Zurück zur Startseite

#143 Wettlauf gegen die zeit

Das hier ist eine neue Folge eures hoffentlich Lieblings-Podcasts, aber heute ist auch wieder
eine neue Folge eures anderen Lieblings-Podcasts rausgekommen, Justitias Wille.
Es ist eine ganz besondere Folge, denn Paulina hat mit dem Angeklagten persönlich gesprochen.
Genau, das Gespräch war zwei Stunden lang und er hat uns seine Sicht auf die Dinge geschildert.
Er erzählt uns vor allem auch, warum er der Überzeugung ist, dass es richtig war, der 37-jährigen Studentin bei ihrem Suizid zu helfen
und verrät auch, warum er ziemlich optimistisch ist, dass er nicht verurteilt wird.
Und ich finde, man lernt ihn auch als Menschen halt eben kennen, was davor nicht so richtig der Fall ist
oder was vor Gericht auch oft so ein bisschen außen vor bleibt.
Genau, wenn man eine Person sprechen hört, alleine wie sie sich artikuliert, wie die Stimmlage ist und so,
hat man ja nochmal ein ganz anderes Bild, als wenn wir diese Person zeichnen auf Grundlage unserer Beobachtung.
Genau, das ist mittlerweile die fünfte Folge. Hört euch das an, es lohnt sich.
Wir packen nochmal den Link vorsichtshalber in die Folgenbeschreibung, damit ihr direkt hinfindet.
Und jetzt geht's los mit Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
Heute haben wir euch wieder einen Kriminalfall mitgebracht, den wir gemeinsam erzählen
und der uns nachhaltig beschäftigt hat und dieses Mal sehr besonders ist, weil eine beteiligte Person zu Wort kommt.
Hier geht's um True Crime, also auch um die Schicksale von Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
Das machen wir auch, selbst dann, wenn wir zwischendurch mal etwas lockerer miteinander sprechen.
Das ist für uns so eine Art Comic Relief, aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
Der Fall, den wir euch heute erzählen, handelt von einem Wettlauf gegen die Zeit,
einem Ermittler, der sich an jeden Strohhalm klammert und einem Verbrechen, das zeigt,
dass Ignoranz und Verdrängung tödliche Folgen haben können.
Einige Namen haben wir geändert und die Triggerwarnung findet ihr in der Folgenbeschreibung.
Noch ist er aufzuhalten, der süßlich stechende Geruch, der die Besenkammer erfüllt.
Doch lange wird die Tür ihn nicht mehr daran hindern können, sich in der gesamten Wohnung auszubreiten.
Vor allem nicht bei diesen Temperaturen.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man ihn auch in den anderen Räumen riechen wird.
Und spätestens dann wird es unmöglich sein, weiter zu verdrängen,
was sich in den rot-braunen befleckten Plastiktüten verbirgt.
Etwa eine Woche später.
Sonne, satt und strahlend blauer Himmel.
Daran können sich die Menschen in Niedersachsen bereits seit einigen Tagen erfreuen.
Bei vielen wecken die Temperaturen über der 30-Grad-Marke die Lust auf Unternehmung.
Anderen ist nach Entspannen zumute.
So auch Jürgen Schmidt.
Der 51-Jährige will die wohltuenden Sonnenstrahlen an diesem Sonntagnachmittag des 26. Juni 2005 auf seiner Terrasse einfangen.
Nachdem er es sich auf einem Stuhl bequem gemacht hat, lässt er seinen Blick,
geschärft durch die rahmenlose Brille, die er trägt, über seinen Gartenschweifen.
Richtig schön hat er es hier.
Ein Gedanke, der den Mann mit dem graumelierten kurzen Haar und dem Zwiebelbart zum Lächeln bringt.
Denn Garten und Terrasse sind Dinge, die er in seinem Alltag nur selten genießen kann.
Jürgen Schmidt ist Kriminalkommissar.
Ein Job, der sich nicht gerade durch geregelte Arbeitszeiten und 40-Stunden-Wochen auszeichnet.
Und seit Jürgen vor 13 Jahren die Leitung der Gifhorner Kripo übernommen hat,
verbringt er ohnehin mehr Stunden im Polizeidienst als in seinem Eigenheim in einem Dorf bei Gifhorn.
Ein Problem hat er damit jedoch nicht.
Im Gegenteil, Jürgen liebt seine Arbeit, wie er uns erzählt.
Mir ist sehr früh während meiner Laufbahn klar geworden,
dass der Beruf des Kriminalisten nicht nur einfach ein Job zum Geldverdienen ist.
Für mich war es immer Berufung und ist es auch noch.
Das hängt sicherlich unter anderem mit meinem Gerechtigkeitssinn zusammen.
Ich hasse Ungerechtigkeiten.
Ich konnte und ich kann es nicht leiden, wenn andere,
und ich will das mal so ein bisschen allgemein umschreiben,
wenn andere ihr asoziales, böses, kriminelles Verhalten zeigen
und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Und diese kriminellen Menschen, die machen kein Wochenende.
Der Sonntag ist gerade einmal bis zum Mittag verstrichen,
als Jürgen plötzlich das Klingeln seines Diensthandys hört.
Er nimmt den Anruf an und am anderen Ende der Leitung
meldet sich ein Kollege von der Schutzpolizei.
Noch während er Jürgen die Nachricht überbringt,
wegen der er angerufen hat,
erhebt sich der Kriminalkommissar von seinem Platz,
um seine Autoschlüssel zu schnappen.
Terrasse und Garten wird er heute nicht mehr genießen können.
Kurze Zeit später.
Der Waller See ist an diesen Sonnentagen
ein beliebtes Ausflugsziel für die Menschen im Landkreis Gifhorn
und der nahegelegenen Stadt Braunschweig.
Während AnglerInnen am Fischteich ihre Ruten auswerfen
und Spazierwütige ihre Hunde ausführen,
finden andere im zugehörigen Badesee,
der eigentlich nicht mehr als eine geflutete Kiesgrube ist,
Abkühlung.
Ein Weg, aus dessen Erde Gras und Unkraut ragen,
trennt die beiden Teiche voneinander.
Eingebettet in eine sattgrüne Kulisse aus Bäumen, Büschen und Sträuchern
wirkt das Naherholungsgebiet kurz vor Braunschweig
an jedem anderen Tag idyllisch.
Nicht heute, als Jürgen wegen der tragischen Entdeckung
das mittlerweile abgesperrte Seeufer betritt.
Auf der Fahrt hierher hat er immer wieder darüber nachgedacht,
was der Beamte ihm am Telefon erzählt hat.
Dass die Kinder eines Anglers eine Plastiktüte entdeckt hatten,
in der sich offenbar ein toter Säugling befindet.
Jürgen hat daraufhin bereits im Auto erste Überlegung angestellt.
Er ist kein Mensch, der sofort vom Schlimmsten ausgeht.
Daran haben auch Jahrzehnte im Polizeidienst nichts geändert.
Vielleicht handelt es sich bei dem Leichenfund ja um eine Fehl- oder Totgeburt.
Das wäre natürlich auch traurig,
aber immerhin hätte er es dann nicht mit einem Tötungsdelikt zu tun.
Doch dass das Schlimmste manchmal eben doch die traurige Realität ist,
zeigt sich an diesem Nachmittag,
als Jürgen sich über die blutbefleckte Plastiktüte beugt,
die da aus dem Ufersand hinausragt.
Vorsichtig nähert er sich der Tüte und wagt einen Blick hinein.
An den süßlich-faulen Geruch, der ihm in die Nase strömt,
wird er sich wohl nie gewöhnen.
Bei dem toten Neugeborenen,
das eingewickelt in einem blutgetränkten Handtuch
in zwei Plastiktüten zu Jürgens Füßen liegt,
hat die Verwesung bereits begonnen.
Auch jetzt, nach seinem Tod,
verbindet die Nabelschnur den kleinen Körper noch mit der Plazenta,
die sich ebenfalls in den Tüten befindet.
Ein furchtbarer Anblick.
Jürgen atmet tief durch.
Er hat sich über die Jahre aneignen müssen,
so etwas nicht zu nah an sich ranzulassen.
Für ihn ist ein Leichnam erst mal eine Spur an einem Tatwort.
Ich habe gelernt, in solchen Situationen keine Emotionen zuzulassen.
Gerade im vorliegenden Fall ist es ganz wichtig,
sich am Tatort auf seine Aufgaben zu konzentrieren.
Ich darf die Grausamkeit des Verbrechens nicht an mich heranlassen,
sondern muss die Situation kühl, analytisch und auch unvoreingenommen betrachten.
Sonst bin ich nicht zu einer objektiven Bewertung der Situation fähig.
Ich habe wirklich gelernt, mich in dieser Situation abzuschotten
und nur noch die Sache in den Vordergrund zu schieben
und hier professionell zu sehen,
was kann ich dort aus kriminalistischen Gründen mit diesem Tatort anfangen.
Und wie wichtig es ist, dass Jürgen seine Arbeit machen kann,
wird hier einmal mehr klar.
Denn lange muss er den kleinen Körper nicht betrachten,
um das Offensichtliche zu erkennen.
Jürgen erkennt, dieses Kind wurde nicht nur entsorgt wie Müll,
ihm wurde vorher auch die Kehle durchgeschnitten.
Oder besser gesagt, ihr.
Denn als Jürgen den geschundenen Körper gemeinsam mit einem Rechtsmediziner
komplett aus dem Handtuch wickelt, stellt er fest, es ist ein Mädchen.
Unmittelbar nach dem Fund des toten Babys beginnt am Nachmittag die Spurensuche.
Konzentriert suchen PolizistInnen und KriminaltechnikerInnen in steril weißen Anzügen
den Uferbereich und das umliegende Gelände ab.
Eine echte Mammutaufgabe.
Denn zu finden gibt es hier einiges.
Zahlreiche Zigarettenkippen liegen auf dem Boden,
außerdem Getränkedosen,
benutzte Taschentücher und Grillreste.
Da es für die ExpertInnen unmöglich ist, zu differenzieren,
welche Müllreste tatrelevant sein könnten und welche nicht,
verstauen sie nahezu alles, was sie finden können,
in durchsichtigen Plastikbeuteln.
Auch Spürhunde kommen zum Einsatz,
sowie TaucherInnen der Bereitschaftspolizei.
Jürgen hat all diese Maßnahmen im Blick,
schließlich hat er sie eingeleitet.
Als Kripochef muss er vor allem koordinieren.
Immer wieder informiert er ExpertInnen und Einsatzkräfte,
die am Tatort dazustoßen über den Sachverhalt.
Als es zu dämmern beginnt,
wird die Babyleiche in einem kleinen Kinderleichensack verpackt.
Nachdenklich blickt Jürgen anschließend dem Wagen des Bestatters hinterher,
der den Körper nun zur Obduktion nach Hannover bringen wird.
Der Rechtsmediziner sowie einige von Jürgens KollegInnen fahren hinterher,
um dabei zu sein.
Sie sind es auch,
die Jürgen schließlich gegen Mitternacht telefonisch über die Ergebnisse informieren.
Jürgen sitzt mittlerweile seit einigen Stunden in seinem Büro,
als er erfährt,
dass der Säugling definitiv lebendig zur Welt gekommen ist.
Das habe die Untersuchung der kleinen Nunge ergeben.
Unmittelbar danach sei dem Kind ein Schnitt am Hals zugefügt worden,
woran es verblutet sei.
Aufgrund des Verwesungszustandes habe der Pathologe den Tod des Kindes
auf etwa drei bis sieben Tage vor dem Leichenfund datiert.
Jürgen bedankt sich und legt auf.
Sein Kopf raucht nach diesem langen Arbeitstag.
Er ist müde und erschöpft.
Doch gut schlafen,
da ist er sich sicher,
wird er heute Nacht nicht können.
In den kommenden Tagen nehmen die Ermittlungen weiter Fahrt auf.
Jürgen ist fest entschlossen.
Er will herausfinden,
wer für den Tod des Babys verantwortlich ist.
Das ist das Letzte,
das er nun noch für das kleine Mädchen tun kann.
Und womöglich sind er und seine KollegInnen der Mordkommission Baby,
die er ins Leben gerufen hat,
bereits ganz nah dran.
An dem Handtuch,
in das der Leichnam eingewickelt war,
konnte die Kriminaltechnik die DNA
einer ganz bestimmten Person extrahieren.
Nämlich die der Mutter.
Gebannt wartet Jürgen den Abgleich
mit der bundesweiten Datenbank ab.
Doch eine Übereinstimmung gibt es nicht.
Dass die Frau es bis jetzt noch nicht mit ihrer DNA
in die einschlägigen Datenbanken geschafft hat,
ist alles, was Jürgen über sie weiß.
Doch das will er ändern.
Der Kripo-Chef und seine KollegInnen
setzen nun alles daran,
die Kindsmutter aufzuspüren.
Weil sich der Säugling in Plastiktüten
bekannter Supermarktketten befand,
erkundigt sich die Kriminalpolizei
in nahegelegenen Filialen
nach schwangeren Kundinnen,
die in den letzten Tagen entbunden haben könnten.
Doch an so eine Frau kann sich niemand erinnern.
Und auch die Befragung in Apotheken
und gynäkologischen Praxen
bringt keine vielversprechende Spur hervor.
Die ersten Tage der Ermittlungen
verlangen Jürgen vor allem körperlich viel ab.
So etwas wie Feierabend
rückt oft nicht nur in weite Ferne.
An einigen Tagen ist er nahezu nicht existent.
Ermittlungen sind immer sehr zeitintensiv.
Insbesondere in den ersten Tagen
nach Bekanntwerden der Tat
oder nach dem Fund einer Leiche.
Es gilt der kriminalistische Grundsatz,
wenn man nicht innerhalb der ersten drei Tage
eine heiße Spur kriegt,
dann werden es sehr langwierige Ermittlungen.
Insofern ist es wirklich so,
man setzt dann alles daran
und muss ganz, ganz viele Maßnahmen
auch gleichzeitig treffen.
Es müssen ganz viele Dinge
parallel nebeneinander geschehen.
Und das setzt natürlich voraus,
dass man eben nicht nach acht Stunden
aufhört zu arbeiten,
sondern 14, 16, 18 Stunden im Dienst ist.
Teilweise auch bis zu 48 Stunden
ohne Schlaf auskommen muss.
Oder aber auch nur kurz zum Duschen,
zum Wäsche wechseln nach Hause fehlt
und dann wieder im Dienst ist.
Das ist einfach erforderlich.
Denn wenn man in dieser Phase
nicht ganz, ganz eng an der Sache dran bleibt,
dann gehen eben Spuren verloren,
dann gehen auch Informationen verloren,
die man nicht wiederbringen kann.
In den wenigen Stunden,
in denen er zu Hause ist,
will der Kriminalkommissar zumindest versuchen,
irgendwie zur Ruhe zu kommen.
Doch das ist gar nicht so einfach.
Denn sobald er spätabends
die Haustür aufschließt,
ist er nicht mehr nur Kommissar Schmidt.
Dann ist er Jürgen.
Ein Vater von vier Kindern
und ein Mensch ohne analytische Brille.
Bei Ermittlungen in emotionalen Fällen wie diesem
ist Jürgen besonders froh,
dass er seine Frau Kerstin hat.
Auch sie ist Kriminalbeamtin.
Zwar arbeiten Jürgen und Kerstin
auf unterschiedlichen Dienststellen,
doch Jürgens Frau weiß,
wie wichtig es ist,
über das Erlebte zu sprechen.
An den späten Juniabenden 2005
sitzen sie oft beisammen.
Wieso tötet man ein unschuldiges Baby?
Und wie kann man überhaupt in der Lage sein,
einem Neugeborenen
solche Gewalt anzutun?
Es sind Fragen,
auf die sie keine Antwort finden.
Zumindest noch nicht.
Ein paar Tage später.
Die Mordkommission Baby
hat einen vielversprechenden Hinweis erhalten.
Zwei Angler berichten,
dass sie am vergangenen Samstag,
einen Tag vor der Entdeckung
des toten Säuglings,
eine merkwürdige Beobachtung
am Wallersee gemacht haben.
Eine blasse junge Frau
mit einem Rucksack
sei aus südwestlicher Richtung
auf dem Mittelgang entlang gelaufen,
der sich zwischen
den beiden Teilchen erstreckt.
Ein beschwerlicher Weg,
der mit Verbotsschildern
gekennzeichnet ist
und auf dem Stacheldraht rollen liegen.
Einer der Angler
habe die Frau angesprochen,
ob sie die Schilder
nicht gesehen habe.
Doch mehr als ein knappes
Nein
habe sie nicht geantwortet
und ihren Weg
zügig fortgesetzt.
Ist das etwa
die gesuchte Kindsmutter?
Jürgen ist überzeugt,
hier passt so einiges.
Der umständliche Weg,
der darauf hindeutet,
dass sie unentdeckt bleiben wollte
und der Rucksack,
der vielleicht Platz
für eine Babyleiche geboten hätte.
Und die Figur der Frau.
Der Kripo-Chef ist guter Dinge.
Dieser Hinweis
löst bei uns
eine gewisse Zuversicht aus.
Die Frau ist durch ihr Verhalten,
durch ihre Erscheinung
schon verdächtig aufgefallen.
Wir können ein gutes
Phantombild erstellen
und wir haben damit
einen Anpacker,
um konkret nach ihr zu suchen.
Das ist eigentlich so
der erste konkrete Hinweis,
den wir haben.
Und das ist schon etwas,
da löst man etwas aus,
da löst man auch
eine gewisse Euphorie aus.
Hier können wir jetzt
vielleicht zum Ziel kommen.
Hier haben wir
einen konkreten
Ermittlungshinweis
und das ist schon immer etwas,
was einen in einer Sache
voranbringt.
Jürgen trifft eine Entscheidung.
Es wird Zeit,
die Bevölkerung
in die Ermittlungen
mit einzugeziehen.
Im Zuge der Öffentlichkeitsfahndung
findet ein Phantombild
von der unbekannten Einzug
in regionale Zeitungen
und Nachrichtensendungen.
Sie alle berichten
über die Mitte-20-Jährige
mit dem dunkelblonden
und dem schulterlangen Haar,
nach der Jürgen
und sein Team nun suchen.
Also, dass die Bevölkerung
bei Ermittlungen
um Mithilfe gebeten wird,
das ist ja jetzt erstmal
nichts Ungewöhnliches.
Wir haben das ja auch schon öfters
hier in Fällen behandelt.
Aber man kann das sich
nicht so vorstellen,
dass ein Kriminalkommissar
wie Jürgen Schmidt
jetzt spontan entscheidet,
Mist, ich komme hier nicht weiter,
ich teile das Bild
jetzt einfach mal
mit der breiten Masse
und dann wird da schon
was bei rumkommen.
Das Instrument
der Öffentlichkeitsfahndung
ist nämlich an ganz konkrete
rechtliche Voraussetzungen
geknüpft.
Genau, und die finden sich
in der Strafprozessordnung.
Da regelt der Paragraf 131b,
unter welchen Bedingungen
Licht- oder Phantombilder
von Verdächtigen
oder auch von ZeugInnen
veröffentlicht werden dürfen.
Und das kann man dann,
wenn andere Ermittlungsschritte
keinen oder weniger Erfolg versprechen
und wenn die Straftat
wirklich schwerwiegend ist.
Also dazu zählen jetzt zum Beispiel
Tötungsdelikte, Raub
oder sexueller Missbrauch.
Also darunter fällt jetzt
nicht sowas wie
einfacher Diebstahl oder so.
Und in unserem Fall
ist es nun so,
dass beide Kriterien
natürlich erfüllt sind.
Also es geht zum einen
halt um diese Tötung
und Jürgen Schmidt
hat zu diesem Zeitpunkt
auch keine anderen Möglichkeiten,
wo er ansetzen kann,
um die Mutter zu finden,
die bei der Aufklärung
des Verbrechens
ja eine wichtige Rolle
spielen könnte.
Wir haben ein Opfer,
über das wir nichts wissen.
Es wird in der Nähe
einer viel befahrenen
Ost-West-Autobahn gefunden.
Wir haben DNA der Kindsmutter,
aber wir haben keinerlei
Anhaltspunkte auf ihre Identität,
zu ihrer Herkunft,
zu ihrem Aufenthaltsort.
Wir haben also so gut wie nichts.
In einem solchen Fall
bleibt eigentlich
nicht mal mehr
ein Ermessen,
sondern hier muss man
die Bevölkerung
um Mithilfe bitten.
So eine Mithilfe
sorgt aber auch
immer wieder für Kritik.
Der Spiegel hat sich
zum Beispiel 2012
kritisch damit auseinandergesetzt
und das Instrument
der Öffentlichkeitsverhandlungen
in einem Artikel
als modernen Pranger bezeichnet,
der halt eben
zu Vorverurteilungen
und Rufschädigungen
führen könne.
Da wird ein Beispiel
angeführt aus dem Jahr 1999.
Da wurde in Thüringen
nach einem flüchtigen Mörder
gefahndet
und nachdem eine Kellnerin
die Fahndungsfotos
im Fernsehen gesehen hatte
und daraufhin dann glaubte,
dass sich der Täter
unter ihren Gästen befindet,
haben dann zwei
offenbar
sehr überforderte
Polizisten
diesen Mann erschossen.
und dann stellte sich halt raus,
das war aber gar nicht
der gesuchte Täter.
Ja, das ist halt krass
und richtig übel
und das beweist auch nochmal,
dass es richtig ist,
dass die Öffentlichkeitsverhandlung
streng reguliert sein muss,
aber sie kann eben auch
echt erfolgsversprechend sein.
Jürgen Schmidt war
während seiner Karriere
auf jeden Fall
immer Fan davon,
die Öffentlichkeit
möglichst früh
in Fälle einzubeziehen,
wenn es Sinn ergab
und bei den Fällen
hat er dann natürlich
auch Interviews gegeben.
Allerdings sagt er auch,
dass man natürlich abwägen muss,
was man preisgibt
und was nicht.
Im vorliegenden Fall
ist es für mich
ganz, ganz wichtig,
möglichst wenig
Täterwissen preiszugeben.
Auf der anderen Seite
die Information
aber für die Medien
so interessant zu machen,
dass auch ausführlich
darüber berichtet wird.
Denn ich will natürlich
eine möglichst breite
Bevölkerungsschicht erreichen,
um hier vielleicht
den entscheidenden Hinweis
zu kriegen.
Und das ist immer so
ein bisschen
ein Abwägungsprozess,
gebe ich nur
oberflächlich
etwas bekannt
oder gehe ich auch
ein bisschen mehr
ins Detail,
ohne dabei allerdings
zu viel Täterwissen
preiszugeben.
Denn das wiederum
muss ich zurückhalten,
damit bei einem
eventuellen Geständnis
ich auch wirklich
prüfen kann,
ist dieses Geständnis
echt und vor allen Dingen
kann ich es
widerrufsicher machen,
dass der Täter mir
wirklich Täterwissen
preisgibt,
was nur der Täter
wissen kann.
Denn nur so kann ich
sicher sein,
dass ein Geständnis
auch richtig ist.
In den Tagen
nach Veröffentlichung
des Phantombilds
klingeln die Telefone
der Mordkommission
Baby nahezu
in Dauerschleife.
Hunderte Hinweise
gehen zu der gesuchten
Frau ein.
Jürgen setzt
große Hoffnung
in die Fahndung,
doch darauf versteifen
möchte er sich auch
nicht.
Er weiß aus Erfahrung,
dass sich hinter
vielen dieser Anrufe
Menschen verbergen,
die vorschnell
zum Telefon greifen.
Was Jürgen braucht,
sind nicht viele Hinweise,
er benötigt
den Entscheidenden.
Doch der
ist nicht dabei.
Gut ist Leben
erhalten und Leben
fördern.
Böse ist Leben
vernichten und Leben
hemmen.
Es sind Sätze,
die an diesem 4.
Juli 2005
in der Traueranzeige
einer Tageszeitung
abgedruckt sind.
Doch nicht nur
das Zitat springt
vielen LeserInnen
ins Auge,
auch die Zeile
darunter.
Unbekanntes Baby
steht in gefetteter
Schrift dort,
wo sonst der Name
der verstorbenen
Person vermerkt ist.
Die ergänzende
Einordnung
erfolgt darunter.
Waller See.
Das Bestattungsunternehmen,
das mit der Beerdigung
des getöteten
Säuglings
beauftragt wurde,
hat sich dazu entschieden,
dem Kind
öffentlich zu gedenken.
Es sei nun an der Zeit,
so der Wortlaut
der Anzeige,
dem kleinen
unschuldigen Mädchen
den Frieden zu geben.
Mit Bekanntgabe
der morgigen Beerdigung
solle zudem
jeder Bürger
und jede Bürgerin
die Möglichkeit haben,
das Baby
auf seinem letzten
Weg zu begleiten.
Eine Einladung,
der mehr als 200 Menschen
folgen,
als sie am nächsten Tag
den Friedhof
Lagesbüttel aufsuchen.
Nach und nach
lassen sich Frauen,
Männer und Kinder
mit bedrückten Minen
auf die freien Bänke
der Kapelle nieder.
Auf einem Podest,
das ein rotes Tuch bedeckt,
steht ein kleiner
weißer Sarg.
Rote Kerzen und Engel
schmücken ihn
an den Seiten.
Die Rosen,
die den Sarg verzehren,
sind bunt
und bilden einen Kontrast
zur düsteren Stimmung.
Nach dem Gottesdienst
begibt sich
die Trauergemeinde
zum Grab.
Als der Sarg
unter der Erdoberfläche
verschwindet,
reagieren die Anwesenden
unterschiedlich.
Einige werfen Blumen
und Plüschtiere hinterher,
andere weinen
mit gesenktem Blick.
Die Frage,
die wie ein Geist
über der Szene schwebt,
ist kurz und schmerzhaft.
Warum?
Während viele Menschen
in Niedersachsen
an diesem Tag trauern,
ist Jürgen
weiterhin
um einen kühlen Kopf
bemüht.
Nach wie vor
trägt er
die analytische Brille,
durch die er
auf die Ermittlungen
blickt.
und heute,
am 5.
Juli 2005,
trifft er eine Person,
die ihm helfen soll,
noch klarer zu sehen.
Der Kommissar hat sich
mit Christine
Swintek verabredet.
Die Kriminologin
forscht seit Jahren
zur Tötung von Neugeborenen.
Mit sogenannten
Neonatiziden
kennt sie sich aus.
Es sind Erfahrungen
und Erkenntnisse,
von denen auch Jürgen
profitieren möchte.
Wenn er sich ein besseres
Bild von der Person
machen kann,
nach der er sucht,
dann ergibt sich
vielleicht auch
ein neuer
Ermittlungsansatz.
Kriminalfänomenologie
nennt sich das.
Die Lehre
von den Erscheinungsformen
von Verbrechen
ist ein Spezialbereich
der Kriminologie.
Die Erkenntnisse
sind einer der Bausteine
eines erfolgsversprechenden
Profilings.
Und tatsächlich
erfährt Jürgen
an diesem Tag
so einiges.
Die Kriminologin
erklärt,
dass Neugeborenen
Tötungen fast ausschließlich
von Frauen begangen werden.
In den meisten Fällen
sogar von den Müttern
selbst.
Neonatizide
würden in allen
Gesellschaftsschichten
vorkommen.
Arm und reich,
verheiratet und
alleinstehend.
Was dagegen
viele der Frauen
gemeinsam haben,
sei die Geheimhaltung
der Schwangerschaft.
Das habe zur Folge,
dass sie keine
Vorbereitungen
treffen würden.
Oder im Fall
von sogenannten
negierten Schwangerschaften
das heranwachsende Kind
so intensiv
aus ihren Gedanken
verdrängen würden,
dass sie geschockt
seien,
wenn die Geburt
einsetze.
Die Tötung der Kinder
macht die Kriminologin
klar, würde häufig
aus einer Angst
heraus resultieren.
Die Angst davor,
sich der ungewollten Rolle
als Mutter
stellen zu müssen,
aber auch davor,
den Partner zu verlieren.
Jürgen
nimmt all diese
Informationen
interessiert auf.
Dass die Kindsmutter
des getöteten
Säuglings
auch die Täterin ist,
hat er schon
zuvor für möglich
gehalten.
Nun, wo er mehr
über die Hintergründe
von Neonatiziden weiß,
hält er es für
umso wahrscheinlicher.
konzentriert lauscht.
die Kriminologin.
Bis sie plötzlich
ein Wort ausspricht,
das seinen Adrenalinspiegel
nach oben
schnellen lässt.
Wiederholungsgefahr.
Jürgen muss schlucken,
als Christine
Swintek ihm erklärt,
dass Frauen
durchaus wieder
bereit sind
zu töten,
wenn es zu weiteren
unerwünschten
Schwangerschaften kommt.
Soll das etwa bedeuten,
dass womöglich
noch ein Kind
in Gefahr ist?
Jürgen wird ganz anders.
Bisher war es
vor allem der
Gerechtigkeitssinn
gewesen,
der ihn angetrieben
hatte.
Doch nun ist da noch etwas.
Sorge.
Was, wenn die Frau
wieder schwanger wird?
Jürgen weiß,
womöglich
hat soeben
ein Wettlauf
gegen die Zeit begonnen.
Der Druck,
der auf den Schultern
der Mordkommission
babylastet,
ist größer
als je zuvor.
Wiederholungsgefahr.
Das Wort hat nun
einen festen Platz
in Jürgens Gedanken.
Konzentriert aber
angespannt,
stecken er
und seine Kolleginnen
immer wieder
die Köpfe zusammen,
um nach etwas zu suchen,
das sie endlich
voranbringen könnte.
Und tatsächlich,
Jürgen wird fündig.
Und zwar in der Literatur.
In einem Kriminalmagazin
entdeckt er einen Beitrag
über die sogenannte
Isotopenanalyse.
Eine Methode,
bei der unter anderem
Knochen Aufschluss
über das Leben
der verstorbenen Person
geben.
Jürgen erfährt,
dass sich die Atomarten
verschiedener Elemente,
sogenannte Isotope,
in den Knochen,
Haaren und
Fingernägeln einlagern.
Der Mensch nimmt sie
etwa durch Nahrung
und Trinkwasser auf,
aber auch durch
Umwelteinflüsse.
Anhand des
Isotopenmusters
einer Person
kann man dann
Rückschlüsse darauf ziehen,
wo sie sich aufgehalten
und wie sie sich ernährt hat.
Vor allem
RechtsmedizinerInnen
erhoffen sich viel
von der Methode,
die 2005 gerade erst
Einzug in die
kriminalistische Arbeit hält.
Und auch Jürgen
ist beeindruckt
von der Möglichkeit,
mehr über die Herkunft
von unbekannten Toten
auf diese Weise
erfahren zu werden.
Doch er denkt noch einen
Schritt weiter.
Wenn es möglich ist,
über das Isotopenprofil
eines Menschen
herauszufinden,
wo und wie er gelebt hat,
dann müsste man anhand
der Werte eines Säuglings
doch auch Rückschlüsse
auf die Mutter ziehen können.
Der Fötus
wird im Mutterleib
über die
Plazenta
von der Mutter
versorgt.
Müssen sich nicht
beim Baby
eins zu eins
die Isotopenverhältnisse
der Mutter
niederschlagen?
Lässt sich damit
eventuell
der Aufenthaltsort
der Mutter
vor der Geburt
eingrenzen?
Ein faszinierender Gedanke,
der mich
nicht mehr
loslässt
und der dazu führt,
dass ich mit
entsprechenden Fachleuten
Kontakt aufnehme.
Der Kripo-Chef
wendet sich an die
zuständigen
RechtsmedizinerInnen
und GeologInnen
der Universität München.
Die ExpertInnen
in Süddeutschland
haben zu diesem Zeitpunkt
bereits einige
Isotopenanalysen
durchgeführt.
Als Jürgen
seine Idee präsentiert,
sind die skeptisch.
Doch ihre Neugierde
ist entfacht.
Man will es versuchen.
Und hier liegt
die Betonung
ganz klar
auf Versuchen.
Denn wie gesagt,
diese Isotopenanalyse
war damals,
also zu Beginn
der 2000er,
noch kein Verfahren,
das jeden Tag
durchgeführt wurde.
Also zumindest
nicht in der Kriminalistik.
In der Lebensmittelindustrie
war das damals
schon gang und gäbe.
Zum Beispiel,
um die Herkunft
und Anbauart
von bestimmten
Gemüsesorten
zu überprüfen.
Also um zum Beispiel
zu checken,
ob die Erdbeeren
wirklich aus Deutschland
kommen.
Im rechtsmedizinischen
Kontext war die
Isotopenanalyse 2005
aber eben noch
kein Standard.
Und vor allem
war das mit den
Einordnungen der Ergebnisse
noch schwierig.
Also zum Beispiel,
was sagt uns
der Kohlenstoffwert
über die Herkunft?
Oder auf welches
Klima weisen jetzt
die Stickstoffisotope hin?
Das war damals
auch noch schwierig,
weil die Datenbank,
mit der man Werte
vergleichen konnte,
halt einfach noch
nicht so umfangreich war,
wie beispielsweise
heute.
Also konnte man
nicht alle Länder
und Regionen dieser Welt
und Regionen dieser Welt
bestimmten
Isotopenverhältnissen
zu ordnen.
Das sieht heute
aber halt anders aus.
Da ist man deutlich
besser aufgestellt,
was so Vergleichsdaten betrifft.
Und die Isotopenanalyse
ist mittlerweile auch
eine geläufige
Kriminalmethode,
um halt mehr
über unbekannte Leichen
herauszufinden.
Verglichen mit der
DNA-Analyse beispielsweise,
die man ja vor allem
einsetzt, um jemanden
zu identifizieren,
erfährt man durch sie
halt was über den
Lebensstil der
toten Person.
Jürgen Schmidt
ist im Sommer 2005
auf jeden Fall überzeugt
und setzt große Hoffnungen
in diesen neuen
Ermittlungsschritt.
Um die Analyse zu ermöglichen,
lässt er den Expertinnen
in München
verschiedene Asservate zukommen.
Fingernägel,
aber auch ein Rippenbogen
und Kieferknochen
des getöteten Säuglings.
Als er im September
und zwei Monate später
schließlich das Gutachten
der Isotopenanalyse
in seinen Händen hält,
ist er verdutzt.
Bei der Untersuchung
der Knochen
habe man außergewöhnlich
hohe Bleiwerte festgestellt,
die dafür sprechen würden,
dass die Kindsmutter
die ersten
Schwangerschaftsmonate
in Karelien
verbracht habe.
Karelien?
Davon hat Jürgen
noch nie etwas gehört.
Ein Blick auf die Weltkarte
verrät ihm jedoch,
dass es sich um
eine russische Republik
nordöstlich
von St. Petersburg handelt.
Na bitte,
denkt sich Jürgen.
Das ist doch etwas.
Der Kommissar
macht sich daran,
über das Ausländerzentralregister
zahlreiche Frauen
zu überprüfen,
die in den vergangenen Monaten
aus Karelien
nach Deutschland
eingereist sind.
Immer wieder
zücken Jürgen
und seine Kolleginnen
Wattestäbchen,
um bei Frauen,
die ins Profil passen,
DNA-Proben vorzunehmen.
Doch
zu einer Übereinstimmung
mit der DNA,
die am Waller See
sichergestellt wurde,
kommt es nicht.
Die Kindsmutter
des getöteten
Säuglings
bleibt weiterhin
ebenso verschollen
wie unbekannt.
Ein herber Rückschlag
für Jürgen
und sein Team.
Die Wochen und Monate
ziehen ins Land.
Jürgen beschäftigt sich
nun nicht mehr
tagtäglich mit dem Fall,
den Boulevardmedien
immer wieder als
Babymord
vom Waller See
bezeichnet haben.
Doch ganz davon lösen
will er sich nicht.
Das sorgt vor allem
in seinen eigenen Reihen
immer wieder
für Unverständnis.
Seitdem die Ermittlungen
stagnieren,
wird Jürgen
von KollegInnen
mehrmals nahegelegt,
zu akzeptieren,
dass er nicht
jeden Fall
aufklären könne.
Doch das kommt
für ihn nicht in Frage,
erzählt er uns.
Die ganzen Jahre
über hängt
an der Pintwand
neben meinem Schreibtisch
ein Fahndungsplakat
mit dem Phantombild.
Jeden Morgen,
wenn ich zum Dienst komme,
fällt mein Blick drauf.
Auch zwischendurch
bleibe ich immer wieder
an diesem Fahndungsplakat
hängen.
Ich habe in diesen Momenten
die Babyleiche vor Augen
und weiß,
ich bin mit diesem Fall
noch nicht fertig.
Oft sehe ich mir
das Bild dann an
und frage mich,
ob es sich bei der Frau,
die dort abgebildet ist,
tatsächlich um die Kindsmutter handelt,
wo sie sich jetzt wohl aufhält,
was sie jetzt macht,
quält sie ihr Gewissen.
Ich kann diesen Fall
nicht zu den Akten legen
und ich lege ihn
auch nicht zu den Akten.
Ich gebe nicht auf,
denn ich weiß,
ich werde sie eines Tages kriegen.
Schließlich habe ich ihre DNA.
Im November 2009,
vier Jahre nach dem Leichenfund,
steht Jürgen Schmidt
wieder an dem Ort,
an dem alles angefangen hat.
Am Ufer des Waller Sees.
Doch heute
blickt Jürgen nicht
auf einen Babyleichnam herab,
sondern auf zwei Hunde,
die an der Leine ihrer Hundeführerin
darauf warten,
endlich loslegen zu dürfen.
Regelmäßig machen sich
Polizeibehörden
und Rettungsdienste
den guten Riecher der Tiere
zunutze.
Und nun möchte sich auch Jürgen
von der Methode überzeugen,
die sich Mantrailing nennt.
Vielleicht,
so die Hoffnung von Jürgen,
ist die gesuchte Kindsmutter
in letzter Zeit
noch einmal hierher zurückgekehrt.
Denn dann können die Hunde
womöglich ihre Spur aufnehmen
und ihn zu ihr führen.
Schließlich haben sie das Blut,
das sich am Handtuch befand,
als Geruchsträger.
Neugierig
schnüffeln die Tiere
an der Probe,
die man ihnen hinhält.
Dann laufen sie los
und Jürgen
voller Hoffnung
hinterher.
Also klar ist ja,
dass Hunde uns,
was den Geruchssinn angeht,
ziemlich überlegen sind.
Es ist nämlich so,
dass eine Hundenase
rund 250 Millionen
Riechzellen hat
und unsere
so ungefähr 25 Millionen,
also gerade mal ein Zehntel davon.
Und diese Riechzellen,
die ermöglichen den Tieren
ein räumliches Riechen.
Also die Fähigkeit,
Duftstoffe aufzunehmen
und dann zu komplexen
Informationen zu verarbeiten.
Also so können sie dann
auch Duftspuren verfolgen.
Zum Beispiel
eben die von Menschen.
Da hat nämlich jeder
seinen ganz eigenen
Duftcocktail,
wenn man so will.
Also der setzt sich dann
zusammen aus
Körperausdünstungen,
Stoffwechselprozessen,
aber auch Bakterien.
Und das Verfolgen
funktioniert dann so,
dass den Tieren
zu Beginn eines Einsatzes
eine Geruchsprobe gezeigt wird,
ein sogenannter Scent,
und sie dann
über die Hautschüppchen,
die jeder Mensch
tagtäglich verliert,
diesem Geruch nachlaufen.
Also die schnuppern
quasi den Hautschuppen
hinterher.
Und das klingt ja
erstmal super
und funktioniert auch
immer mal wieder,
aber eben nicht immer.
Dabei kann nämlich
auch eine Menge
schief gehen.
Zum Beispiel kann
eine Geruchsspur
wegen des Windes
abreißen.
Es kann sein,
dass ein Geruchsträger
irgendwie ungeeignet ist
und dann dazu führt,
dass ein Hund
in eine falsche Richtung läuft.
Und es ist auch möglich,
dass die Suche
an der falschen Stelle
angesetzt wird.
Also wenn das nämlich
keine Stelle ist,
an der sich die Person
kürzlich aufgehalten hat,
kann es sein,
dass ein Hund
von dort aus
einen alten Weg
der Person abläuft.
Also die die Person
irgendwie vor einer Woche
oder so gemacht hat
und die denen
dann nichts bringt.
Und Stichwort alt,
inwieweit Mantrailerhunde
überhaupt in der Lage sind,
ältere Duftspuren
zu verfolgen,
ist total umstritten.
Die einen,
vor allem private
HundeführerInnen,
sagen,
wenn ein Hund
gut ausgebildet ist,
dann ist das gar kein Problem.
Aber andere sind der Meinung,
dass das halt nicht möglich ist.
Diese Stimmen
werden vor allem
bei der Polizei
immer wieder laut.
Da ist der Einsatz
von Mantrailern
nämlich grundsätzlich umstritten.
Und zwar nicht nur,
weil viele anzweifeln,
dass Mantrailer
bei diesen älteren
Duftspuren
überhaupt funktionieren,
sondern auch,
weil vor den juristischen
Konsequenzen
dieser Einsätze gewarnt wird.
Weil es nämlich heißt,
dass Mantrailer-Untersuchungen
zu gerichtlichen
Fehlurteilen führen könnten.
Halt dann,
wenn eine Geruchsspur
zu einem vermeintlichen Täter
oder einer vermeintlichen
Täterin führt,
gegen die es aber sonst
gar keine Beweise
oder Indizien gibt.
Also man ist sich
ziemlich uneinig darüber,
wie leistungsfähig
diese Mantrailer-Hunde
wirklich sind.
Und trotzdem,
das haben wir hier auch schon
in einigen Fällen gehabt,
greift die Polizei
halt immer wieder darauf zurück.
Also nach dem Motto,
ein Versuch
ist es aber wenigstens wert.
Die Hunde
führen Schmidt
und seine KollegInnen
auf die nahegelegene
Autobahn am Waller See.
Immer wieder
lässt der Kripo-Chef
einzelne Abschnitte sperren,
während die Tiere
sich Tag für Tag
und Stück für Stück
vorwärts arbeiten.
Der Mantrailer-Einsatz
führt Schmidt
und seine Kolleginnen
schließlich nach Kiel.
Im Rotlichtmilieu
der rund 250 Kilometer
entfernten Hafenstadt
schlagen die Hunde
an zwei Stellen an.
Und mit den Wellen
der Tiere
schlägt auch das Herz
des Kommissars schneller.
Wird er gleich endlich
der Kindsmutter gegenüberstehen?
Sollten letztendlich
Vierbeiner den Fall lösen?
Bildlich kann Jürgen
sich die Schlagzeile
schon vorstellen.
In einem Bordell
und einer Arztpraxis
zücken er und sein Team
erneut die Wattestäbchen.
Viele der dort
arbeitenden Frauen
geben bereitwillig
eine DNA-Probe ab.
Die anderen können beweisen,
im Sommer 2005
nicht schwanger gewesen
zu sein.
Die Untersuchung
der Proben zeigt,
die Kindsmutter
des getöteten Babys
ist nicht unter ihnen.
Eine bittere Pille,
die Jürgen schlucken muss.
Alles, was er will,
ist ein Stück Gerechtigkeit
für das kleine Mädchen
herzustellen.
Dass ihm das noch
nicht gelungen ist,
nagt an ihm.
Nach jahrelanger
Ermittlungsarbeit
gehen ihm so langsam
die Ideen aus.
April 2011,
etwa eineinhalb Jahre später.
Eine Mitarbeiterin
des Landeskriminalamtes
aus Hannover
meldet sich telefonisch
bei Jürgen.
Herr Schmidt,
sagt sie,
ich habe etwas für Sie.
Der Satz,
den sie als nächstes ausspricht,
lässt Jürgen
die Luft anhalten.
Wir haben einen Treffer
in der Babymordsache.
Die LKA-Mitarbeiterin
berichtet Jürgen
von einem gestohlenen,
wieder sichergestellten
VW-Bus.
Im Rahmen der Spurensicherung
habe man unter anderem
eine Zigarettenkippe
im Fahrzeug sichergestellt
und untersucht.
Die Auswertung
habe einen sogenannten
Spur-Spur-Treffer ergeben.
Bedeutet,
der Speicher an der Zigarette
weise eine DNA auf,
die in der Vergangenheit
bereits an einem Tatort
sichergestellt wurde.
Nämlich im Juni 2005
am Waller See.
Jürgen kann kaum glauben,
was er da hört.
Die Person,
die in dem gestohlenen Auto
eine Zigarette geraucht hat,
ist die Mutter
des getöteten Säuglings,
nach der er seit Jahren sucht.
Der Kripo-Chef
ist elektrisiert.
Ist das die Spur,
die er sich so lange
erhofft hat?
Jürgen besorgt sich die Akte
aus dem polizeilichen
Informationssystem
und beginnt zu lesen.
Der Kripo-Chef erfährt,
dass der Auto-Diebstahl
nicht nur eineinhalb Jahre
zurückliegt,
sondern auch noch
ungeklärt ist.
Verdammt,
denkt sich Jürgen.
Wieder nur eine DNA-Probe,
die man niemandem
zuordnen kann.
Doch Jürgen liest weiter.
Das Fahrzeug hatte
vor dem Diebstahl
einem griechischen Restaurant
als Firmenwagen gedient.
Jürgen kommt ein Gedanke,
der seine anfängliche
Enttäuschung schmälert.
Vielleicht war die Zigarette
bereits vor dem Diebstahl
geraucht worden.
Von jemandem,
der legal Zugang
zum Fahrzeug hatte.
Eine Mitarbeiterin zum Beispiel.
Die Mordkommission Baby
beschließt das Umfeld
des griechischen Restaurants
genauer in den Blick zu nehmen.
Die Mitarbeiterinnen
geben freiwillig
Schweichelproben ab,
werden vernommen
und überprüft.
Doch der Restaurantbetreiber
macht Jürgen darauf aufmerksam,
hier fehlt jemand.
Eine seiner Kellnerin
ist nicht anwesend.
Obwohl sie direkt
über der Gastronomie wohne,
habe er sie bereits
seit Tagen nicht mehr gesehen.
BeamtInnen begeben
sich daraufhin zu ihrer Wohnung,
das Klopfen und Klingeln
bleibt jedoch unbeantwortet.
Ein kurzer telefonischer Kontakt
kommt zustande.
Doch die Vereinbarung,
am nächsten Tag
für eine Speichelprobe
auf die Wache zu kommen,
hält die 35-Jährige nicht ein.
Jürgen und sein Team
wollen nicht mehr länger warten.
Mithilfe des Restaurantbetreibers,
der zugleich Vermieter
der Dachgeschosswohnung ist,
verschaffen sie sich Zutritt.
Auch dieses Mal
treffen sie die Frau nicht an,
stellen jedoch unter anderem
eine Haarbürste
für einen DNA-Abgleich sicher.
Doch eine Auswertung
wird nicht mehr nötig sein.
Am späten Nachmittag
geht bei der Notrufzentrale
in Braunschweig
ein außergewöhnlicher Anruf ein.
Eine weibliche Stimme
meldet sich zu Wort,
die die 110 nicht gewählt hat,
weil sie Hilfe benötigt.
Stattdessen hat sie etwas zu verkünden,
das nur weniger Worte bedarf.
Ich bin die Mörderin
vom Waller See.
Wenige Stunden später.
Eindringlich betrachtet Jürgen
die Frau mit den schulterlangen
dunklen Haaren,
die ihm im Vernehmungszimmer
gegenüber sitzt.
Er hat sich diesen Moment
schon so oft ausgemalt.
Seit Beginn der Ermittlungen
vor fast sechs Jahren
hat er sich immer wieder
gefragt, wer die Person ist,
die ein unschuldiges Kind
getötet hat.
Vor allem jedoch,
warum sie es getan hat.
Heute, am 6. Mai 2011,
soll er nun endlich
Antworten auf diese Fragen erhalten.
Denn Esra Kaya,
die entgegen der Isotopenanalyse
nicht aus Karelien kommt,
sondern in Deutschland
aufgewachsen ist,
ist bereit,
all die Dinge preiszugeben,
die sie die vergangenen Jahre
verschwiegen hat.
Jürgen ist überrascht.
Als er erfuhr,
dass die Täterin
sich telefonisch gestellt hatte,
war er davon ausgegangen,
eine verzweifelte Frau zu treffen.
Doch große Emotionen
zeigt die 35-Jährige nicht.
Sie wirkt gefasst,
als Jürgen erklärt,
dass sie sich nun gemeldet habe,
weil sie die Last loswerden wolle.
Außerdem sei ihr nach der Bitte
um eine DNA-Probe
klar gewesen,
dass man sie jetzt
sowieso dran kriege.
In den nächsten Stunden
lauscht der Kommissar
einer Frau,
die nicht nur ein
ausführliches Geständnis macht,
sondern ihn zugleich
durch ihr Leben führt.
Gehorsam,
Mund halten,
keine Emotionen zeigen.
So benennt Esra
die wichtigsten Regeln
ihrer Kindheit und Jugend.
Esra ist die Tochter
kurdischer JesidInnen
und wird in einer
Drei-Zimmer-Wohnung
in Celle groß.
Im Laufe der Jahre
wächst die Familie
nahezu schweigsam,
denn genau wie das Thema
Sexualität
werden auch die Schwangerschaften
ihrer Mutter
totgeschwiegen.
Regelmäßig wird ihr Bauch
von Monat zu Monat dicker,
dann verschwindet sie
für ein paar Tage
und kehrt mit einem Baby zurück.
Gemeinsam mit ihren
zehn Geschwistern
muss Esra sich
eines der drei Zimmer teilen.
Ein Zustand,
der sie oft
an ihre mentale
Belastungsgrenze bringt.
Von der Vorstellung
einer harmonischen Großfamilie
ist die Realität
des beengten Zusammenlebens
ohnehin weit entfernt.
Und mit zunehmendem Alter
wird es eher schlimmer
als besser.
Als Esra ein Teenager ist,
stellen ihre Eltern
ihr eines Tages
zwei Cousins vor,
mit dem Hinweis,
sie solle sich
einen davon aussuchen.
Esra ist klar,
was das bedeutet.
Ihre Familie
will sie zwangsverheiraten.
Das hat sie schon
mit zwei ihrer älteren
Schwestern gemacht.
Eine Vorstellung,
die in Esra Angst
und Panik entfacht.
So kann und will
sie nicht leben.
1993,
mit 18 Jahren,
trifft Esra schließlich
eine Entscheidung.
An einem späten Januarabend
packt sie heimlich
eine Tasche
mit den wichtigsten Sachen zusammen.
Ihr Ausweis
und andere Dokumente
finden darin
keinen Platz.
Ihr Vater bewahrt sie auf
und jetzt danach zu suchen
würde zu lange dauern.
Außerdem will sie ihre Vergangenheit
ohnehin hinter sich lassen.
Dann schlüpft Esra
in zwei Jacken
und tritt hinaus
aus der Wohnung.
Sie weiß,
zurückkommen wird sie nie wieder.
Esra lässt
Zelle hinter sich
und zieht nach Braunschweig.
Dort hält sie sich
mit Aushilfsjobs
in der Gastronomie
über Wasser.
Doch ihr neues Leben
findet im Verborgenen statt.
Aus Angst davor,
ihre Familie
könne sie finden
und für ihre Flucht
bestrafen,
meldet sich Esra
bei den Behörden
nicht um.
In den kommenden Jahren
bleiben sowohl ihr Leben
als auch ihre Person
unter dem bürokratischen Radar.
Jobs,
die sie annimmt,
übt sie schwarz aus,
Wohnungen bekommt sie
unter der Hand.
Eine Arztpraxis
sieht sie nie von innen,
denn sie ist nicht
krankenversichert.
Im Jahr 2000
lernt Esra Martin kennen.
Zunächst treffen sie sich
nur zum Kaffee trinken
und reden,
irgendwann auch zum Sex.
Aus seinen Lebensverhältnissen
macht er kein Geheimnis.
Esra weiß,
dass er verheiratet ist
und zwei Kinder hat.
Doch das macht ihr
anfangs nichts aus.
Mit verheirateten Männern,
erklärt sie Jürgen
in der Vernehmung,
ist es immer so schön
unkompliziert.
Doch irgendwann ist Esra klar,
dass sie nicht mehr
die andere Frau sein möchte.
Sie ist in Martin verliebt
und verlangt von ihm,
seine Partnerin zu verlassen.
Martin vertagt diesen Schritt.
Jahrelang schiebt er
den Schlussstrich
seiner Ehe vor sich hin
und erklärt Esra immer wieder,
wieso jetzt nicht
der richtige Zeitpunkt dafür sei.
Jürgens Frage,
wieso sie ihm nicht
den Laufpass gegeben habe,
beantwortet Esra
mit einem nachdenklichen
Schulterzucken.
Dann fügt sie hinzu,
sie habe wohl einfach
nicht alleine sein wollen.
Im Herbst 2004
bemerkt Esra dann
eine Veränderung
an ihrem Körper.
Ihre Periode bleibt aus.
Einmal.
Zweimal.
Beim dritten Mal
ist dir klar,
was das bedeutet.
Sie ist schwanger.
Einen Test macht
die damals 29-Jährige nicht.
Sie will es nicht
schwarz auf weiß sehen.
Denn statt sich
der Situation zu stellen,
wählt sie einen
anderen Umgang damit.
In den kommenden Monaten
beschäftigt sich Esra
nicht mehr mit dem
kleinen Menschen,
der in ihr heranwächst.
Sie nimmt keine
Vorsorgeuntersuchung wahr,
kauft keine
Baby-Strandler
und erzählt niemandem
von ihrer Schwangerschaft.
Nicht mal Martin.
Esra berichtet Jürgen,
dass ihrem Liebhaber
die Schwangerschaft
ohnehin nicht aufgefallen sei.
Sie habe kaum zugenommen
und die ganze Zeit über
Konfektionsgröße 36
tragen können.
Vertuschen und Verdrängen
werden zu festen
Bestandteilen
ihres Alltags.
Schon bald
denkt Esra selbst
nicht mehr an das zweite Herz,
das von Woche zu Woche
immer kräftiger
unter ihrer Brust schlägt.
Zumindest bis Mitte Juni 2005.
Ein genaues Datum,
an dem es passiert ist,
kann die 35-Jährige
dem Kripo-Chef
nicht mehr nennen.
Doch an die beunruhigende
Entdeckung
und was danach folgte,
erinnert sie sich noch gut.
Es ist an diesem frühen Morgen
noch nicht einmal hell,
als Esra etwas bemerkt,
das sie erschrocken
aus dem Schlaf reißt.
Ihr Bett ist nass.
Irritiert blickt
sie auf das feuchte Laken
unter ihr.
Hat sie etwa ins Bett gemacht?
Nein,
nach Urin riecht das hier nicht.
Plötzlich
durchdringt ein
ziehender Schmerz
ihren Körper.
Pulsierend
und krampfartig
breitet er sich
in Bauch und Rücken aus.
Und als Esra denkt,
es ist vorüber,
kehrt er umso intensiver
zurück.
Unruhig und gekrümmt
beginnt sie in ihrer
kleinen Wohnung
auf- und abzugehen.
Doch den Schmerzen
davonlaufen
gelingt ihr nicht.
Die 29-Jährige
ist verzweifelt.
Was ist nur los
mit ihr?
Um eine Antwort
auf diese Frage zu finden,
greift Esra nach einem
Gesundheitsbuch,
das sie besitzt.
Hektisch
blättert sie durch die Seiten
und verharrt bei den
Stichwörtern Bauch- und
Rückenschmerzen,
die beide auf einen
Begriff verweisen.
Geburt.
Es ist der Moment,
in dem ihr klar wird,
was hier mit ihr passiert.
Sie ist dabei,
ein Kind zu bekommen.
Esra weiß nicht,
was sie tun soll.
In ihrer Verzweiflung
greift sie zum Handy
und wählt die Nummer
der Telefonseelsorge.
Man rät ihr,
einen Krankenwagen zu rufen
oder eine Hebamme zu verständigen.
In einem Telefonbuch
sucht Esra daraufhin
nach Hebammen.
Nahezu wahllos
wählt sie die erste Nummer,
die sie findet.
Doch am anderen Ende
der Leitung
nimmt niemand ab.
Es ist ihr erster Versuch,
Hilfe zu holen
und gleichzeitig
ihr letzter.
Einen Krankenwagen zu rufen
oder Martin
mitten in der Nacht
aus dem Schlaf zu klingeln,
das kommt für sie
nicht in Frage.
Die kommenden Stunden
bringen Esra
an ihr körperliches Limit.
Ihre Schmerzen
werden immer stärker.
Sie kann nicht mehr.
Sie will einfach nur,
dass es vorbei ist.
Dann,
nach langen
23 Stunden,
hat Esra es geschafft.
Im Morgengrauen
bringt sie hockend
in der kleinen Duschwanne
ihr Kind
per Steißgeburt
zur Welt.
Die kräftezehrende
Erschöpfung
hat ihre Spuren hinterlassen.
Esra kommt es vor,
als blicke sie
durch einen Nebel
an die Wände
ihres Badezimmers.
Erleichtert,
dass die Schmerzen
endlich aufgehört haben.
Doch dann
erreicht ihre Verzweiflung
einen neuen
Höhepunkt.
Denn das Baby,
das sie soeben
geboren hat,
schreit.
Grell,
laut,
wieder und wieder.
In Esra
zieht sich alles zusammen.
Sei doch ruhig,
fleht sie in Gedanken.
Sei doch einfach
ruhig jetzt.
Ihr Kind
auf den Arm zu nehmen
ist für Esra
keine Option.
Sie kann das kleine Wesen,
das da in ihrer
Duschwanne brüllt,
noch nicht einmal anschauen.
Esra weiß nur eins,
sie muss dafür sorgen,
dass es aufhört.
Und sie weiß auch wie.
Wie hypnotisiert
steht sie auf
und geht in die Küche,
wo sie nach einem Messer greift.
Dann kehrt sie zurück,
beugt sich über ihr Baby
und tötet es.
Die Stille
setzt sofort ein
und Esra
legt sich erleichtert
ins Bett.
Jürgen muss schlucken.
Esras detaillierte
Tatbeschreibung
hat ihn nicht
kalt gelassen.
Die Frage,
die er ihr nach
ihrem Geständnis stellt,
interessiert ihn daher
nicht nur als Kommissar,
sondern auch als Vater.
Warum,
möchte er von ihr wissen.
Doch Esra kann ihm diese Frage
nicht beantworten.
Was sie anschließend getan hat,
dagegen schon.
Die 35-Jährige schildert,
die sie schließlich zurück
ins Badezimmer gegangen sei
und den toten Säugling
gegriffen habe.
Samt Plazenta,
mit der das Kind noch
über die Nabelschnur
verbunden gewesen sei,
habe sie das Baby
in ein Handtuch gewickelt
und es anschließend
in zwei Plastiktüten gelegt.
Danach habe sie
den eingepackten Leichnam
in die Besenkammer gelegt.
Eine beinahe symbolische Geste,
mit der sie zeigt,
dieses Kind hätte in ihrem Leben
niemals einen Platz gehabt.
Und in ihrem Herzen
schon einmal gar nicht.
Mehrere Tage
habe niemand geahnt,
was sich hinter der Tür
verbirgt.
Noch nicht einmal Martin,
der am Tag nach der Geburt
zu ihr in die Wohnung
gekommen sei.
Doch dann,
eine Woche später,
sei ihr plötzlich bewusst geworden,
was sie da getan habe.
Unangenehm gerochen
habe es zu diesem Zeitpunkt
in ihrer Wohnung
zwar noch nicht,
doch sie habe gewusst,
dass die Leiche
nicht in der Besenkammer
bleiben könne.
Sie habe daher Martin
eines Morgens gebeten,
sie am Baller See abzusetzen,
unter dem Vorwand,
sie wolle sich sonnen.
Gegen acht Uhr morgens
habe sie schließlich
den Uferbereich des Sees betreten.
In ihrer Hand
eine große Tasche,
in der sich der Leichnam
des Kindes befunden habe.
Mit einem Suppenlöffel
habe sie angefangen,
eine Mulde in den Sand zu graben.
Löffel für Löffel,
bis das Loch schließlich
tief genug gewesen sei,
um den von Plastiktüten
umwickelten toten Säugling
hineinzulegen.
Sporadisch habe sie die Stelle
mit ein wenig Sand bedeckt
und sich dann anschließend
zu einer anderen Stelle
am See begeben.
In den darauffolgenden Stunden
habe sie auf den See geblickt,
nachgedacht, geraucht und geweint.
So lange,
bis Martin sie am Nachmittag
wieder abgeholt habe.
Die Uhr in dem kleinen
Vernehmungszimmer
der Gefrauner Kriminalpolizei
zeigt 20.52 Uhr,
als Jürgen an diesem Abend
Esra ihre Festnahme verkündet.
Fast drei Stunden lang
hat er ihren Erzählungen
gelauscht, in denen er
einen ersten Eindruck
von ihrer Person
gewinnen konnte.
Und noch etwas
ist ihm jetzt
nach der ersten Vernehmung
bewusst.
Er war in den vergangenen Jahren
nicht einmal nah dran gewesen.
Ermittlungsschritte
wie Isotopenanalyse
und Mantrailing
hatten nicht nur
ins Leere geführt,
sondern ihn schlichtweg
auf falsche Fährten gelenkt.
Denn genauso wie Esra
nicht aus Karelien stammt,
ist sie auch nicht
in Kiel gewesen.
Aber Jürgen
kennt jetzt
die problematischen
Familienverhältnisse,
in denen die 35-Jährige
groß geworden ist,
weiß um die schrecklichen
Details ihrer Tat.
Und doch,
als Esra schließlich
aus dem Raum geführt wird,
beschleicht Jürgen
ein Gedanke.
Das war es noch nicht.
Die Frau,
die ihm in den letzten Stunden
gegenüber saß,
hat ihm noch nicht
alles erzählt.
Es ist ein Gefühl,
dass Jürgen
auch am nächsten Tag
nicht los wird.
Auch heute sitzt er Esra
wieder gegenüber,
um sie zu vernehmen.
Als sie erneut
über die Tat sprechen,
fragt Jürgen sie,
ob das ihre einzige
Schwangerschaft gewesen sei.
Esra verneint
und berichtet
von einer kurzen Affäre,
die sie 2006
neben der Beziehung
zu Martin gehabt habe.
Auch von diesem Mann
sei sie schwanger geworden
und habe ihm
sogar davon erzählt.
Anders als er
habe sie sich jedoch
nichts Ernstes
mit ihm vorstellen können
und sich getrennt
mit der Behauptung,
die Schwangerschaft
sei nur erfunden gewesen.
Nach wenigen Wochen
sei dann aber klar gewesen,
dass Esra wirklich
kein Kind bekommt.
Auf der Toilette
habe sie Blut bemerkt.
Eine Fehlgeburt,
über die sie erleichtert
gewesen sei.
Jürgen nimmt
diese kurze Geschichte
zur Kenntnis.
Sein ungutsches Bauchgefühl
kann sie ihm jedoch
nicht nehmen.
An einem bestimmten Punkt
dieser Vernehmung
frage ich sie dann
nochmal erneut,
ob es da nicht
noch etwas gibt,
was sie mir
zu erzählen hat.
Es folgt dann
ein kurzer Blick
von ihr
in meine Augen,
der für mich
Bände spricht.
Und ein kurzes,
auffallend kurzes
Ja,
aber erst möchte ich
noch eine Zigarette
hochen.
In diesem Moment
war für mich
klar,
da kommt noch etwas,
da gibt es
wahrscheinlich
eine zweite Schade.
In dem angrenzenden
Raucherraum
zieht Esra
schweigsam
an ihrer Zigarette.
Es wirkt,
als würde sie sich
mental auf etwas
vorbereiten.
Und worauf,
das soll Jürgen
bereits ein paar Minuten
später erfahren.
Denn als sie sich
wieder im
Vernehmungszimmer
gegenüber sitzen,
bestätigt Esra ihm,
ein drittes Mal
schwanger gewesen zu sein.
Dann fügt sie etwas hinzu,
bei dem sich Jürgens
Magen zusammenzieht.
Sie sind nur ein paar
Tage zu spät gekommen.
Im Jahr 2009,
etwa vier Jahre
nach der Tötung,
ist Esras Leben
theoretisch so,
wie sie es sich
lange gewünscht hat.
Martin hat endlich
seine Frau für sie
verlassen.
Die beiden sind jetzt
offiziell ein Paar
und wohnen sogar
gemeinsam.
Doch den Beziehungsalltag
hat Esra sich anders
vorgestellt.
Martin ist als
Klimatechniker oft
monatelang auf Montage
im Ausland
und kommt nur selten
nach Hause.
In ihrer Einsamkeit
wendet sich Esra daher
einem neuen Mann zu.
Costa.
Ihr Vermieter und zugleich
Inhaber des griechischen
Restaurants,
in dem sie arbeitet,
begegnet Esra
mittlerweile nicht mehr
nur zwischen Küche und
Tresen,
sondern auch im
Schlafzimmer.
Das Costa-Frau und
Kinder zu Hause
hat weiß Esra.
Doch sie will
ohnehin nichts
Ernstes von ihm,
schließlich ist sie
ja mit Martin
zusammen.
Mit der Unverbindlichkeit
ist es jedoch vorbei,
als Esras Periode
etwa fünf Jahre
nach der ersten
Geburt im Sommer
2010 erneut
ausbleibt.
Als sie Costa
von ihrer
Schwangerschaft
berichtet,
wird er panisch
und beharrt
auf einen
Abbruch.
Esra willigt
ein.
Eine normale
Abtreibung kommt
für die Frau ohne
Krankenversicherung
nicht in Frage.
Daher schluckt sie
wenig später die
Abtreibungspillen,
die sie sich über
eine ausländische
Online-Apotheke
besorgt hat.
Als ihr allerdings
der Gedanke kommt,
dass sie das Kind
theoretisch auch ohne
Costa großziehen könnte,
steckt sie sich
einen Finger in den
Hals und macht den
Abtreibungsversuch
damit würgend
zunichte.
Doch eine Entscheidung
für das Kind
ist es nicht.
Denn während Costa
denkt, die Sache
sei erledigt und
Martin aufgrund
seiner Abwesenheit
ohnehin nichts
mitbekommt,
setzt sich auch Esra
keinesfalls mit
ihrer Schwangerschaft
auseinander.
Zwar ist ihr
dieses Mal bewusst,
dass sie ein Baby
erwartet.
Doch Gedanken
über ein Leben
mit Kind
macht sich Esra
ebenso wenig,
wie sie Vorkehrungen
dafür trifft.
Statt nach einem
Babybettchen
Ausschau zu halten,
über Namen zu grübeln
oder sich zu fragen,
wie sie das Ganze
ihrem Partner erklärt,
igelt sie sich zu Hause
ein und hält auch
diese Schwangerschaft
geheim.
Sie ist sich sicher,
irgendwie wird sich
schon alles fügen.
Am 27.
April 2011
geht es schließlich
ganz schnell.
Gerade einmal drei
Stunden dauern die
Wehen,
ehe Esra im
warmen Wasser
ihrer Badewanne
zum zweiten Mal
ein Kind zur Welt
bringt.
Nach der Geburt
legt sie das Baby
auf ihre angewinkelten
Beine,
doch dann verliert
sie plötzlich
das Bewusstsein.
So behauptet sie es
jedenfalls.
Esra erklärt Jürgen,
dass das Kind
leblos neben ihr
im Wasser getrieben
habe,
als sie wieder
zu sich gekommen
sei.
Sie habe es immer
wieder getätschelt,
doch es sei bereits
kalt gewesen.
Als Jürgen wissen
möchte, wo der tote
Säugling jetzt ist,
erzählt sie von einem
Müllcontainer einer
nahegelegenen
Tankstelle,
in dem sie den
Leichnam am 3.
Mai, also vor
drei Tagen,
entsorgt habe.
Ein Hinweis, der
traurige Gewissheit
bringt.
Denn noch während
Jürgen, der 35-Jährigen
im Vernehmungsraum
gegenüber sitzt,
stellen Einsatzkräfte
in Braunschweig auf
seiner Anweisung
die besagte
Tonne sicher.
Unter mehreren Schichten
Abfall ziehen sie
schließlich eine
schlichte Papiertüte
hervor.
Darin, wie vermutet,
ein toter Säugling.
Auch dieses Mal
ist es ein Mädchen.
Jürgen ist erschüttert,
muss seine Gefühle
jedoch in Schach halten.
Ich bin enttäuscht,
niedergeschlagen,
frustriert.
Ich darf mir das
allerdings in diesem
Moment nicht
anmerken lassen,
sondern ich muss
die Vernehmung
zu Ende führen.
Ich muss
die Umstände
der zweiten
Kindstötung
auch genau
hinterfragen,
um eine
rechtliche
Einschätzung
der Tat
möglich zu machen.
Letztlich auch,
um ein gerechtes
Urteil zu ermöglichen.
Sie habe das Kind
gewollt.
Das versichert Esra
immer wieder
unter Tränen.
Der Kriminalkommissar
ist überrascht
über die plötzliche
Gefühlsregung.
Es ist das erste Mal,
dass sie in der
Vernehmung
emotional wird.
Das erste Mal,
dass er den Eindruck hat,
einer Mutter
gegenüber zu sitzen,
die um ihr Kind weint.
Doch daran,
dass ihre
Zweitgeborene,
wie Esra sagt,
wirklich ein
Herzenswunsch
gewesen sei,
hegt Jürgen Zweifel.
Denn auf seine Frage,
wie sie sich das Leben
mit diesem Kind,
von dem niemand wusste,
vorgestellt hatte,
hat Esra
keine Antwort.
Darüber habe sie sich,
wie über so viele Dinge,
keine Gedanken gemacht.
Er hat alles gegeben,
das weiß Jürgen.
Und dennoch lassen
ihr die Erkenntnisse
nicht kalt.
Die Wiederholungsgefahr
war sein Antrieb gewesen.
Die große Sorge,
die wie ein Geier
jahrelang über
der Ermittlungsarbeit,
dass Jürgen und seine
KollegInnen den Tod
des zweiten Säuglings
nicht verhindern konnten
und nur wenige Tage
zu spät gekommen waren,
setzt selbst dem
erfahrenen
Kripo-Chef zu.
Auch nach der
Vernehmung macht er sich
immer wieder Gedanken
über die Frau,
die er sechs Jahre lang
suchte.
Für Esras schwierigen
Lebensweg empfindet er
durchaus Empathie.
Doch ein Gefühl
ist bei ihm nach den
vielen Vernehmungsstunden
besonders präsent.
Nach wie vor kann Jürgen
nicht begreifen,
wie sie ihr eigenes
Kind habe töten können
und beide Töchter
wie Müll entsorgen konnte.
Dass Esra der Geburt
ihres zweiten Kindes
wirklich entgegenfieberte,
nimmt er ihr ebenso wenig
ab wie ihre Ohnmachtsgeschichte.
Ich bin bis heute
nicht von der Darstellung
zu den Umständen
der zweiten Kindstötung
überzeugt.
Esra berichtet,
sie habe sich
auf das Kind gefreut.
Sie hat aber niemanden
in ihrer Umgebung
etwas von der
Schwangerschaft erzählt.
Sie war zu keiner
Untersuchung.
Sie hat wie im ersten
Fall die Schwangerschaft
kaschiert,
weite Kleidung getragen.
Niemand sollte
von der Schwangerschaft
wissen.
Die Geburt in der
Badewanne,
der Ohnmachtsanfall,
ich kann das
Gegenteil nicht belegen,
aber im Kontext
mit den Gesamtumständen
glaube ich eher daran,
dass sie ihre Tochter
nach der Geburt
hilflos in der
Badewanne zurückließ
oder sogar
bewusst ertränkte.
Doch wie glaubwürdig
Esras Angaben sind,
darüber wird nun
nicht mehr Jürgen,
sondern ein Gericht
entscheiden.
24.
Oktober 2011.
Rund fünf Monate
nach ihrer Verhaftung
beginnt am Landgericht
Braunschweig
der Prozess
gegen Esra.
Viele JournalistInnen
zücken ihre Kameras,
um jene Frau
vor die Linse zu kriegen,
nach der die Polizei
sechs Jahre lang
gesucht hat.
Doch Esra
entzieht sich
ihren neugierigen Blicken,
indem sie ihr Gesicht
mit einem Papierstapel
vor dem Blitzlichtgewitter
abschirmt.
Die 36-Jährige
betritt den Raum
an diesem Montag
gemeinsam mit ihrer
Pflichtverteidigerin.
Es hat beinahe etwas
Mütterliches,
wie die Juristin
die Hand ihrer Mandantin
hält und selbstbewusst
voranschreitet.
Eine Geste,
die Esra für ihre Töchter
niemals aufbringen konnte.
Denn die Mädchen sind tot
und Esra hat beschlossen,
keine Mutter sein zu wollen.
Die 36-Jährige
hat beide Kinder
auf dem Gewissen.
Davon ist die Staatsanwaltschaft
überzeugt
und wirft Esra
zweifachen Totschlag vor.
Um in dieser Sache
zu einem Urteil zu kommen,
hat das Gericht
nur wenige Prozesstage
angesetzt.
Schließlich hat Esra
bereits bei der
polizeilichen Vernehmung
ein ausführliches
Geständnis abgelegt
und detailliert geschildert,
wie sie ihre
erstgeborene Tochter
getötet hat.
Anders dagegen
verhält es sich
bei dem Tod
ihres zweiten Kindes.
Auch jetzt,
im Zeugenstand
der Landgerichts
behauptet Esra erneut,
dass sie sich
auf das Kind gefreut habe.
Und auch an ihrer
Ohnmachtsgeschichte
nach der Wassergeburt
hält sie fest.
Eine Version,
an der das Gericht
Zweifel hegt
und daher einen Experten
hinzuzieht.
Ein Rechtsmediziner
soll nun klären,
wie glaubwürdig
der von Esra
geschilderte Unfall ist.
Doch wirklich konkret
ist seine Einschätzung
nicht.
Der Sachverständige
bestätigt,
dass das Kind
tatsächlich durch
Ertrinken
im Badewasser
gestorben sei
und es keine Hinweise
auf aktive
Gewalteinwirkung gebe.
Die von Esra
geschilderte Ohnmacht
hält er dagegen
aus medizinischer Sicht
für unwahrscheinlich,
könne sie jedoch
auch nicht ausschließen.
In der Frage der Schuldfähigkeit
zieht das Landgericht
einem Psychiater zur Rate.
Er soll einen Einblick
in Esras Seelenleben geben
und zugleich einschätzen,
in welchem Zustand
sie sich bei den Geburten
ihrer Kinder befunden hat.
Seine Einschätzung ist klar
und differenziert gleichermaßen.
Esra sei eine belastbare,
robuste und willensstarke Frau.
Das habe sie in der Vergangenheit
mehrmals bewiesen.
Etwa, als sie sich von ihrer
Familie löste
oder Beziehungen
aus eigener Kraft
beendet habe.
Psychisch gesehen
sei sie gesund
und dennoch hält er
eine tiefgreifende
Bewusstseinsstörung
zum Zeitpunkt
der ersten Tat
für wahrscheinlich.
Starke Schmerzen,
Blutverlust,
Übermüdung,
all das habe Esra
während der 23 Stunden
andauernden Geburt
ihres ersten Kindes
körperlich womöglich
so an ihr Limit gebracht,
dass ihre Wahrnehmung
massiv eingeengt gewesen sei.
Dissoziativer Zustand
lautet das Fachwort,
das der Sachverständige nutzt.
Infolge der verdrängten
Schwangerschaft
habe sie keine
emotionale Bindung
zu dem Kind aufgebaut.
Das schreiende Baby
sei für sie lediglich
ein Störfaktor gewesen
und die Tötung
des Kindes
sei ihr in ihrem Zustand
als einzige Möglichkeit
erschienen,
dem Lärm zu entkommen.
Esra,
so macht der Psychiater klar,
sei in Bezug auf ihre erste Tat
somit nur als eingeschränkt
schuldfähig zu betrachten.
Bei der zweiten jedoch
sei ihre Einsichts-
und Steuerungsfähigkeit
weder aufgehoben
noch vermindert gewesen.
Eine Einschätzung,
der sich das Gericht
mit seinem Urteilsspruch
am 14. November anschließt.
Nach sechs Verhandlungstagen
wird die mittlerweile
36-Jährige
wegen zweifachen Totschlags
zu einer Freiheitsstrafe
von sechseinhalb Jahren
verurteilt.
Ein Strafmaß,
mit dem die Kammer
ihren dissoziativen Zustand
bei der ersten Tat würdigt
und zugleich klar macht,
dass sie in dem Tod
ihrer zweiten Tochter
keinesfalls den tragischen Unfall sieht,
als den Esra ihn dargestellt hat.
In seiner Urteilsbegründung
erklärt der Vorsitzende Richter zwar,
dass das Gericht
nicht davon ausgehe,
dass sie den Tod
ihrer Zweitgeborenen
aktiv herbeigeführt habe,
verhindert habe sie ihn
jedoch auch nicht.
Aus diesem Grund
habe Esra sich
des Unterlassens schuldig gemacht.
Als Mutter
sei es ihre Pflicht gewesen,
das Leben ihres Kindes
zu schützen
und für eine sichere Geburt
zu sorgen.
Eine Pflicht,
der sie mit einer
einsamen Wassergeburt
in ihrer Wohnung
nicht nachgekommen sei.
Auch das angebliche
Mutterglück
und die Vorfreude
auf das Kind
wertet das Gericht
als Schutzbehauptung.
dafür spreche auch
die gefühlslose Art
der Entsorgung
in einem Müllcontainer.
Mit gesenktem Kopf
nimmt Esra
ihr Urteil entgegen,
das noch im Gerichtssaal
rechtskräftig wird.
Denn sowohl
die Staatsanwaltschaft
als auch die Verteidigung
verzichten auf eine Revision.
Esras Schicksal
ist somit besiegelt.
Die nächsten Jahre
wird sie in Haft verbringen.
Und dennoch
appelliert der
Vorsitzende Richter
bereits jetzt
in seinen letzten Worten
an Esras Zukunft.
Ich kann nur hoffen,
macht er klar,
dass wir uns hier niemals
wiedersehen.
Einige Jahre später.
Es gibt diese Fälle,
die einen nie loslassen,
die auf ewig
einen festen Platz
im Gedächtnis haben.
Für Jürgen
gehören Esras Verbrechen
definitiv dazu.
Fast sechs Jahre lang
hatte er alles daran gesetzt,
eine zweite Tat
zu verhindern,
den Wettlauf
gegen die Zeit zu gewinnen.
Doch letztendlich
hat er ihn verloren.
An manchen Tagen
sind die Erinnerungen
daran besonders präsent.
Manchmal,
wenn er Mütter betrachtet,
die glücklich
einen Kinderwagen
vor sich herschieben
oder Kinderlachen hört,
dann muss er daran denken,
dass Esras Töchter
diese Dinge nie erleben werden.
Sie hatten keine
glückliche Kindheit,
keine liebende Mutter.
Auf dem Friedhof
Lagesbüttel
liegen heute
zwei Gräber
dicht beisammen.
Auch Jürgen
hat sie noch ein paar Mal
nach dem Prozess besucht.
Unbekanntes Baby
Wallersee
ist auf einem
der Grabsteine eingraviert.
Auf dem anderen
steht Sophia.
Diesen Namen
hatte Esra
ihrer zweiten Tochter
auf Nachfrage
von Jürgen
noch nachträglich gegeben.
Eigentlich sollte
so etwas
selbstverständlich sein.
Doch ihm ist klar,
es ist das
Mütterlichste,
das Esra jemals
für eines ihrer
Kinder getan hat.
Also dieser Fall
war für mich
einfach so emotional,
aber auch
so spannend.
Ich habe Jürgen Schmidt
damals ja bei den
Stern Crime Days
kennengelernt
und er hatte mir dann
von seinem Fall
erzählt
und ich bin super
dankbar,
dass wir durch ihn
jetzt diese Einblicke
in die Ermittlungsarbeit
haben,
weil wir so auch mal
zumindest
einige Schritte
mitbekommen,
was da eigentlich
passiert,
wenn es eine Leiche gibt
und man nicht weiß,
wer der Täter
oder die Täterin ist
und diese
Achterbahnfahrt
der Gefühle
und der Hoffnung
und der Verzweiflung,
die Jürgen Schmidt
dann ja auch erlebt hat
im Laufe der Zeit
und seiner Arbeit,
die kriegen wir ja sonst
immer gar nicht mit.
Ja und ich fand es auch
wichtig,
dass wir
diesem Fall
so viel Raum
gegeben haben
und eben auch
von den Ermittlungsschritten
erzählt haben,
die ins Nichts
gelaufen sind,
weil das ist die Realität
für die KommissarInnen.
Deswegen bin ich auch
mal wieder so froh
über die Möglichkeit,
dass wir jetzt
jede zweite Woche
eben einen Fall
nur erzählen
und da dann auch
eben sowas mal
machen können,
wo wir einen Fall
halt länger
erzählen können.
Ja und ich muss sagen,
als ich das erste Mal
gehört habe,
da wird diese
Babyleiche gefunden
und so,
dachte ich,
um Gottes Willen,
was für ein
grauenhafter Mensch.
Und dann ist es halt
eben so,
wie es so oft
im Leben ist.
Es ist halt nicht nur
schwarz und weiß
und es gibt nicht nur
Gut und Böse.
Und ich meine,
die Tat an sich
bleibt natürlich
weiterhin furchtbar,
aber solche Geschichten
und solche
Hintergrundinformationen
lassen uns natürlich
dann manchmal
der Person,
die es getan hat,
schon noch ein Stück
näher kommen.
Ja, das stimmt.
So, das war jetzt mal
wieder eine ziemlich heftige
Folge.
Die kommenden Fälle,
die wir nächsten Mittwoch
besprechen,
die sind auch wieder
was für seichtere
Gemüter versprochen.
Das war ein Podcast
der Partner in Crime.
Hosts und Produktion
Paulina Graser
und Laura Wohlers.
Redaktion
wir
und Jennifer Fahrenholz.
Schnitt
Henk Heuer.
Rechtliche Abnahme
und Beratung
Abel und Kollegen.