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#148 Schwere schuld

Mordlust
Ja, Laura, jetzt sitzen wir hier und wissen gar nichts mit unserer Zeit anzufangen.
Verdammt, Justitias Wille ist vorbei.
Genau, gestern kam die letzte Folge und damit auch die Folge zur Urteilsverkündung.
Und jetzt war es das erst mal.
Erst mal, genau, das war ja die erste Staffel.
Falls ihr die Folgen noch nicht gehört habt, hier nochmal eine Herzensempfehlung von uns für unser eigenes Projekt.
Manche warten ja immer, bis alle Folgen draußen sind, weil sie das so durchbingen möchten oder so.
So wie ich.
Wirklich.
Ich mag sowas viel lieber, ich kann nicht eine Woche warten.
Naja, Laura, dann go.
Du kannst jetzt alle Folgen von Justitias Wille hören und wir würden uns natürlich sehr, sehr freuen, wenn ihr das auch macht.
Wir haben da, und wir sagen es jetzt zum tausendsten Mal, so viel Arbeit, so viel Herzblut reingesteckt.
Aber deswegen würden wir uns natürlich auch freuen, wenn ihr euch die Zeit nehmt und euch das anhört.
Es ist ein wichtiges Thema zu einer wichtigen gesellschaftlichen Debatte.
Wir hoffen, dass wir mit dem Podcast natürlich auch ein Informationsangebot für euch zur Verfügung gestellt haben.
Auf Grundlage dessen ihr euch eine Meinung bilden könnt zu dem Thema Suizidhilfe.
Und jetzt widmen wir uns wieder mit ganzem Herzen unserem Erstgeborenen.
Und damit herzlich willkommen zu Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
In dieser Folge haben wir wieder ein Oberthema für euch, zu dem wir zwei wahre Kriminalfälle nacherzählen, darüber diskutieren und auch mit Menschen mit Expertise sprechen.
Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
Das machen wir auch, selbst dann, wenn wir hier auch mal ungehemmter kommentieren.
Das ist für uns so eine Art Comic-Oleaf, aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
Im Oktober 1991 erschießt ein 29-Jähriger zwei Polizisten auf einem Waldparkplatz in NRW.
Der Mann hatte davor einen Fake-Notruf abgesetzt, indem er von einem angeblichen Wildunfall gesprochen hat, um die Polizei zu ihm zu locken.
Das Landgericht Hildesheim verurteilt ihn 1995 wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
Und jetzt wurde vor kurzem bekannt, dass dieser Mann im Juli dieses Jahres aus dem Gefängnis entlassen wird.
Also nach insgesamt 33 Jahren.
Und wir wissen aus diesem Podcast ja auch, dass lebenslang in der Regel nicht tatsächlich lebenslang bedeutet.
Zumindest nicht im Sinne von ein Leben lang im Gefängnis, ohne Aussicht, irgendwann nochmal wieder freizukommen.
Obwohl die lebenslange Freiheitsstrafe grundsätzlich genau das meint, können die meisten Verurteilten nach 15 Jahren zum ersten Mal einen Antrag auf Aussetzung ihrer Strafe stellen.
Dem wird dann auch oft stattgegeben.
Statistisch gesehen kommen die meisten nach 18 Jahren frei.
33 Jahre ist jetzt aber halt trotzdem sehr lang.
Im Durchschnitt sitzt man nämlich eigentlich nur etwa, nur in Anfangszeichen, etwa 18 Jahre in Haft, wenn man lebenslang bekommen hat.
Warum der Polizistenmörder so viel länger drin bleiben musste, hat mit seiner Schuld zu tun.
Die wog nämlich besonders schwer.
Und wieso das so war und welche TäterInnen das noch betrifft, darum geht's in unserer heutigen Folge.
Mein Fall zeigt, dass die Liebe manchmal nicht nur ein seltsames, sondern auch ein tödliches Spiel ist.
Alle Namen habe ich geändert.
Dezember 2018
Auf den ersten Blick wirkt er völlig unscheinbar.
Der kleine weiße Umschlag, den sie da in ihren Händen hält und auf dem ihr Name vermerkt ist.
Doch als sie den Brief herausnimmt und das Papier genauer betrachtet, zieht sich in ihr alles zusammen.
Sie kennt die Schrift.
Den Verfasser dieser handgeschriebenen, schnulzigen Zeilen, der sie als sein Mädchen bezeichnet
und ihr versichert, dass er sie für immer lieben werde.
Es ist ein Bekenntnis, das einst auf Gegenseitigkeit beruhte.
Doch nun ist da, wo Liebe war, nur noch Hass.
Etwa zwei Monate zuvor.
Zugegeben, ein bezugsfertiger Neubau ist es nicht, den sich Moritz hier im nordrhein-westfälischen Wald feucht ausgesucht hat.
Doch seine Vorfreude schmälert das nicht.
Nach und nach wird er die Räume, die im Moment noch veraltet und heruntergekommen wirken,
schon noch in ein gemütliches Zuhause verwandeln.
In sein Zuhause.
Und das von Julia.
Vor ca. einem Jahr haben sich Moritz und Julia auf einem Autotuning-Treffen kennengelernt
und sich auf Anhieb gut verstanden.
Seither sind sie gut befreundet und sehen einander regelmäßig.
Und in Zukunft wollen sie nicht nur gemeinsam an Fahrzeugen herumschrauben,
sondern auch zusammenleben.
Denn Moritz und Julia gründen eine WG.
Moritz weiß, dass es viel Arbeit kosten wird, die Bude auf Vordermann zu bringen.
Doch vor dieser Aufgabe schreckt der Sunnyboy mit den sanften, dunklen Augen und den kurzgestylten Haaren keineswegs zurück.
Er ist ein Mensch, der gerne anpackt.
Genauso wie die 22-jährige Julia.
Eine Eigenschaft, die sie beide bei den kommenden Renovierungsarbeiten nun unter Beweis stellen müssen.
Ein paar Tage später.
2.
Oktober 2018.
Moritz und Julia sind erschöpft.
Stundenlang haben sie heute Kisten geschleppt, Möbel gerückt und alte Tapeten abgerissen.
Die beiden sind froh über das, was sie geschafft haben und über die Unterstützung, die sie dabei hatten.
Von Julias Papa zum Beispiel.
Aber auch von Kai.
Der 22-Jährige ist nicht nur ein gemeinsamer Freund, er ist auch Julias Ex-Partner.
Obwohl die Trennung der beiden erst wenige Monate zurückliegt, pflegen sie nach wie vor einen harmonischen Umgang miteinander.
Nice.
Das finde ich irgendwie gut.
Also wenn man so über sein Ego hinweg ist und da während der Beziehung nichts furchtbar Verletzendes und Unfaires vorgefallen ist,
dann finde ich, können Echsen auch die besten Freunde sein.
Also aus Erfahrung kann ich da jetzt nicht berichten, aber liegt wahrscheinlich an meinem Ego.
Aber bei denen klappt es offenbar sehr gut und daher hatte Kai dann auch direkt seine Hilfe bei den Renovierungsarbeiten angeboten,
als er wusste, dass die beiden zusammenziehen wollen.
Julia und ihr Vater sind an diesem Abend die Ersten, die den Feierabend einläuten und die Wohnung verlassen.
Jetzt sind sie nur noch zu dritt.
Moritz, Kai und Paul, ein weiterer gemeinsamer Freund.
Zusammen tätigen sie noch ein paar letzte Handgriffe, ehe sich auch die letzten beiden Helfer gegen 19.30 Uhr verabschieden.
Moritz dagegen bleibt.
Er will noch einen Schrank aufbauen.
Morgen werden sie wieder alle gemeinsam fleißig sein, so lautet das Vorhaben, auf das sich die drei verständigen.
Doch einhalten werden sie es nicht.
Es ist kurz nach 23 Uhr, als das Blaulicht mehrerer Polizeiwagen in einem Industriegebiet die Dunkelheit erhält.
Normalerweise findet sich hier außerhalb der Arbeitszeiten der ansässigen Firmen nahezu keine Menschenseele wieder.
Doch an diesem späten Abend sorgt die grausame Entdeckung eines Autofahrers dafür, dass zahlreiche Einsatzkräfte vor Ort sind.
Am Straßenrand, kurz vor einem Metallzaun, liegt ein lebloser Körper.
Wie ein roter Teppich erstreckt sich die Blutlache, die ihn umgibt, auf dem grauen Asphalt.
Doch der schlimmste Anblick bietet sein Oberkörper.
Er ist übersät mit zahlreichen Stich- und Schnittverletzungen.
Im Bereich der Brust sowie am Hals.
Doch auch die Verletzungen an den Beinen sind gravierend, wie die feuchte und dunkelrot verfärbte Jeans verrät.
Die Notärztin, die wenige Minuten nach dem Notruf eines Autofahrers eintrifft,
kann für den jungen Mann, der offenbar einem brutalen Verbrechen zum Opfer gefallen ist, nichts mehr tun.
Während der gestundene Körper in einem Leichensack verschwindet,
nimmt die Mordkommission Mönchengladbach die Ermittlungen auf.
Es gilt nun herauszufinden, was in dem abgelegenen Industriegebiet passiert ist
und wer dem jungen Mann das Leben genommen hat.
Dem Mann, der mittlerweile als der 27-jährige Moritz identifiziert werden konnte.
Die zahlreichen Stich- und Schnittverletzungen sprechen für die ErmittlerInnen eine eindeutige Sprache.
Ihnen ist klar, dass sie es hier nicht mit einem gewöhnlichen Tötungsdelikt zu tun haben,
sondern mit einem sogenannten Overkill.
Ein Verbrechen, bei dem das Opfer gleich mehrere tödliche Verletzungen aufweist.
Das bestätigt auch das Obduktionsergebnis.
Insgesamt 52 Stiche und Schnitte zählen die RechtsmedizinerInnen auf Moritz' Körper.
Einige davon trafen die Lunge, durchtrennten die Halsschlagader und verletzten Moritz' Herz.
Letztendlich, so stellt man fest, starb er an einem Schock infolge des Blutverlustes.
sowie an einem Versagen seines Atmungssystems.
Ein Tod, der einer Hinrichtung gleicht.
Auf der Suche nach Hinweisen widmet sich die Mordkommission den Betrieben,
die hier im Industriegebiet kurz vor der deutsch-niederländischen Grenze ihren Sitz haben.
Vielleicht, so die Annahme der PolizistInnen, verfügt einer von ihnen über eine Überwachungskamera,
die etwas aufgezeichnet hat, das ihnen helfen könnte.
Und tatsächlich, so eine Kamera gibt es.
Der Inhaber einer am Tatort ansässigen Firma berichtet,
erst gestern, am Tattag, ein Gerät an der Fassade seines Betriebs installiert zu haben.
Gestern Abend habe er auch gleich eine Mitteilung über eine registrierte Bewegung erhalten.
Doch als er die entsprechende App auf seinem Handy geöffnet habe, um auf die Kamera zuzugreifen,
habe er nichts Ungewöhnliches gesehen.
Dafür jedoch gehört.
Ein schmerzerfülltes Stöhnen, wahrscheinlich von einem Mann.
Das Geräusch habe ihn besorgt und er sei deshalb nochmal zum Betrieb gefahren.
Als er dort angekommen sei, habe er schockiert einen leblosen Körper am Straßenrand entdeckt
und sei auf einen Autofahrer gestoßen, der bereits den Notruf verständigt hatte.
Die Polizei beschlagnahmt die Kamera und macht sich daran,
das Videomaterial vom 2. Oktober auszuwerten.
Eine zeitintensive und zunächst auch undankbare Aufgabe.
Denn vor allem in den Abendstunden gleichen die Aufnahmen nahezu einem dunklen Standbild.
Zumindest bis die digitale Anzeige der Kamera etwa 22.45 Uhr zeigt.
Auf dem Bildschirm verfolgen die ErmittlerInnen,
die plötzlich zwei Autos in Höhe eines Kreisverkehrs parallel zueinander halten
und anschließend auf den nahegelegenen Parkplatz fahren.
Die Lichtverhältnisse sind schlecht und die Qualität der Aufnahme dürftig,
doch das grisselige Video genügt, um zu erkennen, was danach passiert ist.
Den BeamtInnen wird klar, Moritz hatte keine Chance.
Denn er war seinen Angreifern zahlenmäßig haushoch unterlegen.
Während die PolizistInnen das Video immer wieder zurückspulen,
hält das Leben für zwei Menschen die metaphorische Pausentaste gedrückt.
Elke und Jörg.
Die Nachricht vom Tod ihres Sohnes hat die 51-Jährige und ihren 57-Jährigen Mann im Italienurlaub erreicht.
Und das alles andere als behutsam.
Noch bevor die Polizei das Ehepaar kontaktierte,
hatten sie aus den Medien erfahren, dass Moritz niedergestochen wurde.
Boah, ein Horror.
Ein wahrgewordener Albtraum für die Eltern.
Unverzüglich haben sie ihren Urlaub abgebrochen und sind nach Hause zurückgekehrt.
Am heutigen 4. Oktober stehen sie nun an der Stelle, an der Moritz, ihr Momo, sein Leben lassen musste.
In einer kleinen privaten Trauerfeier wollen Familienmitglieder und Freundinnen wie Paul und Kai, dem 27-Jährigen, heute gedenken.
Nacheinander legen sie Blumen auf den grauen Asphalt und platzieren rote Grablichter vor dem Metallzaun an der Stelle, wo sein Leichnam entdeckt wurde.
Rest in Peace, Momo, ist auf einem aufgestellten Holzkreuz vermerkt, an dem ein Foto von ihm befestigt ist.
Doch viel Zeit ist zu betrachten, bleibt Elke und Jörg nicht.
Immer wieder kommen Menschen auf sie zu, die sie umarmen und ihnen ihr Beileid aussprechen.
Elke und Jörg blicken an diesem Tag in viele vertraute Gesichter, die ihnen verdeutlichen, dass sie mit ihrer Trauer nicht alleine sind.
Ein schmaler Trost, denn egal wie groß die Anteilnahme auch sein mag, ihr Kind bringt sie ihnen nicht zurück.
Während Moritz' Familie trauert, geht für die Mordkommission die Ermittlungen weiter.
Anhand der Kameraauswertung wissen die Beamtinnen mittlerweile, dass Moritz am Abend seines Todes auf vier Männer getroffen ist.
Was die Hintergründe der Tat betrifft und die Identitäten der Personen, die auf dem Video nur schemenhaft zu erkennen sind, tappen die ErmittlerInnen jedoch noch im Dunkeln.
Ein Zustand, der sich an diesem 4. Oktober ändert, als die Tür zur Wache der Mordkommission aufgeht und drei junge Männer eintreten, die von mehreren AnwältInnen begleitet werden.
Tarek, Mert und Ali lauten die Namen, mit denen sie sich vorstellen.
Und ihr Anliegen lässt die Beamtinnen hellhörig werden.
Sie wollen Angaben zu dem Toten aus dem Gewerbegebiet machen, denn sie wüssten, wie er gestorben sei.
In den kommenden Stunden werden die drei Männer getrennt voneinander befragt.
Und für die PolizistInnen wird dabei vor allem eine Sache schnell klar.
Tarek, Mert und Ali sind keine gewöhnlichen Zeugen.
Sie sind die Personen aus dem Überwachungsvideo.
Es war eine zufällige Begegnung zwischen den vier Männern und Moritz.
Da sind sich vor allem die Anfang-20-Jährigen Mert und Ali einig.
In den Gesprächen mit den Vernehmungsbeamtinnen berichten die beiden am Abend des 2. Oktober auf ihren Kumpel Tarek gewartet zu haben, der sie in die Disco habe fahren wollen.
Wenig später sei ein schwarzer Wagen vorgefahren.
Tarek habe auf dem Beifahrersitz gesessen, am Steuer ein Mann, den die beiden nicht kannten.
Tarek habe ihn ihnen als sein Bruder vorgestellt.
Dann seien sie zu viert los.
Auf dem Weg zum Nachtclub habe Tareks Bruder in einem Kreisverkehr angehalten und sich mit dem Fahrer eines entgegenkommenden Autos unterhalten.
Beide hätten ihre Wagen auf einen Parkplatz gelenkt.
Dann, so geben es Mert und Ali an, sei das Aufeinandertreffen mit dem Fahrer des anderen Autos plötzlich eskaliert und Tarek und sein Bruder seien auf den anderen Autofahrer losgegangen.
Tareks Bruder sei es dann auch gewesen, der den anderen getötet habe.
Eine Version, an der auch Tarek in seiner Vernehmung festhält.
Ebenso wie seine Freunde berichtet auch der 17-Jährige von der Fahrt Richtung Diskothek, der Begegnung im Kreisverkehr und der Eskalation auf dem Parkplatz.
Doch er hat noch mehr zu sagen, denn anders als Mert und Ali kennt er den Mann, der am Steuer saß, gut und liefert der Polizei einen Namen.
Kai
Der hilfsbereite Umzugshelfer, der Ex-Freund von Julia und derjenige, der erst vor wenigen Wochen erfahren musste, dass seine große Liebe ihr Herz schon wieder neu vergeben hat.
Oh oh.
Rückblick.
Es ist Juli 2017, als Kai und Julia ein Paar werden.
Zunächst läuft zwischen ihnen alles gut.
Vor allem Kai schwebt auf Wolke 7.
Noch nie hat er so für jemanden empfunden wie für Julia.
Er liebt einfach alles an ihr.
Jede Stärke, jede Macke.
Und er ist überzeugt, dass sie die Frau fürs Leben ist.
In einem Mehrfamilienhaus, das Kais Vater bauen lässt, wollen die beiden bald gemeinsam eine Wohnung beziehen.
Und um seinem Mädchen das Zuhause zu bieten, das es verdient, hat Kai kürzlich einen Kredit aufgenommen.
Rund 20.000 Euro sollten genügen, um ihre zukünftige Wohnung einzurichten.
Doch der Einzugstermin verschiebt sich immer wieder.
Die Fertigstellung der Wohnung dauert länger als gedacht und Julia wird langsam aber sicher ungeduldig.
Um sie zu besänftigen, erzählt Kai ihr regelmäßig von Fortschritten in der Immobilie.
Doch oft entsprechen seine Angaben nicht der Wahrheit.
Julia, die regelmäßig dahinter kommt, verliert so das Vertrauen in ihren Freund.
Im Sommer 2018, die Wohnung ist nach wie vor nicht fertig, passiert schließlich etwas, womit Kai niemals gerechnet hat.
Julia will die Trennung.
Der 23-Jährige versteht die Welt nicht mehr.
Doch Julia ist fest entschlossen.
Sie besteht auf den Schlussstrich.
Und bricht Kai damit das Herz.
In den kommenden Wochen hat der Herzschmerz Kai fest im Griff.
Regelmäßig setzt er sich nachts hinter das Steuer seines Autos und fährt ziellos durch die Gegend, um den Kopf frei zu kriegen.
Doch dem Schmerz davon zu fahren, das gelingt ihm genauso wenig, wie die Trennung zu akzeptieren.
Den freundschaftlichen Umgang, den Kai und Julia auch nach Ende ihrer Beziehung miteinander pflegen,
nimmt der 23-Jährige immer wieder zum Anlass, um sich Hoffnung zu machen.
Es wird ein Liebescomeback zwischen ihnen geben.
Davon ist er überzeugt.
Er macht Julia regelmäßig Geschenke und sucht ihre Nähe.
Selbst dann, als er im September erfährt, dass sie mit Moritz, einem gemeinsamen Freund aus der Autotuning-Szene, zusammenziehen wird.
Einen Stich versetzt es ihm schon, dass er eine große Liebe vorhat, mit einem anderen Mann zusammenzuleben.
Aber ernsthafte Sorgen macht er sich nicht.
Die beiden gründen nur eine WG.
Das hat Julia ihm schließlich persönlich versichert.
Doch was Kai zu diesem Zeitpunkt nicht weiß,
es ist eine Lüge, die sie ihm und auch ihrer Clique aufgetischt hat.
Denn Julia und Moritz sind weit mehr als nur gut befreundet und zukünftige MitbewohnerInnen.
Sie sind ineinander verliebt und heimlich ein Paar.
Und Kai ist der Grund für ihr Versteckspiel.
Vor allem Julia ist klar, dass es ihrem Ex-Freund ein zweites Mal das Herz brechen würde,
wenn sie ihm erzählt, dass sie bereits einen neuen Partner hat.
Aus Rücksicht haben sie und Moritz sich deswegen darauf geeinigt,
ihre Beziehung zunächst einmal für sich zu behalten
und vorzugeben, als Freundinnen zusammenzuziehen.
Ein Schauspiel, das Kai den beiden über Wochen abkauft.
Zumindest bis zu jenem Tag Mitte September.
Es ist ein guter Freund, der Kai bei einem Tuning-Treffen zur Seite nimmt.
Die Worte, die er von sich gibt, sind eindeutig.
Kai müsse endlich akzeptieren, dass es mit Julia vorbei sei.
Schließlich hätten alle im Freundeskreis schon längst gemerkt,
dass zwischen ihr und Moritz etwas laufe.
Es ist eine Ansage, die Kai die Gesichtsfarbe aus den Wangen zieht.
Er kann nicht glauben, was er da hört.
Weiß nicht, was er mit diesen niederschmetternden Informationen anfangen soll.
Doch Fakt ist, nur wenige Wochen später ist Moritz tot.
Wie sehr Kais Eifersucht ihn zuletzt im Griff hatte, das weiß Tarek genau.
Denn ihn und Kai, so erzählt er es den Vernehmungsbeamtinnen am 4. Oktober,
verbindet ein besonderes Band.
Seit Tareks Mutter und Schwester nach einem abgelehnten Asylantrag
vor rund eineinhalb Jahren nach Albanien zurückgekehrt sind,
lebt der 17-Jährige bei den Eltern seines Freundes Kai,
die ihn bei sich aufgenommen haben.
Er und Kai nennen einander Brüder.
Sie sind Familie.
Und innerhalb einer Familie ist man füreinander da.
Daran hat vor allem Kai Tarek in den vergangenen Wochen immer wieder erinnert.
Tarek berichtet den PolizistInnen,
dass Kai dem Neuen seiner Ex-Freundin Moritz
eine Abreibung verpassen wollte.
Kai habe ihn deswegen darum gebeten, Leute zu suchen,
die seinen Nebenbruder für ihn verprügeln würden.
Aus Pflichtbewusstsein gegenüber seinem Bruder
habe Tarek sich nicht getraut zu verneinen.
Doch eigentlich habe er damit gar nichts zu tun haben wollen.
Immer wieder habe er deswegen über Wochen
irgendwelche Ausreden vorgeschoben,
um Kai hinzuhalten.
Etwa, dass er angebliche Mittäter gefunden habe
und dass diese aber 3000 Euro für die Beauftragte Trachtprügel verlangen würden.
Doch letztendlich sei ohnehin alles anders gekommen.
Als sie sich auf dem Parkplatz trafen,
habe Kai ihm aufgeregt erklärt,
dass der Fahrer des anderen Wagens der Neue seiner Ex-Freundin sei
und dass er schlecht über ihre Familie spreche.
Aus diesem Grund habe sich Tarek dazu verleiten lassen,
Moritz ins Gesicht zu schlagen.
Danach habe er ihm mit einem Messer ins Bein gestochen.
Einmal, zweimal, maximal vier, fünfmal.
Und das aber nur, weil er gedacht habe,
Moritz würde eine Waffe ziehen.
In jedem Fall habe er sich mit dem Messer nur verteidigen
und Moritz auf keinen Fall töten wollen.
Ganz anders als Kai,
der ihm kurze Zeit später das Messer abgenommen
und Moritz immer wieder in den Oberkörper gestochen habe.
Tareks Anschuldigung hat Konsequenzen.
Einen Tag später wird Kai festgenommen.
Und er ist bereit zu reden.
Der kräftige Typ mit den kurzen, dunkelbörnten Haaren
gesteht, Moritz getötet zu haben
und liefert den Grund gleich mit.
Moritz habe einen Fehler begangen,
macht Kai den PolizistInnen klar.
Er habe sich an sein Mädchen rangemacht.
Sei der Frau nahegekommen, die zu ihm gehöre.
Es sind Aussagen, die den BeamtInnen vor Augen führen.
Der Mann, der ihnen gegenüber sitzt, ist schwer gekränkt.
Und mit seiner Rolle als Ex-Freund hat er sich nie abgefunden.
15. Juli 2019,
etwa neun Monate nach dem brutalen Verbrechen an Moritz,
beginnt der Prozess.
Vor allem für Moritz' Eltern Jörg und Elke
ist es ein besonderer Tag.
Hand in Hand betreten der Mann mit dem Schnauzer
und die Frau mit dem grauen Kurzhaarschnitt
den Schulgerichtssaal des Landgerichts Aachen.
Doch statt sich auf einem der ZuschauerInnenplätze niederzulassen,
steuern die beiden auf zwei gepolsterte Stühle
neben der Staatsanwaltschaft zu.
Elke und Jörg haben sich entschieden,
die Nebenklage anzutreten.
Seit ihr Sohn gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde,
ist für das Ehepaar nichts mehr so,
wie es einmal war.
Jeden Abend geht der einst lebensdurstige Jörg
früh ins Bett, um seiner Trauer zu entkommen.
Moritz' Mutter Elke hat vor lauter
Komma 20 Kilo abgenommen
und zuckt jedes Mal zusammen,
wenn sie die Sirenen von Polizei und Rettungswagen hört.
Die anwesenden JournalistInnen richten ihre Kameras
immer wieder auf Moritz' Eltern.
Fotografisch halten sie ihre traurigen Augen fest,
mit denen sie durch ihre gerahmten Brillen blicken.
Andere Prozessbeteiligte dagegen sind darauf bedacht,
kein gutes Bild abzugeben.
Kai, der an diesem ersten Verhandlungstag
in Handschellen in den Saal geführt wird,
schirmt sein Gesicht mit einem orangefarbenen Hefter
vor dem Blitzlichtgewitter ab.
Gekleidet im schwarz-grau melierten Kurzarmhemd
und Bluejeans nimmt er Platz auf einer der Anklagebänke,
die sich über zwei Reihen erstrecken.
Denn er ist nicht der Einzige,
dem der Prozess gemacht wird.
Auch Tarek, Mert und Ali müssen sich ab heute
vor Gericht verantworten,
wegen gemeinschaftlichen Mordes.
Denn die Version von der angeblichen Zufallsbegegnung
nimmt die Staatsanwaltschaft den Männern nicht ab.
Die Anklage ist überzeugt,
Die Tötung von Moritz beruhte auf einem Plan
und in den waren alle vier fest eingebunden.
Dafür spreche unter anderem die WhatsApp-Konversation
zwischen Kai und Tarek,
die auf Tareks Handy sichergestellt worden war
und nun vorgelesen wird.
Am 24. September,
rund eine Woche vor der Tat,
schreibt Kai, Zitat,
kannst dir vorstellen,
wie ich mich in letzter Zeit fühle.
Ich weiß, Bruder,
antwortet Tarek ihm
und fügt eine Minute später hinzu,
ich rede mit den Typen,
ich mache das fett,
ich frage, wie viel das kostet.
Kai antwortet,
aber so schnell wie möglich.
Du weißt,
dafür hast du dann auch einen Gut.
Egal, was du dann hast,
du kannst mich dann immer anrufen.
In anderen Nachrichten
werden die beiden konkreter,
tauschen sich über Moritz aus
und darüber,
wo man es machen werde.
Die vorgetragenen WhatsApp-Nachrichten
setzen Jörg und Elke zu.
An den kommenden Prozesstagen
suchen die beiden immer wieder bewusst
den Blickkontakt zu den vier Angeklagten.
Vor allem zu Kai,
der ihnen auf Moritz' Trauerfeier
sogar persönlich
sein Beileid ausgesprochen hatte.
Doch erwidert werden ihre Blicke nicht.
Während Tarek, Mert und Ali
die meiste Zeit die Holztische vor ihnen fixieren,
wirkt Kai nahezu überheblich.
Wenn er nicht gerade das Kaugummi
in seinem Mund maltretiert,
schmunzelt er in sich hinein
oder scherzt mit seinem Anwalt.
Sich persönlich zur Tat zu äußern,
hat er nicht vor.
Lediglich in einer schriftlichen Erklärung,
die sein Strafverteidiger verliest,
präsentiert er eine neue Version des Tatgeschehens.
Denn von einem Verbrechen aus Eifersucht,
wie er es in der Polizeivernehmung geschildert hatte,
will er nun nichts mehr wissen.
Stattdessen behauptet er,
Moritz im Affekt getötet zu haben.
Der neue Partner seiner Ex-Freundin
habe ihn nach einer Prügelei auf dem Parkplatz
als impotenten Idioten beschimpft.
Da seien bei Kai die Sicherung durchgebrannt.
Mehr kommt von ihm nicht.
Doch die Geschehnisse des 2. Oktober 2018 zu rekonstruieren,
gelingt dem Gericht auch ohne seine Hilfe.
Denn nach einigen Verhandlungstagen
nimmt sich die Kammer schließlich das wichtigste Beweisstück vor.
Das Überwachungsvideo.
Die Aufnahmen,
die nun auf einer Großleinwand gezeigt werden,
in Kombination mit den Chat-Nachrichten,
zeichnen ein eindeutiges Bild davon,
wie und warum
Moritz sterben musste.
Um seinem Herzschmerz ein Ende zu setzen,
schmiedet Kai im September 2018 einen Plan.
Davon ist das Gericht überzeugt.
Er wird Moritz,
den neuen seiner großen Liebe Julia,
töten.
Denn sobald der 27-Jährige tot ist,
da ist Kai sich sicher,
steht einem Liebescomeback zwischen ihm und seiner Julia
nichts mehr im Weg.
Um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen,
wendet er sich an seinen Pflegebruder Tarek.
Der 17-Jährige,
der wie ein echter Bruder für ihn ist,
weiß um seinen Kummer und seine Wut.
Und Kai wiederum weiß,
dass Tarek Kontakte ins kriminelle Milieu hat.
Also weiht er den Teenager ein
und bittet ihn,
mögliche Mittäter für die Tat zu suchen.
Bereits kurze Zeit später
teilt Tarek Kai mit,
zwei Männer gefunden zu haben,
die sich an Kais Plan beteiligen würden.
Vorausgesetzt,
er zahlt ihnen 3.000 Euro.
Kai willigt ein.
Der mörderische Plan gilt als besiegelt.
Am 2. Oktober 2018
passiert es schließlich.
Nachdem Kai den ganzen Tag
bei den Renovierungsarbeiten
geholfen hat,
holt er am späten Abend
zunächst Tarek,
dann Mert und Achli ab.
Gemeinsam wollen sie zunächst überprüfen,
ob sich Moritz noch in der neuen Wohnung befindet.
Doch die Frage erübrigt sich,
als Kai im Kreisverkehr
eines Industriegebiets
ein Fahrzeug entgegenkommt,
das er nur zu gut kennt.
Es ist der Wagen von Moritz,
seinem heimlichen Erzfeind,
dem er eben noch
beim Renovieren geholfen hat.
Auch Moritz scheint Kai zu bemerken
und die beiden Autos
kommen nebeneinander zum Stehen.
Das Gericht ist überzeugt,
Kai beschließt nun,
seinen Plan vorzuziehen
und sich die spätabendliche Lehre
im Gewerbegebiet zunutze zu machen.
Bei heruntergelassenen Fensterscheiben
schlägt er Moritz vor,
noch gemeinsam eine zu rauchen,
ehe beide ihre Fahrt fortsetzen.
Kurz darauf lenken sie ihre Autos
nacheinander auf den angrenzenden Parkplatz.
Was dann passiert,
zeigt das Überwachungsvideo.
Moritz ist der Erste,
der aussteigt.
Ein paar Mal zieht er an seiner Zigarette,
ehe sich auch die Türen
des anderen Wagens öffnen
und zwei Männer hinaustreten.
Kai und Tarek.
Geradewegs gehen die beiden
auf Moritz zu.
Dann holt Tarek plötzlich aus
und schlägt Moritz
unvermittelt ins Gesicht.
Es ist der Moment,
in dem sich die Hintertüren
von Kais Fahrzeug öffnen
und auch Mert und Ali aussteigen
und der,
in dem bei Moritz die Panik aufsteigt.
Zu viert kesseln die jungen Männer
Moritz ein,
der sich zunächst aus der Gruppe
befreien kann.
Doch sie holen ihn schnell wieder ein.
Dann sticht Tarek Moritz
mehrmals in die Beine.
Daran lässt das Video
trotz schlechter Auflösung
keinen Zweifel.
Gemeinsam machen sich die Männer
nun daran,
den schwerverletzten Moritz
zu Kais Auto zu schleifen.
Mit vereinter Kraft
hiefen sie ihn in den Kofferraum
und schließen ihn darin ein.
Doch als die vier Täter
wieder losfahrbereit im Wagen sitzen,
geht plötzlich die Heckklappe auf.
Moritz hat sich befreit.
Offenbar hat er trotz seiner Verletzung
all seine Kräfte mobilisiert,
um seinen Angreifern zu entkommen.
Doch so sehr
sein Überlebensinstinkt
ihn auch antreibt,
die Flucht gelingt ihm nicht.
Denn was das Video
als nächstes dokumentiert,
lässt viele Prozessanwesende
den Blick von der Leinwand abwenden.
Kai,
der bis eben noch
am Steuer des Wagens saß,
nimmt die Verfolgung auf.
Bereits nach wenigen Metern
in Höhe eines Metallzauns
hat er Moritz eingeholt
und drückt ihn zu Boden.
Dann zeigt die Aufnahme,
wie Kai sich über Moritz beugt
und mit dem Messer ausholt.
Wieder und wieder.
Dutzende Male.
Junge.
Irgendwann lässt er sein Opfer
am Straßenrand liegen,
steigt wieder ins Auto
und fährt mit seinen drei Komplizen davon.
Elke und Jörg sind fassungslos.
Um das Tatgeschehen
möglichst genau zu analysieren,
spult das Gericht
das Video immer wieder zurück.
Etliche Male
müssen die trauernden Eltern
auf der Großleinwand mit ansehen,
wie Moritz gewaltsam
niedergestochen wird,
wie niemand
ihrem Sohn zur Hilfe eilt
und wie Kai,
seinen angeblichen Freund,
nicht nur tötet,
sondern nahezu hinrichtet.
Und das nur,
damit Moritz
nicht mit der Frau zusammen ist,
die Kais Meinung nach
zu ihm gehört.
Nach einigen Minuten
nimmt Elke schließlich
ihre Brille ab.
Sie hat genug gesehen.
Als es der Kammer genauso geht,
wird nach fünf Monaten
am 20. Dezember 2019
das Urteil verkündet.
Wegen des Mordes an Moritz
werden alle vier Angeklagten
schuldig gesprochen.
Das Gericht hält es für erwiesen,
dass nicht nur Kai
den 27-Jährigen
auf dem Gewissen hat.
Auch Mert und Ali,
die ihn in den Kofferraum sperrten,
um ihn an der Flucht zu hindern,
sowie Tarek,
der die beiden anheuerte
und sich ebenfalls beteiligte,
haben den Mord begangen.
Denn mit ihrem Handeln
davon ist die Kammer überzeugt,
haben sie unmittelbar
zum Gelingen
der geplanten Tötung
beigetragen.
Da Tarek zum Zeitpunkt
der Tat
gerade einmal 17 Jahre alt war,
wendet das Gericht
bei ihm
das Jugendstrafrecht an.
Die nächsten siebeneinhalb Jahre
sollen ihm in Haft
das Unrecht seiner Tat
verdeutlichen.
Eine Milde,
die Kai, Mert und Ali
nicht erfahren.
Sie werden zu lebenslangen
Haftstrafen verurteilt.
In seiner Urteilsbegründung
wendet sich der
vorsitzende Richter
vor allem an Kai.
Er sei erschüttert
von der unfassbaren Kälte
und der geringen Wertschätzung
für ein Menschenleben,
die Kai mit dieser Tat
bewiesen habe.
Zudem ist er überzeugt,
seine Schuld wiegt
deutlich schwerer
als die seiner Komplizen.
Kai habe die Tat,
mit der er Moritz
als Nebenbuhler
loswerden wollte,
von langer Hand geplant
und emotionalen Druck
auf den damals
17-jährigen Tarek
aufgebaut,
damit dieser ihn unterstütze.
Während der Ermittlungen
und des Prozesses
habe er weder Reue
noch Einsicht gezeigt
und habe nicht nur
heimtückisch,
sondern auch aus einem
niedrigen Beweggrund
getötet.
Von Eifersucht getrieben
habe Kai Moritz
aus einem besonders
verachtenswerten
Tatmotiv ermordet.
Nämlich in der Erwartung,
dass er mit dem Mord an ihm
das einzige Hindernis
beseitige,
das einem Liebescomeback
zwischen ihm
und Julia im Weg stehe.
Zudem sah sein brutales
Vorgehen nahe an der
Verwirklichung der Grausamkeit
und damit eines dritten
Mordmerkmals gewesen.
Eine juristische
Bestandsaufnahme,
die dazu führt,
dass bei Kai
die besondere Schwere
der Schuld festgestellt wird.
Anders als Mert und Ali
wird er also nicht
nach 15 Jahren
die Möglichkeit haben,
aus der Haft entlassen
zu werden.
Wann er wieder
die Freiheit erlangen wird,
ist ungewiss.
Sie standen so kurz davor,
ihre Beziehung
öffentlich zu machen.
Doch letztendlich
endete das gemeinsame Leben
von Moritz und seiner
Freundin Julia,
bevor es richtig begann.
Und das nur,
weil Kai es nicht
ertragen konnte,
dass seine große Liebe
mit einem anderen Mann
glücklich wird.
Im Dezember 2018,
noch vor Prozessbeginn
am Aachener Landgericht,
hat Julia einen Brief
aus der JVA Köln bekommen.
Ein Liebesbrief,
den Kai in U-Haft
verfasst hatte
und in dem er ihr
seine ewige Liebe
beteuert.
Der zeigt,
dass Kai immer noch
darauf hofft,
ein Liebescomeback
mit ihr zu feiern.
Obwohl er ihren
neuen Freund
brutal getötet hat.
Für Julia
sind diese
handgeschriebenen
Zeilen bedeutungslos.
der Mann,
dem ihr Herz gehört,
ist tot.
Denn ihre Liebe
heißt nicht Kai,
sondern Moritz.
So ein Schwachsinn,
der liebt die ja
nicht wirklich.
Wenn man jemanden
wirklich liebt,
dann möchte man auch,
dass die Person
glücklich ist.
Und dann akzeptiert man auch,
wenn man selbst
nicht die Person ist,
die sie glücklich machen kann.
Ja, wenn das alles
nicht so schrecklich
geendet wäre,
dann würde man sagen,
das ist alles
delusional.
Was der Kai sich
hier zusammenreinnt,
ja, nach dem Motto,
der Moritz muss weg
und dann kommt Julia
sicher wieder mit mir
zusammen,
weil ich bin ja hier
sicher nicht das Problem.
Und dass er nicht mehr
da ist,
dafür sorge ich selber,
ich bringe den einfach um
und dann kommen wir zusammen.
Und ich werde das auch
nicht vertuschen oder so,
ich werde den einfach
so abschlachten
auf der Straße,
das wird dann auch noch
von der Videokamera
aufgenommen,
die Julia,
die wird mich lieben.
Ich schreibe ihr einfach
einen Brief aus der U-Haft
und dann kommen wir
wieder zusammen.
Also, was ist,
da würde man doch
eigentlich denken,
okay,
was hat denn hier
der psychiatrische Gutachter
eigentlich zu gesagt?
Ja, da war nichts,
deswegen habe ich
das rausgelassen.
Wieder war nichts.
Es gab natürlich,
da gab es nichts
zu begutachten
in der Psyche.
Nee, also der hat
nichts gefunden,
deswegen habe ich es
rausgelassen, ja.
Okay, interessant.
Komisch.
Ja.
Wir kennen das ja
aus anderen Fällen,
wenn man dann
auf einmal so verzweifelt ist,
dass man die Person
nicht halten kann
und dieser Schmerz
über den Verlust
so groß ist,
dass man dann halt
eben zur Tat schreitet
und richtet sich das
in so einer Beziehungskonstellation,
weil man verlassen wurde
ja auch oft gegen die Frau
und hier projiziert Kai
ja die Ursache
für all sein Unglück
auf den Moritz
und sieht dann dabei
offenbar ja gar nicht,
wie du eben auch schon gesagt hast,
was er selbst
damit zu tun haben könnte.
Ja, und wenn man sich
mal die Tat anguckt,
die die Eltern ja auch
immer wieder anschauen mussten,
was ich mir so schrecklich vorstelle,
da in diesem Gerichtssaal
auf der Großleinwand.
Ja, aber wenn man sich
diese Tat an sich anschaut,
stellt man ja auch wirklich fest,
da kommt echt einiges zusammen.
Also nicht nur,
dass die ja befreundet waren
und er ihnen dann quasi so
komm, wir rauchen noch eine Zigarette,
also ihn da so
in so einen Hinterhalt lockt,
also vier gegen einen
auf den Rauf
und dann 52 Messerstiche,
das muss man sich auch mal vorstellen,
wo die Kammer ja dann auch gesagt hatte,
das Schrammtier schon nah
an der Grausamkeit.
Und da hat es mich jetzt nicht so gewundert,
dass das Gericht dann die besondere Schwere
der Schuld festgestellt hat.
Wie die aber im Einzelnen geregelt wird,
darum geht es jetzt in meinem Aha.
Erstmal, wie schwer die Schuld
eines Täters oder einer Täterin wiegt,
das ist eine Frage,
mit der sich Strafgerichte
ja grundsätzlich auseinandersetzen müssen.
Und Schuld meint in dem Fall
das Ausmaß der individuellen Verantwortung
einer Person für eine begangene Straftat.
Und dieses Ausmaß zu bestimmen
ist natürlich wichtig,
um dann entscheiden zu können,
wie hart eine Strafe sein muss,
damit die dann auch gerecht ist.
Und dazu schauen sich Gerichte,
das haben wir auch schon bei Mordlust
zur Genüge erklärt,
verschiedene Sachen an,
also Tatumstände,
aber auch die Motivation dahinter
und auch die persönliche Situation
der Person und so weiter.
Und wenn Täter in ein Verbrechen begehen,
das mit einer lebenslangen
Freiheitsstrafe bestraft wird,
dann haben die Gerichte
eben zusätzlich noch die Möglichkeit,
die besondere Schwere
der Schuld festzustellen.
Wann das am Beispiel von Mord der Fall ist,
erklärt uns Dr. Kai Daniel Weil,
der ist Rechtsanwalt bei unserer Kanzlei
des Vertrauens Abel und Kollegen
und Experte unserer heutigen Folge.
Also die besondere Schwere der Schuld
ist eigentlich ein Mittel,
das insbesondere natürlich bei Verfahren,
die den Vorwurf des Mordes betreffen,
Verfahren oder Fälle herausstellen sollen,
die irgendwie über das,
ich sag mal, normale Maß
eines Mordes hinausgehen,
also die in irgendeiner Art und Weise
vielleicht krasser oder auch extremer sind
als so der klassische Mord.
Und dieses Herausstellen,
wie Weil es bezeichnet,
hat nicht nur zur Folge,
dass man dann TäterInnen vor Augen führt,
dass man ihr Verbrechen halt besonders schlimm findet,
sondern das hat auch konkrete Auswirkungen
auf ihre Strafe.
Weil anders als Menschen,
die in Anführungszeichen
nur zur Lebens lang verurteilt werden,
haben Personen,
bei denen zusätzlich auch noch
die besondere Schwere der Schuld festgestellt wird,
nämlich nicht automatisch die Möglichkeit,
nach 15 Jahren wieder rauszukommen.
Also Menschen,
die lebenslang bekommen,
dürfen nach 15 Jahren
einen Antrag auf Aussetzung
der lebenslangen Freiheitsstrafe
zur Bewährung stellen
und dann theoretisch nach 15 Jahren raus.
Menschen mit besonderer Schwere der Schuld
können das nicht.
Bei denen wird erst während der Haft entschieden,
wie viel länger die noch sitzen müssen.
Ob die besondere Schwere der Schuld vorliegt,
ist immer eine Frage zum einen des Gerichts,
das über die eigentliche Tat entscheidet,
später, wenn es dann um eine etwaige Aussetzung
der Haftstrafe geht,
aber auch wieder des Vollstreckungsgerichts.
Und tatsächlich gibt es dann auch nur eine Vorgabe.
Und zwar verlangt der Bundesgerichtshof
sogenannte Umstände von Gewicht.
Das klingt ziemlich vage und ist es auch.
Allerdings gibt es so ein paar Kriterien,
die sich im Laufe der Zeit durchgesetzt haben.
Und zwar wird die besondere Schwere der Schuld
oft dann festgestellt,
wenn TäterInnen besonders brutal und grausam vorgegangen sind.
Oder wenn die Opfer große Qualen erleiden mussten
oder das Verbrechen an sich besonders verachtenswert ist.
Das kann zum Beispiel der Fall sein,
wenn TäterInnen mehrere Mordmerkmale erfüllen
oder wenn es mehrere Opfer gibt,
mehrere Straftaten begangen wurden
oder das Motiv besonders verwerflich ist.
Ein besonders verwerfliches Motiv gab es zum Beispiel
im Fall des Polizistenmörders vom Anfang dieser Folge.
Weil der hat nach der Tat ausgesagt,
dass er aus allgemeinem Hass gegenüber der Polizei gehandelt hat.
Nun darf man sich das aber auch nicht beispielsweise so vorstellen,
dass RichterInnen einfach Mordmerkmale zählen,
um dann zu entscheiden,
ob die besondere Schwere der Schuld angebracht ist.
Oder dass mehrere Opfer automatisch bedeuten,
dass die besondere Schwere der Schuld bejaht wird.
Tatsächlich kommt es nicht auf einen dieser Faktoren allein an,
sondern es geht um alle Umstände zusammen.
Also Gesamtwürdigung ist dann das Stichwort,
das der Bundesgerichtshof da verlangt.
Und zwar von der Tat und der TäterInnen-Persönlichkeit.
Und bei dieser Gesamtwürdigung kommt RichterInnen ziemlich viel Macht zu.
Zum einen, weil diese Umstände von Gewicht,
von denen Laura gerade gesprochen hat,
eine ziemlich vage Formulierung sind.
Und zum anderen, weil der BGH die Gesamtwürdigung einer Kammer
nicht einfach durch seine eigene ersetzen kann.
Also sprich, der BGH kann nicht einfach sagen,
also so wie ihr die Umstände jetzt gewichtet habt,
das ist falsch, wir gewichten so und so.
Also wir merken,
die Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld
ist immer eine Einzelfallentscheidung.
Und zwar sowohl abhängig von Tat und TäterInnen,
als auch von der jeweiligen Kammer, die das entscheidet.
Es kann so sein, dass eine Kammer
die besondere Schwere der Schuld feststellt
und sieht ganz deutlich,
aber eine andere würde die gar nicht feststellen.
Genau.
Überregionale Zahlen dazu,
wie häufig die besondere Schwere der Schuld festgestellt wird,
gibt es nicht.
Grundsätzlich gibt es ohnehin
nicht viele verlässliche Daten dazu.
Zahlen der Leibniz-Universität Hannover
zeigen aber immerhin,
dass 2013 und 2014
jede fünfte Verurteilung wegen Mordes
mit der besonderen Schwere der Schuld verknüpft wurde.
Und das scheint ein guter Richtwert zu sein.
Die kriminalistische Zentralstelle
hat nämlich 2021 festgestellt,
dass bei 17,3 Prozent der GefängnisinsassInnen,
die zu lebenslang verurteilt wurden
und in dem Jahr entlassen wurden,
die besondere Schwere der Schuld vorlag.
Also bei etwa jeder sechsten Person.
Es kommt also gar nicht selten vor,
was ich eigentlich gedacht hätte,
weil ich habe dann mal so Revue passieren lassen
und bei fünf Jahren Mordlust-Recherche
hatte ich die besondere Schwere der Schuld
gefühlt nicht häufig auf dem Tisch.
Nee, würde ich auch sagen.
Also nicht jeder sechste Mord,
den wir hier verhandeln,
in Anführungszeichen,
glaube ich nicht.
Naja, es wäre auch interessant zu wissen,
wie oft wir eigentlich hier von Mord sprechen.
Kann das nicht mal jemand machen,
mit einer KI oder so rausfinden?
Nee, das wäre wirklich toll,
wenn wir hier über alle Fälle,
die wir hier erzählt haben,
so eine Statistik hätten.
Ja, genau.
Gibt es Menschen mit viel Freizeit da draußen?
Ich hatte es ja erst hier gedacht,
das könnte unsere Redakteurin noch mal nachgucken
und dann dachte ich mir so,
oh, da kriege ich Ärger,
wenn ich so was vorschlange.
Wie lange soll die da ran?
Kannst du bitte noch mal alle Mordlust-Folgen hören?
So, das Interessante ist jetzt,
dass die Geschichte, die ich jetzt erzähle,
sich wirklich komplett von deiner unterscheidet.
Nicht nur von der Tatbegehung,
sondern auch von den Motiven her.
Aber auch wenn wir uns den Fall jetzt nicht
wegen des Oberthemas ausgesucht hätten
und deswegen von vornherein gewusst hätten,
dass die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde,
kann man bei der Tat ganz klar sagen,
das ist ein Anwärter für die besondere Schwere der Schuld.
Mein Fall Laura zeigt,
dass es nicht nur Freundschaften wie unsere gibt,
die das Beste,
sondern auch das Schlimmste
in einem Menschen hervorrufen können.
Dieser Fall wird sehr schlimm,
deswegen findet ihr die entsprechende Triggerwarnung
auch in der Folgenbeschreibung.
Alle Namen habe ich geändert.
Schon lang ist er aus ihnen herausgewachsen.
Seinen winzigen Babyschuhen,
die an den Schnürsenkeln unter dem Rückspiegel baumeln.
Sie schwingen hin und her,
während er den schwarzen Kleinwagen durch die Straßen lenkt.
Heute Nachmittag wusste er noch nicht,
wie dieser Tag verlaufen würde,
doch nun weiß der Mann am Steuer des Fiat Puntos genau,
was er zu tun hat.
Den Blick nach vorne gerichtet,
greift er zum Handy, um seine Mutter anzurufen.
Er wird heute nicht wie verabredet zum Essen kommen,
das muss er ihr noch sagen.
Er hat andere Pläne.
Und die haben mit etwas zu tun,
was gerade in seinem Kofferraum liegt.
30. März 2003.
Einige Stunden zuvor.
Es ist ein sonniger Tag,
der die Menschen in Nordrhein-Westfalen erfreut.
Kurz vor den Osterfeiertagen
zeigt sich der Frühling heute von seiner besten Seite
und zieht viele vor die Tür.
So auch Noah und Lina.
Die beiden Kinder hält es an diesem Sonntag nicht im Haus.
Sie wollen raus und etwas erleben.
Schließlich müssen sie sich morgen schon wieder
ihre Ranzen auf die Rücken schnallen und zur Schule.
Noah und Lina sehen einander sehr ähnlich.
Und das liegt nicht nur an den nahezu identischen Brillen,
durch die sie auf die Welt blicken.
Sie haben die gleichen braunen Augen,
das gleiche dunkelblonde Haar.
Bei Lina ist es schulterlang und leicht gelockt.
Noah trägt es kurz.
Optisch könnten die beiden als Zwillinge durchgehen,
wäre da nicht der Altersunterschied von zwei Jahren.
Der Elfjährige und seine neunjährige Schwester
bilden ein klassisches Geschwisterpaar.
Sie streiten und vertragen sich,
beschuldigen und verbünden sich.
Doch allen voran machen sie eins.
Sie spielen miteinander.
Zum Beispiel auf der alten Zeche.
Ein ehemaliges Bergwerk,
in dem früher Steinkohle abgebaut wurde.
Nun, wo es draußen wärmer wird,
suchen sie immer wieder das Gelände auf,
das sich gerade mal einen Kilometer entfernt
von ihrem Zuhause befindet.
Für Noah und Lina gleicht die Zeche
einem Abenteuerspielplatz.
Ihnen macht es großen Spaß,
in die vielen Schächte zu klettern
und die Höhlen zu erkunden.
Deswegen wollen sie auch heute wieder dorthin.
Voller Vorfreude treten die Kinder aus der Haustür
und laufen los.
Es wird das letzte Mal sein,
dass sie gemeinsam zum Spielen aufbrechen.
Einige Stunden später.
Es ist ein besorgniserregender Anruf,
der die Polizei an diesem Abend
gegen 20.40 Uhr erreicht.
Am anderen Ende der Leitung
meldet sich eine Frau.
Obwohl sie sich hörbar Mühe gibt, Ruhe zu bewahren,
sind die Angst und die Sorge,
die in ihrer zittrigen Stimme mitschwingen,
nicht zu überhören.
Sie vermisst ihre Kinder.
Am Nachmittag seien ihr Sohn und ihre Tochter
zum Spielen in einer Steinkohlezeche aufgebrochen.
Nach Hause gekommen seien sie jedoch nicht.
In den vergangenen Stunden hätten sie und ihr Mann
selbst nach den beiden gesucht,
seien umhergelaufen, die Gegend abgefahren.
Doch all das ohne Erfolg.
Ihren Sohn und ihre Tochter hätten sie nicht gefunden.
Noah und Lina sind verschwunden.
Nachdem die Polizei die Vermisstenmeldung aufgenommen hat,
beginnen BeamtInnen mit der Suche nach den Geschwistern.
Nach und nach nehmen sie nahezu jeden Quadratmeter
des Wohnortes der Geschwister unter die Lupe.
Doch nicht nur sie halten Ausschau.
Das Verschwinden von Noah und Lina
hat sich mittlerweile herumgesprochen.
Viele besorgte AnwohnerInnen
haben ihre Abendpläne über Bord geworfen,
um bei der Suche zu helfen.
Wachsam laufen sie Wege und Straßen entlang,
rufen die Namen der Kinder in die Dunkelheit hinaus
und leuchten mit Taschenlampen in düstere Ecken.
Je später es an diesem Sonntag wird,
desto größer wird die Sorge um Noah und Lina.
Während einige bereits vom Schlimmsten ausgehen,
sind andere um Optimismus bemüht
und machen einander Mut.
Mit Sicherheit klärt sich alles auf.
Bestimmt geht es den beiden gut.
So muss es einfach sein.
Alles andere wäre unerträglich.
31. März 2003, der nächste Tag.
Es sind die wohl schlimmsten Momente
im Berufsleben von PolizistInnen.
Seit einigen Minuten
sitzen BeamtInnen der Mordkommission
einer Frau gegenüber,
die einem Zusammenbruch nahe ist.
Es ist die Mutter von Noah und Lina.
Ihr lautes Schluchzen lässt ihren Oberkörper erzittern.
Denn die Nachricht,
die die ErmittlerInnen ihr soeben übermittelt haben,
sollte keinen Elternteil jemals zu hören bekommen.
In der Nähe eines Waldparkplatzes
hat ein Spaziergänger am frühen Morgen
die Leiche eines Kindes entdeckt.
Die Hände gefesselt mit Kabelbinder.
Der Kopf umhüllt von einer Plastiktüte.
Oh Gott.
Zaghaft zeigen die BeamtInnen der weinenden Frau
ein Bild vom Gesicht des Leichnams,
die nur einen kurzen,
schmerzerfüllten Blick darauf wirft.
Ja, das ist unser Baby,
wimmert sie.
Ein Satz,
mit dem sie die Vermutung
der Mordkommission bestätigt.
Es ist Noah.
Der Junge,
der gestern Nachmittag
zum Spielen aufgebrochen war,
ist tot.
Von seiner Schwester
fehlt weiterhin jede Spur.
Unmittelbar nach dem Leichenfund von Noah
nimmt die Polizei die Ermittlungen auf.
Für die BeamtInnen gilt es nun herauszufinden,
wer den Elfjährigen,
der laut Obduktionsergebnis erstickt wurde,
gewaltsam aus dem Leben gerissen hat.
Und noch etwas beschäftigt die PolizistInnen.
Wo ist die kleine Lina?
Während hinsichtlich Noah
traurige Klarheit herrscht,
ist das Schicksal der Neunjährigen
nach wie vor ungewiss.
Zwar liegt die Vermutung nahe,
dass auch sie
einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.
Schließlich ist sie
am Tag ihres Verschwindens
gemeinsam mit ihrem Bruder
zum Spielen aufgebrochen.
Doch die ErmittlerInnen
geben die Hoffnung nicht auf,
die neunjährige Leben zu finden.
In den kommenden Tagen
wird die Suche nach Lina
daher intensiviert.
Hundertschaften der Polizei
durchkämmen gemeinsam
mit Ehrenamtlichen
des Malteser Hilfsdienstes
die umliegenden Wälder.
PolizeitaucherInnen
nehmen sich jeden
noch so kleinen Tümpel
in der Region vor
und Bundeswehrflugzeuge
halten mit Wärmebildkameras
aus der Luft Ausschau
nach dem vermissten Mädchen.
Die Sorge um Lina
ist in ihrem Wohnort
mittlerweile omnipräsent.
Immer wieder
halten AnwohnerInnen
eines der verteilten
Flugblätter in den Händen,
schauen bedrückt
auf das abgebildete Foto
von Lina
und grübeln,
was mit der Neunjährigen
passiert ist.
Eine Frage,
die auch die PolizistInnen
und alle freiwilligen
HelferInnen beschäftigt.
Fast alle.
Denn eine Person,
die sich an der Suche
nach Lina beteiligt,
sorgt sich nicht
wirklich um sie.
Ihr Engagement
ist nur Fassade.
Denn sie weiß,
was mit dem kleinen Mädchen
passiert ist.
Fünf Tage später.
Das rot-weiß gestreifte
Absperrband
unterbricht das harmonische
Grün der umliegenden Bäume.
An anderen Tagen
bietet das Waldstück
eine idyllische Kulisse.
Doch heute,
am 6. April 2003,
ist es ein Ort
des Schreckens.
Fünf Tage.
So lange
haben Polizei
und Freiwillige
im Dauereinsatz
nach Lina gesucht,
nachdem ihr Bruder
schon gefunden wurde.
Ein Einsatz,
der am heutigen Sonntag
zu einem Ende kommt.
Doch leider
zu keinem Glücklichen.
Auch Lina ist tot.
Ein Spaziergänger
hat ihre Leiche hier
rund 50 Kilometer
von ihrem Zuhause
entfernt gefunden.
Im Gegensatz
zu ihrem Bruder
ist der Kopf
des Mädchens
nicht mit einer
Plastiktüte bedeckt.
Die PolizistInnen
können direkt
in ihr starres,
blasses Gesicht schauen
und auf die Striemen,
die ihren schmalen Hals
überziehen.
Lina wurde erdrosselt.
Genauso wie Noah
wurde auch ihr
massive Gewalt
gegen den Hals
zugefügt.
Die traurige Gewissheit
vom Tod
der Neunjährigen
setzt selbst
erfahrene
ErmittlerInnen zu.
Die Chance,
Lina lebendig zu finden,
war von Tag zu Tag
geringer geworden.
Das war ihnen klar.
Doch nun
steht ihnen erneut
die schlimmste Aufgabe
bevor.
Sie müssen es
den Eltern beibringen.
Schon wieder.
11. April 2003.
Die Trauer
hängt wie eine dunkle
Wolkendecke
tief über der
55.000 EinwohnerInnen
statt.
Nach und nach
betreten zahlreiche
Menschen an diesem
Freitag
die katholische Kirche
mit der rotbraunen
Fassade.
Die schwarze Kleidung,
die die meisten von ihnen
gewählt haben,
bildet einen Kontrast zu den
weißen Wänden und dem
Tageslicht, das durch die
großen Fenster hineindringt.
Etwa zwei Wochen nach dem
Verschwinden von Noah und Lina
ist heute der Tag gekommen,
an dem die Kinder
beigesetzt werden.
Auf einem Friedhof,
der nur einen Katzensprung
von ihrem Zuhause
entfernt ist,
werden sie künftig
ihre letzte Ruhe finden.
Doch zunächst soll ein
Trauergottesdienst an das
Leben der Geschwister
erinnern.
Ein Leben, das viel zu
kurz war und das durch ein
Verbrechen gewaltsam beendet
wurde.
Etwa 1500 Personen sind
gekommen, um an der Messe
teilzunehmen.
Familienmitglieder und
FreundInnen, aber auch
LehrerInnen und ganze
Schulklassen.
Vor allem für die anwesenden
Kinder ist der Tod von Noah
und Lina unbegreiflich.
Noch vor kurzem saßen sie
gemeinsam im Klassenzimmer und
sind über den Schulhof
gerannt.
Nun müssen sie von den
beiden Abschied nehmen.
Da die Kirche nicht auf so
viele Menschen ausgelegt ist,
müssen viele der Trauergäste
draußen bleiben.
Ein Lautsprecher, der extra
für den heutigen Tag
aufgestellt wurde, gibt ihnen
dennoch die Möglichkeit, den
Gottesdienst zu verfolgen.
Wer dagegen einen Platz auf
einer der Holzbänke drinnen
ergattert hat, wird nicht nur
Zeug in emotionaler Worte,
sondern auch eines traurigen
Anblicks.
Am Altar stehen zwei kleine
Särge aus Buchenholz, verziert
mit zahlreichen roten Rosen.
In Liebe Mama und Papa
steht in geschwungener
Schrift auf einem weißen
Schleifenband.
Die Eltern von Noah und Lina
haben in einem Seitenschiff
der Kirche Platz genommen.
Etwas abseits der
trauernden Menge lauschen sie
von dort aus den Worten
des Pfarrers.
Für den Geistlichen, der den
Gottesdienst leitet, sind die
getöteten Kinder keine
Unbekannten.
Erst vor zwei Jahren stand
er Noah und Lina in dieser
Kirche gegenüber, als er die
Kommunion der beiden
durchgeführt hat.
Die Worte, die er zu
Beginn seiner Predigt
spricht, zeugen von
Fassungslosigkeit und Schmerz
gleichermaßen.
Am liebsten möchte ich
schweigen, gesteht er den
Anwesenden.
Ein Satz, mit dem er
vermutlich vielen aus der
Seele spricht.
Doch Trauer und Anteilnahme
beschränken sich nicht nur
auf die Kulisse der
Kirche.
Immer wieder sieht man
heute, am Tag von
Noahs und Linas Beisetzung,
Autos, an deren
Antennen schwarze
Schleifen befestigt
sind.
Viele Geschäfte haben
zudem ihre Ladentüren
verriegelt und Schaufenster
abgedunkelt.
Sie bleiben heute
geschlossen.
Das grausame Schicksal der
getöteten Kinder ist omnipräsent
bei Menschen in ihrem
Wohnort.
Und das auch noch Tage
später.
Denn neben Entsetzen ist da
noch etwas, das der Tod von
Noah und Lina in ihnen
ausgelöst hat.
Angst.
Die Tatsache, dass die
Person, die Noah und Lina
getötet hat, noch frei
herumläuft, gleicht vor allem
für Eltern einem echten
Albtraum.
Viele Mütter und Väter lassen
ihren Nachwuchs nicht mehr
alleine draußen spielen.
Orte, die einst von herzlichem
Kinderlachen erfüllt wurden, sind
nun ebenso verlassen wie
still.
Und SchülerInnen, die sich vor
kurzem noch alleine auf den
Weg zur Schule machten, werden
nun schützend von ihren
Eltern begleitet.
Eines ist allen hier
gewiss.
Die Normalität wird erst
wieder einkehren, wenn das
Verbrechen an Noah und Lina
aufgeklärt ist.
Das ist auch der
Polizei klar.
Während Eltern ein
wachsames Auge auf ihre
Kinder werfen, laufen die
Ermittlungen weiter auf
Hochtouren.
Insgesamt 80 BeamtInnen einer
Sonderkommission setzen nun
alles daran, herauszufinden, was
den Geschwistern am 30.
März widerfahren ist.
Und vor allem, wer für ihren
Tod verantwortlich ist.
In den ersten Tagen, nach dem
Fund von Linas Leiche, haben
sich die Ermittlungen vor allem
im Verborgenen abgespielt.
Immer wieder hatten
PolizistInnen neugierige
JournalistInnen vertröstet, die
sich nach dem Stand der
Ermittlungen erkundigt
hatten.
Doch nun, wenige Tage nach der
Beisetzung der Kinder, geht die
Sondereinheit erstmals an die
Öffentlichkeit.
Denn die BeamtInnen sind auf der
Suche nach möglichen
ZeugInnen.
Und das aufgrund konkreter
Hinweise.
Am Tag des Verschwindens von
Noah und Lina hatte ein Anrufer
bei der Polizei einen schwarzen
Kleinwagen gemeldet, der sich
ungewöhnlich fortbewegt hatte.
Das Auto sei Schlangenlinie
gefahren und habe einen
Dauerhubton von sich gegeben.
Und ein Kind habe immer wieder
gegen eines der Fenster
geschlagen.
Am Tag der Meldung hatten
PolizistInnen dieser
Beobachtung noch nicht viel
Bedeutung beigemessen.
Nun ziehen die ErmittlerInnen
jedoch in Erwägung, dass es
womöglich Noah oder Lina
waren, die panisch auf sich
aufmerksam machten.
Ein verzweifeltes Hämmer nach
Hilfe, die niemals kam.
Doch das ist nicht der
einzige Hinweis.
An den Fundorten haben
ErmittlerInnen männliche
DNA sichergestellt.
Zudem wurde an einer
Elektrikerzange, die nur
wenige Meter von Noahs
Leiche entfernt lag, ein
Fingerabdruck extrahiert.
Um diese Spuren verwertbar
zu machen, kündigt die
Mordkommission nun, knapp
zwei Wochen nach dem
Verschwinden der
Geschwister, Großes an.
Ein Massengentest.
Mehr als 2000 Männer
zwischen 14 und 70 Jahren
aus der Region sollen schon
bald freiwillig ihre
Münder öffnen, wenn die
Polizei die Wattestäbchen
zückt.
Ein Vorhaben, von dem sich die
Ermittlenden viel
versprechen.
Doch zur Durchführung
dieses Tests soll es nicht
kommen.
Die Stäbchen bleiben
trocken.
Und das aus einem guten
Grund.
In den Tagen nach dem
Zeuginnenaufruf der Polizei
klingeln die Telefone der
Beamtinnen nahezu in
Dauerschleife.
Immer wieder wählen
Menschen die Hotline, die
die Mordkommission extra für
den Fall eingerichtet hat, um
ihre Beobachtungen oder
Vermutungen mitzuteilen.
Und irgendwann fällt den
Ermittlenden auf, eine
Stimme ist ihnen mittlerweile
vertraut.
Denn es gibt eine Person, die
sich regelmäßig bei ihnen
meldet.
Hinweise hat sie nicht.
Stattdessen gibt der Mann an,
sich nach dem Stand der
Ermittlungen erkundigen
zu wollen.
Wieder und wieder.
Tag für Tag.
So viel Interesse, das
kommt den Beamtinnen
merkwürdig vor.
Sie beschließen, den
Unbekannten genauer unter die
Lupe zu nehmen.
Und auf den ersten Blick
entpuppt sich der Neugierige
als echter Wohltäter.
Als ehrenamtliches
Mitglied der Malteser
Hilfsorganisation setzt er
sich regelmäßig für
andere ein und hat sich in
den vergangenen Wochen
sogar an der Suche nach
Lina beteiligt.
Da den PolizistInnen seine
ständigen Nachfragen dennoch
suspekt vorkommen,
entscheiden sie sich dazu,
ihm einen Besuch abzustatten
und fahren zu seiner Wohnung.
Immer wieder betätigen sie die
Klingel und klopfen an die Tür
und verschaffen sich letztendlich
Selbstzutritt.
Eine Entscheidung, die sich als
richtig erweist.
Denn lange müssen die
BeamtInnen sich nicht umsehen,
um etwas zu entdecken,
das ihre Aufmerksamkeit
erregt.
In einem der Räume finden sie
ein Werkzeug, das ihnen
bekannt vorkommt.
Eine Elektrikerzange.
Und zwar nicht irgendeine,
sondern genau dasselbe Modell,
das neben Noas Leiche gefunden
wurde.
Es ist der Moment, in dem den
BeamtInnen klar wird, sie sind
auf der richtigen Spur.
Zwei Tage später.
Sieht so ein Kindermörder aus?
Es ist eine Frage, die sich
vermutlich viele Menschen
stellen, die an diesem Tag das
Fahndungsfoto der Mordkommission in
der Presse betrachten.
Denn rein optisch wirkt das, was
sie dort sehen, völlig unscheinbar.
Das volle Gesicht und die gerütteten
Wangen wirken beinahe kindlich.
Genauso wie sein zaghaftes
Lächeln, das den Blick auf eine
Zahnlücke freigibt.
Der 28-jährige Nico Blümel wird
seit heute polizeilich gesucht.
Doch er ist nicht der Einzige.
Neben ihm ist noch ein weiterer
Mann abgelichtet.
Paul Fischer steht darunter.
Der schmale Mann hat eine
Halbglatze und trägt eine Brille
mit runden, gerahmten Gläsern.
Der 33-jährige Paul Fischer und
der 28-jährige Nico Blümel werden
seit heute polizeilich gesucht.
Sie sind diejenigen, die Noah und
Lina getötet haben.
Davon gehen die ErmittlerInnen der
Mordkommission fest aus.
Aufgrund seiner ständigen Anrufe
war Blümel der Erste, der in den
vergangenen Tagen ins Visier der
Mordkommission geraten war.
Zudem wurde auf der Zange, welche
die ErmittlerInnen in seiner
Wohnung gefunden hatten, der gleiche
genetische Fingerabdruck festgestellt,
wie auf dem Werkzeug, das an Noas
Leichenfundort gefunden worden war.
Aber an dem Auffindeort war nicht nur die
DNA-Spur von einem, sondern von zwei
Männern sichergestellt worden.
Und dieser zweite soll Blümels Freund
und Nachbar Fischer sein.
Ein Mann, mit dem Blümel Tür an Tür
wohnt, viel Zeit verbringt und der in der
Vergangenheit nicht nur erwachsene Frauen
sexuell belästigt hat, sondern auch
Kinder.
Dass bei Blümel und Fischer trotz
Haftbefehl die Handschellen noch nicht
geklickt haben, liegt daran, dass sie
flüchtig sind.
NachbarInnen geben an, die beiden Männer
das letzte Mal vor zwei Tagen gesehen zu
haben.
Seitdem fehlt von ihnen jede Spur.
Genauso wie von Blümels Auto.
Ein schwarzer Fiat Punto.
Die Polizei ist sich sicher, es ist der Wagen, mit
dem sie auf und davon sind, in dem sie ihrer
Verhaftung entgehen wollen und in dem
womöglich vor wenigen Wochen ein Kind
voller Todesangst gegen die Scheibe
geklopft hat.
Der nächste Tag.
Mit knatternden Geräuschen nähert sich der
Hubschrauber dem Flugplatz.
Die Männer, die wenig später herausgeführt
werden, werden bereits erwartet.
Und zwar von Menschen in Uniform.
Es sind Blümel und Fischer.
In Handschellen führen
Polizeibeamte sie zu den
Einsatzfahrzeugen, während Jacken, die sie
über ihren Köpfen tragen, ihre Gesichter
abschirmen.
Nur einen Tag nach Beginn der
Öffentlichkeitsverhandlung werden Blümel
und Fischer an diesen Gründonnerstag der
Polizei übergeben.
Ein aufmerksamer Autofahrer hatte den
schwarzen Fiat mit dem gesuchten
Kennzeichen am frühen Morgen auf einer
Autobahn Richtung Basel entdeckt.
In der Schweiz.
Kurze Zeit später wurden die flüchtigen
Männer an einer Raststätte festgenommen und
über den Luftweg nach Deutschland
ausgeliefert.
Die Festnahme von Blümel und Fischer
lassen Polizei und Bevölkerung
aufatmen.
Endlich sind die Männer
geschnappt, die Noah und Lina getötet
haben sollen.
Endlich können Eltern ihre Kinder
wieder unbesorgt draußen spielen
lassen.
In ihren Vernehmungen zeigen sich
Blümel und Fischer geständig.
Mehr noch, sie sind nahezu
redselig.
Ausgiebig und präzise schildern sie die
Einzelheiten ihrer Taten.
Wie sie Noah und Lina beim
Spielen entdeckt haben.
Sie mit einer perfiden Masche zum
Auto gelockt haben und dass sie Noah
töteten, um sich ungestört Lina
widmen zu können.
Es sind Details, die den
VernehmungsbeamtInnen klar machen.
Die letzten Stunden von Noah und Lina
gleichen einem Martyrium.
Und dafür gehören die Männer
bestraft.
Es ist eine angespannte Stimmung, die vor
dem Landgericht herrscht.
Knapp sieben Monate nach dem Tod von
Noah und Lina ist nun der Tag
gekommen, an dem der Prozess gegen
ihre Peiniger beginnt.
Ein Ereignis, das die Emotionen
hochkochen lässt.
Denn zuletzt hatten Staatsanwaltschaft
und Mordkommission bestätigt, dass es
Blümel und Fischer offenbar nicht nur
darum ging, Noah und Lina zu töten.
Sie hatten auch ein sexuelles Motiv.
Im Landgericht ist die
Polizeipräsenz gewaltig.
Denn für den Prozess gelten hohe
Sicherheitsvorkehrungen.
So nehmen Fischer und Blümel, die an
diesem Mittwoch nacheinander den
Schwurgerichtssaal betreten, hinter
einer Panzerglas-Scheibe auf der
Anklagebank platz.
Die Plätze neben der
Staatsanwaltschaft bleiben unterdessen
leer.
Zwar treten die Eltern von Noah und
Lina die Nebenklage an, am Prozess
teilzunehmen und jenen Männern ins
Gesicht zu blicken, die ihnen das
Liebste genommen haben, das schaffen
sie jedoch nicht.
Gemeinschaftlicher Mord,
Freiheitsberaubung mit Todesfolge
und sexueller Missbrauch.
So lautet die Anklage der
Staatsanwaltschaft.
Schwerwiegende Vorwürfe, auf die
Blümel und Fischer unterschiedlich
reagieren.
Der 28-jährige Blümel, gekleidet im
blauen Hemd und dunklem
Nadelstreifenanzug, wirkt aufgeregt und
nahezu ängstlich.
Immer wieder zupft er seine Krawatte
zurecht und schaut betreten zu Boden.
Ganz anders als Fischer.
Mit verschränkten Armen lauscht der
33-Jährige der Anklageverlesung und
wirkt teilnahms- und
emotionslos.
Ab und an verraten seine zuckenden
Mundwinkel jedoch, dass er nur schwer
ein Grinsen zurückhalten kann.
Die Männer auf der Anklagebank würdigen
sich keines Blickes.
Nun, wo ihnen der Prozess gemacht wird,
haben sie sich offensichtlich nichts mehr
zu sagen.
Dabei ist es noch nicht lange her, dass die
beiden unzertrennlich waren, viel Zeit
miteinander verbrachten und gegenseitig das
Schlimmste ineinander zum Vorschein
brachten.
1993, zehn Jahre zuvor, lernen sich Fischer und Blümel in einem
Spielzeuggeschäft kennen.
Blümel schaut sich dort gerade Modellautos an, die er leidenschaftlich
gern sammelt.
Die Männer kommen ins Plaudern und verstehen sich auf Anhieb.
Der damals 18-jährige und unsichere Blümel ist beeindruckt von Fischers
sicherem Auftreten und seiner forschen Art.
Als die beiden schließlich Wohnungen im selben
Mehrfamilienhaus beziehen und fortan Tür an Tür
wohnen, verbringen sie noch mehr Zeit
miteinander.
Vor allem Fischer ist oft zu Hause.
Er ist arbeitslos und verdient sich lediglich mit
Hausmeister-Tätigkeiten im gemeinsamen
Wohnhaus ab und an etwas dazu.
Blümel dagegen ist als
Industrieelektroniker oft auf Montage.
Die freien Tage, die er hat, wird mit
er jedoch seinem Freund und Nachbar.
Regelmäßig sitzen die zwei
in einer der beiden Souterrain-Wohnung
zusammen, tauschen sich aus, reden
über Motorsport und trinken
Rotwein. Und nach einigen
Gläsern wird immer wieder klar, schnelle
Fahrzeuge sind nicht das einzige gemeinsame
Interesse der Männer.
Sie teilen auch gewisse Fantasien.
Furchtbare Fantasien.
Und in denen spielen Kinder die Hauptrolle.
Bereits seit einigen Jahren hat Blümel
grausame Vorstellungen.
Immer wieder stellt er sich vor, ein kleines
Mädchen gefangen zu halten, sich an ihm
zu vergehen und es zu quälen.
Mit erwachsenen Frauen kann der unsichere
Elektriker nichts anfangen.
Sie schüchtern ihn ein und machen ihm
nahezu Angst.
Erst recht, seit er das erste Mal im Bett
Zitat versagt hat.
So erzählt er es später vor Gericht.
Kindern dagegen fühlt er sich überlegen und
diese Position gefällt ihm weitaus besser.
Ähnlich ist das bei Fischer, in dem Blümel
einen Gleichgesinnten gefunden hat.
Fischer ist Exhibitionist.
Immer wieder steht er nackt und
masturbierend am Fenster, wenn
Schulkinder daran vorbeilaufen.
Es ist ein Verhalten, das ihm nicht nur
immer wieder Probleme mit der Polizei
einbringt, sondern auch ein Spitznamen.
Rubbelmann, so nennen ihn die Kinder, die ihn
regelmäßig entdecken.
Eine Bezeichnung, die keine weitere
Erklärung braucht.
Habe ich das erzählt, dass mir das auch mal
passiert ist?
Nee.
Da war ich vielleicht so 13 oder so.
Da bin ich von der Schule nach Hause
gelaufen, so einen Berg runter und da
klatschte das dann irgendwie so ans Fenster
und dann guckte ich so und dann sah ich
halt da nur so Beine und halt einen
wedelnden Penis.
Oh Gott.
Der halt gegen das Fensterglas so
ekelhaft geschlagen wurde vom Besitzer.
Ob Blümel und Fischer Noah und Lina
wirklich getötet haben, daran hegt im
Gerichtssaal niemand auch nur einen
Zweifel.
Schließlich hatten die Angeklagten bereits
kurz nach ihrer Verhaftung gestanden.
Und auch nun, in Anwesenheit der
Schwurgerichtskammer, sind beide bereit,
über ihre Taten zu sprechen.
Anders als Fischer, der während seiner
Schilderung keinerlei Emotionen zeigt,
bricht der jüngere Blümel dabei immer
wieder in Tränen aus.
Er habe nie vorgehabt, seine Fantasien
in die Tat umzusetzen, beteuert er.
Alles sei von Fischer ausgegangen.
Der habe das Sagen gehabt, sei die
treibende Kraft hinter den Verbrechen
gewesen.
Doch seinem ehemaligen Freund die
alleinige Schuld zuzuschieben, das
gelingt Blümel nicht.
Denn mit jedem grausamen Detail, das
sie schildern, rekonstruieren sie nicht
nur das Martyrium, das Noah und Lina
erleiden mussten.
Ihre Aussagen machen vielmehr deutlich,
frei von Schuld ist keiner von ihnen.
Ganz im Gegenteil.
Am 30. März 2003 sitzen Blümel und Fischer
wieder einmal gemeinsam im Auto.
Bereits seit Monaten fahren sie
regelmäßig durch die Gegend, um
Ausschau nach jungen Mädchen zu halten.
Auf die Pirsch fahren, so bezeichnet
Fischer es.
An einer verlassenen Steinkohlezeche
entdecken die beiden schließlich
zwei spielende Kinder, Noah und Lina.
Vor allem die Neunjährige weckt das
Interesse der Männer.
Um die Kinder nicht sofort zu
verschrecken, haben sich Blümel und Fischer
eine perfide Masche überlegt.
Sie geben sich als Zivilbeamte aus.
Blümel ist dafür extra in eine alte
Polizeijacke geschlüpft, die er zuvor
übers Internet erworben hat.
Als die Männer sich den Kindern nähern,
erhebt Fischer seine Stimme.
Halt, Polizei, ruft er.
Stehen bleiben.
Dann zücken die beiden ihre vermeintlichen
Dienstausweise, die nichts weiter als
Videothekausweise sind und fordern die Kinder
auf, ihnen zum Auto zu folgen.
Noah und Lina offenbar eingeschüchtert
gehorchen.
Dann geht's ganz schnell.
Blümel und Fischer packen nun die arglosen
Geschwister, fesseln sie und bringen sie mit
Klebeband auf ihren Mündern zum Schweigen.
Dann zerren sie Noah und Lina in Blümels
Auto und verstecken sie unter einer Decke.
Eine ganze Weile fahren die beiden mit den
verängstigten Kindern auf der Rückbank
durch die Gegend.
Minuten, in denen eines von ihnen womöglich
panisch gegen ein Fenster klopft.
Erst als die Dunkelheit das Tageslicht
verdrängt, parken sie den Wagen in der
Tiefgarage ihres Wohnhauses.
Noah sperren sie in den Kofferraum.
Lina nehmen sie mit in eine ihrer
Wohnungen.
Mit ihr haben sie konkrete Pläne.
Und da der Junge dabei nur stören würde,
muss er weg.
Da sind sich die beiden einig.
Während Fischer Lina bewacht, setzt sich
Blümel also erneut hinter der Steuer und
fährt los.
Während er den schwarzen Fiat durch die
Straßen lenkt, in dessen Kofferraum Noah
liegt, greift er zum Handy, um seine
Mutter anzurufen.
In einem kurzen Telefonat sagt er ihr, dass er
heute nicht wie verabredet zum Essen kommen
wird.
Er hat andere Pläne.
Nach einigen Minuten erreicht der 28-Jährige
schließlich einen abgelegenen
Waldparkplatz und zerrt Noah heraus.
Zunächst stülpt er ihm eine Tüte über den
Kopf.
Ich konnte seinen Anblick nicht ertragen,
gesteht er dem vorsitzenden Richter.
Dann drückt er mit den Händen zu und tötet
den Elfjährigen.
Ein Entschluss, den auch der Mann bestätigt,
der mit ihm auf der Anklagebank sitzt.
Der Junge musste sterben, weil er seine Schwester
nicht beschützt hat, stellt es Fischer dar.
Eine furchtbare Behauptung.
Als Blümel am Abend des 30.
März schließlich nach dem Mord an Noah zurück
nach Hause kehrt, erwartet Fischer ihn bereits.
Gemeinsam fesseln sie Lina nun ans Bett,
verbinden ihr die Augen und vergehen sich
nacheinander an ihr.
Den ganzen Abend.
Die ganze Nacht.
Ab und zu lösen sie ihre Fesseln,
um mit ihr in die Wohnung nebenan zu wechseln.
Es sind kurze Momente, in denen Lina den
Höllenqualen entkommt.
Doch kurz danach setzen die Männer den
Missbrauch fort.
Zwei Tage dauert das Leiden des kleinen Mädchens
an.
Dann beschließen Blümel und Fischer, auch sie zu
töten.
In einem Waldstück legt Fischer ihr eine
Paketschnur um den Hals und zieht zu.
Als Lina wimmert, dass sie keine Luft mehr
kriegt, sagt er ihr, Zitat,
Statt, dass das ja auch Sinn und Zweck
der Übung sei.
Als es den beiden Männern schließlich zu
lange dauert, legt auch Blümel
wortwörtlich Hand an und drückt Lina
den Hals zu, bis das Leben aus ihr
gewichen ist.
Anschließend fahren die Männer nach Hause,
als sei nichts gewesen.
Die Anwesenden im Gerichtssaal sind
fassungslos.
Die detaillierten Erzählungen der Täter sind
für die meisten von ihnen kaum zu
ertragen.
Auf den ZuschauerInnenbänken tauschen
viele Menschen geschockte Blicke aus.
Andere zücken immer wieder die
Taschentücher, um sich die Tränen aus
ihren Gesichtern zu wischen.
Noah und Lina mussten Furchtbares
erleiden.
Das ist spätestens jetzt allen von
ihnen klar.
Doch eine Sache bleibt nach wie vor
unklar.
Was hat Blümel und Fischer zu Tätern
solch grausamer Verbrechen gemacht?
Es ist eine Frage, die beide selbst
vor Gericht zu beantworten versuchen.
Und zwar mit Ausführungen, die nur so
vor Selbstmitleid triefen.
Denn sowohl Fischer als auch Blümel
machen Erlebnisse in ihrer Kindheit
für ihre dunklen Gedanken
verantwortlich.
Vor allem der 28-jährige Blümel
suhlt sich nahezu in seiner Opferrolle.
Hänselein, Mobbing, Prügel, all diese
Dinge seien in seiner Kindheit
omnipräsent gewesen.
Und auch jetzt als Erwachsener
würde man ihn stets klein halten,
ihn für dumm verkaufen.
Daher habe er sich ein Ventil
gesucht.
Ich tauchte in Fantasien ab,
sagt er dem Vorsitzenden
Richter.
Fantasien, in denen ich die
Kränkung, die ich tagtäglich
erlebte, heimzahle.
Also sorry, aber der Typ soll
einfach seine Klappe halten.
Der macht mich so
wütend.
Und auch Fischer macht deutlich,
dass er die Schuld für die
Verbrechen an Noah und Lina
keinesfalls nur bei sich sieht.
Als er dem Gericht etwa
schildert, dass er sich extra
Zeit gelassen habe, Lina zu
erdrosseln, macht er klar,
ich wollte Rache nehmen, weil ich
als Hausmeister oft von Kindern
geärgert worden bin.
Rache an einer Neunjährigen.
Blümel und Fischer, sie beide
sprechen lang und ausführlich
über Kränkungen, die sie erlebt
haben wollen.
Doch es sind Angaben, von denen
sich das Gericht unbeeindruckt
zeigt.
Das Urteil, das am 8.
Dezember verkündet wird, sorgt
daher für keine großen
Überraschungen.
Sowohl Blümel als auch Fischer
werden wegen gemeinschaftlichen
Mordes an Noah und Lina,
Freiheitsberaubung mit
Todesfolge sowie Missbrauch von
Kindern zu einer lebenslangen
Haftstrafe verurteilt.
Gerade mal 40 Minuten dauert
die Begründung des
Vorsitzendenrichters.
Er verzichtet darauf, den
Tathergang noch einmal zu
beschreiben.
Er ist sich sicher, alle haben
genug gehört.
Der Jurist betont, dass er noch
nie einen Fall verhandelt
habe, der so verachtend,
kaltherzig und unbegreiflich
sei.
Bei der Begehung ihrer Taten
hätten Blümel und Fischer als
gleichwertige Partner gehandelt.
Für sich genommen seien die
beiden eher ängstliche, feige und
harmlose Menschen.
Gemeinsam hätten sie jedoch eine
verhängnisvolle Gemeinschaft
gebildet und sich in
tragischer Weise ergänzt.
Für das, was die beiden getan
haben, gibt es keine
Vergebung.
Davon ist der Vorsitzende
überzeugt und erkennt bei beiden
Männern die besondere Schwere der
Schuld an.
Blümel und Fischer hätten ein
grausames Verbrechen begangen, das
an Kaltherzigkeit kaum zu
übertreffen sei.
Das zeige sich allein an der
Vielzahl von Mordmerkmalen, die
beide mit den Tötungen der Kinder
erfüllt hätten.
So hätten Blümel und Fischer mit der
Auslebung ihrer lang gehegten
Fantasien nicht nur aus niedrigen
Beweggründen gehandelt, sie hätten
Noah und Lina auch getötet, um ihre
zuvor begangene Straftat, nämlich die
Freiheitsberaubung der Kinder, zu
verdecken.
Zudem hätten beide mit dem Mord an
Noah das Mordmerkmal der
Ermöglichungsabsicht erfüllt.
Der Junge habe sterben müssen, damit
Fischer und Blümel sich ungestört dem
Missbrauch der kleinen Schwester
widmen konnten.
Diesen Männern die Möglichkeit zu geben,
nach 15 Jahren wieder in Freiheit zu
leben, ist mehr als unangemessen, meint die
Kammer.
Mit der Begründung der besonderen
Schuldschwere stellt der Richter Blümel
und Fischer zugleich eine düstere
Zukunftsprognose.
Das, was die beiden in Haft erwarten,
sei womöglich, Zitat, schlimmer als die
Todesstrafe.
Im Gefängnis könnten sie sich auf lange
Zeit nicht sicher bewegen.
Als Kindermörder und Kinderschänder
würden sie dort auf der untersten
Stufe stehen.
Es sind Worte, die die Männer auf der
Anklagebank unterschiedlich aufnehmen.
Blümel weint leise vor sich hin.
Fischer dagegen blickt starr und
Kaugummi-Count aus dem Fenster.
Hinaus in die Freiheit, die er und sein
Komplize womöglich nie wieder erlangen
werden.
Der Tod von Noah und Lina, er hat Spuren in
ihrem Heimatort hinterlassen.
Auch Jahre nach den grausamen Verbrechen an
den Kindern suchen Menschen immer wieder die
letzte Ruhestätte der Geschwister auf.
Sie legen Blumen ab, zünden Kerzen an,
betrachten die goldene Sonne, die auf dem
geschwungenen Grabstein aus grauem Marmor
eingraviert ist.
Ein Symbol, das nur kurzfristig Trost
spendet.
Denn Fakt ist, gegen die Dunkelheit, die seit
den Morden an Noah und Lina in die Herzen der
AnwohnerInnen eingezogen ist, hat die Sonne
keine Chance.
Genau wie du gesagt hast am Anfang, wenn man
diese Tat hört und wie die Kinder leiden
kann man das zu 100% nachvollziehen, dass hier
herausgestellt werden sollte, dass diese Taten
schlimmer sind als die meisten anderen und
deswegen auch eine besonders schwere Strafe
verhängt wurde.
Was mich aber ehrlich gesagt irritiert hat, ist,
dass der Richter bei seiner Urteilsbegründung
denen schon mal erzählt hat, was die in Haft
erwarten können.
Also finde ich ja, weiß ich nicht, also finde ich
ja jetzt nicht schlecht, denen dann das noch mal so in die
offene Wunde zu reiben.
Aber hätte ich jetzt irgendwie so professionell gesehen
nicht, auch nicht erwartet von einem Richter.
Ja, also mich hat das tatsächlich auch gewundert.
Ich könnte mir vorstellen, also dass der auch tatsächlich mit diesem Fall oder mit den
Emotionen, die mit diesem Fall einhergehen, auch irgendwie überfordert war.
Es ist ja wirklich auch kurz, 40 Minuten Urteilsbegründung, da auch darauf zu verzichten,
die Tat noch mal zu erzählen.
Also ja, so ein Fall wird der ja auch noch nicht auf dem Tisch gehabt haben.
Ja, jetzt nur so auf dem Papier hat sich das erst mal so gelesen, als wäre er jetzt
nicht unglücklich darüber, dass das quasi noch eine zusätzliche Strafe sein könnte,
durchgeführt von der Gesellschaft.
Ja.
In Haft.
Nochmal ganz kurz, wie alt war der Täter in deinem Fall?
23.
23, okay.
Bei mir waren die ja 28, also das war der Blümel, der so ein bisschen die Voter war
und 33 Jahre alt war der Fischer und damit waren zumindest die Haupttäter in unseren
Fällen alt genug für die besondere Schwere der Schuld.
Die gibt es nämlich erst ab 18 Jahren und warum, das erzähle ich jetzt in meinem Aha.
Zunächst mal grundsätzlich ist auch bei Jugendlichen wichtig, sich anzuschauen, wie
schwer die Schuld bei einer Tat eigentlich wiegt, weil Jugendlichen will man eine Freiheitsstrafe
generell nur im, sagen wir jetzt mal so, äußersten Fall zumuten.
Laut Paragraf 17 des Jugendgerichtsgesetzes nämlich auch nur dann, wenn eine sogenannte
schädliche Neigung vorliegt oder die Schuld der jugendlichen TäterInnen schwer wiegt.
Und bei der Bestimmung der Schuldschwere von Jugendlichen und Heranwachsenden gelten andere
Kriterien als bei Erwachsenen, wie zum Beispiel bei Blümel und Fischer oder wie bei Kai.
Unser Experte Dr.
Weil erklärt das so.
Wenn man diese Betrachtung anstellt, ist es weniger entscheidend, dass man sich die äußeren
Umstände einer Tat anschaut.
Beispielsweise wie brutal das Vorgehen war oder was jetzt im Erwachsenenstrafrecht damit
für eine Rechtsfolge verbunden ist.
Weil vielmehr entscheidend für das Jugendstrafrecht aufgrund des vorherrschenden Erziehungsgedankens
eben die Frage ist, was kann ich denn für Rückschlüsse aus dieser Tat auf Persönlichkeit
und diese innere Tatseite ziehen.
Also man versucht irgendwo Charakter, Persönlichkeit und Motivation für die Tat bei der jugendlichen
Person zu beleuchten.
Und da ist es natürlich auch oft so, dass man so spezielle, ich nenne es mal jugendspezifische
Ursachen hat.
Das können einerseits gruppendynamische Effekte sein, aber auch andererseits, was man ganz
oft hat, Abenteuerlust, Mutproben oder vielleicht auch eine Art Enthemmung durch Alkohol.
Das heißt, wenn es um die Schuld von jugendlichen TäterInnen geht, gibt es also immer einen
jugendspezifischen Abwägungsprozess, der von diesem Erziehungsgedanken geprägt ist.
Und der hat zur Folge, dass die besondere Schwere der Schuld bei jugendlichen TäterInnen nicht
festgestellt werden kann, egal wie schlimm und verachtenswert die Tat ist.
Aber bei Heranwachsenden schon, also bei TäterInnen zwischen 18 und 21 Jahren, bei denen das
Jugendstrafrecht unter bestimmten Voraussetzungen angewandt wird, können Gerichte die besondere
Schwere der Schuld bejahen und damit dann auch die maximale Haftstrafe ausdehnen.
Eigentlich können Personen, die nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, maximal zehn Jahre kriegen.
Aber stellen RichterInnen jetzt eben die besondere Schwere der Schuld bei den Heranwachsenden
fest, dann sind auch 15 Jahre möglich.
Unser Experte sagt dazu.
Das hatte den Hintergrund, dass man gesagt hat, man will auch im Jugendstrafrecht, weil
es ja immer noch ein Strafrecht ist und trotz des vorherrschenden Erziehungsgedankens bei
Heranwachsenden einfach Fälle entsprechend kriminalisieren können, beziehungsweise darauf reagieren
können, die eben von ihrer Schuld besonders schwer wiegen.
Also Extremfälle will man dann auch entsprechend was entgegensetzen können, indem man sagt, man
reagiert hier mit einer Freiheitsstrafe, die über das bisher mögliche Maß von zehn Jahren
hinausgeht.
Ein Beispiel dafür ist ein Fall aus dem Jahr 2013.
Da hat ein 20-Jähriger ein 14-jähriges Mädchen, das er übers Internet kennengelernt hat, mit
zahlreichen Messerstichen getötet, nachdem die nach dem ersten Treffen keinen Kontakt mehr
mit dem Typ haben wollte.
Und da hat das Landgericht Cottbus die besondere Schwere der Schuld trotz Jugendstrafrecht festgestellt
und ihn wegen Mordes zu 13,5 Jahren verurteilt.
Gegen das Urteil ist der Angeklagte dann in Revision gegangen, was dazu geführt hat, dass
sich auch der BGH nochmal einbringlich mit der besonderen Schuldschwere im Jugendstrafrecht
auseinandergesetzt hat.
Ja, und die RichterInnen in Karlsruhe haben dann nicht nur die Revision verworfen, sondern
auch nochmal ganz klar gemacht, dass für die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld
bei Heranwachsenden genau die gleichen Maßstäbe gelten wie bei erwachsenen TäterInnen, sprich
eine Gesamtwürdigung von Tat und TäterIn-Persönlichkeit.
Anders als die 15 Jahre bei Heranwachsenden gibt es im allgemeinen Strafrecht aber keine
Höchstdauer für lebenslange Freiheitsstrafen.
Aber das bedeutet jetzt nicht, dass solche Inhaftierten zwangsweise für den Rest ihres Lebens
im Gefängnis sitzen, also wirklich wortwörtlich lebenslang dann.
Tatsächlich haben auch TäterInnen, bei denen die besondere Schwere der Schuld festgestellt
wurde, die Möglichkeit, dass ihnen der Rest ihrer Freiheitsstrafe auf Bewährung erlassen
wird.
Nur halt eben nicht nach 15 Jahren.
Wobei man auch sagen muss, Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
Die weitere Vollstreckung ist nämlich dann nicht mehr geboten, wenn Inhaftierte zum Beispiel
sehr krank oder sehr alt sind oder seit der Tatbegehung eine sehr lange Zeit verstrichen
ist oder sich die inhaftierte Person um eine Wiedergutmachung des, sagen wir mal, Schadens
bemüht hat.
Also wichtig und erforderlich sind Gründe, welche die besondere Schwere der Schuld nachträglich
einschränken.
Aber in den allermeisten Fällen ist es eben so, dass nach 15 Jahren dann nicht die Entlassung
ansteht, sondern ein Gericht nach circa 10 bis 13 Jahren der Haft festlegt, wie viele
Jahre die verurteilte Person mit besonderer Schuldschwere noch mindestens on top auf die 15 Jahre
einsetzen muss.
Also um das nochmal anschaulich zu machen, für meinen Fall bedeutet das zum Beispiel, erst
nach fast 15 Jahren, also dem frühestmöglichen Zeitpunkt, zu dem man erstmals an einen Aussetzungsantrag
denken kann, erfährt Kai erst, wie lange er überhaupt noch drin bleiben muss.
Also wenn die anderen aus dem Fall, es waren ja Ali, Mert und Tarek, die nur in Anführungszeichen
lebenslang bekommen haben, schon fast theoretisch wieder draußen sind.
In der Regel verhängen Gerichte da jetzt nicht mehr als mindestens 10 zusätzliche Jahre,
aber eine Obergrenze gibt es auch da nicht.
Und außerdem werden Inhaftierte nach Ablauf dieser zusätzlichen Zeit dann nicht einfach
automatisch entlassen, sondern sie bekommen erst einmal nur die Möglichkeit, einen Antrag
auf Bewährung zu stellen.
Also so wie die zu lebenslanger Haft verurteilten, nach 15 Jahren die Möglichkeit bekommen, diesen
Antrag zu stellen, bekommen die mit besonderer Schwere der Schuld dann eben nach diesen 15 plus
zum Beispiel 10 Jahren die Möglichkeit, diesen Antrag zu stellen.
Darüber entscheiden dann sogenannte Vollstreckungskammern.
Das sind Gerichte, die überprüfen, ob es gerechtfertigt ist, den Rest der lebenslangen Haftstrafe auf Bewährung
auszusetzen und ob man die betreffende Person dann auch guten Gewissens wieder in die Freiheit
entlassen kann.
Vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung nennt man das.
Und dabei spielen verschiedene Kriterien eine Rolle.
Zum einen geht es da nochmal um die Tatumstände, zum anderen aber auch um das Verhalten nach der
Tat, insbesondere in Haft.
Gab es eine gute Führung zum Beispiel im Gefängnis, eine Teilnahme an Rehabilitationen,
Rehabilitationsprogramm und ist grundsätzlich eine positive Entwicklung erkennbar.
Was bei Inhaftierten, die die besondere Schwere der Schuld bekommen haben, allerdings nochmal
eine besondere Rolle spielt, ist das Thema Sicherheit der Allgemeinheit.
Da holen sich Strafvollstreckungskammern vor ihrer Entscheidung nämlich immer ein Gutachten
ein, in dem Sachverständige schildern, ob man die Person wieder zurück in die Gesellschaft
lassen kann oder ob sie halt weiterhin als gefährlich einzustufen ist.
Was seit Einführung der besonderen Schuldschwere übrigens immer wieder Thema ist, ist die
Kritik daran.
Und das hat unter anderem den Hintergrund, dass die lebenslange Freiheitsstrafe, an die
die besondere Schuldschwere ja gebunden ist, als solche auch immer wieder diskutiert wird.
Und es ja Stimmen gibt, die sagen, eine lebenslange Haft ist menschenunwürdig.
Selbst mit dieser Bewährungsmöglichkeit nach 15 Jahren.
Die Strafverteidigervereinigungen haben sich 2016 in einem Paper beispielsweise für die
Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe ausgesprochen.
Darin heißt es, dass diese eine, Zitat, Vernichtungsstrafe sei und bei Betroffenen zu schwer
heilenden Schäden führe.
Genau, und deswegen sehen auch die Strafverteidigervereinigungen halt die besondere Schwere der Schuld
besonders kritisch.
Dieses Mehr an Strafe, was zu diesen vorgeschriebenen 15 Jahren noch abgesessen werden muss, würde
von der zuständigen Strafvollstreckungskammer nämlich meistens erst so nach halt 10 bis 13
Jahren im Vollzug festgelegt werden.
Und das heißt ja, dass Inhaftierte sehr lange überhaupt gar nicht wissen würden, wann sie
die Möglichkeit haben, wieder freizukommen.
Und selbst nach diesen zusätzlichen Jahren sei dann noch nicht klar, ob die Betroffenen wirklich
rauskommen, weil die Überprüfung durch die Strafvollzugskammern total streng sei.
Angeblich würde da schon die kleinste Vermutung einer Rückfallgefahr dazu führen, dass der Rest
der Haftstrafe nicht erlassen und auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird.
Und genau diese Unbestimmtheit sieht man als problematisch, weil damit eben eine totale Ungewissheit
über die tatsächliche Haftdauer einhergehen würde, die so krass sei, dass sie schwerwiegende
psychische Auswirkungen haben, die Strafgefangenen demotivieren und sie in Lethargie und Passivität
führen könne.
Und das muss ich jetzt auch mal sagen, also das sehe ich genauso.
Also bevor ich mich jetzt mit diesem Thema beschäftigt habe, war mir nicht klar, dass die Inhaftierten
nicht bei ihrem Antritt der Haft wissen, wie lange sie drin bleiben müssen, bis sie diesen
Antrag auf Bewährung stellen dürfen.
Das war mir irgendwie nicht klar, sondern dass sie erstmal eine ganz lange Zeit da drin sitzen
und gar nicht wissen, habe ich jetzt schon, keine Ahnung, die Hälfte abgesetzt von dem,
was sich absetzen muss oder ein Drittel oder also das stelle ich mir wirklich ein bisschen
wie ein Psychoterror vor.
Und das erinnert mich jetzt auch an diese Sache, die wir letztens bei dem Söring hatten.
Da musste ich gerade auch dran denken, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
da ja gesagt hat, dass die Todesstrafe wegen der emotionalen Belastung, die man da ja erfährt,
unter Folterfalle und dass man ihn deswegen nicht in die USA ausgeliefert hätte, weil die
ihn ja da vielleicht sogar erwartet hätte.
Genau, also dass sie sich da so darauf bezogen hatten, dass dieses Warten auf die Todesstrafe,
dass dieses Warten, dieses ungewisse Warten, wann das denn dann stattfindet, dass das
eine zu dolle Folter ist sozusagen.
Also genau diese Ungewissheit stelle ich mir einfach schwer aushaltbar vor.
Ja, es ist schwer aushaltbar.
Ich muss aber sagen, dass ich die Kritik daran nicht, also ich kann die nachvollziehen,
aber ich finde sie nicht geeignet, das Konzept an sich über den Haufen zu werfen, weil
dass sie nicht wissen, wann sie rauskommen, liegt ja darin begründet, dass man unter anderem
auch erst gucken möchte, wie sie sich nach der Verurteilung verhalten, eben mit diesen
Maßnahmen und so. Das heißt, du hast theoretisch als inhaftierte Person natürlich auch Einfluss
darauf, wie viele Jahre du danach noch absitzen musst und wenn du dich halt entsprechend verhältst,
fällt das dann, so in der Theorie, ja dann auch geringer aus für dich.
Ja, und es ist ja auch so, dass ich sehe, dass man irgendwie ein Mittel, ein Werkzeug haben
muss, um diese besonders schweren Fälle auch schwerer zu bestrafen. Wo wir wahrscheinlich
auf demselben Nenner sind, ist eine andere Kritik an der besonderen Schuldschwere und zwar
geht es da nicht um die Länge der Haft oder die Ungewissheit, sondern darum, wie sie
festgestellt wird. Diese Gesamtwürdigung von Umständen mit Gewicht ist ja, wie wir eben
schon gesagt haben, sehr vage und abgesehen davon, dass der BGH sagt, sowohl Tat als auch
Täter in Persönlichkeit müssen berücksichtigt werden, gibt es ja überhaupt keine festgelegten
Kriterien, auf die die RichterInnen zurückgreifen können.
Ja, genau, das ist ein Problem, das sehe ich auf jeden Fall auch.
Genau wie der Deutsche Anwaltverein, der hat 2014 dann auch gefordert, die besondere Schwere
der Schuld als Rechtsinstrument abzuschaffen. Und auch das Bundesministerium für Justiz und
Verbraucherschutz hat sich damit in dem Jahr damals auseinandergesetzt und eine ExpertInnengruppe
zusammengestellt. Die ist dann aber zu dem Schluss gekommen, dass man die besondere Schuldschwere
nicht abschaffen sollte, weil die sagen eben, nee, das ist schon gut, dass man damit halt
so gesehen zwischen Einzelfällen differenzieren kann, was wir eben gesagt haben. Aber die
sind zu dem Schluss gekommen, dass man eine Reform haben sollte. In ihrem Abschlussbericht
empfehlen sie die besondere Schwere der Schuld, Zitat, aus Gründen der Klarstellung und der
gleichmäßigen Rechtsanwendung näher zu konkretisieren. Und zwar indem feste Kriterien entwickelt und dann
auch ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Unter anderem die Tötung mehrerer Menschen, die Feststellung
mehrerer Mordmerkmale oder auch das Begehen weiterer Straftaten. Also zumindest einige Faktoren, die die
Gerichte jetzt eh schon heranziehen. Ja, zehn Jahre später ist noch nichts passiert. Die Mühlen der
Justiz malen bekanntlich langsam. Gott hat die Erde nur einmal geküsst, genau an dieser Stelle, wo jetzt
Deutschland ist. Wir können nur aufwarten. Was? Habe ich noch nie gehört. Das von den Prinzen. Okay.
Das war ein Podcast der Partner in Crime. Hosts und Produktion Paulina Graser und
Laura Wohlers. Redaktion Jennifer Fahrenholz und wir. Schnitt Pauline Korb.
Rechtliche Abnahme und Beratung Abel und Kollegen.