Auf der anderen Seite ist es natürlich möglich,
dass auch tatsächlich
eine Traumatisierung stattgefunden hat,
die nur im Traum auftaucht
und im Wachzustand nicht.
Aber der Umkehrschluss,
dass man sagt,
alles, was man träumt,
hat auch in Wirklichkeit stattgefunden,
ist auf gar keinen Fall zulässig.
Man muss mit solchen Träumen
also vorsichtig umgehen.
Bei Annika war es aber jetzt tatsächlich so,
dass dem Traum
ein reales Erlebnis zugrunde lag
und auch wenn sie sich im Wachzustand
gar nicht daran erinnern konnte,
hat sie ja durch dieses jahrelangen Träumen
gespürt,
dass das was Wichtiges zu bedeuten hat.
Und sie selbst hat uns das so erklärt.
Ich habe nie über den Traum gesprochen,
weil ich mich sehr dafür geschämt habe,
weil ich wusste,
dass er was Schlechtes bedeutet.
Und ich konnte einfach niemanden fragen,
was er zu bedeuten hat
und warum er immer wieder kommt.
Und nachdem ich jetzt einige Zeit
damit gearbeitet habe,
weiß ich,
dass meine Seele mich geschützt hat
vor dem, was passiert ist
und dass das Geschehene
ins Unterbewusstsein gekommen ist.
Und ja, so hat mir mein Körper
eine sorglose Kindheit
und eine sorglose Jugend möglich gemacht.
Und der Traum war
ja, eigentlich immer wieder Erinnerung daran,
dass es noch da ist.
Und er ist dann zu einem Zeitpunkt,
an dem ich bereit dafür war,
an dem ich damit umgehen konnte,
ins Bewusstsein gekommen
und so konnte ich dann damit arbeiten.
Aber ich bin heute sehr dankbar dafür
und sehr erstaunt,
was ein kleiner Körper mit vier Jahren schaffen kann,
um sich selber zu schützen.
Und laut Professor Petrowski
ist Annikas Umgang mit diesem Traum
auch nachvollziehbar,
weil es eben sein kann,
dass traumatische Erlebnisse,
wenn man noch so jung ist,
wie Annika das damals war,
noch gar nicht richtig bewältigt werden können.
Und dann ruht die Erinnerung daran sozusagen,
so lange,
beziehungsweise taucht vielleicht wie bei Annika
eben nur im Traum auf,
bis man bereit dazu ist,
sich damit bewusst auseinanderzusetzen.
Aber es ist trotzdem was sehr Besonderes,
was Annika da erlebt hat,
weil ich glaube,
das kennt auch jeder von uns.
Normalerweise erinnern wir uns ja gar nicht an Dinge,
die so früh in der Kindheit passieren
und an die ersten zwei bis drei Jahre
tatsächlich gar nicht,
weil in dieser Zeit die Verknüpfungen im Gehirn
noch nicht vollständig ausgebildet sind.
Deshalb kann man sich zum Beispiel
auch nicht an seine eigene Geburt erinnern,
obwohl die wahrscheinlich sehr emotional war.
Boah, Gott sei Dank.
Also da kann ich gut und gerne drauf verzichten.
Ja, ich glaube,
da hätten alle ein Trauma von.
In meinem Fall geht es um die Frage,
was schlimmer ist.
Nichts zu wissen oder alles zu wissen.
Die Triggerwarnung findet ihr in der Folgenbeschreibung.
Alex steht mit seinen beiden Brüdern
im zugemüllten Schlafzimmer seiner Mutter Jill.
Nach ihrem Tod hat er sich mit seinem Zwillingsbruder Marcus
und seinen zwei Halbgeschwistern dran gemacht,
das Elternhaus auszuräumen,
um es danach zu verkaufen.
Eine Mammutaufgabe,
die insgesamt ein Jahr in Anspruch nehmen wird.
Das große Cottage im Süden Englands
gleicht mit seinen vielen Räumen
und verwinkelten Gängen einem Labyrinth.
Ein Labyrinth, das Mutter Jill,
eine ehemalige Antiquitätenhändlerin,
mit ihrer Sammelleidenschaft
nahezu undurchdringbar gemacht hat.
Möbel, Deko, Kleidung
und haufenweise Krimskram
stapeln sich zum Teil bis unter die Decke.
Jill hat gehortet.
Weshalb sich Alex und seine Geschwister
nun schon seit einiger Zeit
durch die Vergangenheit ihrer Mutter wöhlen.
Zimmer für Zimmer,
Schrank für Schrank,
Schublade für Schublade.
Und in einer davon
verbirgt sich ein dunkles Familiengeheimnis.
Es ist ein Foto aus längst vergangenen Zeiten,
das Alex in die Hände fällt.
Darauf erkennt der 32-Jährige
zwei nackte Kinder am Strand.
Ihre Köpfe wurden abgeschnitten.
In den letzten 14 Jahren hat Alex viele Fragen gehabt.
Mit diesem Foto hält er die Antwort auf einige davon selbst in den Händen.
Doch die Antwort hat einen Preis,
denn die heile Welt, in der Alex gelebt hat, stürzt zusammen.
Er steht vor den Scherben seiner Existenz.
Und das bereits zum zweiten Mal.
14 Jahre zuvor
Als Alex die Augen aufschlägt,
weiß er nicht, wo er ist.
Sein Blick schweift über Bettlaken,
schmucklose Wände,
piepsende Geräte und Schläuche,
die in seinen Körper führen.
Was soll das?
Wo ist er?
Der 18-Jährige mit den dunklen Haaren
lässt seinen Blick weiter wandern,
bis er endlich an etwas Vertrautem kleben bleibt.
Ihm gegenüber auf einem Stuhl sitzt ein bekanntes Gesicht.
Es ist ein junger Mann
mit derselben Frisur wie Alex
und ebenmäßigen Zähnen.
Alex öffnet den Mund,
zum ersten Mal seit langer Zeit.
Hallo, Marcus,
schafft es Alex mit einer Stimme über die Lippen.
Im nächsten Moment stürzt Marcus auf Alex zu.
Seine Augen leuchten vor Erleichterung.
Alex versteht die Euphorie nicht,
aber die Tatsache,
dass er seinen Zwillingsbruder begrüßt hat,
löst auf der Station des Guildford Hospitals
an diesem Tag im August 1982 etwas aus.
Ärztinnen und Pflegepersonal
versammeln sich aufgeregt um Alex.
Hallo, Liebling,
endlich bist du wieder wach?
ruft eine großgewachsene Frau um die 50
mit riesigen Händen und welligem Haar.
Die Frau macht Alex Angst,
erkennt sie nicht
und wendet sich deswegen fragend an Marcus.
Das ist unsere Mutter,
antwortet der.
Alex kann es nicht richtig glauben,
er erinnert sich nicht an sie.
In seinem Kopf ploppen tausend Fragen auf,
bis ihm bewusst wird,
dass er sich an absolut gar nichts
in seinem Leben erinnert,
außer an seinen Zwillingsbruder Marcus.
Er weiß nicht mal,
wer er selbst ist.
Er hat keine Erinnerung an sein Zuhause.
Er weiß nicht,
welches Jahr und was sein Lieblingslied ist.
Er kennt keine einzige Fernsehserie,
erinnert sich nicht an seinem Job im Hotel
und weiß auch nicht,
wieso er überhaupt im Krankenhaus ist.
Alex erfährt,
dass er einen schweren Unfall hatte.
Er ist vom Motorrad gestürzt
und hat sich den Schädel gebrochen.
Daraufhin ist er ins Koma gefallen.
Und jetzt, Tage später,
ist nichts mehr wie zuvor.
Im Krankenhaus muss Alex alles neu lernen.
Laufen,
Zähne putzen,
aufs Klo gehen.
Jede Information,
die er aufnimmt,
ist wie ein Mosaikstein,
aus denen er sich langsam
sein Leben und seine Identität zusammensetzt.
Alex lernt schnell,
doch auf seine Vergangenheit
hat er noch immer keinen Zugriff.
Nach einigen Monaten
darf er endlich nach Hause,
wie auch immer das aussehen mag.
Alex hat davon keine Vorstellung.
Die laute Frau,
die ihn strahlend abholt,
seine Mami,
wie sie selbst sagt,
freut sich auf diesen Moment.
Sie hat große Hoffnung,
dass Alex sie endlich wieder erkennt.
Doch das tut er nicht.
Und akzeptieren mag
die schrille Jill das auch nicht.
Sie ist enttäuscht davon,
dass Alex Genesung
nicht schneller vorangeht.
Der Wagen hält
vor einem kleinen Ort
im Süden Englands,
vor einem langgezogenen Cottage,
umschlossen von einem großen Garten.
Das Anwesen wirkt schon von außen
gewaltig und furchteinflößend auf Alex.
Hier hat er also seine Kindheit verbracht.
Gemeinsam mit seiner Mutter,
seinem Stiefvater,
Marcus und zwei jüngeren Halbgeschwistern.
Nein, auch jetzt klingelt nichts bei Alex.
In dem dunklen und verwinkelten Inneren
fühlt er sich fast erschlagen
von all den wuchtigen Möbeln
und dem ganzen gehorteten Kram.
Als Alex das erste Mal
seinem Stiefvater begegnet,
ist ihm mulmig zumute.
Jack ist ein großer Mann,
Anfang 70,
damit fast 20 Jahre älter
als seine Frau Jill
und trägt einen finsteren Blick.
Förmlich streckt Jack Alex
die Hand entgegen
und stellt sich vor.
Alex weiß in diesem Moment nicht,
dass es seltsam ist,
seinen Ziehsohn
nach so langer Zeit im Koma
so distanziert zu begrüßen
und deswegen denkt er sich
auch nichts weiter dabei.
Die 18 Jahre,
in denen Alex vom Kleinkind
zum Schulkind
zu einem jungen Mann wurde,
sind ausgelöscht.
Jetzt ist er wieder
fast wie ein kleiner Junge,
unfähig,
sich allein zurechtzufinden.
Doch anders als bei kleinen Kindern
sind ihm seine Eltern
keine Hilfe.
Die einzige Person,
an die sich Alex klammern kann,
ist Marcus.
Er ist ein Fels in der Brandung,
ohne den ihn die Wellen
dieser unbekannten Umgebung
zu verschlingen drohen.
Auch wenn Alex nichts mehr weiß,
spürt er doch das unsichtbare Band
zwischen ihm
und seinem eineigen Zwillingsbruder.
Durch den Gedächtnisverlust
steht Alex auf der Stufe
eines Erstklässlers.
Von Marcus lernt er alles,
was er wissen muss,
um sich im Alltag zurechtzufinden.
Wo ist das Bett?
Wie funktioniert der Toaster?
Wie fährt man Fahrrad?
Was ist ein Fernseher?
Alex stellt tausend Fragen
und Marcus beantwortet sie geduldig.
Alex saugt alles auf wie ein Schwamm.
Statt auf seine eigenen Erinnerungen
muss er nun auf die von Marcus zurückgreifen.
Gemeinsam sitzen die beiden
vor Familienfotos.
Eines zeigt ihn und Marcus
als Baby auf dem Arm seiner Mutter.
Ein anderes die beiden im Planschbecken.
Noch eines als kleine Jungs
braun gebrannt am Meer.
Alex will wissen,
wie ihre Kindheit so war
und ob sie in den Urlaub gefahren sind.
Jedes Jahr,
antwortet Marcus
und sagt Alex habe immer gerne
Eis mit Schokosträußeln gegessen.
Wir sind unsere Eltern,
fragt Alex.
Ihre Mom sei cool,
sagt Marcus.
Das glaubt Alex gerne,
denn er ist auf eine sehr seltsame Art
fasziniert von Jill,
die so laut,
charismatisch,
extravagant
und irgendwie auch dramatisch ist
und somit weiß,
wie man Leute um sich schaut.
Allerdings fehlt Jill
das Feingefühl
für bestimmte Dinge.
Beispielsweise,
welche Kleidung man
bei bestimmten Events trägt
oder dass sie nicht
unangekündigt auftaucht,
wenn Alex und Marcus
Freunde zu Besuch haben
und dann Sachen erzählt,
die dafür sorgen,
dass die Zwillinge
im Boden versinken wollen.
Ihr leiblicher Vater
ist bei einem Autounfall gestorben,
als die Zwillinge gerade einmal
ein paar Wochen alt waren.
Stiefvater Jack kam in die Familie,
als die Zwillinge acht Jahre alt waren.
Jack ist ein cholerischer,
aufbrausender
und aggressiver Mann,
dem Alex und Marcus
nie etwas recht machen können.
Die beiden Kinder,
die er gemeinsam mit Jill hat,
werden bevorzugt behandelt.
So müssen die Zwillinge,
etwa als sie 14 Jahre alt sind,
in den Gartenschuppen ziehen,
den man im Winter nicht beheizen kann,
obwohl das richtige Haus
Platz genug bietet,
um alle zu beherbergen.
Jacks Bereich des Hauses
dürfen sie erst gar nicht betreten
und wenn er den Raum betritt,
müssen die beiden aufstehen
und ihn mit Sir begrüßen.
Ohne triftigen Grund
dürfen sie ihn nicht ansprechen.
Über die Zeit
formt sich Alex
durch Marcus Erzählungen
und Fotos aus Kindertagen
sein Gedächtnis.
Zwar bleiben seine eigenen Erinnerungen
noch immer aus,
aber durch Marcus gelingt es ihm
zumindest ein Bild davon zu bekommen,
wie sein Leben vorher
ausgesehen haben könnte.
Bilder sind wichtig für Alex.
Deswegen wird ein Fotoapparat
zu seinem treuen Begleiter.
Alles fängt da ein.
Menschen, Orte.
Immer mit der Angst im Nacken,
dass er sein Gedächtnis
ein weiteres Mal verlieren könnte.
Alex, der schon einmal
alles verloren hat,
geben die Fotos Sicherheit.
Egal was passiert,
diesmal kann er die Erinnerungen
zumindest damit festhalten.
Im Laufe der Jahre
schafft es Alex auch wieder
im Jobfuß zu fassen.
Er arbeitet in der Gastro,
wie vor seinem Unfall.
Dann gründen er und Marcus,
die schon immer gut
mit ihren Händen
arbeiten konnten,
ihre eigene Firma,
Twin Stacks,
die Zwillingsrenovierer.
Praktisches Arbeiten
liegt Alex.
Die Geschäfte laufen gut.
Mit der Zeit
bekommt er immer mehr
das Gefühl,
die Welt zu verstehen
und sich in ihr
zurechtzufinden.
Doch gerade als er das Gefühl hat,
wieder alles beisammen zu haben,
lernt Alex erneut,
was Verlust bedeutet.
Stiefvater Jack kämpft
seit langem gegen den Krebs.
Inzwischen ist klar,
dass er diesen Kampf
nicht gewinnen wird,
denn die Krankheit
hat den einst großen
stattlichen Mann
in den vergangenen Monaten
zu einem Schatten
seiner selbst verwandelt.
Eines Tages,
etwa acht Jahre nach Alex' Unfall,
ruft Jack die Zwillinge
in sein dunkles,
holzvertefeltes Zimmer.
Dass Markus und er
diesen Raum betreten dürfen,
kommt nur selten vor.
Daher weiß Alex,
es ist etwas Ernstes.
Mit seinem Bruder
tritt er an den Mann heran,
der ihn so oft
angeschrien niedergemacht hat.
Doch kurz vor dem Tod
ist für viele Menschen
die Zeit,
nochmal über ihr Leben
nachzudenken.
Und Jack scheint offenbar
erkannt zu haben,
vieles falsch gemacht zu haben.
In seinen Worten
schwingt Reue mit.
Könnt ihr mir verzeihen?
Fragt Jack.
Als Alex diesen
einst so furchteinflößenden
Mann ansieht,
zögert er nicht lange.
Ja, natürlich.
Doch überraschenderweise
sagt sein Bruder neben ihm,
nein,
ich verzeihe dir nicht.
Alex erschrickt.
Jack ist todkrank,
Vergebung sein letzter Wunsch.
Also wieso
will er ihm den nicht gewähren?
So verabschieden sich
die Zwillinge von Jack.
Alex hat danach Fragen.
Wieso will Markus
ihm nicht verzeihen?
Doch Markus sagt nur,
es ist kompliziert.
Alex ist irritiert
vom Verhalten.
Aber weil aus Markus
nicht mehr herauszukriegen ist,
hört Alex irgendwann auf,
darüber nachzudenken.
Als fünf Jahre später,
1995,
auch Jill im Alter von 64 Jahren
an einem Hirntumor stirbt,
bricht Alex zusammen.
Dass er seine Mutter
so früh verlieren musste,
ist schrecklich für ihn.
Anders als Markus
hatte er Jill
nicht 31 Jahre lang,
sondern eigentlich nur 13.
An die ersten 18 Jahre mit ihr
hat er nach wie vor
keinerlei Erinnerungen mehr.
Schöne Momente,
die er als Kind
und als Jugendlicher
mit seiner Mutter erlebte,
hat Alex nicht wie andere
in seinem Kopf,
sondern nur vereinzelt auf Fotos.
Und über denen
weint er stundenlang.
Durch ihr Temperament
und ihre Lautstärke
war Jill im Grunde immer da.
Sie hat so viel Raum
eingenommen,
dass er umso leerer wirkt,
als sie nicht mehr da ist.
Ihr Ableben hinterlässt
bei Alex ein tiefes Loch.
Zu seiner Überraschung
scheint es seinen
Geschwistern damit
ganz anders zu gehen.
Denn weder Markus
noch seine jüngeren
Halbgeschwister
vergießen auch nur
eine Träne über ihren Tod.
Es ist das erste Mal,
dass Alex realisiert,
dass irgendetwas Seltsames
in seiner Familie vorgeht.
Nur hat er in diesem Moment
noch nicht den Hauch
einer Ahnung,
was das sein könnte.
Nach der Beerdigung
beginnen die Geschwister
das Haus auszuräumen.
Als Antiquitätenhändlerin
hat Jill alles gesammelt.
Naja,
sagen wir eher gehortet,
was es gibt.
Nicht nur Möbel,
sondern auch Kleidung,
die sich in einigen Zimmern
nur so türmt.
Die Zwillinge finden
alte Geschenke
von Bekannten der Eltern,
die sie als Kinder
nie bekommen haben,
abgelaufene Süßigkeiten,
insgesamt 200 Stangen Zigaretten
und jede Menge Geldscheine
in Marmeladengläsern
und eingenäht in Vorhängen.
Obwohl das Anwesen
der Familie riesig ist,
haben Alex und Markus
ihre Kindheit
zum Teil in Lumpen verbracht.
Auch zu essen
gab es oft nicht genug
für beide.
Dass ihre Mutter
offenbar alles andere
als ärmlich war,
verwundert Alex.
An einem Tag
steht Alex
vor einem der vielen Schränke,
die Jill bis zu ihrem Tod
mit 64 im Laufe ihres Lebens
mit mehr oder weniger
wertvollen Schätzen
gefüllt hat.
Als Alex sieht,
was Jill in dem Schrank
aufbewahrt hat,
traut er seinen Augen nicht.
Er ist randvoll
mit Sexspielzeug.
Alex findet das verstörend.
Diese Gegenstände
passen nicht zu dem Bild,
das er von seiner Mutter hatte.
Als Alex Markus
darüber informiert,
scheint denen das
überhaupt nicht zu überraschen.
Mach dir keine Gedanken,
lass uns weitermachen,
sagt er nur
und tut so,
als hätte das keine Bedeutung.
Die Geschwister
arbeiten sich weiter
durch Jills Schlafzimmer.
Alles muss raus.
Doch in einem
der Möbelstücke
finden sie noch etwas anderes.
Alex verschlägt es die Sprache,
als es ihm in die Hände fällt.
Es ist ein Foto von ihm
und Markus aus Kindertagen,
das er noch nie gesehen hat.
Es sieht fast so aus wie die,
die ihm sein Zwillingsbruder
so oft gezeigt hat,
mit einem entscheidenden Unterschied.
Auf diesem hier
sind die knapp
zehn Jahre alten Jungs
nackt
und ihre Köpfe
und ihre Köpfe
sind weggeschnitten.
Auf Alex wirkt das Bild
irgendwie unpassend,
fast anstößig.
Was zur Hölle hat das zu bedeuten?
Alex will wissen,
was hier los ist.
Nach all den Jahren
mit tausend Fragen
hat er jetzt plötzlich
nur noch eine.
Wurden wir sexuell missbraucht?
Markus steht die Betroffenheit
ins Gesicht geschrieben.
Er sagt nichts,
doch er nickt.
Hat uns Mom sexuell missbraucht?
Fragt Alex später.
Markus nimmt all seine Kraft zusammen,
er legt Alex seinen Arm
um die Schultern
und sagt, ja, hat sie.
Und als Markus
diese Worte ausspricht,
sind sie wie ein Windstoß,
der das Kartenhaus
zum Einsturz bringt,
das er für Alex
14 Jahre lang gebaut hat.
Markus kann sich noch
sehr gut an den Tag erinnern,
der nicht nur Alex,
sondern auch sein eigenes Leben
von Grund auf verändert hat.
In den frühen Morgenstunden
des 1. August 1982,
so erzählt er es später,
schreckt der 18-jährige
Markus aus dem Schlaf.
Schweißgebadet weiß er intuitiv,
Alex ist etwas Schlimmes zugestoßen.
Sein Bruder war an diesem Abend
alleine auf einer Hochzeit
eines Freundes.
Markus alarmiert seine Mutter Jill,
doch die winkt ab.
Markus habe nur schlecht geträumt.
Nur eine Stunde später
klingelt das Telefon
alle im Cottage aus dem Schlaf.
Es ist das Krankenhaus.
Alex hatte einen Unfall.
In der Klinik wacht
Markus stundenlang an Alex' Seite.
Die piepsenden Maschinen
und die hektischen Schritte
der KlinikmitarbeiterInnen
begleiten ihn tagelang,
während er am Metallbett
seines Zwillingsbruders sitzt.
Die Tage vergehen
und die ÄrztInnen
erklären Markus und Jill,
die oft nach ihrem Sohn sieht,
dass sie nicht sagen können,
wie schwerwiegend Alex'
Kopfverletzungen sind
und ob er bleibende
Hirnschäden davon tragen wird.
Es sei unklar,
ob er wieder als der Alex
aufwacht,
den sie kannten.
Markus ignoriert die Worte
des Fachpersonals.
In sich spürt er
eine tiefe Gewissheit.
Alex hat keinen Hirnschaden.
Er wird wieder aufwachen
und so sein wie früher.
Davon ist Marcus
felsenfest überzeugt.
Als Alex dann endlich
die Augen aufschlägt
und seinen Zwillingsbruder
mit den Worten
Hallo, Marcus begrüßt,
ist er überglücklich.
Zunächst scheint es,
als sei mit Alex
alles in Ordnung.
Doch dass das nicht stimmt,
merkt Marcus,
als Alex seine eigene Mutter
nicht wiedererkennt.
Marcus ist der Einzige,
an den sich Alex erinnern kann.
Nachdem Alex entlassen wird,
dreht sich seine Welt
um Marcus.
Der bringt seinem Zwillingsbruder
alles bei.
Alex vertraut ihm blind.
Welch große Verantwortung
das nach sich zieht,
ist Marcus zunächst
gar nicht bewusst.
Erst nach ein paar Monaten
wird Marcus klar,
er ist derjenige,
der die Kontrolle
über Alex' Gedächtnis
und somit auch
über seine Realität besitzt.
Alex weiß nichts
von dem dunklen
Familiengeheimnis,
das Marcus seit Jahren
schwer belastet.
In Alex' Kopf
existiert nur noch
eine große Leinwand.
Die dunklen Flecken,
die sich darauf über Jahre
eingebrannt haben,
sind ausgelöscht.
Etwas, das Marcus
in Bezug auf seine Kindheit
auch gerne hätte.
Denn er wünscht sich
nichts sehnlicher,
als all den Schmerz
und all die jahrelangen
Qualen vergessen zu können.
Also überlegt sich Marcus,
wie er sich an Alex'
Stelle fühlen würde.
Bei ihm gibt es kein Leid,
keine Scham,
keine Flashbacks.
Wieso also sollte Marcus
ihm den Horror,
den die beiden über Jahre
erlebt haben,
ins Bewusstsein bringen?
Marcus überlegt,
würde er es wissen wollen?
Und er ist sich sicher,
die Antwort darauf lautet
nein.
Wenn er nach einem schweren Unfall,
bei dem er sein komplettes Gedächtnis
verlor, erfahren würde,
was ihm als Kind angetan wurde,
und zwar von seiner eigenen Mutter,
dann würde das erneut
sein Leben zerstören.
Marcus beneidet Alex sogar darum,
keinerlei Erinnerungen mehr
an das Grauen seiner Kindheit
zu haben
und meint,
er wäre regelrecht sauer,
wenn Alex diese Entscheidung
nicht genauso treffen würde.
Und so beschließt Marcus,
seinem Bruder
nichts davon zu erzählen
und ihm damit ein Geschenk zu machen,
das er selbst
sein Leben lang
hat haben wollen.
Vergessen.
Als Alex damals
nach seiner Kindheit fragt,
entscheidet sich Marcus
also ihm nur
die schönen Seiten zu zeigen.
Das gelingt
mithilfe der Fotos gut.
Dass es nicht ihre Eltern waren,
mit denen sie damals
am Strand waren,
verschweigt er.
Es ist zu kompliziert
zu erklären,
dass sie manchmal
mit Freundinnen
der Eltern verreisten,
schlicht,
weil ihre eigenen
kein Interesse daran hatten,
mit ihren Kindern wegzufahren.
Marcus bemüht sich,
nichts zu erfinden,
aber er scheut sich
nicht davor,
in seinen Erzählungen
einige entscheidende
Details wegzulassen.
Alex kreiert
so aus den Momentaufnahmen,
die die Fotos abbilden
und ein paar Stichworten,
die Marcus ihm dazu gibt,
schönste Kindheitserinnerungen.
Und je schöner und bunter
er die Kindheit für Alex malt,
desto mehr überdecken
diese Farben auch seine
eigenen dunklen Erinnerungen.
So sehr,
dass Marcus selbst
manchmal glaubt,
eine glückliche Kindheit
gehabt zu haben,
mit einer liebenden Mutter.
Mit dem schönen Schein
kann er sich selbst
genauso wie Alex
blenden.
Über 14 Jahre hinweg
bis zu Jills Tod.
Zu keinem Moment
hinterfragt Alex,
was Marcus ihm erzählt.
Er vertraut ihm zu 100%
und ihm würde gar nicht
in den Sinn kommen,
dass Marcus ihm
nicht die Wahrheit sagt.
Als die Zwillinge
dann das Haus ausräumen
und unter Jills Sachen
das verstörende Foto
von ihren nackten,
kopflosen Kinderkörpern finden,
stellt Alex die Frage,
wie Marcus all die Jahre
insgeheim fürchtete.
Er weiß,
dass er seinen Bruder
nicht lügen kann.
Doch damit,
dass Marcus Alex
den Missbrauch bestätigt,
ist es noch nicht getan.
Alex hat noch weitere Fragen,
auf die er antworten will.
Marcus hat Alex
nach dem Unfall
die Welt erklärt,
doch bei dieser einen Sache
kann und will er Alex
nicht helfen.
Die ganzen letzten Jahre,
so empfindet es Marcus,
hat er allein
den Schmerz für beide getragen,
damit Alex
es nicht tun musste.
Niemals würde er ihm
diesen Ballast aufhiefen.
Statt ihm also die Wahrheit
über seine Kindheit
zu offenbaren,
hüllt Marcus
sich in Schweigen.
Für Alex ist dieses Schweigen
schlimmer als jede Wahrheit.
Er weint tagelang.
Unter Tränen
denkt er an all die Jahre
mit seiner Mutter zurück,
an die er sich erinnern kann.
Er weiß,
dass sie sonderbar war,
exzentrisch,
temperamentvoll und auffallend,
aber auch pädophil?
Wusste jemand davon?
Alex schlägt sich
Nacht für Nacht
mit den Fragen rum,
auf die er alleine
niemals eine Antwort finden wird.
Er kann sich an die Zeit,
in der der Missbrauch
stattgefunden hat,
nicht erinnern.
Er weiß nicht,
was ihm alles widerfahren ist,
womit er als Kind
umgehen musste.
nur Marcus kann ihm dabei helfen.
Und gerade der,
sein Zwillingsbruder,
das Einzige,
an das sich Alex erinnern konnte,
sein Mensch,
der für ihn die letzten Jahre
Halt, Hoffnung und Familie war,
gerade der will ihm nicht helfen,
die Wahrheit über seine Mutter
zu erfahren.
14 Jahre lang
hat er ihm weiß gemacht,
er würde aus einer
stabilen Familie kommen.
Nach dem Unfall
setzte er seine Identität
aus den Baustellen zusammen,
die Marcus ihm gab.
Nun muss er damit klarkommen,
dass das Leben,
wie er es kennt,
so gar nicht existiert hat.
Es war schlimm genug,
sein altes Leben
ein erstes Mal zu verlieren.
Dass ihm das jetzt
ein zweites Mal passiert,
erträgt Alex kaum.
Kurze Pause an dieser Stelle.
Ich würde nämlich gerne mal
mit dir über die Entscheidung
von Marcus reden.
Kannst du die Entscheidung
von Marcus nachvollziehen,
dass er Alex jetzt nicht
komplett über den Missbrauch
aufklären will
und nicht mit ihm darüber reden möchte,
was genau passiert ist?
Ich kann ihn verstehen,
dass es für ihn wahrscheinlich
super schwer wäre
und er sich dann
wieder zurück sozusagen
in sein Trauma
begeben müsste,
um seinem Bruder
das zu erklären.
Aber er hat ja auch vorher,
um seinen Bruder zu schützen,
das alles verheimlicht.
Und jetzt möchte sein Bruder
das aber wissen,
damit er damit klarkommen kann.
Und deswegen finde ich das
ein bisschen schade
für Alex,
dass Marcus sich da nicht
so weit bringen kann.
Aber auf der anderen Seite
kann ich das natürlich
nicht nachvollziehen,
wie es ist,
sexuell missbraucht worden zu sein
und wie es ist,
darüber zu reden.
Deswegen finde ich das schwierig,
so zu beurteilen von außen.
Also ich finde,
dass Alex ganz klar
die Wahrheit zusteht.
Ja.
Also das ist seine Vergangenheit,
das ist seine Identität.
Und ich finde,
der hat ein Recht darauf,
das zu erfahren.
Ich habe mich jetzt zweimal
mit der Geschichte
von den beiden auseinandergesetzt.
Einmal vor drei oder vier Jahren
und einmal natürlich jetzt,
wo ich diesen Fall recherchiert habe.
Und ich muss sagen,
jetzt gerade im Laufe
der letzten Tage
habe ich irgendwie immer mehr
Verständnis für Marcus bekommen.
Weil es gibt ja
Interviews mit den beiden
und in den Interviews
mit Marcus
sieht man,
was für ein gebrochener
Mensch der ist.
Und dass es eben nicht
nur um Alex geht natürlich,
sondern es geht auch um Marcus.
Es ist auch seine eigene Vergangenheit,
von der ansonsten
in jeder anderen Geschichte
niemand erwarten würde,
dass ein Opfer
sexuellen Missbrauchs
darüber redet.
Nun ist es halt so,
die sind halt zusammen drin
und der eine möchte es wissen
und der andere nicht.
Ich glaube,
deswegen muss man einfach akzeptieren,
es ist beides da.
Also Alex sollte das Recht haben,
das zu erfahren
und Marcus sollte das Recht haben,
zu schweigen.
Und das ist natürlich
ein riesiges Dilemma,
in dem sich die Zwillinge
jetzt hier befinden.
Ja.
Und es ist ja so.
Bisher verbannt die beiden
ein unsichtbares Band.
Dieses Band,
das gerade eineiige Zwillinge
oft haben.
Dass sie das Gefühl haben,
spüren zu können,
wie es der anderen Person geht,
ohne mit ihr gesprochen zu haben.
Diese Verbindung,
die Marcus in der Nacht
des Unfalls
aus dem Bett hat,
hochschrecken lassen.
Doch der Streit
der Geschwister
hat sie entzweit.
Jetzt eint sie nur noch
ihre Geschäftsbeziehungen.
Tage, Wochen, Monate vergehen.
Alex stürzt in eine Depression,
kämpft mit Suizidgedanken.
Um Abstand zu gewinnen
und sich ordnen zu können,
reist er nach Ägypten.
Im Flieger lernt er
eine Frau kennen,
Camilla.
Sie ist die erste Person,
zu der Alex annähernd
eine solche Verbindung
aufbaut wie zu Marcus.
Sie gibt ihm Halt
und arbeitet sich mit ihm
durch die Bruchstücke
seiner Vergangenheit.
Da Marcus Alex
nicht helfen will,
das Bild seiner Vergangenheit
zu vervollständigen,
muss sich Alex
mit einzelnen Puzzlestücken
weiterhelfen.
Er befragt Bekannte
und Familienmitglieder.
Missbrauch ist ein Wort,
das nun viel Raum einnimmt.
Alex verbringt Jahre damit,
die Teile zusammenzusetzen,
die ihm zumindest
eine Vorstellung davon geben,
was als Kind mit ihm
passiert ist.
In diesen Jahren heiratet Alex,
bekommt mit Camilla zwei Kinder.
Auch Marcus gründet
in der Zeit seine Familie.
Mit der Zeit gelingt es Alex,
sich Marcus wieder anzunähern
und er versucht zu akzeptieren,
dass sein Bruder
nicht mit ihm darüber reden will.
Obwohl genau das
sein sehnlichster Wunsch ist.
Er will,
dass Marcus ihm sagt,
was passiert ist,
weil er meint,
nur so wirklich wissen zu können,
wer er ist.
Die Jahre vergehen.
Alex verbringt etliche Stunden
bei TherapeutInnen.
Marcus holt sich nie Hilfe.
Doch trotz all seiner Mühen
findet Alex keinen Frieden
mit der Vergangenheit.
Im Herbst 2011,
mit 47 Jahren,
fasst er einen Entschluss.
Er will die Geschichte
von ihm und seinem Bruder
aufschreiben.
Tatsächlich willigt Marcus ein,
das Projekt mit ihm umzusetzen.
Gemeinsam mit einer Autorin
machen sie sich daran,
eine Autobiografie zu schreiben.
Tell me who I am.
Doch Marcus gelingt es noch immer nicht,
mit seinem Bruder
über das allbeherrschende Thema
zu sprechen.
Im Buch kann er den Missbrauch
der beiden zwar skizzieren,
aber es ist nicht das,
was Alex sich wünscht.
Er will die Geschichte
aus dem Mund von Marcus hören.
Er will das auch nicht nur für sich.
Alex hofft,
dass er sich Marcus
danach wieder genauso nahe fühlen kann
wie vorher.
Doch Marcus verneint noch immer.
Bis sieben Jahre später
Netflix
die Geschichte der Brüder verfilmt.
Doch im Gegensatz zu einem Buch
reicht es vor der Kamera
nicht nur aufzuschreiben,
was passiert ist.
Man muss auch sprechen.
Und obwohl Marcus
genau das all die Jahre nicht wollte,
entscheidet er jetzt mit Mitte 50,
dass er es versuchen will.
In einem Studio sprechen Marcus
und Alex getrennt voneinander
in die Kamera.
Alex mit Brille
und grauen Longstief,
Marcus mit schwarzem T-Shirt
und Drei-Tage-Bart.
Sie zeichnen ihr Leben
vor dem Unfall,
erzählen davon,
wie es war,
als Alex alles neu lernen musste.
Und sie erzählen
von dem Fund des Fotos
und wie ihre innige Beziehung
seitdem Risse bekam.
Alex berichtet,
wie wichtig ihm die Wahrheit ist
und Marcus erklärt,
wieso er sie Alex
seit fast 20 Jahren
weitestgehend vorenthalten hat.
Am letzten Drehtag
sitzen sich die Zwillinge
gegenüber,
zwischen ihnen ein Tisch,
bei der Wirkung erschöpft.
Der eine,
weil er den Großteil
seines Lebens
auf der Jagd
nach Informationen verbracht hat,
der andere,
weil er genau diese
permanent versuchte
zu verdrängen.
Bis jetzt.
Denn nun sei er bereit,
Alex zu geben,
was er sich so sehr wünscht,
seitdem ihm damals das Foto
in die Hand gefallen ist.
Alex sagt,
die Lüge muss aufhören,
damit ich wieder ein Leben habe.
Mein Leben ist nicht echt,
Marki.
Du hast es erschaffen.
Du hast es bestimmt.
Ich brauche die komplette Geschichte.
Einen kurzen Moment
fassen sie sich an den Händen.
Dann steht Markus
vom Tisch auf und geht.
Wieder einmal
wird Markus nicht in der Lage sein,
seinem Bruder ins Gesicht zu sagen,
was passiert ist.
Zumindest nicht persönlich,
denn Markus hat bereits geredet.
Vier Minuten lang
hat er einer Kamera erzählt,
was passiert ist.
Die Videoaufzeichnung davon
befindet sich auf einem Laptop,
der jetzt vor Alex steht.
Als Alex auf Play drückt,
hört er mit 54 Jahren
zum ersten Mal von Anfang bis Ende
die ganze Geschichte
über das,
was mit ihm und Markus
in so vielen Nächten
ihrer Kindheit geschah.
Mehr als 45 Jahre zuvor
in dem Haus,
in dem die Zwillinge
damals aufwachsen.
Markus liegt nackt
im Bett seiner Mutter.
Neben ihm
sein Zwillingsbruder.
Ihre Mutter ist auch dabei.
Jill hat die beiden nicht geholt,
um ihnen gute Nacht zu wünschen,
sondern um ihnen zu befehlen,
sich gegenseitig anzufassen.
Die beiden tun,
was sie sagt.
Doch Jill will nicht nur
dabei zusehen,
sie will mitmachen.
Sie berührt ihre Jungen
und fasst ihnen zwischen die Beine.
Die beiden dürfen
erst schlafen,
als Jill entscheidet,
dass es soweit ist.
Als Markus neben Alex
am nächsten Morgen
in Jills Bett aufwacht,
tut sie so,
als sei nichts geschehen.
Die Situation
wiederholt sich,
seitdem die Zwillinge
sechs Jahre alt sind,
etliche Male.
Jedes Mal
fühlt sich Markus
danach komisch.
Und obwohl er sonst
alles mit seinem Bruder
mit seinem Bruder Alex
teilt,
reden sie nie
über den Missbrauch.
Er geschieht nicht jeden Tag,
aber oft genug.
Und Jill ist nicht die Einzige.
Jill nimmt abwechselnd
Markus oder Alex mit,
wenn sie zu Bekannten fährt.
Wohin genau sie fahren,
erfährt Markus vorher nie.
Oft besuchen sie
Antiquitätenhändler
oder Künstler.
Sie essen gemeinsam,
Jill trinkt ein Glas Wein
und Markus sieht zu,
während Jill sich
mit dem jeweiligen Mann
unterhält.
So lange,
bis seine Mutter
ihre Sachen packt und geht
und Markus mit dem fremden Mann
alleine lässt.
Nachts legt sich der Mann
dann zu ihm unter die Decke.
Etliche Male
wird Markus so vergewaltigt.
Am nächsten Morgen
holt Jill ihn dann wieder ab.
Markus steigt ins Auto
und sagt kein Wort.
Obwohl Alex und er
nie über die Besuche reden,
weiß er,
dass Alex genau
dasselbe erleiden muss,
wenn Jill ihn abends mitnimmt.
Viele Nächte verbringen
die Zwillinge also nicht
in ihren Kinderbetten,
sondern bei fremden Männern.
Markus vertraut sich
nie jemandem an.
Er hat eine heidene Angst
davor, was passieren könnte,
wenn er das
jemandem erzählt.
An einem Abend,
da ist Markus gerade
zwölf Jahre alt,
gibt Jill eine Party.
Ihre beiden Jungs
hat sie eingespannt,
um Getränke und Häppchen
zu servieren.
Da fällt Markus
ein Mann ins Auge.
Er kennt ihn.
Er war einmal bei ihm.
Markus soll dem Mann
einen Drink bringen.
Vor seinem inneren Auge
läuft wieder ab,
was der Mann damals
mit ihm gemacht hat.
Es war furchtbar.
Das macht Markus
solche Angst,
dass er sich auf der Party
in die Hose macht.
Mehrere Jahre
vergehen
der Missbrauch
halt an.
Doch je älter
Markus wird,
desto größer
wird sein Wiederwillen.
Er findet es nicht richtig,
was bei diesen Ausflügen
passiert.
Es tut ihm weh
und jedes Mal,
wenn er wieder bei seiner Mutter
im Auto auf dem Weg
nach Hause sitzt,
fühlt er sich schrecklich,
schmutzig und benutzt.
Eines Abends,
da ist Markus gerade
14 Jahre alt,
muss er wieder
mit Jill wegfahren.
Etwa zwei Stunden später
findet sich Markus
in London wieder
in einer Wohnung
eines Künstlers.
Nach dem Abendessen
verabschiedet sich Jill.
Der Künstler
schickt Markus
ins Schlafzimmer.
Markus legt sich
in das Himmelbett
und der Mann
beginnt ihn anzufassen.
Als Markus
die fremden Hände
an seinen Genitalien spürt,
nimmt er all seinen Mut zusammen.
Er setzt sich auf
und sagt mit deutlicher Stimme,
nein,
ich will das nicht.
Der Fremde wird aggressiv,
aber Markus
gibt nicht nach.
Zu lange hat er das
alles mit sich ergehen lassen.
Es gelingt ihm,
das Bett zu verlassen.
Er packt seine Sachen,
stimmt aus der Wohnung
und läuft zum Bahnhof.
Er setzt sich in den Zug
und fährt Richtung Heimat.
Von der Haltestelle aus
geht er den ganzen Weg
zu Fuß nach Hause,
mitten in der Nacht.
Am Cottage angekommen,
läuft er schnurstracks
auf das Kinderzimmerfenster zu.
Er klopft
und Alex öffnet.
Markus wird heute
in seinem eigenen Bett schlafen.
Als er am nächsten Morgen
an den Frühstückstisch tritt,
sieht er das Erstaunen
in den Augen seiner Mutter.
Markus sagt nichts,
er schaut sie nur an.
Sie hält seinen Blick stand,
schweigend.
Markus spürt,
dass sich in diesem Augenblick
etwas verändert
und er behält Recht.
Nach diesem Tag
müssen er und Alex
nie wieder irgendwo anders übernachten.
Nach etwa acht Jahren
gestohlener Kindheit,
die Jill ihren Jungs nahm,
um nicht nur ihre eigenen Bedürfnisse,
sondern auch die fremder Männer
zu befriedigen,
ist der Horror endlich vorbei.
Ab diesem Zeitpunkt
sind die Zwillinge
aus ihrer Opferposition
rausgewachsen.
Warum Jill ihre Kinder
auch noch an Fremde weiterreichte,
wird wohl eine von den Fragen bleiben,
die niemals jemand
beantworten kann.
Geld war es offenbar nicht,
aber vielleicht bekamen sie
im Austausch andere Jungs.
Als Alex dort
in dem ausgeleuchteten Raum sitzt
und das Video,
das Markus vorher aufgenommen hat,
zu Ende ist,
beginnt er zu weinen.
Es ist Erleichterung.
Nicht,
weil er es nicht furchtbar findet,
was ihm und Markus
in der Vergangenheit passiert ist,
sondern weil dieses riesige Geheimnis
über die Jahre
in seinem Kopf
so groß wurde,
dass oft genug kaum Raum
für etwas anderes blieb.
Markus betritt das Zimmer wieder.
Das habe ich gebraucht.
Keine Lügen mehr.
Keine Geheimnisse mehr,
sagt Alex.
Er schaut Markus
direkt in die Augen.
Ich habe dich zurück,
endlich.
Die beiden umarmen sich.
Jetzt ist da kein Schweigen mehr,
das eine Kluft
zwischen den Zwillingen schafft.
Markus wird später sagen,
dass er in diesem Moment
eine Art Strom
zwischen ihm und Alex spürte.
Als wäre etwas
durch seinen Körper gefahren.
Als hätten die beiden
aus dem losen Faden,
der die vergangenen 20 Jahre
zwischen ihnen hing,
endlich wieder
das starke Zwillingsband geschaffen.
Also das ist auch
eine Wahnsinnsgeschichte.
Ich kann es gar nicht glauben.
Du hast mir ja mal
davon erzählt,
aber dass das so,
dass das so emotional ist
und dass das dann quasi
vor laufender Kamera
auch noch passiert ist,
dass Alex endlich erfahren hat,
was wirklich passiert ist.
Also das ist ja,
also das kann man sich
ja gar nicht ausdenken.
Genau.
Also es ist ja so,
dass es dieses Buch
schon vorher gab,
aber Alex sagt am Ende,
nach Beendigung des Buches
wusste er aus jetziger Perspektive
betrachtet ungefähr 30 Prozent
von dem, was er nachher wusste.
Also da waren noch
ziemlich viele Fragen offen.
Was mir jetzt auch erst gerade
so richtig klar geworden ist,
ist, wo Alex dann gesagt hat,
das habe ich gebraucht,
keine Geheimnisse mehr
und so weiter.
Weil wenn du weißt,
du wurdest missbraucht
als Kind von deiner eigenen Mutter,
aber nicht genau weißt,
was passiert ist,
dann kann ich mir vorstellen,
kannst du ja wirklich
an nichts anderes mehr denken
und stellst dir diese ganzen
Sachen vor,
was könnte sie mit mir
gemacht haben,
was hat sie mir angetan,
warum bin ich vielleicht
heute unterbewusst,
so und so,
hat das damit zu tun,
dass meine Mutter
das und das gemacht hat
und diese ganzen Vorstellungen,
die dann vielleicht
vor seinem inneren Auge
sich da manifestiert haben,
also stelle ich mir auch
ganz, ganz schlimm vor,
diese jahrelange Suche
nach der Wahrheit
oder dieses Nichtwissens
von Alex.
Also wie wir ja eben
schon gesagt haben,
kann man natürlich auch
Markus total nachvollziehen,
dass er nicht darüber reden wollte,
aber das mir jetzt vorzustellen,
wie sich Alex
die ganze Zeit gefühlt hat,
also finde ich einfach
so schrecklich.
Ja, ich möchte da
vollständigkeitshalber
aber noch eine weitere
Person einführen,
die sich sehr schrecklich
gefühlt hat,
die in der Netflix-Dokumentation
gar keine Rolle gespielt hat
und die ich jetzt auch
nicht eingebaut habe,
weil einfach nicht genug
Informationen über ihn
und ja,
aber Alex und Markus,
die hatten ja noch
zwei Halbgeschwister,
Amanda und Oliver
und Oliver ist zwölf Jahre
jünger und wurde ebenfalls
missbraucht von seiner Mutter
und das Problem ist so ein
bisschen,
als die Zwillinge 18 Jahre alt waren
und somit der Unfall passierte
und so,
da war Oliver gerade
sechs Jahre alt
und bei den Zwillingen
und auch bei Oliver
fing dieser Missbrauch
mit sechs Jahren an.
Markus und Alex
sind dann irgendwann ausgezogen,
auch in dieser Zeit rum
und Oliver sagt natürlich,
wenn dir dasselbe passiert ist,
dann lässt du keinen
sechsjährigen Jungen
einfach in diesem Haus zurück.
so, da hat man eigentlich
eine moralische Verantwortung
in diesem einen Interview,
das mit ihm gemacht wurde,
da lautet die Überschrift,
meine Brüder haben allen erzählt,
was unsere Mutter getan hat
und es ist ja natürlich auch seine Vergangenheit,
über die die da reden.
Er spielt in der öffentlichen Geschichte
aber gar keine Rolle
und er ist ein bisschen schockiert darüber,
dass die Zwillinge so in die Öffentlichkeit gehen,
aber keiner von ihnen den Missbrauch
mal bei der Polizei angezeigt hat.
Das hat wiederum Oliver
aber mit 22 Jahren gemacht.
Da war die Mutter schon tot
und die Ermittlungen wurden dann aber eingestellt
wegen unzureichender Beweise,
was vielleicht anders gewesen wäre,
wenn die Zwillinge auch ausgesagt hätten.
Natürlich kann man gegen eine tote Person
nicht ermitteln,
aber Oliver hat noch eine andere Anzeige gestellt
und zwar gegen einen der Typen,
wo er öfter war.
Dieser Mann muss zu diesem Zeitpunkt
ungefähr in den 60ern gewesen sein,
sagt er
und er sagt,
ihm geht es jetzt einfach nur darum,
dass dieser Mann
und natürlich auch noch die ganzen anderen,
die damals die Zwillinge missbraucht haben,
ja noch immer mehr Kinder missbrauchen könnten.
Und er fragt sich so ein bisschen,
warum bin ich denn damit komplett alleine?
Die Zwillinge hatten wenigstens sich selbst
in dieser Zeit,
aber er hatte halt niemanden.
Und er sagt,
auch in seinem Kampf jetzt
ist er immer noch allein.
Ja, das versteht man natürlich,
dass er da
seinen älteren Brüdern Vorwürfe macht.
Ja, am Ende weiß man nicht,
wie man selber reagiert hätte,
wäre man auch einfach aus diesem Haus
geflohen und hätte wie Markus,
das ja auch später zeigt,
am liebsten nie wieder darüber geredet,
nie wieder sich irgendwie damit beschäftigt.
Aber ja,
die wussten ja,
dass es diesen kleinen Jungen
da in dem Haus gibt
und dass die Mutter
wahrscheinlich nicht von heute
auf morgen aufhört damit.
also theoretisch gab es vier Jahre
Missbrauchspause in der Familie.
Aber wie gesagt,
eine Theorie ist ja auch,
dass sich Jill
auch vielleicht andere Jungs geholt hat
von denen, die nichts wissen.
ein Gedanken,
den die Zwillinge hegen,
finde ich ganz interessant.
Und zwar geht es da darum,
als Alex diesen Unfall hatte,
hat sein Körper in dem Moment
auch einen Schutzmechanismus aufgebaut
und hat einfach gesagt,
wir löschen einfach alles.
Jetzt löschen wir einfach alles,
weil es so schlimm war.
Das kann man jetzt für Alex Fall
natürlich nicht so ganz ernsthaft beantworten,
aber bei anderen Betroffenen
kann man sich das schon durchaus fragen.
Und unter anderem darum
geht es jetzt in meinem Aha.
Also das, was Alex da hatte,
das nennt man Amnesie.
In seinem Fall war das eine retrograde Amnesie,
die durch seinen Unfall ausgelöst wurde.
Also heißt,
der Ursprung war organisch.
Und bei der retrograden Amnesie
ist es so,
dass der oder die Betroffene
Vergangenes vergisst.
Also alles,
was vor einem bestimmten Ereignis passiert ist.
Und bei Alex war es ja sogar so,
dass der sämtliche Fähigkeiten,
also außer jetzt das Sprechen,
nicht mehr beherrschte.
Also Radfahren etc.
Das konnte er alles nicht mehr.
Und das liegt daran,
dass bei ihm auch der Teil
des Gedächtnisses betroffen war,
in dem die Prozesse
und Handlungsabläufe gespeichert sind.
Das passiert allerdings relativ selten.
Also meist ist nur das sogenannte
episodische Gedächtnis betroffen.
Also halt der Teil des Gehirns,
in dem Erinnerungen an Ereignisse
und Erlebnisse gespeichert werden.
Und in den meisten Fällen
bezieht sich dieser Gedächtnisverlust
auch nur auf einen kurzen Zeitraum
vor dem Ereignis.
So ein Fall wie Alex ist also wirklich eine Ausnahme.
Es gibt allerdings noch eine weitere,
mittlerweile recht bekannte Person,
der das passiert ist.
Und zwar Benjamin Keil.
Der wurde im Jahr 2004
irgendwann nackt und verletzt
und ohne was bei sich zu haben,
schlafend hinter einer Fastfood-Filiale gefunden.
Und die Angestellte,
die dachte halt erst,
das ist ein Obdachloser.
Der hatte halt auch schon total den Sonnenbrand.
Also er schien da länger gelegen zu haben.
Und als er dann wach war,
wusste er halt gar nichts mehr.
Also halt nicht, wer er ist.
Und den Behörden gelang das nicht,
den zu identifizieren.
Nicht mal Interpol oder dem FBI.
Und es fand sich halt auch niemand,
der ihn kannte.
Obwohl man mit Hilfe vom Fernsehen
und etlichen Medienberichten
halt nach Leuten gesucht hat,
die Benjamin kannten.
Und der Mann fragte sich natürlich damals,
war ich denn in meinem früheren Leben
niemandem wichtig genug,
dass jemand mal nach mir sucht?
Weil dann wäre er ja wahrscheinlich
früher oder später gefunden worden.
Ja, zumindest.
Oder in halt einer Vermisstenkartei irgendwo.
Ja, genau.
Naja, und irgendwann sagte er dann,
dass er sich daran erinnern würde,
dass sein Name Benjamin war.
Also mit zwei A geschrieben.
Soweit ich weiß,
stimmte das am Ende nicht.
Aber das eigentliche Schlimme
an seiner Geschichte ist auch,
dass Benjamin halt viele Jahre
danach tatsächlich obdachlos war
und keine Arbeit finden konnte,
weil er keinen Ausweis
und auch keine Sozialversicherungsnummer hatte,
an die er sich erinnern konnte.
Und so funktioniert das dann halt in den USA.
Ja, also der hat dann tatsächlich
erst elf Jahre später
seine Identität
mithilfe von so einer Genealogin festgestellt,
die normalerweise Adoptivkindern dabei hilft,
ihre leiblichen Eltern zu finden.
Und er hat dann seine Familie auch getroffen,
hat dann herausgefunden,
dass er in seinem früheren Leben
sich mit denen entzweit hat
und die schon ewig nichts mehr von ihm gehört hatten.
Und er hat sich dann danach
seine Sozialversicherungsnummer
tätowieren lassen.
aus Angst, die nochmal zu vergessen.
Ja, gut, scheiße.
Ja.
Ja, wie gesagt,
also Alex und Benjamins Amnesie,
die waren organisch,
also ausgelöst durch den Unfall,
beziehungsweise bei Benjamin
hat man halt angenommen,
dass der zusammengeschlagen
und natürlich dann ausgeraubt wurde.
So eine Amnesie kann aber auch beispielsweise
durch eine Hirnhautentzündung auftreten
oder nach einem Schlaganfall,
nach Vergiftung
oder wenn man Psychopharmaka zu sich genommen hat
und das übel ausging.
Manche Amnesien haben aber einen anderen Ursprung
und zwar einen psychologisch bedingten.
Das nennt man dissoziative Amnesie
und die kommt zum Teil
nach extremen seelischen Belastungen vor,
also beispielsweise nach Stress
oder halt sehr traumatischen Erfahrungen.
Da kann das dann auch sein,
dass betroffene Lücken
in ihrer ganzen Lebensgeschichte haben,
aber ist natürlich auch sehr selten.
Häufiger ist das,
dass man sich vor allem
an das auslösende traumatische Ereignis
halt nicht mehr erinnern kann.
Ja, und das war bei Annika im Grunde ja auch so,
obwohl das bei ihr jetzt nicht explizit
diagnostiziert wurde,
also keine Amnesie oder so.
Aber sie war ja auch noch sehr jung.
Das Ding ist,
sie konnte sich nicht an die Tat erinnern,
aber zum Beispiel schon an das Haus,
in das sie dann kurz nach dem Vorfall gezogen ist.
Also daran konnte sie sich schon erinnern.
Ja, und was bei Annika ja auch noch dazu kam
und was bei dieser Art der Amnesie
tatsächlich häufig vorkommt,
ist, dass sich die Betroffenen
der eigenen Amnesie gar nicht bewusst sind
oder sie halt herunterspielen.
Wenn sich traumatische Ereignisse wiederholen
oder halt sehr lange anhalten,
vor allem wenn sie in der Kindheit passieren,
dann kann sich die Amnesie auch
über einen längeren Zeitraum ziehen.
Also beispielsweise,
dass man dann ein Jahr
oder einen Monat ausblendet oder so.
Und das macht der Körper,
weil das als so eine Art
Schutzmechanismus funktionieren kann.
Also weil man sich dann halt
mit diesen belastenden
und schmerzhaften Erinnerungen
nicht mehr auseinandersetzen muss,
wenn die abgespaltet sind.
Bei Annika hat das ja funktioniert,
also dass sie sich an das Ereignis
dann halt gar nicht mehr erinnern konnte.
Bei anderen ist es dann so,
das wird so wie eine Art Rohformat abgespeichert.
Also man kann sich dann nur an bestimmte Sachen erinnern,
an andere gar nicht.
Und ich habe mal mit einer Betroffenen geredet,
die eine Missbrauchserfahrung hatte.
Und die hat mir gesagt,
dass sie sich beispielsweise noch an Gerüche
von dem Tag erinnert
oder was vorher gesprochen wurde,
aber nicht an die zeitliche Abfolge
des Geschehens.
Also sie weiß die einzelnen Sachen,
aber nicht, wann was war.
So splitterartig ist das im Gehirn.
Überall hängen irgendwelche Teile,
aber es ist nicht zusammenhängend.
Jetzt könnte man ja meinen,
ach na ja, wenn sich jemand
gar nicht mehr an die Tat erinnert,
dann kann das ja super für die Person sein,
weil dann ist das ja,
als wäre das nicht passiert.
Das ist aber meistens eben nicht so,
weil diese Tat, die passiert ist,
die kann trotzdem
das aktuelle Verhalten beeinträchtigen,
auch wenn man sich gar nicht daran erinnert.
Also dass man beispielsweise Orte meidet
oder bei einem Geruch
auf einmal so ein ganz abstrakt
schlimmes Gefühl bekommt.
Man weiß aber nicht, woher oder was es ist.
Und das kann natürlich auch total belastend sein.
In dem Fall gibt es aber Hoffnung.
Also man kann diese Erinnerung
dann auch wieder zurückholen,
beispielsweise durch Therapie.
Aber die sind dann halt nicht immer vollständig.
Also es kann sein,
dass bestimmte Dinge
einfach immer im Dunkeln bleiben.
Und das kann abgesehen natürlich
von der eigenen Aufarbeitung
noch ganz andere Probleme mit sich bringen,
beispielsweise bei einem Prozess.
Und zwar sowohl,
wenn man das Opfer
mit Erinnerungsverlust oder Lücken ist,
als auch als beschuldigte Person.
Weil manche TäterInnen
wollen halt auch eine Amnesie
in Bezug auf die Tat haben.
Und da stellt sich dann natürlich
dem Gericht die Frage,
täuscht die Person das nur vor?
Also ein bekannter Fall
ist beispielsweise Rudolf Hess,
Reichsminister.
Und der gab während
der Nürnberger Prozesse an,
dass er sich nicht daran erinnern könne,
was im Dritten Reich passiert sei.
Alles klar.
Ja.
Später hat er dann aber zugegeben,
dass er das aus taktischen Gründen
nur behauptet hat.
Und es gibt tatsächlich
einige Untersuchungen dazu,
wie häufig so eine angebliche Amnesie
in Bezug auf Strafsachen vorkommt.
Und man kann sagen,
das sind so 25 bis 50 Prozent
der TäterInnen,
die das vorgeben zu haben,
aber nicht immer,
also nicht von wegen,
ich erinnere mich an gar nichts,
aber die dann halt
eine partielle Amnesie
gelten machen wollen.
Also die sich dann auch
an bestimmte Dinge der Tat
nicht mehr erinnern.
Ja, und das ist natürlich
auch sehr schlau,
wenn es dann zum Beispiel
vielleicht um Mord
oder Totschlag geht
und die Person kann sich
aber dann nicht mehr
genau daran erinnern,
wie sie sich dem Opfer
jetzt genährt hat.
Also von hinten
und die Person war
vielleicht arglos
oder doch von vorne.
Aber Mist,
ich kann mich jetzt
gar nicht mehr daran erinnern.
Ja, also ich würde sagen,
die bessere Variante
wäre immer zu schweigen.
Aber ja klar,
also da muss natürlich
mit einem Gutachten
untersucht werden,
ob die Erinnerung
an die Tat
wirklich ausgelöscht ist
oder ob man das
nur simuliert.
Weil wenn so eine Amnesie
bejaht wird,
auch wenn die nur partiell ist,
dann kann das halt auch
im Zweifel einen Einfluss
auf die Schuldfähigkeit
zum Beispiel haben.
Also ich kann mir schon vorstellen,
dass das bei einigen
TäterInnen
tatsächlich stimmt.
Weil ich glaube nicht,
dass es so unbeeindruckend ist,
für viele Menschen zu töten
und dieses Erlebnis
dann durch so eine Dissoziation
abzuspalten,
weil man so viel Scham
auch empfindet
und so viel Schuld,
wenn sie es denn tun,
dann ist das natürlich was,
was auf beiden Seiten funktioniert.
Also auch wenn du selbst
was getan hast.
Ja, auf jeden Fall
bei Einzelnen.
Aber wenn ich höre,
25 bis 50 Prozent
wollen das Geld machen,
dann denkt man sich so,
Ja.
Ja, klar, genau.
So oder so,
wenn jemand sagt,
er oder sie kann sich
an die Tat nicht erinnern
und die Erinnerungen
dann aber wichtig,
um den Fall aufzuklären,
dann fehlen dem Gericht
natürlich wichtige
Beweismittel zur Urteilsfindung.
Und diese Probleme
gibt es dann natürlich auch,
wenn die Betroffenen
unter so einer
dissoziativen Amnesie
oder partiellen Amnesie
in Bezug auf die Tat leiden.
Und damit können wir jetzt
vielleicht auch mal
diesem Reflex entgegenwirken,
dass die Leute sagen,
hä, na, also
du wurdest da vergewaltigt
oder fast vergewaltigt.
Das ist doch
ein schlimmes Ereignis.
Wie kann es sein,
dass du dich daran
jetzt nicht genau erinnerst?
Das hat man ja auch
schon öfter mal gehört.
Das Ding ist,
wenn wir jetzt
einen Prozess haben,
in dem es Aussage
gegen Aussage steht,
das Opfer sich aber
erst Jahre später
und auch nur lückenhaft
wieder erinnert
und wir keine anderen Beweise
für einen sexuellen Missbrauch
sagen wir mal haben.
Was passiert dann?
Professorin Renate Vollbert,
rechtspsychologische Gutachterin,
hat uns erklärt,
dass auch da
das Gericht erst schauen muss,
ob die Aussage
auch einen anderen Hintergrund
haben kann
als ein tatsächliches Erlebnis.
Also beispielsweise
eine absichtliche
Falschbeschuldigung
oder man meint,
sich an etwas erinnern zu können,
was aber gar nicht
stattgefunden hat.
Zu dem Phänomen
kommen wir gleich nochmal.
Wichtig sei,
dass ein Gericht
für eine Verurteilung
einen konkreten Tathergang
zugrunde legen kann.
Und wenn es jetzt
Lücken bei peripheren
Informationen gibt,
also zum Beispiel,
ob die eine
oder die andere
Handlung zuerst geschehen ist
oder wie man genau
vom Sofa
auf den Fußboden
gekommen ist
oder ob man ein T-Shirt
oder eine Bluse anhatte
oder auch wann genau
und wie häufig
ein Missbrauch geschehen ist,
das spielt in der Regel
keine relevante Rolle,
sagt sie,
wenn sich die Lücke
aber auf größere
Zeitabschnitte
oder auf relevante
inhaltliche Aspekte
beziehen,
also zum Beispiel
einem Vergewaltigungsvorwurf,
wie man in die Wohnung
einer Person gekommen ist
oder ob es vorher
Gespräche über sexuelle
Handlungen gegeben hat,
dann kann sich eine Handlung
möglicherweise
ganz anders darstellen,
weil man dann
ja nicht weiß,
was in dieser Lücke
passiert ist.
Und wenn man
keine anderen Beweise
als eine Aussage hat
und diese Aussage
dann solche
relevanten Lücken
aufweist,
dann lässt sich
dieser Tatvergangenheit
eben nicht
mit Gewissheit
rekonstruieren.
Und generell können
ZeugInnen-Aussagen
problematisch sein.
Das hat auch damit zu tun,
dass man Erinnerungen
relativ leicht manipulieren kann.
Das hat die US-amerikanische
Gedächtnisforscherin
Elizabeth Loftus
sogar schon in den
70er Jahren gezeigt
und zwar mit einem Experiment,
bei dem sie ihren
ProbandInnen ein Video
von einem
Auffahrunfall
vorgespielt hat
und danach
verschiedene Fragen
gestellt hat.
Einmal wollte sie wissen,
wie schnell das Auto war,
als es das andere
berührte
und einmal wie schnell es war,
als es in das andere
einschlug.
Also die hat da nur
das Verb in der Frage
verändert
und je nachdem,
wie intensiv das Wort war,
haben die Teilnehmenden
die Geschwindigkeit
anders eingeschätzt.
Also bei Berühren
war das Auto
für sie langsamer,
bei Einschlagen
schneller.
Als sie dann eine Woche
später nochmal nachgefragt hat,
haben einige,
die nach diesem
einschlagenden Auto
gefragt wurden,
sogar angegeben,
dass sie in dem Video
von dem Unfall
zerbrochenes Glas
gesehen hätten,
das es aber gar nicht gab.
Also da hat das
eine Wort in der Frage
schon zu komplett
unterschiedlichen Antworten
geführt und ja sogar dazu,
dass Dinge erinnert wurden,
die gar nicht passiert sind.
Ja und ich sage mal,
da geht es jetzt halt
nur um das Tempo
in einem Straßenverkehr.
Also es war ein Versuch,
aber bei einem
Ermittlungsverfahren,
da können solche
ZeugInnen auch sagen,
dann halt echte
Konsequenzen haben.
also wenn es jetzt
um Gewalt
oder Tötungsdelikte geht
und man ist sich ja
dieser Fehlbarkeit
von solchen Aussagen
bewusst,
aber natürlich
müssen sie trotzdem
entscheidende Beweismittel
bei einer Verurteilung
sein.
Nun hat allerdings
das Innocence Project
herausgefunden,
dass falsche Erinnerungen
der häufigste Grund
für Fehlurteile
in den USA sind.
Weil dieses Projekt,
das hat in den USA
300 Urteile untersucht,
wo sich dann halt später
anhand von DNA-Tests
herausgestellt hatte,
dass die Angeklagten
zu Unrecht verurteilt wurden
und mehr als 70 Prozent
dieser Menschen
landeten im Gefängnis,
weil sich die ZeugInnen
nicht richtig erinnert haben.
Jetzt ist uns aber klar,
trotzdem kann man ja
nicht darauf verzichten
und deshalb muss halt
ein Gericht immer entscheiden,
wie glaubhaft
eine Aussage ist
und wie glaubwürdig
der Zeuge
beziehungsweise die ZeugInnen.
Dieses Thema mit der
Glaubwürdigkeit,
das hatten wir auch schon mal
in Folge 67.
Da hatte ich diesen Fall
von dem vierjährigen Julian
erzählt,
vielleicht erinnert ihr euch,
der wurde 1981
in Oldenburg ermordet
und die Polizei
hat da 26 Jahre
im Dunkeln getappt,
bis sich irgendwann
die Cousine
des Opfers meldete
und meinte sich zu erinnern,
wie sie als Neunjährige
beobachtet hatte,
wie ihr Cousin
getötet wurde
und zwar von seiner eigenen Mutter,
also von ihrer Tante
und sie erzählte dann
unter anderem,
dass sie Mutter und Sohn
damals auf dem Fahrrad
verfolgt habe
und dabei durch
ein Einkaufszentrum
gefahren sei
und dann stellte sich
aber später heraus,
dass es dieses Einkaufszentrum
zu dem Zeitpunkt
noch gar nicht gab
und der Gutachter
im Prozess,
der kam dann zu dem Schluss,
dass die Frau
das aber nicht absichtlich
erfunden hat,
um ihre Tante
ranzukriegen oder so,
also nicht absichtlich lügt,
sondern halt eine
sogenannte Scheinerinnerung hat,
also sie glaubte sich
wirklich daran erinnern zu können
und weil sich dadurch
aber dann halt nicht mehr
trennen ließ,
was sind jetzt eigentlich
echte und was falsche Erinnerungen,
war ihre komplette Aussage
dann halt nicht mehr glaubhaft
und somit wurde die Tante
dann halt am Ende
auch freigesprochen.
Und solche Scheinerinnerungen,
die können unter anderem
entstehen,
wenn Personen
in einer bestimmten Art
und Weise befragt werden,
zum Beispiel durch die Polizei.
Da ist es deswegen
besonders wichtig,
dass man ganz offen
nachfragt
und eben nicht
suggestiv,
um halt
keine falschen Erinnerungen
hervorzurufen.
Und ich sage jetzt hier
bewusst
hervorrufen,
weil ich
das Wort
einpflanzen
an der Stelle
vielleicht ein bisschen
problematisch finde,
weil ich ja jetzt
Polizeibeamtinnen
nicht vorwerfen würde,
dass das das Ziel wäre,
weil das würde ja
in eine falsche Richtung gehen.
Aber die Forschung
legt schon nahe,
dass man grundsätzlich
Erinnerungen
einpflanzen kann,
weil Erinnerungen
sind immer voller Lücken.
Ihr wisst ja jetzt,
wir rekonstruieren,
was früher passiert ist
und spulen das nicht
sozusagen ab
und jede Lücke
kann sozusagen
als Tor fungieren,
durch das man dann
falsche Erinnerungen
einschleusen kann.
Und besonders gut
können das
Vertrauenspersonen,
zu denen man
irgendeine Verbindung hat.
Entweder eine
Vertrauensperson
oder eine mit Autorität,
also zum Beispiel
eben PolizistInnen,
TherapeutInnen
oder auch einfach
die eigenen Eltern.
Und wie einfach
das ist,
jemandem zum Beispiel
einzureden,
er oder sie sei
in der Kindheit
mal verloren gegangen,
das hat die
Psychologie-Professorin
Aileen Oebers
mit einem Experiment
gezeigt.
Und dafür hat sie
52 Versuchspersonen
dreimal befragt.
Vorher hat sie
die Eltern der Teilnehmenden
eingeweiht
und mit denen halt
über die
Familienurlaube
früher gesprochen.
Und dann hat sie sich
irgendwann mit den
ProbandInnen hingesetzt
und gesagt,
deine Eltern haben mir
erzählt, dass du damals
auf dem Campingplatz
in Italien verloren
gegangen bist.
Was weißt du noch
darüber?
Und bei denen,
bei denen sie dann
oft nachgefragt hat
und immer wieder
gesagt hat,
denk doch noch mal
genauer darüber nach.
An was erinnert
an was erinnerst du dich
sonst noch?
Etc.
Da waren sich dann
zum Schluss mehr als
die Hälfte der Personen
sicher, als Kind in diesem
Urlaub auch verloren
gegangen zu sein.
Und dass das funktioniert
hat, lässt sich einmal
darauf zurückführen,
dass Aileen Oebers
den ProbandInnen ja als
Wissenschaftlerin
gegenüber saß,
mit einer gewissen
Autorität.
Und dann hat sie ja auch
noch auf die Eltern
als Autoritätspersonen
verwiesen, mit denen man
ja auch eine enge
Bindung hat.
Und sie hat halt sehr
suggestiv gearbeitet.
Also indem man zum Beispiel
von vornherein gesagt hat,
du bist da im Urlaub
verloren gegangen,
das ist ein Fakt.
Und in dem Zusammenhang
mit diesem Experiment,
da stellt sich natürlich
die Frage,
was kann man Menschen
noch alles einreden,
wenn die sich wirklich
an sowas dann auf einmal
erinnern?
Und eine englische Studie
aus dem Jahr 2015,
die wollte zum Beispiel
herausfinden, ob sich
Menschen auch an eine
Straftat erinnern,
die sie in Wirklichkeit
nie begangen haben.
Und zwar indem man am
Anfang nur gesagt hat,
ihre Eltern haben
erzählt, dass sie in dem
und dem Alter,
an dem und dem Ort
mal mit der Polizei
zu tun hatten.
Und über suggestive
Befragungstechniken
und so Übungen,
bei denen man
eine vermeintliche
Erinnerung visualisiert,
hat das dann tatsächlich
bei knapp einem Drittel
der Teilnehmenden
funktioniert.
Also die meinten dann,
sich tatsächlich
daran zu erinnern,
wie sie als Kind
mal was geklaut haben
oder einem anderen Kind
die Nase gebrochen haben.
Das waren jetzt
keine schweren
Straftaten oder so,
weil da würde man
mit der Forschung
dann auch ein bisschen
an ethische Grenzen
stoßen.
Aber man hat halt
im Kleinen bewiesen,
dass es möglich ist,
dass man sich an so Sachen
erinnern kann,
die gar nicht passiert sind.
Es geht aber auch andersrum,
also dass man jemandem
suggeriert,
Opfer gewesen zu sein.
Sowas funktioniert
zum Beispiel
unter anderem
auch durch Therapie.
Der Spiegel hat im März
dieses Jahres
einen Artikel rausgebracht
und herausgefunden,
dass es einige
TherapeutInnen
in Deutschland gibt,
die die Erinnerungen
ihrer KlientInnen
so manipulieren,
dass die halt glauben,
sie seien Opfer
eines satanischen Kults.
Und eine dieser Betroffenen
ist Marlin.
Die ist anfangs
wegen ihres Stotterns
in Therapie gegangen
und dann hat man bei ihr
halt eine dissoziative
Identitätsstörung
diagnostiziert.
Also das ist das,
wo man seine Persönlichkeit
in verschiedene Teile
so abspaltet.
Und die komme
laut ihrer Therapeutin
daher,
dass Marlin
Opfer
eines Satan-Kults
gewesen sei.
halt als sie noch
ganz klein war.
Da hätten die Täter
und ihr Stiefvater
als Anführer
ihr Gedächtnis
so programmiert,
dass sie ihr ganzes Leben
lang hörig sei.
Und in etlichen
Therapiesitzungen
wird Marlin dann halt
dazu gedrängt,
vermeintliche Erinnerungen
an Opferzeremonien
hervorzuholen,
wo es dunkle Kutten gab
und Blut.
Und das sollte sie machen,
um sich halt davon zu lösen.
Die Therapeutin
hat dann auch noch gesagt,
dass sie den Kontakt
zu ihrer Familie
und zu ihren FreundInnen
abbrechen soll.
Und das Ding ist halt,
diese Therapeutin,
die hat das Ganze
nicht gemacht,
um sich finanziell
an ihr zu bereichern,
weil Marlin dann ja
immer wieder hingehen muss,
um sich behandeln zu lassen,
sondern weil die halt auch
wirklich davon überzeugt war,
dass es diesen Kult gibt.
Aber es gab
keine Beweise dafür.
Und so Fälle
kennt man ja schon
aus den USA,
aber von vor
keine Ahnung
wie vielen Jahren.
Also da gab es in den
80er, 90er Jahren
mal diese
Satanic Panic.
Und das hat damals
so angefangen,
dass ein Buch rauskam,
in dem eine Frau
zusammen mit ihrem Psychiater
dann auch beschreibt,
wie sie als fünfjährige Opfer
eines Satan-Kults
geworden sei.
Und daraufhin
haben sich dann
auf einmal tausende
Menschen gemeldet,
die angeblich
auch Erinnerungen
an genau so
einen Missbrauch hatten.
Aber auch da,
schon vor etlichen Jahren,
gab es keine Beweise,
dass es diese Kulte gab.
Und deswegen
bin ich auch so ein bisschen
erschrocken,
dass das jetzt auf einmal
in Deutschland ein Thema ist.
Ja, also
mich hat das auch
total überrascht,
als ich das gelesen habe.
Und bei Marlin
ging das halt
sogar so weit,
dass sie,
als sie ihrer Therapeutin
erzählt hat,
dass sie schwanger ist,
die ihr halt eingeredet hat,
dass das bei einer
rituellen Massenvergewaltigung
passiert sein soll.
Und die Therapeutin,
die erzählt das übrigens
nicht nur Marlin,
sondern halt auch
dem Jugendamt.
Und das schaltet
dann das Gericht ein.
Und das entscheidet
dann 2021,
dass Marlins Kind
in eine Pflegefamilie muss.
Und wie gesagt,
es gibt bis heute
keine Hinweise
auf die Existenz
dieses Satan-Kults.
Und man fragt sich doch,
wenn so viele
PatientInnen
von dieser Therapeutin
plötzlich dieses Opfer
gewesen sein sollen,
vor allem auch noch
in der jetzigen Zeit.
Das ist ja nicht nur was,
was in der Vergangenheit
passiert sein soll.
Denn müsste es ja
irgendwelche Beweise geben.
Und mir tut es so leid
für diese Marlin.
Ich finde das auch so irre,
dass sowas
in Deutschland passieren kann.
Dass dieses Gericht,
der jetzt das Kind
weggenommen hat,
auf Grundlage von
einer Therapeutin,
die irgendwas erzählt.
Also,
ich meine,
da würde man ja schon hoffen,
dass es ein paar mehr
Indizien geben müsste,
dass es dann
so eine Entscheidung
am Ende gibt.
Aber ich meine,
Marlin hat jetzt
glücklicherweise
selbst erkannt,
dass sie nicht
wirklich Opfer
von so einem Kult war,
sondern ja am Ende
Opfer ihrer eigenen
Therapeutin.
Aber allein der Fakt,
dass man mittlerweile weiß,
dass durch bestimmte
Techniken
in Therapien eben
Scheinerinnerungen
hervorgerufen werden können,
sorgt vor Gericht
natürlich für Probleme,
wie uns unsere Expertin
Aileen Oebers
nochmal erklärt hat.
Also nehmen wir jetzt
mal einen Fall
von einer Person,
die eine Aussage macht,
dass sie halt eben
missbraucht,
vergewaltigt wurde,
etc.
Und wir wissen erst mal
noch nicht,
ob das stimmt oder nicht.
Also ob dem Ganzen
wirklich ein echtes
Erleben zugrunde liegt
oder nicht.
Wenn es aber so ist,
dass diese Person
vorher suggestiv
entweder zum Beispiel
therapiert wurde
oder von Ermittlungsbehörden
suggestiv befragt würde
oder was auch immer,
dann muss man ganz klar sagen,
ein Kollege von mir
hat das immer beschrieben,
als dass es im Grunde
Beweismittelvernichtung,
weil man nicht mehr weiß,
ob diese Aussage
jetzt am Ende
zustande gekommen ist,
weil sie eben
suggestiv
therapiert wurde
oder suggestiv
befragt wurde
oder aber,
ob es halt eben
tatsächlich stimmte.
Also das heißt,
also so oder so
ist suggestive Befragung,
suggestives Arbeiten
hochproblematisch,
weil man selbst
auch in den Fällen,
wo wirklich etwas
passiert ist,
dann eigentlich einfach
das nicht mehr sicher
sagen kann,
weil vor Gericht
funktioniert es
sozusagen so,
dass man zum Beispiel
jetzt aussagepsychologische
Sachverständige
dann halt eben gucken,
ja, was wäre die
Alternativerklärung?
Eine Alternativerklärung
für echtes Erleben
wäre,
es ist suggeriert worden,
wenn ich dann sehe,
in dieser Vergangenheit
davor wurde ganz viel
suggestiv gearbeitet,
dann kann ich das
nicht mehr ausschließen
und dann wird diese Aussage
nicht mehr als
glaubhaft bewertet.
Und weil man
mittlerweile eben
erkannt hat,
dass das ein Problem
sein kann,
wurde in Deutschland
jetzt vor kurzem
eine Expertinnenkommission
gegründet und die soll
sich jetzt vor allem
aufgrund dieser
Scheinerinnerung im
Zusammenhang mit
ritueller Gewalt
anschauen,
inwieweit eine
Therapie die
Glaubhaftigkeit von
Aussagen beeinflussen
kann und wie man eben
dann vor Gericht damit
umgeht, wenn Zeuginnen
vorher in Therapie waren.
Aber vielleicht einmal
kurz zum Schluss, um das
in Relation zu setzen.
Renate Volbert, die als
Professorin für
Rechtspsychologie an der
Psychologischen Hochschule
Berlin die Glaubhaftigkeit
von Aussagen in
Strafverfahren beurteilt,
sagt in einem Interview mit
dem Magazin Spektrum der
Wissenschaft, dass
Scheinerinnerungen in der
Regel nicht entstehen, weil
ein Therapeut oder eine
Therapeutin sie bewusst
erzeugen möchte und dass die
auch nicht schnell und vor
allem auch nicht in der
Mehrheit der Therapien
entstehen, sondern dass das
ein Ergebnis von einer
Verkettung von Umständen
sein können.
Also zum Beispiel eben
suggestiver Befragungstechniken
oder der Art und Weise, wie
die Therapeutin oder der
Therapeut die Aussagen dann
eben interpretiert.
Also ihr braucht keine Sorge
haben, dass jetzt zum Beispiel
nach eurer nächsten
Therapiestunde glaubt, ein
Opfer von einem Satanskult
gewesen zu sein.
Was ich für diese Episode
eigentlich vorhatte, ist dir
eine Erinnerung einzupflanzen
à la Inception.
Ja.
Und zwar hatte ich da schon
unser Redaktionsteam teilweise
eingeweiht und ich wollte das
auch mit deinem Vater machen,
also dass du auch so eine
doppelte Bestätigung hast.
Hä, das hätte auf jeden Fall
funktioniert.
Ja, aber es wurde leider
vergessen.
Von dir oder was?
Von mir und aber auch von dem
Team, was ich auch was
überlegen sollte.
Boah, das hätte ich so cool
gefunden.
Und ja, es hätte auf jeden Fall
geklappt.
Aber ja, vielleicht ist auch gut,
dass du es nicht gemacht hast,
weil man weiß ja nicht, weiß ja
nicht, was du dir dann
ausgedacht hättest und vielleicht
wäre das für meine Psyche echt
schlecht gewesen, weil ich es dann
ja auch geglaubt hätte.
Ja, ich hätte auf jeden Fall
was psychisch Belastendes für dich
genommen.
Aber ich weiß gar nicht, ob das so
funktioniert hätte, weil, weißt du,
ich glaube, du bist recht einfach
zu überzeugen, wenn wir dir
gesagt hätten, na, du hast uns doch
erzählt oder du hast da doch das
und das gemacht.
Ja.
Aber du sagst dann immer so, naja, ich
soll ja das gemacht haben.
Weißt du, also ich glaube, du
hättest es dann schon irgendwann
geglaubt.
Ich glaube aber nicht, dass du dich
ernsthaft daran erinnert hättest.
Ja, wahrscheinlich hätte das ein
bisschen mehr gebraucht, aber wenn
schon von verschiedenen Seiten und
dann noch meinen Papa mit
reingeholt, weil mein Papa, der
würde mich nie anlügen.
Also das würde ich wirklich so
unterschreiben.
Ja, dann hätte ich auf den eh
nicht zählen können.
Ja, wahrscheinlich.
Oder er hätte das so richtig
schlecht gemacht, dass ich das
direkt gemerkt hätte.
Ja, super.
Da hätte ich dann eher Julian,
deinen Bruder, gefragt.
Aber dem glaubst du halt nicht
so viel.
Stimmt.
Das war ein Podcast der Partner
in Crime.
Hosts und Produktion Paulina
Kraser und Laura Wohlers.
Redaktion Magdalena Höcherl und
wir.
Schnitt Pauline Korb.