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#155 Sündenbock

Hier ist Olli Schulz und jetzt hört ihr den Podcast Mordlust.
Das, liebe HörerInnen, ist unser neues Intro.
Olli Schulz wollte es so.
Ja, so hat er es gesagt.
Bei Fest und Flauschig, da ging es offenbar darum,
was er und Jan Böhmermann mal für Jobs machen würden.
Und da sagte Olli, er würde gerne sowas wie Intros einsprechen
oder Sachen anmoderieren.
Und da fiel als Beispiel Mordlust.
Mordlust.
Mordlust.
Ja, genau.
Ja, und wir haben das dann zur Abstimmung auf Instagram gegeben.
Und es hat uns überrascht, die meisten waren für eine Änderung des Intros,
obwohl Podcast-HörerInnen ja sonst voll die Gewohnheitstiere sind
und eigentlich nie wollen, dass sich irgendetwas ändert.
Genau.
Aber, das müssen wir dazu sagen,
wahrscheinlich wird trotzdem nur das Intro für diese Folge geändert.
Es kann nämlich sein, dass wir jetzt verklagt werden,
weil dieser Ausschnitt erstens zurechtgeschnitten ist
und Olli das nie so am Stück gesagt hat.
Und zweitens, er auch noch dazu gesagt hat,
dass er das nur für sehr, sehr viel Geld machen würde.
Also, ja, letzte Folge mit dem neuen Intro
und letzte Folge überhaupt vielleicht auch,
wenn wir das jetzt zahlen müssen.
Aber es war die Sache wert.
Ja.
Und jetzt geht's los mit Mordlust,
einem Podcast der Partner in Crime.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Krasa.
Und ich bin Laura Wohlers.
Heute haben wir euch einen Kriminalfall mitgebracht,
den wir zusammen nacherzählen
und der uns nachhaltig beschäftigt hat.
Hier geht's um True Crime,
also auch um die Schicksale von Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
Das machen wir auch,
selbst dann, wenn wir zwischendurch mal ein bisschen ungehemmter miteinander sprechen.
Das ist für uns immer so eine Art Comic Relief,
aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
In dem Fall, den wir euch heute erzählen,
geht es um eine innige Mutter-Sohn-Beziehung,
um falsches Vertrauen
und um eine gewaltsame Abwärtsspirale mit tödlichem Ausgang.
Alle Namen haben wir geändert.
Im Flur eines Einfamilienhauses sitzt ein Mann auf einem Holzschemel.
Dort verharrt er mit freiem Oberkörper,
der von zahlreichen Blutergüssen bedeckt wird.
Hier ist sein Platz.
Hier gehört er hin.
Das wurde ihm in den vergangenen Monaten immer wieder klar gemacht.
Die harte Sitzfläche unter seinem knochigen Gesäß schmerzt.
Und es kostet den entkräfteten Mann viel Mühe,
sich auf dem Stuhl ohne Rückenlehne gerade zu halten.
Doch sich zu beschweren, traut er sich nicht.
Schließlich könnte es jederzeit wieder passieren.
Nur ein falsches Wort, nur ein falscher Blick.
Und er erlebt etwas, was noch viel schmerzhafter ist,
als das, was er jetzt gerade durchmachen muss.
Etwa acht Jahre zuvor.
Für Jutta ist heute der Tag gekommen,
der fast jeder Mutter irgendwann einmal bevorsteht.
Ihr Kind möchte ausziehen.
Nachdenklich beobachtet sie ihren Sohn Jonas dabei,
wie er in der Wohnung auf- und abgeht
und voller Vorfreude seine letzten Sachen zusammensucht.
Ein Bild, das gemischte Gefühle in der 41-Jährigen
mit den schulterlangen blonden Haaren und dem rundlichen Gesicht hervorruft.
Ihr Sohn Jonas sehnt sich schon länger nach einem selbstbestimmten Leben
und danach auf eigenen Beinen zu stehen.
Das weiß Jutta und sie hat Verständnis dafür.
Dass ihr Großer seine Ankündigung nun mit 21 Jahren tatsächlich in die Tat umsetzen will
und sein Zuhause in Kassel verlässt, lässt ihr Mutterherz dennoch ein wenig bluten.
Er ist das erste ihrer insgesamt vier Kinder, das sich wortwörtlich aus dem Nest hinaus wagt.
Sie betrachtet ihren Sohn.
Seine kurzen, dunkelblonden Locken, seine sanften, braunen Augen,
mit denen er immer nur das Gute in anderen Menschen sieht.
Ist Jonas wirklich bereit für diesen Schritt?
Jutta ist sich da nicht so sicher.
Schließlich wäre es das erste Mal,
dass er sein Leben ohne ihre alltägliche Unterstützung meistern muss.
Und das, daran hegt Jutta keinen Zweifel,
wird ihren Sohn vor Herausforderungen stellen.
Schließlich hat er nicht die gleichen Voraussetzungen
wie andere junge Männer in seinem Alter.
Jonas hat eine Lernschwäche.
Das wird nicht nur anhand des Schwerbehindertenausweises
in seinem Portemonnaie deutlich,
sondern auch an seinen intellektuellen Fähigkeiten.
Neues zu lernen und anzuwenden fällt ihm schwer.
Immer wieder muss Mutter Jutta ihm Dinge
deswegen in vereinfachter Form erklären,
damit er sie versteht.
Eine Hilfestellung, die sie ihm immer gerne geleistet hat.
Denn sie weiß, ihr Joni hat andere Stärken.
Seine fröhliche Art, die Gutmütigkeit und Herzlichkeit.
Aber auch seine Hilfsbereitschaft,
die er zum Beispiel vor sieben Jahren
bei der Hausgeburt seiner kleinen Schwester unter Beweis gestellt hat.
Noch heute zaubern Jutta die Erinnerungen
an diesen Tag ein Lächeln auf die Lippen.
Jonas ist damals nicht von ihrer Seite gewichen
und hat geduldig ihre Hand gehalten,
als sie in den Wehen lag.
Der Ausdruck in Jonas' Gesicht als großer Bruder
war damals ganz deutlich gewesen.
Es war stolz.
Und genau den empfindet Jutta nun auch.
Denn obwohl sie ihren Sohn natürlich vermissen wird
und ihn am liebsten für immer
vor den Schwierigkeiten des Lebens bewahren würde,
bewundert sie zugleich seinen Mut.
Und noch etwas stimmt sie positiv.
Sie und Jonas haben eine enge Bindung.
Wenn er ein Problem hat,
dann wird er weiterhin zu ihr kommen.
Ein Gedanke,
der ihr Trost spendet
und an dem sie festhalten will.
Also ich weiß noch,
als ich ausgezogen bin zu Hause,
dass da jetzt zumindest keine Tränen geflossen sind oder so.
Erst als ich,
nachdem ich während des Studiums
mal ein halbes Jahr bei meiner Oma gewohnt habe,
stand sie dann weinend vor ihrem Haus,
als ich mit dem Umzugswagen davon gefahren bin.
Bei meinem Auszug gab es auch keine Tränen.
Das hatte vor allem damit zu tun,
dass wenn ich auch nur noch zwei Monate länger
mit meiner Mutter zusammen gewohnt hätte,
wir uns gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hätten.
Und wir ganz dringend
diese räumliche Trennung voneinander brauchten.
Das Zusammenleben hatte nicht mehr so gut geklappt.
Es wurde danach aber alles wieder viel besser.
Ich hatte aber tatsächlich ein bisschen Sorge,
meine Mutter zu verlassen,
weil ich dachte,
na, die kann halt nicht ohne mich leben.
Was soll diese Frau nur machen ohne ihr Kind?
Was ich mir noch bei meiner Mutter vorstellen könnte,
ist, dass sie nur nicht so richtig zeigen wollte,
dass sie es doof findet, dass ich ausziehe.
Weil klar, natürlich findet man das,
also ich sehe das total wie du,
weil was soll man ohne die Kinder machen?
Die sind das Größte.
Man hat sonst nichts.
Gar nichts.
Aber sie hat mir nämlich mal gesagt,
dass sie nicht will,
dass wir Kinder wegen ihr irgendeine Entscheidung treffen,
sozusagen.
Deswegen hat sie sich wahrscheinlich zurückgehalten,
weil ich kenne ein paar Töchter,
die extra nicht weit von zu Hause weggegangen sind,
wegen ihren Müttern,
weil die denen das nicht antun wollten,
weil die Mütter auch wirklich gezeigt haben,
dass das ihnen jetzt ganz doll das Herz bricht,
wenn die weit weg ziehen.
Finde ich ganz, ganz schwierig.
Ja.
Oh, nee, da wirklich,
ich hatte das auch mal so im Bekanntenkreis,
wo ich dann auch so richtig das Gefühl hatte,
da wird jetzt Druck auf das Kind aufgebaut.
Schrecklich.
Und ich habe das Gefühl,
wenn man das eben nicht macht
und die ziehen lässt die Kinder,
dass man dann vielleicht noch eher die Chance hat,
dass die dann später wieder zurückkommen
oder zumindest öfter mal zu Besuch kommen.
Also wenn man so klammert,
weil dann kann ich mir vorstellen,
geht die Beziehung irgendwann früher oder später eh in die Brüche.
Aber so oder so,
man kann das natürlich nachvollziehen,
dass hier Jonas Mutter jetzt sehr traurig ist, ja.
Ja, und etwa sieben Jahre später stellt sich Jutta die Frage,
sieht so das Leben aus,
dass sich mein Sohn erträumt hat?
Sie hat da nämlich Zweifel.
Seit seinem Auszug beobachtet Jutta,
wie Jonas es ihr und vor allem sich selbst beweisen will.
Wie er sich große Mühe gibt,
sich finanziell über Wasser zu halten
und seinen Lebensunterhalt allein zu bestreiten.
Etwa durch seine Arbeit als Tischabräumer
oder als Regalauffüller in einem Supermarkt.
Seit kurzem steht er aber immer häufiger
anstatt im Supermarkt davor
und zwar hinter dem Tresen von Nikos Imbisswagen.
Nico ist Jonas' fester Freund,
in dessen Wohnung er auch gerade gezogen ist.
An dem Verkauf von Bratwurst und Brötchen
ist für Jutta im Prinzip nichts auszusetzen,
doch zufrieden wirkt Jonas bei dieser Arbeit nicht.
Das stellt Jutta immer wieder fest,
wenn sie miteinander telefonieren oder einander sehen.
Und das kommt häufig vor.
Die Beziehung zwischen der 48-Jährigen
und ihrem mittlerweile 28-jährigen Sohn
ist nach wie vor eng.
Daran hat auch Jonas' Auszug nichts verändert.
Regelmäßig kommt der liebenswerte Lockenkopf
seine Mutter und die drei jüngeren Geschwister
in seinem alten Zuhause besuchen.
Es sind Momente,
in denen es Jutta und Jonas' Geschwistern vorkommt,
als sei er nie weg gewesen
und wohne noch immer Tür an Tür mit ihnen
in seinem alten Kinderzimmer.
Jonas beteuert immer wieder,
dass es ihm in seinem neuen Zuhause gut gehe.
Auch wenn Juttas Mutterinstinkt ihr eigentlich etwas anderes signalisiert.
Aber sie beschließt, ihm zu glauben.
Was hat sie auch sonst für eine Wahl?
Ein paar Monate später, im November 2002,
berichtet Jonas Jutta dann ganz aufgeregt
und sichtlich glücklich von der kürzlichen Veränderung in seinem Leben.
Jonas ist umgezogen.
Er hat seinen Freund Nico verlassen,
seine Sachen gepackt und wohnt nun in einem Haus,
wie er stolz erzählt.
Und zwar bei Heiko,
seinem neuen, coolen Freund.
Jutta erfährt von ihrem Sohn,
dass der 38-Jährige und dessen Familie,
zu der seine Partnerin Gabi und drei Kinder gehören,
ihren Ältesten bei sich aufgenommen haben.
Als Mutter freut sich Jutta für Jonas,
der auf sie sehr zufrieden wirkt.
Und zugleich kann sie nicht leugnen,
dass die Neuigkeiten ihres Sohnes
ihr einen kleinen Stich ins Herz versetzen.
Jonas ist damals ausgezogen,
um auf eigenen Beinen zu stehen.
Das hatte sie nachvollziehen können.
Doch zieht er es nun wirklich vor,
bei einer anderen Familie zu wohnen,
statt wieder mit ihr zusammenzuleben.
Bei Menschen,
die er offensichtlich noch nicht lange kennt.
Den Namen Heiko,
da ist sich Jutta ganz sicher,
hat sie zuvor noch nie gehört.
Und überhaupt,
warum sollte ein Mann mittleren Alters,
der offensichtlich Frau und Kinder hat,
ihren Joni einfach bei sich wohnen lassen?
Es ist eine Frage,
auf die Jutta keine Antwort findet.
Doch schon bald
macht ihr ohnehin etwas anderes Sorgen.
Frühjahr 2003.
Etwa fünf Monate später.
Eine Mutter spürt,
wenn mit ihrem Kind etwas nicht stimmt.
Davon ist Jutta überzeugt.
Und mit ihrem Sohn,
da gibt es für sie keinen Zweifel,
stimmt etwas ganz und gar nicht.
Zu deutlich sind die Veränderungen,
die sie seit einiger Zeit an Jonas bemerkt.
Da wäre etwa der Kontakt zwischen ihnen.
Früher hat der 29-Jährige
sich regelmäßig bei Jutta gemeldet.
Nun greift er nur noch selten zum Hörer,
um mit ihr zu sprechen.
Und nicht nur die Telefonate,
auch die persönlichen Treffen
sind zu einer echten Rarität geworden.
Wenn überhaupt,
bekommt Jutta ihren Joni
nur noch für wenige Minuten zu Gesicht.
Nicht genügend Zeit,
um sich ausgiebig auszutauschen.
Doch immerhin lang genug,
um besorgniserregendes festzustellen.
Jonas hat abgenommen.
Seine ohnehin schlachsige Statur
wirkt nun richtig hager
und wird von weiter Kleidung umspielt,
die nahezu sackartig an ihm herunterhängt.
Außerdem kommt er Jutta wie ausgewechselt vor.
Die Sorglosigkeit und Fröhlichkeit,
die ihn einst umgaben,
sind nun einer Anspannung gewichen,
die Jutta nicht von ihm kennt.
Die 49-Jährige macht sich große Sorgen.
Doch jedes Mal,
wenn sie Jonas darauf anspricht,
versichert er ihr,
dass es ihm gut gehe
und blockt weitere Nachfragen ab.
Liebevoll, aber bestimmt.
Jutta ist verzweifelt.
Sie und ihr Sohn
waren stets ein eingeschworenes Team gewesen
und hatten einander alles erzählt.
Dass er sie nun so aus seinem Leben ausschließt,
wo er doch ganz offensichtlich Probleme hat,
macht sie traurig.
Jutta kommt es so vor,
als würde Jonas eine Mauer zwischen ihnen errichten.
Eine Mauer, die für Distanz sorgt,
die andere auf Abstand halten soll
und die selbst für Jutta als Mutter
unüberwindbar ist.
Ein paar Monate später.
Klingeln, klopfen, rufen.
Für Jutta ist diese Abfolge
mittlerweile zur traurigen Routine geworden.
Auch heute, einem Sommertag im Jahr 2003,
steht sie wieder verzweifelt
vor dem Einfamilienhaus,
das sie in den vergangenen Wochen
regelmäßig aufgesucht hat.
Doch auch heute
bleiben ihre Kontaktversuche unbeantwortet.
Niemand öffnet ihr die Tür.
Niemand hört sie an.
Niemand sagt ihr, was sie wissen will.
Wo ihr Joni ist.
Seit ihrem letzten kurzen Treffen an Ostern
hat Jutta von ihrem Sohn
nichts mehr gehört.
Kein Anruf,
kein spontaner Besuch,
nichts.
Und das bereitet ihr Kummer und Sorgen.
Vor allem angesichts der Tatsache,
dass Jonas sich zuletzt so verändert hatte.
Genauer gesagt,
seit er bei Heiko und Gabi lebt,
vor deren Haus
Jutta nun erneut
vor verschlossener Tür steht.
Jutta weiß nicht,
wie sie nicht zu Hause sind.
Was sie jedoch weiß,
ist, dass sie etwas mit dem Verschwinden
ihres Sohnes zu tun haben müssen.
Sonst würden sie Jutta
nicht mit solch einer Ignoranz bestrafen.
Denn nicht nur ihre persönlichen
Kontaktversuche bleiben unbeantwortet,
auch Anrufe und Textnachrichten,
von denen Jutta zahlreiche getätigt
und verschickt hat,
ignorieren die angeblichen Freundinnen
ihres Sohnes gekonnt.
Und die wenigen Male,
in denen es Jutta tatsächlich gelungen war,
Heiko und Gabi anzutreffen,
wurde sie mit wenigen Sätzen abgespeist,
in denen es hieß,
dass Jonas gerade nicht da
oder verreist sei.
Alles Blödsinn,
da ist sich Jutta sicher
und entscheidet schließlich,
Hilfe zu suchen.
Und zwar ganz offiziell.
Aufgeregt betritt Jutta
eine Polizeiwache in Kassel.
Umgeben von uniformierten Beamtinnen,
die ihrer Arbeit nachgehen,
wird ihr selbst noch einmal bewusst,
wie ernst das Verschwinden
ihres Sohnes ist.
Es war richtig,
hierher zu kommen.
Hier wird man ihr helfen,
glaubt Jutta.
Und so fängt sie an zu erzählen.
Angefangen bei Jonas' Einzug
ins Haus von Heiko und Gabi
über die Veränderungen,
die Jutta bei ihm
in den Monaten bemerkt hat,
bis hin zu seinem Verschwinden.
Doch als Jutta fertig ist,
muss sie feststellen,
besorgt ist hier,
abgesehen von ihr,
niemand.
Jonas ist Ende 20,
erinnern die Beamtinnen Jutta,
als sei das für sie
eine neue Information.
Er sei ein erwachsener Mann
und könne demnach selbst
über seinen Aufenthaltsort entscheiden.
Jutta kann nicht glauben,
was sie da hört.
Ist das alles,
was die Polizistinnen dazu zu sagen haben?
Sind das die Worte,
mit denen sie ihr klarmachen wollen,
dass ihre Sorge unberechtigt sei?
Nein,
das kann und wird
Jutta nicht auf sich sitzen lassen.
In den kommenden Wochen
erscheint die 49-Jährige
daher immer wieder auf der Wache,
wo sie das Gefühl hat,
dass man schon bald
genervt von ihr ist
und ihr unterstellt,
sie mache es sich zum Hobby,
die Polizei zu beschäftigen.
Eine unverschämte Unterstellung,
wie Jutta findet.
Doch sie hat keine Kapazitäten,
sich groß darüber aufzuregen.
Weder zeitlich noch mental.
Sie muss sich darauf konzentrieren,
ihren Sohn zu finden.
Und wenn die Polizei
sie dabei nicht unterstützen wird,
dann muss sie es eben
selbst in die Hand nehmen.
Der sehnliche Wunsch,
Jonas bald erleichtert,
in ihre Arme schließen zu können,
bringt Jutta dazu,
jedes erdenkliche Mittel auszuschöpfen.
Wenn sie nicht gerade wieder einmal
an Heikos und Gabis
Haustür stumm klingelt,
ist Jutta im Austausch
mit Hilfsorganisationen,
von denen sie sich
Unterstützung erhofft.
Außerdem hat die
Sozialhilfeempfingerin
ihr weniges Geld zusammengekratzt,
um mit Zeitungsannonsen
auf das Verschwinden
ihres Sohnes aufmerksam zu machen.
Vielleicht,
so Juttas Hoffnung,
bekommt sie so
einen entscheidenden Hinweis
über den Verbleib
ihres Erstgeborenen.
Doch Jonas
bleibt verschwunden.
Die nächsten Tage,
Wochen,
Monate.
Jutta beschleichen
nun immer häufiger
Gedanken darüber,
dass ihrem Sohn
etwas Furchtbares
passiert sein muss
oder er in einer Notlage ist,
in der er dringend Hilfe braucht.
In der er vor allem
sie braucht.
Seine Mama.
Um nicht den Verstand zu verlieren,
versucht Jutta in solchen Momenten
diesen Horrorvorstellungen
mit hoffnungsvollen Träumen
zu trotzen.
Jutta stellt sich zum Beispiel vor,
dass ihr Sohn
ins Kloster gegangen ist.
Er wohl auf
und all ihre Angst
unbegründet ist.
Für Jutta sind diese
Gedankenspiele
wie ein Strohhalm,
an den sie sich klammert.
Doch natürlich
ist da auch die Gewissheit,
dass ihr Jonas
sie nie einfach so
zurückgelassen hätte,
ohne ihr Bescheid zu geben.
Je mehr Zeit vergeht,
desto klarer wird ihr,
dass sie in
unrealistischen
Szenarien
Trost findet.
Stetigt wird das,
als im Dezember 2005
zwei KriminalbeamtInnen
vor ihrer Tür stehen.
Bereits ihre ernsten
Gesichter
verraten Jutta,
dass der Anlass
ihres Besuchs
keine guten Neuigkeiten sind.
Und dennoch
ist Jutta fassungslos,
als sie die ungeheure
Nachricht hört,
wegen der die
PolizistInnen gekommen sind.
Jonas ist tot.
Er wurde umgebracht.
Und das
bereits vor über
zwei Jahren.
Einige Tage später.
Es ist ein Anblick,
der für Jutta kaum
zu ertragen ist.
Traurig schaut sie
auf den schlichten
Grabstein zu ihren Füßen
herab, der sich in einem
abgelegenen Teil eines
Thüringer Friedhofs
befindet.
Unbekannte männliche
Person steht eingraviert
auf der kleinen
dunklen Platte.
Drei Worte,
die für Jutta kaum
furchtbarer sein könnten.
Denn sie werden dem
Menschen, der hier
begraben ist,
keinesfalls gerecht.
Im Juni.
Seit die Polizei ihr die
Nachricht vom Tod
ihres Sohnes überbracht
hat, hat die Trauer
Jutta fest im Griff.
Und nun, wo sie
vor dem anonymen Grab
steht, trifft sie die
schmerzvolle Erkenntnis
nahezu wie ein Schlag.
Die Erkenntnis, dass
Jonas die ganze Zeit
über tot war.
Er hier, leblos,
unter der dunklen,
kalten Erde lag,
während sie ihn
verzweifelt suchte.
Woche für Woche,
Monat für Monat.
Denn aufzugeben und
sich mit Jonas
unklarem Schicksal
abzufinden, das war für
sie in den vergangenen
zwei Jahren nie eine
Option gewesen.
Immer wieder muss
Jutta daran denken, was
die PolizistInnen ihr
erzählt haben.
Dass die Leiche ihres
Sohnes bereits im
Juli 2003 in einem
Thüringer Waldstück
gefunden worden war,
kilometerweit entfernt
von dem Haus, in dem
er mit Gabi und Heiko
gewohnt hat.
Aufgrund des
fortgeschrittenen
Verwesungszustands und
der beginnenden
Skelettierung, so hatte
man Jutta erklärt, war
es den ExpertInnen
damals weder möglich
gewesen, die genaue
Todesursache noch die
Identität des
Leichnams zu bestimmen.
Juttas Sohn war damals
kurz nach seinem
Auffinden bestattet
worden, namenlos, anonym
und ohne Menschen wie
Jutta, die ihm die
letzte Ehre hätten
erweisen können.
So, und dass er
trotzdem bestattet wurde,
hat jetzt nicht in erster
Linie was damit zu tun,
dass irgendwer
Mitleid mit der
nicht identifizierten
Leiche hatte oder so,
sondern mit der
Bestattungspflicht in
Deutschland, die besagt,
dass alle
Verstorbenen beerdigt
werden müssen.
Und diese
Bestattungspflicht liegt
in der Regel eigentlich
bei den nächsten
Angehörigen, also
eigentlich im Fall von
Jonas bei seiner
Mutter, die hätte die
Beerdigung nämlich
eigentlich in die Wege
leiten müssen und
organisieren müssen und
auch bezahlen müssen.
Nun gibt es ja aber auch
immer mal wieder Tote, bei
denen es keine
Verwandten mehr gibt, die
diese Bestattungspflicht
übernehmen könnten,
entweder weil die
Verstorbenen halt keine
Familie mehr haben oder
weil man, wie bei
Jonas, eben nicht weiß,
wer die tote Person ist
und man deswegen dann die
Familie nicht ausfindig
machen kann.
Und eigentlich ist es bei
unbekannten Toten so, dass
die Polizei versucht, die
Angehörigen zu finden, also
dann halt eben auch die
Identität der toten
Person ermitteln möchte,
aber das funktioniert halt
nicht immer und bei
Jonas zum Beispiel hatte
die Polizei ja gar keine
Anhaltspunkte und konnte
jetzt auch nicht einfach mit
einem Foto oder mit einer
Zeichnung von ihm an die
Öffentlichkeit gehen, weil
dafür die Leiche auch schon
zu verwest war.
Ja und in solchen Fällen
springt dann eben der Staat
ein und übernimmt die
Beerdigung, ordnungsbehördliche
Bestattung nennt sich das und
der Begriff passt auch ganz
gut, weil es tatsächlich
nicht mehr als ein
Verwaltungsakt ist, bei dem
dann die Leiche möglichst
kostengünstig unter die
Erde gebracht wird.
Also das heißt, es wird
wirklich nur der Sarg
heruntergelassen, das Grab
zugeschüttet und ja, that's
it, also keine Trauergäste,
keine Musik, keine
Ansprache, nichts.
In Jonas' Fall hat die
Thüringer Gemeinde, in der
er tot aufgefunden wurde, die
Beerdigung organisiert, bezahlt
und zumindest noch einen
Grabstein finanziert.
Und genau an dem steht
Jutta jetzt.
Dass Jutta bei der
Bestattung ihres Sohnes
nicht anwesend war, zerreißt
ihr das Herz.
Genauso wie die Tatsache,
dass seine letzte
Ruhestätte nun hier in
Thüringen sein soll.
Jutta wünschte, sie könnte
Jonas nach Kassel
überführen lassen, ihm ein
Grab auf einem Friedhof ganz
in der Nähe ihrer Wohnung
ermöglichen.
Mit einem Stein, der seinen
Namen trägt und der von
Blumen und liebevoller
Dekoration geschmückt wird.
Doch dazu fehlen Jutta
die finanziellen Mittel.
Sie hat nicht mehrere
tausend Euro, die es kosten
würde, um ihren Joni nach
Hause zu holen.
Eine Erkenntnis, für die sie
sich schämt.
Scham und Trauer sind jedoch
nicht die einzigen Emotionen,
die Jutta aktuell quälen.
Sie empfindet auch Wut.
Jutta ist wütend auf die
Polizei, wie sie in den
vergangenen zwei Jahren nie
wirklich ernst genommen hat,
die ihr hätte helfen sollen,
die nach Jonas hätten suchen
sollen.
Noch wütender ist sie aber auf
die Menschen, die für Jonas
tot verantwortlich sind.
Aber dass bei ihnen
mittlerweile die Handschellen
geklickt haben, das hat
Jutta mittlerweile von den
Beamtinnen erfahren, hat nur
einen Grund.
Jemand hat bei der Polizei
ausgepackt.
Eine Person, die Jonas
letzte Atemzüge miterlebt hat,
die genau weiß, was mit ihm
passiert ist und die es nicht
mehr länger ertragen konnte,
zu schweigen.
Rückblick.
Es ist das Jahr 2002, als der
28-jährige Jonas regelmäßig im
Imbisswagen seines Freundes
Nico arbeitet.
Spaß macht ihm dieser Job
nicht, doch das ist nicht der
einzige Grund, weshalb er die
meiste Zeit über schlecht
gelaunt hinter dem
Verkaufstresen steht.
Er verdient mit seinem Job
auch kein Geld.
Nicht einen Cent zahlt
Nico Jonas dafür, dass er den
ganzen Tag über Brötchen und
gegrillte Würstchen
verkauft.
Doch seinem Ärger darüber,
Luft und Nico eine Ansage
zu machen, das kommt für
Jonas nicht in Frage.
Statt das Gespräch mit ihm
zu suchen, macht er seinen
Frust mit sich aus.
Mit sich und Heiko.
Der 38-Jährige mit dem
schütteren, dunkelblonden Haar
und der großflächigen
Tätowierung am Unterarm ist
ein Bekannter von Nico, der
seit einiger Zeit immer
häufiger am Imbisswagen
steht.
Anfangs haben Jonas und Heiko
nur losen Smalltalk gehalten,
doch mittlerweile hat sich
Jonas ihm geöffnet.
Heiko weiß nun von Jonas
Unzufriedenheit und rät ihm
immer wieder, die Beziehung
zu Nico zu beenden.
Doch Jonas traut sich
nicht den Schlussstrich zu ziehen.
Schließlich hat Nico ihn bei sich
aufgenommen, nachdem er seine
eigene Wohnung nicht mehr
finanzieren konnte.
Und wenn sein Freund ihn vor die
Tür setzen sollte, dann hätte
Jonas kein Dach mehr über dem
Kopf.
Es ist ein Problem, für das Heiko
Jonas wenige Monate später bei
einer Feier in seinem Garten eine
Lösung präsentiert.
Und ihm zwischen klirrenden
Gläsern und lachenden Gästen ein
Angebot macht.
Er könne doch einfach zu ihm und
seiner Familie ziehen.
Ein Angebot, das Jonas zum
Nachdenken anregt und ihn schließlich
zu einer Entscheidung bewegt.
Im November 2002 steht Jonas mit
gepackten Taschen vor dem kleinen
Einfamilienhaus.
Er hat sich von Nico getrennt, den
Job am Imbisswagen hingeschmissen und
ist bei ihm ausgezogen.
Denn der mittlerweile 29-Jährige hat
sich dazu entschieden, das Angebot von
Heiko anzunehmen.
Fortan wird er bei ihm, Gabi und den
drei Kindern wohnen, die aus Gabis
früheren Beziehungen stammen.
Ihren 14 und 12 Jahre alten Töchtern
und ihrem achtjährigen Sohn.
Und Jonas wird schnell sowohl in die
Familie als auch in ihren Alltag
integriert.
Er ist mit ihnen, hilft im Haushalt mit
und unterstützt Heiko dabei,
Zeitungen auszutragen.
Einen eigenen Raum richten Heiko
und Gabi zwar nicht für ihn ein,
doch Jonas findet einen Schlafplatz
auf der Couch im Kinderzimmer von
Gabis Sohn.
Bereits nach wenigen Wochen zeigt die
anfängliche Harmonie jedoch erste
Risse.
Jonas muss seine EC-Karte abgeben.
Außerdem fahren Heiko und Gabi nun an
jedem ersten des Monats mit ihm zur
Bank, um die Sozialhilfe von seinem
Sparkassenkonto abzuheben.
Rund 500 Euro beträgt die Summe, die
der Automat für sie ausspuckt und von
der Jonas nicht einen Cent sieht.
Stattdessen behalten Heiko und Gabi, die
ebenfalls von Sozialhilfe leben, das
Geld für sich.
Jetzt, wo Jonas bei ihnen lebe und von
ihnen versorgt werde, erklären sie ihm,
habe er keinen Anspruch mehr darauf.
Doch Geld ist schon bald nicht mehr das
einzige, das das Paar dem 28-Jährigen
vorenthält.
Jonas wird nun auch bei den Mahlzeiten
übergangen.
Wer nicht arbeitet, muss auch nicht
essen, macht Heiko deutlich, während
er sich regelmäßig den Bauch voll
schlägt und Jonas' Hunger ungestillt
bleibt.
Wenn überhaupt, darf Jonas ab jetzt nur
noch Reste essen, die übrig bleiben.
Und mit dem Trinken verhält es sich
ähnlich.
Sich eigenständig was zu trinken zu
nehmen, hat Heiko Jonas verboten.
Er muss fragen.
Und das, obwohl die Antwort ohnehin
meist die gleiche ist.
Nein.
Ein Wort, das Jonas regelmäßig dazu
bringt, in seiner Verzweiflung aus der
Regentonne im Garten zu trinken.
Als Jonas an einem Tag wieder einmal
äußert, dass er Durst habe, reicht Heiko
ihm eine Flasche, die Jonas erleichtert
ansetzt und Heiko dazu veranlasst,
entscheidendes Gelächter auszubrechen.
Denn das, was Jonas da hastig zu sich nimmt, ist kein Wasser
oder Saft.
Es ist Heikos Urin.
Demütigungen und Schikanen werden fortan zu einer
Konstanten in Jonas' neuem Leben.
Und während der 29-Jährige angesichts des
Nahrungsentzugs immer weiter an Gewicht
verliert, nehmen die Quälereien im Haushalt
stetig zu.
Heiko findet offensichtlich Gefallen daran,
Jonas bloßzustellen und leiden zu sehen.
So wie eines Tages, als er unter Jonas'
Sofa etwa verdorbenes Fleisch
entdeckt, das Jonas dort wenige Tage zuvor
versteckt hat.
Er hatte es zuvor völlig ausgehungert
nachts aus dem Kühlschrank genommen.
Heiko zwingt Jonas nun, es vor seinen Augen
zu essen.
Bissen für Bissen.
Mit Messer und Gabel.
Trotz der Maden, die das Fleisch bedecken.
Es sind Situationen wie diese, in denen Jonas
Heikos Macht spielen völlig ausgeliefert ist.
Hilfe bekommt er nicht.
Niemand aus der Familie beschützt ihn
oder ergreift je für ihn Partei.
Weder Gabi noch die Kinder.
Im Gegenteil.
Auch sie behandeln Jonas wie Dreck,
beschimpfen ihn und ziehen ihn an den Genitalien,
wenn er nackt ist.
Ganz so, wie Heiko es von ihnen verlangt.
Denn genau wie Jonas fürchten auch sie den Mann,
der in ihrem Zuhause wie ein jähzorniger,
gewaltsamer Tyrann regiert.
Und der Jonas zu seinem persönlichen
den Sündenbock auserkoren hat.
Gewalt ist für Jonas bereits kurz nach seinem Einzug an der Tagesordnung.
So schlägt und tritt Heiko etwa auf Jonas ein, wenn er eine Aufgabe nicht schnell genug erledigt.
Wenn er ihn nicht grüßt, sobald er den Raum betritt.
Oder wenn Heiko einfach danach ist.
Jonas wird durch die Misshandlung zum untersten Glied der Kette.
Zum persönlichen Sandsack seines Peinigers, der immer herhalten muss, sobald Heiko nach einer Möglichkeit sucht, sich abzureagieren.
Die regelmäßige Prügel hinterlässt ihre Spuren auf Jonas' dünnem, geschwächten Körper.
Immer wieder bilden sich darauf neue Hämatome, offene Wunden und Schwellungen.
Doch das bringt Heiko nicht dazu, Jonas in Ruhe zu lassen.
Er hat noch ganz andere Dinge mit ihm vor.
Mit ihm und seinem Körper.
Heiko zwingt Jonas nämlich schon bald auch dazu, sich zu prostituieren.
Regelmäßig fährt er ihn zu einem homosexuellen Strich in Kassel,
wo er Jonas befiehlt, fremden Männern gegen Bezahlung Sex anzubieten.
Jedes Mal, wenn Jonas sich anschließend wieder beschämt auf die Rückbank in Heikos Auto setzt,
zählt Heiko daraufhin die Scheine, die Jonas ihm überreicht.
Auch dieses Geld muss Jonas abgeben.
Geld, das ihn gemeinsam mit seiner Sozialhilfe zu einer attraktiven Einnahmequelle für Heiko und Gabi macht.
Und das seine Rollen als Sündenbock und Sandsack ergänzt.
Nämlich um die des Goldesels.
5. Januar 2003.
Zwei Monate nach Jonas' Einzug.
Es ist etwa 23 Uhr, als der Rettungswagen sein Blaulicht in den dunklen Nachthimmel wirft
und vor dem kleinen Einfamilienhaus zum Stehen kommt.
Dem Haus von Heiko und Gabi.
Die beiden haben den Notruf gewählt.
Nun führen sie die Einsatzkräfte ins Wohnzimmer,
wo dem diensthabenden Notarzt sofort klar wird, um wen es hier geht.
Um den jungen Mann auf der Couch.
Es ist Jonas.
Der 29-Jährige macht nicht nur einen mangelernährten, sondern zugleich verwahrlosten Eindruck.
Er sitzt in seinem eigenen Urin und Kot, wirkt apathisch und reagiert nicht auf Ansprache.
Und das, obwohl er die Augen geöffnet hat.
Für den Rettungsmediziner steht außer Frage, dieser Mann gehört in ein Krankenhaus.
Jonas wird daraufhin in eine naheliegene Klinik gebracht, wo er versorgt und untersucht wird.
Dabei stellen die MedizinerInnen eine Nasenbeinfraktur, mehrere Rippenbrüche sowie zahlreiche Hämatome am ganzen Körper fest.
Die ÄrztInnen sprechen Jonas, der auf sie eingeschüchtert und verängstigt wirkt, darauf an.
Sie wollen wissen, wo und vor allem wie er sich diese Verletzung zugezogen hat.
Doch Jonas liefert ihnen darauf keine Antwort.
Er wisse es nicht, sagt er.
Eine Aussage, die er auch wiederholt, als eine Psychiaterin hinzugezogen wird,
die schließlich dafür sorgt, dass Jonas in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird.
In den darauffolgenden vier Wochen erholt sich Jonas nicht nur körperlich von Tag zu Tag.
Er beginnt sich auch zu öffnen, wenn auch zurückhaltend und vage.
In einem Gespräch mit einem Arzt erzählt er, dass er in einer Familie lebe, in der er geschlagen wird.
Der Mediziner erläutert Jonas daraufhin die Möglichkeit des betreuten Wohnens.
Eine Wohnform, bei der Jonas seinen eigenen Bereich hätte, selbstständig leben könnte
und dennoch Hilfe und Unterstützung im Alltag erhalten würde.
Jonas wirkt interessiert.
Aufmerksam lauscht er den Worten des Arztes und versichert, dass er sich das sehr gut vorstellen könnte.
Doch lange währt die Begeisterung nicht.
Am 12. Februar 2003 verlässt Jonas das psychiatrische Krankenhaus in der Begleitung von Heiko und Gabi,
die ihn abholen, um mit ihm zurück nach Hause zu fahren.
Und Jonas gehorcht, wieder einmal.
Sich ihnen entgegenzusetzen und dem Haus, in dem er täglich malträtiert wird, den Rücken zu kehren,
kommt für ihn nicht in Frage.
Zu groß ist die Angst vor Heiko.
Denn der hat Jonas klargemacht, dass eine Flucht sinnlos sei.
Ich finde dich, egal wo du bist, hat er gesagt.
Mit der Rückkehr zu Heiko und Gabi geht die Qual weiter, die Jonas erleiden muss.
Nach wie vor wird er täglich geschlagen und gedemütigt, ausgehungert und drangsaliert.
Doch Jonas' Krankenhausaufenthalt hat eine Veränderung hervorgebracht.
Das Sozialamt ist hellhörig geworden und will sich nun genauer mit ihm auseinandersetzen.
Und so findet sich der 29-Jährige am 23. April 2003, Jonas lebt zu dieser Zeit seit etwa einem halben Jahr bei Heiko und Gabi,
in einem Büro des Sozialdienstes wieder.
Heiko begleitet ihn zu diesem Termin, denn in der schriftlichen Einladung, die Jonas für heute erhalten hat,
hieß es, dass man mit Jonas über die weitere Auszahlung seiner Sozialhilfe sprechen wolle.
Und daran hat Heiko natürlich großes Interesse.
Schließlich betrifft es das Geld, das er Jonas jeden Monat abknöpft.
Doch tatsächlich sind diese Leistungen, die Jonas weiterhin erhalten soll,
nicht alles, über das der Sachbearbeiter mit Jonas sprechen möchte.
Er hat einen Vorschlag für ihn.
Und zwar möchte der Sozialarbeiter von Jonas wissen, ob er sich eine rechtliche Betreuung vorstellen könnte.
Was genau das ist, erklärt er Jonas jetzt.
Und ich würde sagen, das machen wir jetzt auch mal.
Also stellen wir uns vor, ich werde später im Alter einmal dement.
Dann kann das sein, dass ich Schwierigkeiten bekomme, mein Leben irgendwie auf die Reihe zu kriegen.
Und dann könnte es eben sinnvoll sein, dass mir ein rechtlicher Betreuer bzw. eine rechtliche Betreuerin an die Seite gestellt wird.
Weil genau dafür sind die da.
Also Menschen zu helfen, die ihre Angelegenheiten nicht mehr oder nur noch begrenzt selbst regeln können,
weil sie zum Beispiel psychisch krank sind oder körperlich oder geistig eingeschränkt sind.
Ja, und so eine Betreuung, die kann auch bei starken Depressionen, Psychosen, Behinderungen oder für Menschen in Frage kommen,
die einen schweren Unfall hatten beispielsweise und deswegen dann nicht mehr sprechen können.
Und wobei die BetreuerInnen dann helfen, sind so Sachen wie, also Kontakt mit den Behörden und Ämtern aufnehmen,
Anträge stellen, die betreuende Person zu Arztterminen zu begleiten und so.
Und sie unterstützen die teilweise auch bei finanziellen Angelegenheiten,
also zum Beispiel, indem sie halt sicherstellen, dass Miete und Strom regelmäßig gezahlt werden.
Jetzt darf man sich das aber nicht so vorstellen, dass BetreuerInnen immer all diese Dinge übernehmen.
Es ist nämlich so, dass das sogenannte Betreuungsgericht,
das für die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung zuständig ist,
genau festlegt, in welchen Lebensbereichen die zu betreuende Person Unterstützung braucht.
Die BetreuerInnen dürfen nämlich nur für die Aufgaben bestellt werden,
in denen auch eine Betreuung erforderlich ist.
Und dann auch nur da helfen.
Und helfen, sage ich hier, weil sich diese rechtliche Betreuung genau als das versteht,
also als Hilfestellung.
Weil Selbstbestimmung spielt bei der Betreuung eine ganz große Rolle.
Es ist nämlich nicht so, dass Menschen, die jetzt einen Betreuer oder eine Betreuerin haben,
nicht mehr über ihr eigenes Leben bestimmen dürfen oder keine Entscheidung mehr treffen dürfen.
Es ist so, dass die Entscheidung nach Möglichkeit immer zusammengetroffen wird
und auch immer im Interesse der jeweiligen Person.
Außerdem ist man auch mit Betreuung weiterhin geschäftsfähig,
also man darf auch Verträge abschließen, heiraten oder wählen gehen.
Genau, also es ist jetzt nicht so, dass man entmündigt wird wie früher oder so.
Das gibt es ja seit 1992 bei uns nicht mehr.
In Jonas' Fall ist es jetzt ja so, dass das Sozialamt auf ihn zukommt
und ihm diese rechtliche Betreuung vorschlägt.
Und so kommt eine Betreuung tatsächlich auch in den meisten Fällen zustande.
In der Regel ist es nämlich so, dass Angehörige oder auch eben die Behörden
da dann den Stein ins Rollen bringen.
Und dann gibt es eine persönliche Anhörung durch einen Richter oder eine Richterin
vom Betreuungsgericht.
Dann wird ein medizinisches und soziales Gutachten erstellt,
um halt so zu gucken, ob und in welchen Bereichen die Betreuung sinnvoll ist.
Und ganz wichtig, ob die betroffene Person einer Betreuung wirklich zustimmt.
Das ist nämlich Voraussetzung und es ist eben nicht so, dass die betreuende Person
jetzt unbedingt gegen den Willen einer Person eingesetzt werden kann.
Also das passiert wirklich nur in Ausnahmefällen.
Zum Beispiel, wenn man jetzt halt krankheitsbedingt keinen freien Willen mehr bilden kann oder so.
Wer die Betreuung letztendlich übernimmt, entscheidet am Ende übrigens auch das Betreuungsgericht.
Also meistens sind das PartnerInnen oder andere Familienmitglieder, die sich da anbieten.
Manchmal sind es aber auch Ehrenamtliche von Betreuungsvereinen oder sogenannte BerufsbetreuerInnen.
Also Leute, die sich in dem Bereich selbstständig gemacht haben und oft einen juristischen
Background haben.
Gegenüber dem Sozialarbeiter gibt sich Jonas jetzt in dem Gespräch interessiert.
Angetan macht er klar, dass er sich eine rechtliche Betreuung gut vorstellen kann.
Als der Sozialarbeiter schließlich erklärt, dass dies auch bedeuten würde, dass eine betreuende
Person zukünftig seine Finanzen verwaltet, meldet sich Heiko zu Wort.
Der macht nämlich energisch klar, dass man nicht auf die Idee kommen sollte, Jonas' Mutter
Jutta für diese Rolle zu bestimmen.
Sie sei dafür mehr als ungeeignet und habe in der Vergangenheit immer wieder mit Jonas' Geld
online eingekauft.
Das sind Lügen und falsche Unterstellungen, die da aus Heiko heraus sprudeln.
Denn der 39-Jährige ist keinesfalls besorgt um seinen Prügelknaben, sondern lediglich um sich
selbst.
Wenn Jonas rechtlich betreut wird, dann hat er keinen Zugriff mehr auf seine Finanzen.
Dann kann er seine Sozialhilfe nicht mehr kassieren.
Und auch die angekündigte Begutachtung von Jonas' Zuhause bereitet Heiko Sorgen.
Womöglich fliegt bald alles auf und bringt ihn in Schwierigkeiten.
Und zwar ganz gewaltig.
6.
Juli 2003.
Etwa zwei Monate später.
An diesem Nachmittag zählt Heiko mal wieder die Scheine.
Diesmal sind es allerdings nicht die echten, die er Jonas abgenommen hat, sondern sein
Monopoly-Geld.
Er, Gabi und die Kinder spielen, während Jonas eingeschüchtert auf einem Schemel im Flur
sitzt.
Der hölzerne Stuhl ist so etwas wie Jonas' Stammplatz.
Oft muss er hier stundenlang sitzen und schweigen.
So hat Heiko es ihm befohlen.
Nur heute fällt ihm das wieder ganz besonders schwer.
Jonas ist an seinem körperlichen Tiefpunkt angelangt.
In zwei Tagen wird er 30.
Doch dass er diesen Tag wirklich erlebt, bezweifelt er.
Er kann einfach nicht mehr.
Mittlerweile ist er so dünn und schwach, dass er Schwierigkeiten hat, sich auf den Beinen
zu halten.
Nahezu sein ganzer Körper ist mit blauen, violetten und grünen Hämatomen bedeckt.
Unterhalb seiner Lippe klafft außerdem eine tiefe Wunde, die einem Loch gleicht und den Blick
in seinen Mundraum freigibt.
Nur eine von zahlreichen Verletzungen, die von den regelmäßigen Misshandlungen stammen.
Auch an diesem Nachmittag verweilt Jonas schon eine ganze Zeit auf dem Schemel, als
im Wohnzimmer plötzlich ein Streit ausbricht und aus einer anfänglichen Diskussion eine
lautstarke Auseinandersetzung wird.
Vor allem Heiko ist außer sich.
Während er vor wenigen Minuten noch konzentriert aufs Spielbrett blickte, rastet er nun völlig
aus.
Er schreit, randaliert, tobt.
Und er schlägt sowohl Gabi als auch ihrer ältesten Tochter ins Gesicht.
Von dem friedlichen Spielenachmittag ist nichts mehr übrig.
Auf Gabis Anweisung laufen die Kinder schnell in den Flur, nach oben in ihre Zimmer und lassen
dabei die Wohnzimmertür offen.
Die Tür, durch die Jonas nun Heiko verängstigt anschaut.
Was glotzt so so blöd, schreit Heiko ihn an.
Doch bei der verbalen Attacke bleibt es nicht.
Heiko geht auf Jonas zu und reißt ihn wortwörtlich vom Hocker.
Dann stößt er ihn mit voller Wucht gegen die Garderobe.
Jonas geht zu Boden.
Als Heiko zurück ins Wohnzimmer gestürmt ist, versucht Jonas sich langsam wieder aufzurichten.
Ein Fehler, wie sich herausstellen soll.
Du sollst liegen bleiben, schreit Heiko, der wieder in Jonas' Richtung stampft.
Mit voller Wucht tritt er gegen den Stuhl, von dem Jonas erneut auf den Boden stürzt.
Dann beginnt Heiko auf ihn einzuschlagen.
Ununterbrochen trommeln seine Fäuste auf Jonas' Körper ein.
Schließlich nimmt Heiko den Holzschemel zur Hilfe und zählt damit auf Jonas' Körper.
Immer wieder schlägt Heiko damit auf Jonas ein.
Heftig und hasserfüllt.
So lange, bis der Schemel schließlich zerbricht und Heiko zum gewaltsamen Finale seines Tobsuchtsanfalls ansetzt.
Heiko nimmt Jonas' Kopf in seine Hände.
Dann stößt er ihn auf den harten Fußboden.
Wieder und wieder.
Als Heiko schließlich von Jonas ablässt, liegt der 29-Jährige nahezu regungslos am Boden.
Ein verzweifeltes Stöhnen und Wimmern ist das einzige Lebenszeichen, das er noch von sich gibt.
Heiko und Gabi bringen den schwerverletzten Jonas schließlich nach oben und legen ihn auf die Schlafcouch.
Der erholt sich schon wieder, versichert Heiko Gabi und beteuert, dass er lediglich eine Nacht Schlaf brauche.
Dann verlassen die beiden das Zimmer und überlassen Jonas sich selbst.
Es ist der nächste Abend, als Heiko und Gabi zur späten Stunde noch Besuch empfangen.
Emily und Sascha, ein befreundetes Pärchen der beiden, sind auf ihre Bitte hin zu ihnen gefahren.
Heiko und Gabi könnten Hilfe gebrauchen, hieß es zuvor im Telefon.
Worum es dabei geht, erfahren Emily und Sascha erst, als sie ihren Freundinnen in eines der Zimmer im Obergeschoss folgen.
Emily stößt vor Empörung einen Schrei aus, als ihr Blick auf das Schlafsofa fällt.
Denn der Anblick ist furchtbar.
Teilnahmslos und weggetreten liegt Jonas auf der Couch.
Blutdurchtränkte Handtücher bedecken seinen nackten Oberkörper.
Ein Auge ist komplett zugeschwollen und sein rechtes Ohr ist fast vollständig abgetrennt.
Er stöhnt und röchelt.
Als gute Freundinnen von Heiko und Gabi kennen Emily und Sascha Jonas.
Und sie wissen auch, wie unmenschlich der 29-Jährige von ihnen behandelt wird.
Die Frage, was mit Jonas passiert ist, sparen sie sich daher.
Stattdessen entfacht an diesem späten Abend eine Diskussion darüber, was zu tun ist.
Für Emily und Sascha steht fest, Jonas braucht ärztliche Hilfe.
Sie müssen einen Rettungswagen rufen oder ihn selbst in ein Krankenhaus bringen.
Daran führt kein Weg vorbei.
Doch für Heiko und Gabi kommt das nicht in Frage.
Sie verneinen.
Vor allem Heiko drückt nun auf die Tränendrüse.
Wenn herauskomme, dass er Jonas geschlagen habe, dann hat das für die Familie Konsequenzen.
Denn mit Sicherheit würde man ihnen dann die Kinder wegnehmen.
Stattdessen macht Heiko einen anderen Vorschlag.
Sie werden Jonas zu seinem Vater bringen, der in Dresden lebt.
Es ist ein Plan, dem Gabi, Emily und Sascha schließlich zustimmen.
Doch der in Wahrheit nichts weiter als ein Vorwand ist.
Heiko hat keinesfalls vor, Jonas zu seinem Vater zu bringen.
Er will ihn einfach nur loswerden, ihn aus seinem Haus schaffen.
Und dafür braucht er eben die Hilfe seiner Freundinnen.
Mit vereinten Kräften tragen die vier Jonas die Treppe hinunter und setzen ihn draußen auf die Rückbank von Heikos VW-Bus.
Dann steigen sie selbst ein.
Heiko, Gabi, Emily und Sascha.
Entschlossen steuert Heiko das Fahrzeug dann immer weiter von seinem Zuhause weg.
Im Wagen herrscht dabei eine angespannte Stimmung.
Vor allem Emily und Sascha, die Heikos Plan noch vor wenigen Minuten zugestimmt haben,
versuchen nun ihn erneut davon zu überzeugen, Jonas doch in ein Krankenhaus zu bringen.
Der hat unterdessen nur einen Wunsch.
Ich will noch einmal Mama sehen, bringt er mehr nuschelnd als sprechend hervor.
Einige Kilometer später, die vier befinden sich mittlerweile in Thüringen,
macht die Gruppe eine Zigarettenpause auf einem abgelegenen Parkplatz,
als Emily plötzlich eine Veränderung an Jonas bemerkt.
Sein Brustkorb, der sich bis eben noch zaghaft hob und senkte, steht nun still.
Und auch sein Röcheln und Wimmern sind verstummt.
Er hat keinen Puls mehr.
Wir haben ein Problem, spricht Emily ihre Gedanken laut aus.
Er ist gestorben.
Geschockt treten Heiko und die anderen nun an Jonas heran, um Emilys Aussage zu überprüfen.
Und um feststellen zu müssen, dass sie recht hat.
Jonas ist tot.
Dieses Mal hat er die Schläge nicht so einfach weggesteckt.
Dieses Mal war es zu viel.
In einem nahegelegenen Waldstück legen die vier kurze Zeit später Jonas' leblosen Körper hinter einem Stapel Baumstämme ab.
Mittlerweile ist es bereits Nachmittternacht und ein neuer Tag hat begonnen.
Nachdem die Gruppe Jonas' Leichnam verscharrt hat, tritt sie den Rückweg an.
Und noch bevor sich ihre Wege schließlich trennen, gehen sie einen Pakt ein.
Das, was in den vergangenen Stunden passiert ist, werden sie für sich behalten.
Sie werden schweigen und mit niemandem darüber sprechen.
So lautet das Versprechen, das sie einander geben.
Doch eine Person hält sich nicht daran.
Emily.
Im Sommer 2005, rund eineinhalb Jahre nach Jonas' Tod, macht er das schlechte Gewissen so sehr zu schaffen,
dass sie beschließt, zur Polizei zu gehen und dort alles zu erzählen.
Eine Aussage, die dazu führt, dass nun auch Jutta, die seit zwei Jahren ihren Sohn Jonas vermisst,
erstmals ernst genommen wird.
Die Beamtinnen bitten Jutta um eine DNA-Probe, die sie mit einer unbekannten Leiche vergleichen,
die im Juli 2003 von SpaziergängerInnen an dem Ort gefunden wurde, den Emily der Polizei beschrieben hat.
Ein Vorgehen, das ein paar Monate später zur Identifizierung von Jonas führt.
Und dazu, dass bei Heike und Gabi kurze Zeit später die Handschellen klicken.
11. März 2009.
Vor dem Saal 119 herrscht ein echtes Aufgebot an JournalistInnen.
Immer wieder hört man die Auslöser der Kameras, die die Frau ablichten,
die traurig und zugleich entschlossen in die Linsen blickt.
Es ist Jutta.
Die 56-Jährige ist an diesem Mittwoch in eine geblümte Bluse geschlüpft.
Das blonde Haar trägt sie kurz und die dunklen Schatten unter ihren Augen verraten,
wie Kräfte zerrend die vergangenen Jahre und Monate für sie waren.
Doch heute ist Jutta voller Hoffnung.
Und zwar auf Gerechtigkeit.
Am Landgericht Kassel startet der Prozess, in dem das Verbrechen an ihrem Sohn verhandelt wird.
Sowohl Heiko als auch Gabi wird vorgeworfen, sich vor mittlerweile sechs Jahren des Mordes an Jonas schuldig gemacht zu haben.
Sascha dagegen war bereits 2007 wegen Beihilfe zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden,
die er mittlerweile abgesessen hat.
Und kurze Info an dieser Stelle.
Zu einem Prozess gegen Emily haben wir nichts gefunden.
Von daher wissen wir jetzt auch nicht, ob sie überhaupt strafrechtlich belangt wurde.
Oder, was eben auch gut vorstellbar wäre, dass ihr Geständnis ihr quasi zugute kam,
was ja letztendlich dafür gesorgt hat, dass überhaupt geklärt werden konnte, was Jonas passiert ist.
Ja.
Jutta hat sich dazu entschieden, im Verfahren die Nebenklage anzutreten.
Ihr ist klar, dass es sie viel Kraft kosten wird, Tag für Tag den Menschen ins Gesicht zu blicken,
die ihren Sohn auf dem Gewissen haben.
Doch das ist sie bereit, auf sich zu nehmen.
Als Mutter hatte Jutta stets den Wunsch, Jonas zu beschützen, ihn vor allem Schlechten und Bösen zu bewahren.
Dass ihr das nicht gelungen ist, schmerzt sie sehr.
Wenn das Letzte, das Jutta für ihn tun kann, also darin besteht, dafür zu sorgen,
dass seine PeinigerInnen hinter Gitter wandern,
dann ist sie bereit, die Belastung eines Prozesses auf sich zu nehmen.
Schuldig sind sich die zwei Personen auf der Anklagebank offensichtlich gar nichts mehr.
Heiko und Gabi.
Obwohl die beiden nur wenige Zentimeter voneinander trennen,
würdigen sie sich gegenseitig keines Blickes.
Sie wirken wie Fremde, die lediglich das Desinteresse verbindet, das sie ausstrahlen.
Die 41-jährige Gabi spielt mit ihrem permuttfarbenen Rosenkranz in ihren Händen
und wirkt nahezu gelangweilt.
Und auch Heiko, mittlerweile 45 Jahre alt und im blau-roten Trainingsanzug gekleidet,
macht nicht gerade den Eindruck, als würde er den Ernst der Lage erkennen.
Doch es gibt noch etwas, das die beiden vereint.
Das Verbrechen, das ihnen vorgeworfen wird.
Der Mord an Jonas.
In der Kulisse des Schwurgerichts machen sich weder Heiko noch Gabi die Mühe,
das Martyrium zu leugnen, das Jonas bei ihnen ertragen musste.
Im Gegenteil, vor allem Gabi schildert im Zeuginnenstand die Gewalt, Demütigungen und Schikanen.
Sagt, dass Jonas halt das letzte Glied gewesen sei.
Ganz so, als wäre es eine logische Erklärung für die Art und Weise, wie er behandelt wurde.
Und auch die Tat und das anschließende Verscharen der Leiche beschreibt sie detailliert.
Für Jutta sind diese Beschreibungen kaum auszuhalten.
Immer wieder bricht sie in Tränen aus, schnappt entsetzt nach Luft.
Ein paar Mal muss sie sogar den Saal verlassen, um durchzuatmen.
Jutta versteht es einfach nicht.
Für sie ist es unbegreiflich, dass Heiko, ein Mensch, dem Jonas vertraute, ihrem Sohn so etwas antun konnte.
Und auch auf Gabi hat Jutta eine ungeheure Wut.
Ihr Wegsehen, ihre Ignoranz und die Tatsache, dass sie Jonas nicht geholfen hat.
Wie kann ein Mensch dazu in der Lage sein?
Es ist eine Frage, mit der sich auch die psychiatrischen Sachverständigen auseinandersetzen.
Und vor allem das Gutachten über Heiko zeichnet ein klares Bild von seiner Person und seinem Motiv.
Der Psychiater diagnostiziert Heiko eine dissoziale Persönlichkeitsstörung,
die sich insbesondere durch einen Mangel an Empathie und eine geringe Frustrationstoleranz auszeichnet.
Aber zugleich nicht ausgeprägt genug ist, um seine Schuldfähigkeit zu vermindern.
Zum Zeitpunkt der Tat sei Heiko klar gewesen,
dass seine Misshandlungen angesichts der angedachten Betreuung zeitnah auffallen würden
und Jonas deshalb bald verschwinden müsse.
Und zwar so, dass er anschließend nicht von seinen Erlebnissen in Heikos Haushalt berichten könne.
Dass Gabi Heiko nicht die Stirn geboten und Jonas Qualen geduldet hat,
ist dagegen beispielhaft für ihre Psyche.
Der psychiatrische Sachverständige macht klar,
dass Gabi über unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten verfügt
und bei ihr eine starke abhängige Persönlichkeitsstörung vorliegt.
Sie sei emotional unreif, hoch manipulierbar und suche stets dominante Partner,
denen sie sich unterordnen könne.
Habe sie so einen Partner gefunden, halte sie die Beziehung um jeden Preis aufrecht.
Selbst wenn sie ihr eigenes Wohlergehen oder das ihrer Kinder gefährdet.
Dass Heikos Misshandlungen und die tödlichen Schläge ans Licht kommen
und sie ihren Alltag womöglich ohne ihren Partner bestreiten müsste,
sei für sie unvorstellbar gewesen.
Am 29. April 2009 fällt die Schulgerichtskammer des Kasseler Landgerichts schließlich ihr Urteil.
Heiko wird wegen Mordes an Jonas zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Das Gericht nimmt seinen Ausraster und seine Prügelattacke vom 6. Juli 2003 zum Anlass,
ihn mit der vollen Härte des Gesetzes zu bestrafen.
Der 45-Jährige habe wohl nicht mit dem Ziel auf Jonas eingeschlagen, ihn zu töten,
doch mit seiner massiven Gewalt, vor allem den Schlägen auf Jonas' Kopf,
habe er dessen Tod immerhin für möglich gehalten und gebilligt.
Daher liege bei ihm zumindest ein bedingter Tötungsvorsatz vor,
den Heiko aus einem niedrigen Beweggrund erfüllt habe.
Und zwar, indem er sich an der bloßen Anwesenheit von Jonas störte
und seine Wut gewaltsam an ihm ausließ, ohne dass Jonas ihm dafür einen Anlass gab.
Dass Heiko für den Schwerverletzten keine ärztliche Hilfe holte
und auch Emily und Saschas Vorschlag, Jonas in ein Krankenhaus zu bringen,
nach der Tat ablehnte, zeige zudem,
dass er eine große Gleichgültigkeit gegenüber Jonas' Leben gehabt habe.
Eine Gleichgültigkeit, die auch Gabi mit ihrem Verhalten unter Beweis gestellt hat.
Und doch entscheidet das Gericht in ihrem Fall anders.
Die 41-Jährige wird zwar ebenfalls wegen Mordes verurteilt,
jedoch nur zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren.
Anders als Heiko hat sie nicht auf Jonas eingeprügelt.
Sie hat nichts getan.
Doch auch das werte die Kammer als Verbrechen.
Gabi hat sich nämlich des Mordes durch Unterlassen schuldig gemacht.
Mit dem Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht.
Die Kammer ist überzeugt, dass sie Jonas die Hilfe nach den Schlägen verweigerte,
um ihren Partner vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen.
Dabei sei Gabi in der Pflicht gewesen, Jonas zu helfen.
Und zwar aufgrund ihrer sogenannten Garantenstellung.
Und wenn ihr regelmäßig mordlos hört, dann kennt ihr diesen Begriff ja mittlerweile.
Aber um nochmal alle abzuholen, es gibt Straftaten, die man durch aktives Handeln begehen kann.
Und auch dadurch, dass man eben nichts tut.
Und so eine Tat durch Unterlassen, die kann man nur unter gewissen Voraussetzungen begehen.
Nämlich immer dann, wenn es eine Pflicht zum Handeln gibt.
Zum Beispiel in solchen Fällen, in denen das Strafgesetzbuch ganz klar sagt, dass man handeln muss.
Das sind dann die sogenannten echten Unterlassungsdelikte.
Paradebeispiel ist da die unterlassene Hilfeleistung.
Sprich, wenn ich jetzt die Straße entlang spaziere und sehe, wie ein Passant von einem Auto angefahren wird und verletzt am Boden liegt, dann muss ich helfen.
Also indem ich dann zum Beispiel erste Hilfe leiste oder einen Rettungswagen rufe.
Und dann gibt es aber auch noch die unechten Unterlassungsdelikte.
Da macht man sich wegen nichts tun strafbar, weil man in einer bestimmten Verantwortungsposition beispielsweise gegenüber einer Person steht, der was passiert oder passieren könnte.
Und zwar in der sogenannten Garantenstellung.
Garant in sein bedeutet also, dass man in der Pflicht ist, einzugreifen, bestimmten Menschen zu helfen oder bestimmte Gefahren von ihnen abzuwenden.
Und zwar logischerweise so, dass dann die drohende Konsequenz, zum Beispiel der Tod der Person, nicht eintritt.
So, und die Betonung liegt hier ganz klar auf bestimmte Menschen, weil eine Garantenstellung hat man nämlich nicht jeder Person gegenüber.
Also GarantInnen sind zum Beispiel EhepartnerInnen füreinander oder auch Eltern für ihre Kinder.
Aber auch wenn man einen Vertrag gemacht hat, also beispielsweise der Arbeitsvertrag eines Erziehers in der Kita.
Der Erzieher ist ja auch dann in einer besonderen Verantwortung und muss auf jeden Fall handeln, wenn ein Kind in Gefahr ist.
Man kann sich in so einer Garantenstellung aber auch befinden, weil man sich vorher pflichtwidrig verhalten hat, indem man eine gefährliche Situation geschaffen hat.
Also beispielsweise ein Feuer gemacht hat, weil dann ist man auch dafür verantwortlich, darauf aufzupassen.
Ja, und bei den GarantInnen unterscheidet man dann noch zwischen den Überwachungsgaranten und den Beschützergaranten.
Überwachungsgaranten sind dafür verantwortlich, eine Gefahrenquelle im Zaun zu halten und Beschützergaranten dagegen müssen eben dafür sorgen, dass zum Beispiel ein bestimmter Mensch nicht verletzt wird.
Also Beispiel, ich habe ja den Fussel und ich muss aufpassen, dass der Fussel keiner anderen Person ins Bein beißt, weil ich bin da Überwachungsgarant.
Wenn Fussel aber beispielsweise jetzt bei einem Spaziergang mit Laura und ihrem Mann, warum auch immer, Lauras Mann attackiert, dann muss Laura ihm helfen, weil sie als Ehefrau die Beschützergarantin ist.
Genau, aber auf Gabi und Jonas passt ja jetzt keines dieser Beispiele so richtig.
Und trotzdem sagt das Gericht, ja, hier liegt auf jeden Fall eine Garantenstellung vor, die Gabi für Jonas hatte.
Und zwar mit der Begründung, dass die ja schon eher als Familie anstatt als Wohngemeinschaft zusammengelebt haben und Jonas auch angesichts seiner Behinderung zu den beiden gezogen ist, um dort Unterstützung zu haben.
Und jetzt muss man in dem Fall auch sagen, dass die Kammer der Ansicht ist, dass das für Gabi auf jeden Fall zumutbar gewesen wäre, Jonas zu helfen.
Das Gericht erkennt zwar an, dass Gabi selbst von Heiko eingeschüchtert war und deswegen in seiner Anwesenheit keinen Rettungswagen rufen wollte, aber es hätte andere Wege und Mittel gegeben, für Jonas Hilfe zu holen.
So hätte Gabi beispielsweise nachts heimlich einen Notruf absetzen können, während Heiko schläft.
Und sie hätte auch ihre Kinder, die am nächsten Morgen zur Schule gehen, bitten können, die Behörden zu verständigen.
Dass sie das nicht getan hat, macht sie zur Mittäterin und beschert ihr das Urteil einer vierjährigen Freiheitsstrafe.
Ein gemindertes Strafmaß, das zugleich ihr umfangreiches Geständnis berücksichtigt, sowie ihre Persönlichkeitsstörung, durch die sie als vermindert schuldfähig gilt.
Gabi hatte das Unrecht ihres Unterlassens zwar erkannt, danach zu handeln sei ihr jedoch nicht möglich gewesen.
Gabi Strafe existiert zudem nur auf dem Papier.
Nach drei Jahren in U-Haft wird der Rest zur Bewährung ausgesetzt.
Sie verlässt den Gerichtssaal schließlich als freie Frau.
Ohne Handschellen.
Ohne Polizei.
Ganz anders als Heiko.
Etwa ein Jahr später.
Der Schmerz, den Jutta empfindet, ist nach wie vor groß.
Noch immer muss sie jeden Tag an ihren Sohn denken.
An das Verbrechen.
An ihrem Joni, den sie so sehr vermisst.
Dass Heiko eine lebenslange Haftstrafe verbüßen muss, schenkt der 57-Jährigen ein wenig Trost.
Es beruhigt sie zu wissen, dass der Mann, der ihrem Sohn das Leben erst zur Hölle gemacht und dann geraubt hat, nun viele Jahre hinter Gittern sitzen wird.
Doch an Heiko möchte Jutta heute in der Kulisse des Weimarer Friedhofs nicht denken.
Denn heute geht es nur um eine Person.
Um Jonas.
Seine Leiche wird umgebettet.
Nachdem LeserInnen des Spiegel Online Spenden gesammelt haben, ist es Jutta nun endlich möglich, Jonas so zu bestatten, wie sie es sich seit Jahren wünscht.
Mit Würde und Liebe.
Auf einem Friedhof ganz in ihrer Nähe.
Unter dem großen Regenschirm, mit dem Jutta sich vor dem Nieselregen schützt, der an diesem Nachmittag Ende August 2010 fällt, blickt sie auf das Grab vor sich.
Dann beobachtet sie, wie der blaue Sarg ihres Sohnes langsam darin verschwindet.
Blau war Jonas' Lieblingsfarbe.
Daher wird der Grabstein, der schon bald folgen wird, neben Jonas' Namen auch eine blaue Rose ziehen.
Jonas hätte dieser würdevolle Abschied gefallen.
Davon ist Jutta überzeugt.
Und während sie schweren Herzens mit ansehen muss, wie nach und nach dunkle Erde auf den Sarg ihres Sohnes geschüttet wird, verspürt sie zugleich Erleichterung.
In Gedanken spricht sie zu ihm.
Jetzt hast du es geschafft.
Weißt du, was mich an dem Fall so aufregt?
Ist, dass eigentlich die Behörden in dem Fall ja schon den richtigen Riecher hatten.
Die haben zwar nicht gewusst, was nicht stimmt, aber sie haben ja vorher die ganze Zeit versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Wegen dieser rechtlichen Betreuung, also um die vorzuschlagen.
Und er hat ja aber nicht geantwortet.
Und deswegen haben sie reingeschrieben, dass sie über die Sozialhilfe sprechen möchten.
Und ihn dann ja unter diesem Vorwand dahin gelockt.
Beziehungsweise, was die ja offenbar nicht wussten, den Heiko dahin gelockt.
Und das kann man denen ja nicht vorwerfen, weil die hatten ja keine Ahnung, was da passiert.
Aber das wäre für Jonas in dem Moment halt auch eine Möglichkeit gewesen.
Und vielleicht hätte da jemand dann sofort reagiert und nicht wie in dieser psychiatrischen Einrichtung, in der er das erzählt.
Und dann wird einfach nichts gemacht.
Und die beiden Peiniger, die holen den ab und alle sagen Tschüss.
Ja, das stimmt.
Also wenn man bedenkt, dass dieses Hilfsangebot, was die Behörden da machen wollten, am Ende wahrscheinlich sein Todesurteil war, weil Heiko ihn dann auf lange Sicht nicht mehr ausbeuten kann.
Und das sich vorzustellen, ist natürlich super tragisch.
Was ich mich auch die ganze Zeit gefragt habe, ist, ob dieser Heiko das schon so von Anfang an geplant hat, den armen Mann auszunutzen.
Und dann so nett zu ihm war da am Imbisswagen und ihm gesagt hat, ja, trenn dich doch von Nico, der beutet dich ja nur aus und so komm doch zu uns.
Und wenn das so gewesen ist, was man ja schon vermuten kann, weil er eben diese Persönlichkeitsstörung auch hat und keine Empathie empfindet.
Boah, dann finde ich das so eklig, ja, ihm diese falsche Hoffnung zu machen, komm zu uns, zu unserer Familie, wir nehmen dich auf.
Und dann sowas mit dem zu veranstalten, ich finde das so widerlich, ja.
Total, ja.
Und ich meine, davon würde ich jetzt mal ausgehen.
Ja.
Ja, also der hat ihn sicherlich nicht zu sich geholt, weil er dachte, ach, der Arme.
So, also nicht, wenn ich sehe, was der in der Lage ist, was der mit Menschen macht, ja.
Ja.
Mit Jonas, mit seiner Frau und mit den Kindern.
Ja.
Und da muss ich sagen, ich weiß, ich habe auch schon das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe kritisiert, ja.
Weil das so vage definiert ist.
Aber in dem Fall freue ich mich, dass es dieses Mordmerkmal gibt, weil es ja auch kein anderes Mordmerkmal gab.
Aber ich finde, dass dieser Mann genau diese Strafe verdient hat.
Weil man muss sich ja vorstellen, die ganzen Misshandlungen, die davor passiert sind, die wurden ja jetzt gar nicht verhandelt, verurteilt oder so.
Es ging ja nur um Jonas Tod.
Und da finde ich es genau richtig, dass er lebenslang in Haft kommt.
Auf jeden Fall.
Nächste Woche geht es mal wieder ins Ausland.
Wir machen einen kleinen Ausflug und gucken uns ein Nachbarland an, was zum Teil sehr verstörende Verbrechen hervorgebracht hat.
Das war ein Podcast der Partner in Crime.
Hosts und Produktion Paulina Graser und Laura Wohlers.
Redaktion Jennifer Fahrenholz und wir.
Schnitt Pauline Korb.
Rechtliche Abnahme und Beratung Abel und Kollegen.