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#156 Moordlust in nederland

Bevor wir mit unserer Folge heute anfangen, die uns mal wieder ins Ausland führt, gibt es noch News.
Genau, es gibt eine neue Folge von Schuld und Sühne, dieser Doku-Reihe auf ZDF-Info, die ich mache.
Und der Fall, den wir uns da diesmal anschauen, beginnt damit, dass ein Mann verschwindet.
Und auf der Suche nach ihm fällt der Verdacht auf eine Familie, die sich bei ihm so eine Garage angemietet hat.
Und gegen diese Familie zu ermitteln, ist ein bisschen wie in ein Wespennest zu stechen.
Denn sagen wir mal so, die Familie, beziehungsweise eigentlich ist es eher der Vater, der hat einige Leichen im Keller.
Also ein wirklich interessanter Fall.
Und ich habe mich auch ein bisschen gewundert, dass wir den hier bei Mordlust noch nicht besprochen haben.
Gibt es einige Plot-Twists.
Okay.
Und der Mann, der verschwunden ist, der hat nur eine Garage vermietet oder mehrere?
Nee, mehrere.
Es war so ein Garagen-Areal, falls du es genau wissen willst.
Ja.
Ich wollte mich jetzt schon mal ein bisschen in die Ermittlungen begeben, bevor ich mir es anschaue.
Ja, das wollte ich nämlich sagen.
Guck es doch einfach.
Okay, wann kommt es denn?
Also es ist jetzt schon in der ZDF-Mediathek anzuschauen und die TV-Ausstrahlung ist am Freitag, diesen Freitag der jetzt kommt, um 20.15 Uhr auf ZDF-Info.
Da habe ich noch nichts vor.
Und damit herzlich willkommen zu Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
Heute haben wir wieder ein Oberthema für euch, zu dem wir zwei wahre Kriminalfälle nach erzählen, über die diskutieren und mit Menschen mit Expertise sprechen.
Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von echten Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
Das machen wir auch, selbst dann, wenn wir mal zwischendurch ein bisschen ungehemmter miteinander sprechen.
Das ist für uns so eine Art Comic Relief, aber natürlich nicht respektierlich gemeint.
Wie eben schon angedeutet, haben wir endlich mal wieder ein Auslandsspezial für euch.
Dieses Mal geht es in die Niederlande, wo einige Dinge tatsächlich ganz anders laufen in Bezug auf das Justizsystem als in Deutschland.
Zum Beispiel, was die Aufgaben der Staatsanwaltschaft angeht, die Strafen oder die Gefängnisse, aber auch, was die Fälle betrifft.
Weil von so einem Fall, den ich jetzt erzähle, habe ich in Deutschland noch nie was gehört.
Oha.
Einige Namen habe ich geändert.
Und die Trigger-Warnung findet ihr in der Folgenbeschreibung.
15. Oktober 2019
Im kleinen Dorf Rünerwold, im Nordosten der Niederlande, ist es bereits dunkel.
Nur an einer Stelle wird die Hauptstraße, die durch den Ort führt, noch vom warmen Licht einer Kneipe erhält, das nach draußen scheint.
Werbetafeln an der Klinker Fassade weisen auf das prickelnde Bier hin, das in diesem Moment drinnen vom Wirt gezapft wird,
als ein junger Mann seine Kneipe betritt, den er noch nie zuvor gesehen hat.
Der Unbekannte wirkt verloren.
Ein bisschen so, als hätte man ihn in einer ihm fremden Welt ausgesetzt.
Der Gast bahnt sich langsam und unbeholfen seinen Weg durch die Bar und setzt sich schließlich auf einen der Stühle.
Als der Wirt ihn fragt, was er trinken möchte, zögert er.
Dann bestellt er gleich fünf Bier, die er eins nach dem anderen in schnellen Zügen leert.
So, als müsste er sich Mut antrinken.
Ob alles in Ordnung sei, fragt ihn der Wirt schließlich.
Da sieht ihn der Unbekannte an.
Tränen steigen ihm in die Augen und dann sagt er etwas, das am nächsten Tag in allen Zeitungen stehen wird.
Er erzählt, dass sein Name Israel sei, er geflohen ist und dass dort, wo er herkommt, noch andere sind,
die gerettet werden müssen, bevor es zu spät ist.
15 Jahre zuvor.
Heute muss sich Edino ganz offiziell verabschieden.
Der Zwölfjährige ist mit seiner Familie auf dem Weg zur Trauerfeier für seine Mutter.
Sie war zwar lange Zeit schwer krank, aber wirklich begreifen, dass sie jetzt nie wiederkommt,
kann der Junge mit dem blonden Haar und den grünen Augen noch nicht.
Genau wie seine acht Geschwister.
Die zwei älteren und die sechs jüngeren.
Als sie den Raum betreten, in dem die Gedenkfeier stattfindet,
bleiben Edino und seine Geschwister eng bei ihrem Vater Joris.
Nach und nach kommen Familienangehörige und Freundinnen zu ihnen, um ihr Beileid auszudrücken.
Einige der Gesichter hat Edino noch nie zuvor gesehen.
Doch was ihn noch mehr irritiert, ist das, was sein Vater sagt, wenn die Trauergäste seine jüngeren Geschwister begrüßen.
Sie seien die Kinder einer Bekannten, erklärt er dann.
Warum, weiß Edino nicht und er wagt auch nicht zu fragen.
Wieder zu Hause merkt Edino schnell, dass sich jetzt, wo seine Mutter tot ist, die Stimmung in der ganzen Familie verändert.
Denn sie war es, die in dem großen, verwinkelten Haus, in dem sie leben, das Gefühl von Liebe und Geborgenheit verbreitet hat.
An den Kindergeburtstagen hat sie immer dafür gesorgt, dass die ganze Familie gemeinsam feiert.
Es gab Kuchen und Geschenke.
Für seinen Vater hingegen haben schon immer andere Werte gezählt.
Statt ihnen Liebe zu geben, lädt er seinen Kindern Disziplin und Glauben.
Immer wieder sagt er ihnen, dass sie auf dieser Welt eine Mission haben.
Welche das ist, das müssten sie selbst herausfinden.
Aber wenn Edino dann entgegnet, dass er gern Fußballspieler oder Anwalt werden will, dann ist das seinem Vater nicht gut genug.
Er sei für Größeres bestimmt, meint er.
Nur, was das sein soll, das sagt sein Vater ihm nicht.
Eine akademische Laufbahn meint er aber nicht.
Denn von der Schule hält Edinos Vater überhaupt nichts.
Vieles, was die LehrerInnen Edino beibringen, sei nicht richtig, sagt sein Vater.
Und auch mit seinen KlassenkameradInnen soll Edino am besten nicht sprechen.
Sie seien kein guter Umgang.
So geht Edino nach jedem Schultag schnell nach Hause, wo er mit seinen Geschwistern in einem abgedunkelten Raum im Keller ihres Hauses im Kreis sitzt,
während sein Vater ihnen beibringt, was in seinen Augen viel wichtiger ist.
Er spricht von Gott, zu dem er einen persönlichen Draht hat, und von guten und bösen Geistern, mit denen er kommuniziert.
Manchmal lädt er die guten Geister auch in ihren Sitzkreis ein.
Vor ihrem Tod war Edinos Mutter immer das Medium.
Das bedeutet, dass die Geister, die seinen Vater gerufen hat, in ihren Körper eingekehrt sind, damit er mit ihnen sprechen konnte.
Edino hat das unzählige Male mit angesehen.
Sie hat dann die Augen geschlossen, und als sie sie wieder geöffnet hat, hat sie anders gesprochen und sich anders bewegt.
Edino versteht nicht wirklich, wie das funktionieren soll, aber wie alle seine Geschwister hat auch er immer gebannt zugesehen.
Sie alle bewundern ihren Vater, den Messias.
Doch jetzt, wo seine Mutter tot ist, sollen die Geister in Edinos Körper einziehen, hat sein Vater verkündet.
Edino weiß nicht, was genau das bedeutet, aber er möchte auch nicht fragen, weil das könnte seinen Vater wütend machen.
Edino weiß nämlich, dass sein Vater von der einen auf die andere Sekunde sehr sauer werden kann.
Zum Beispiel, wenn er ihm widerspricht oder wenn er seine Spielsachen herumliegen lässt.
Oft aber auch ganz ohne Grund.
Edino erinnert sich an einen Sitzkreis, in dem seine kleine Schwester Rieke auf dem Stuhl in der Mitte saß.
Der Vater hat sich vor sie gekniet und seinen Oberkörper nach vorne und nach hinten bewegt,
so als würde er sie wie eine Göttin anbeten.
Er hat sie ein Kind Gottes genannt.
Und dann, in der nächsten Sekunde, hat er den Stuhl mit voller Wucht umgeschmissen,
sodass seine Schwester durch den Raum flog und dann auf den Holzboden geknallt ist.
Dann hat sich sein Vater selbst auf den Stuhl gesetzt und gelacht,
während Rieke vor Schmerzen anfing zu weinen.
Sie alle, sogar Edinos Mama, saßen damals nur drumherum.
Edino hatte sich nicht getraut, etwas zu sagen.
Denn dann hätte sein Vater auf ihn eingeschlagen oder ihn gewürgt,
so lang, bis ihm schwarz vor Augen geworden wäre.
Oder er hätte Edino wieder in das kalte Zimmer auf dem Dachboden eingesperrt,
ohne ihm zu sagen, wie lange.
Manchmal sind es Tage, manchmal Wochen.
Dass so ein Umgang nicht normal ist, weiß Edino nicht.
Dadurch, dass er nie mit anderen Kindern spricht, kann er nicht einordnen,
dass das, was er zu Hause erlebt, Misshandlung ist.
Und weil Edino in seiner Klasse der Einzelgänger ist,
merkt auch niemand in seinem Umfeld, was er ertragen muss
und dass die Vormittage in der Schule sein Lichtblick sind,
bevor er zurück nach Hause muss,
wo sein Vater ihm und den anderen mit allen Mitteln seinen Glauben aufzwingen will.
Es wird noch Jahre dauern,
bis Edino begreift, dass sein Vater kein Heiliger,
sondern ein Straftäter ist
und dass Edino alles hinter sich lassen muss,
um sich selbst zu retten.
Was er auch noch nicht ahnen kann, ist,
dass es dann für einige von ihnen schon zu spät sein wird.
Etwa 15 Jahre später.
Als Mitte Oktober 2019 in einer Dorfkneipe 16 Kilometer entfernt
ein junger Mann den Wirt um Hilfe bittet,
reagiert der sofort.
Er ruft die Polizei, die nur kurze Zeit später
vor dem mysteriösen Gast steht,
der in dieser Nacht zum ersten Mal die Kneipe betreten hat.
Die BeamtInnen fragen ihn direkt nach seinem Namen und seinem Ausweis.
Der Mann sieht sie fragend an.
Er heiße Israel und sei 25 Jahre alt,
aber einen Ausweis habe er nicht.
Er wisse gar nicht, was das sei.
Die PolizistInnen sind verwirrt.
Dann muss er jetzt mit aufs Revier kommen,
wo man seine Personalien überprüfen kann.
Der Unbekannte stimmt zu.
Doch gleichzeitig warnt er die BeamtInnen vor,
dass sie sich bezüglich der Personalien
keine allzu großen Hoffnung machen sollten.
In eurer Welt existiere ich nicht.
Auf der Wache angekommen,
wird er in ein Vernehmungszimmer geführt,
wo sich ihm zwei PolizistInnen gegenüber setzen.
Sie wollen wissen, was es mit seiner Geschichte auf sich hat.
Und so fängt der Mann ohne Ausweis an zu erzählen.
Vor neun Jahren sei er mit seiner Familie
aus einer Stadt im Nordosten der Niederlande
auf einen großen Hof in Rünerwold gezogen,
von dem er jetzt geflohen sei.
Seine Familie, das seien sein Vater Joris
und seine fünf jüngeren Geschwister.
Ein Junge und vier Mädchen.
Seine Mutter sei schon lange tot
und seine drei älteren Geschwister
habe er seit Jahren nicht gesehen.
Er wisse nicht, wo sie sind oder ob sie überhaupt noch leben.
Eigentlich habe er, seit sie auf dem Hof wohnen,
auch sonst keinen anderen Menschen mehr gesehen.
Nur noch Karl,
ein Freund seines Vaters, der ihnen aushelfe.
Denn sein Vater liege seit Jahren gelähmt im Bett.
Er habe einen Schlaganfall gehabt.
Ob er Israel denn nicht in der Schule war,
wollen die PolizistInnen von ihm wissen.
Nein, sagt Israel, nie.
Nur seine älteren Geschwister,
Vincent Merle und Edino,
durften zur Schule gehen.
Alles, was er weiß,
habe er von seinem Vater gelernt.
Der habe einen direkten Draht zu Gott
und könne mit Geistern kommunizieren.
In dem Glauben sei er jedenfalls aufgewachsen.
Doch inzwischen zweifle Israel daran.
Deshalb sei er geflohen.
Und wegen der Strafen,
die der Vater ihm immer wieder auferlegt habe.
Kein Essen, kein Wasser,
manchmal war das gleichzeitig.
Deshalb mache sich Israel jetzt auch Sorgen
um seine fünf jüngeren Geschwister.
Für die BeamtInnen klingt das alles sehr abstrus.
Sie können sich nicht wirklich vorstellen,
dass ein körperlich fitter 25-Jähriger
jahrelang von einem Mann gefangen gehalten worden sein soll,
der bettlägerig ist.
Vor allem aber wundern sie sich über den Abgleich
mit den Daten aus dem Einwohnermeldeamt.
Denn auf dem Hof, von dem Israel spricht,
ist nur ein einziger Mann gemeldet.
Karl.
Laut Israel der Freund seines Vaters.
Es gibt aber keine Aufzeichnungen über einen Mann namens Joris
und seine sechs Kinder, die dort leben.
Und der Mann namens Joris hat seinen Wohnsitz in den Niederlanden
im Jahr 2009, also vor zehn Jahren, offiziell abgemeldet.
Damals war er laut der Daten auch nur Vater von drei Kindern,
nicht von neun.
Spätestens jetzt schrillen bei der Polizei alle Alarmglocken.
Eine Sonderkommission von 30 Beamtinnen wird gebildet,
die sich noch am selben Tag auf den Weg zu dem abgelegenen Grundstück macht,
das von dichten Bäumen umgeben ist.
Dahinter befinden sich große Gemüsebeete und ein Hühnerstall.
Hunde und Katzen laufen frei herum
und inmitten des Grundstücks stehen drei Wohngebäude,
an denen Überwachungskameras angebracht sind
und eine hölzerne Scheune.
Als die Beamtinnen eines der Wohngebäude betreten,
gehen sie langsam durch mehrere verwinkelte Zimmer
und vorbei an verdunkelten Fenstern.
Doch alle Räume sind leer.
Niemand scheint hier zu sein.
Da fällt den PolizistInnen ein schwerer Schrank auf,
den sie zur Seite rücken.
Dahinter offenbart sich ihnen eine weitere versteckte Tür.
Und als sie die öffnen,
blicken sie in die verängstigten Gesichter von fünf jungen Erwachsenen,
die sich in einem kleinen Raum zusammengekauert haben.
Boah, das gibt mir total die Fritzel-Vibes.
Ja, nur, dass diese Kinder,
die alle so zwischen 18 und 25 Jahre alt sind,
die sagen der Polizei ganz klar,
dass sie da nicht weg wollen.
Sie wollen nicht von ihrem Vater weg,
der mit ihnen in diesem Zimmer zwischen ihnen liegt.
Der Vater, Joris,
hat langes graues Haar und buschige Augenbrauen.
Die untere Hälfte seines Gesichts
wird von einem Vollbart bedeckt.
Er kann sich zwar nicht bewegen und kaum sprechen,
aber er versteht, was die PolizistInnen ihm sagen.
Sie sind festgenommen.
Der nächste Schritt in den Ermittlungen
liegt für die BeamtInnen auf der Hand.
Sie müssen die drei ältesten Kinder des Mannes finden.
Die drei, die auch beim Einwohnermeldeamt gemeldet sind
und deren Namen Vincent, Merle und Edino lauten.
Sie hatte man auf dem Anwesen nicht finden können.
Israel hatte den BeamtInnen gesagt,
sie seien schon vor knapp zehn Jahren plötzlich nicht mehr zu Hause aufgetaucht.
Ob sein Vater etwas mit ihrem Verschwinden zu tun habe,
wisse er nicht, hat Israel angegeben.
Nur, ob man Israel wirklich alles glauben kann,
was er sagt, ist immer noch nicht ganz klar.
Immerhin haben seine jüngeren Geschwister mehrfach betont,
dass sie nicht von ihrem Vater weg wollen
und dass er sie auch nicht gegen ihren Willen festhalten würde.
Vom Vater selbst ist nichts zu erwarten.
Er ist nicht vernehmungsfähig.
Also müssen sich die BeamtInnen auf die Suche nach den anderen Geschwistern machen.
Einerseits, um sich zu vergewissern, dass es ihnen gut geht
und andererseits, um ihre Sicht auf die Dinge zu erfahren.
Also durchforsten die BeamtInnen Polizeiakten und Melderegister in der Umgebung
und schoßen schließlich auf eine Adresse,
die nur knapp 20 Kilometer entfernt liegt.
Als die PolizistInnen dort an der Haustür klingeln,
öffnet ihnen ein verschlafener junger Mann mit Glatze und grünen Augen.
Ob sein Name Edino sei, will die Polizei wissen.
Der Mann bejaht.
Dann müsse er jetzt mit ihnen aufs Revier kommen.
Es gehe um seinen Vater Joris.
Edino wusste immer, dass dieser Moment einmal kommen wird.
Dass sein Geheimnis einmal auffliegen wird
und er weiß, dass es das einzig Richtige ist,
seinem kleinen Bruder Israel jetzt beizustehen.
Also begleitet er die PolizistInnen auf das Revier
und erzählt ihnen alles, was er jahrelang für sich behalten hat.
Dafür beginnt er in seiner Kindheit,
von der er mittlerweile weiß, dass sie alles andere als normal war.
In den Jahren nach dem Tod von Edinos Mutter
wird sein Vater immer radikaler.
Er hält sich für einen Messias,
der auserwählt ist, ein Paradies auf Erden zu errichten.
Und seine Kinder sollen seine Jünger sein.
Deshalb müssen sie in seinen Augen rein sein
und sich von bösen Geistern fernhalten.
Denn Joris ist überzeugt davon,
dass böse Geister Besitz von Menschen ergreifen können
und wenn sie das tun,
dann muss man die Menschen bestrafen,
um sie wieder reinzumachen.
Edino und seine älteren Geschwister Merle und Vincent
sind diejenigen, die in den Augen des Vaters
am häufigsten unrein sind.
Manchmal reicht es schon, wenn Edino von der Schule nach Hause kommt.
Dann wirft ihm sein Vater vor, dass er eine Mädchen hinterher gesehen habe.
Er könne es ihm ansehen, sagt Joris, und dann folgen Strafen.
Eiskalte Bäder, Schläge, Strangulation, Isolation.
Edino und seine zwei älteren Geschwister bekommen den Hass des Vaters in voller Härte zu spüren.
Denn im Gegensatz zu ihren jüngeren Geschwistern
sind sie in der Schule Teil der Außenwelt
und deshalb ganz besonders gefährdet,
sagt Joris.
Und lange Zeit glaubt Edino ihm das.
Und nicht nur das.
Er glaubt seinem Vater auch,
dass er jetzt den Platz seiner Mutter als Medium für die guten Geister einnehmen muss.
Also, dass sein Körper jetzt die Geister beherbergen darf,
wenn Joris sie ruft.
Und meist ist das der Geist seiner verstorbenen Mutter,
der in Edino weiterleben soll.
Von da an ist es Edino,
der im Stuhlkreis neben seinem Vater sitzt und die Augen schließt.
Wenn Edino die Augen dann wieder öffnet,
muss er sich so verhalten und so sprechen wie seine Mutter.
Einmal verlangt sein Vater,
dass er ihre Klamotten tragen
und Händchen halt mit ihm durch die Fußgängerzone laufen soll.
Also.
Edino ist das schrecklich peinlich,
erzählt er jetzt der Polizei,
bevor er zögerlich hinzufügt,
dass er manchmal auch mit seinem Vater im Bett schlafen musste.
Dann verstummt Edino.
Denn das, was er sagen müsste,
hat er jahrelang in der dunkelsten Schublade seiner Erinnerung versteckt.
Am liebsten würde er sie nie wieder öffnen,
doch dann fragen ihn die Polizeibeamtinnen direkt,
ist es auch zum sexuellen Missbrauch gekommen?
Die Antwort fällt Edino schwer.
Ja, sagt er schließlich leise.
Wenn er den Geist seiner Mutter empfangen musste,
dann schon.
Boah, scheiße.
Ob seine jüngeren Geschwister dieselbe Erfahrung gemacht haben,
weiß Edino nicht.
Doch die Vermutung liegt nahe,
denn neben ihm musste auch seine ältere Schwester Merle
mehrfach in die Rolle der Mutter schlüpfen.
Sie haben aber nie darüber gesprochen,
obwohl Edino mit Merle und Vincent immer die engste Verbindung hatte.
Dass sie zur Schule gehen durften, hat sie verbunden.
Edino erinnert sich auch noch genau daran,
wie sein Vater sie eines Nachmittags alleine sprechen wollte.
Dann hat er ihnen gesagt, dass Gott nicht wolle,
dass Kinder zur Schule gehen.
Dass sie das nur tun müssen,
weil die Menschen das verlangen.
Aber für ihre jüngeren Geschwister,
da hatte er sich einen Trick einfallen lassen.
Sie müssten nicht in die Schule,
wenn nie jemand davon erfährt,
dass es sie gibt.
Erst als er älter wurde,
hat Edino verstanden,
dass nach ihm keines seiner jüngeren Geschwister mehr
bei den Behörden gemeldet worden war.
Alle wurden zu Hause geboren
und keins von ihnen
durfte je alleine das Haus verlassen.
Nur ganz selten in Aufsicht des Vaters.
So wie zur Trauerfeier der Mutter,
wo Joris sie als Kinder von Bekannten vorgestellt hat.
Und im Laufe der Zeit
hat Edino noch mehr verstanden.
Etwa, dass seine Mutter Krebs hatte
und dass der Vater ihr bis zuletzt
die Behandlung verweigert hat,
weil er dachte,
dass man die Krankheit
mit purem Glauben besiegen kann.
Wow.
Ich kotze.
Ja.
Oder dass sein Vater Edino
und seinen Geschwistern,
seit sie klein waren,
wortwörtlich Geistergeschichten
in den Kopf pflanzte,
um sie an sich zu binden
und sie für seine absurden Machtspiele
zu missbrauchen.
Und vor allem,
dass sein Vater kein Messias ist
und dass es die neue Welt,
die er errichten will
und an die Edino als Kind glaubte,
nie geben wird.
Stattdessen will Edino,
als er 17 ist,
überhaupt kein Teil der Welt
seines fanatischen Vaters mehr sein.
Und wie sah diese Welt aus?
Also wie haben die da gelebt?
Hat das da niemand mitbekommen?
Waren die so abgeschieden oder wie?
Also zu dem Zeitpunkt
leben die in einem ganz normalen,
reinen Haus
in so einer niederländischen Stadt.
Auch mit einem kleinen Garten
nach hinten raus.
Also es gab auf jeden Fall NachbarInnen.
Aber die Familie hat sich wohl
komplett im Haus zurückgezogen.
Also man hat die fast nie draußen gesehen.
Krass.
Ja, man hat sich nur immer mal wieder
darüber gewundert,
dass die Mutter von Edino quasi
nonstop schwanger war.
Ja.
Und als sich Edino dazu entschließt,
zu fliehen,
sind seine älteren Geschwister,
Vincent und Merle,
schon abgehauen.
Auch sie haben es nicht mehr ausgehalten.
In dem Gefängnis,
das zwar keine Gitterstäbe
oder Schlösser an den Türen hat,
dafür aber mit psychischem Druck funktioniert.
Mit Einschüchterung und Horrorgeschichten
von der Welt da draußen,
die laut Joris böse und gefährlich ist.
Dabei kennt Edino die Welt da draußen.
Oder zumindest einen kleinen Teil davon.
Und nichts daran ist auch nur halb so schlimm
wie das, was er zu Hause ertragen muss.
Deshalb läuft auch er eines Tages von zu Hause weg.
Kommt einfach nicht mehr heim.
Ohne Plan oder Perspektive.
Aber mit Hoffnung,
dass es ja nur besser werden kann.
Nange schläft Edino auf der Straße.
Überlegt immer wieder zurückzugehen.
Einerseits, um wieder ein Dach über dem Kopf zu haben.
Andererseits, um nach seinen jüngeren Geschwistern zu sehen.
Denn der Gedanke daran,
dass er Israel und die anderen fünf Kinder
bei seinem Vater zurückgelassen hat,
ist schrecklich für ihn.
Aber gleichzeitig weiß Edino,
dass sie womöglich nicht verstehen würden,
warum er gegangen ist.
Sie waren nie in der Schule,
haben die Welt außerhalb ihres Zuhauses
nie kennengelernt.
Der Vater hat sie nie so schlimm bestraft wie ihn.
Und sie glauben noch immer an seine Geschichten,
mit denen er sie manipuliert.
An das Paradies,
dass er ihnen verspricht.
Wie soll Edino ihnen erklären,
dass nichts davon wahr ist?
Dass der Vater,
zu dem sie aufschauen,
nichts weiter ist als ein religiöser Fanatiker?
Ein Verbrecher?
Edino entscheidet sich dafür,
nach vorne zu blicken.
Er besorgt sich einen Job,
verdient sein erstes eigenes Geld.
Es geht ihm gut in dem Leben,
das er sich aufbaut.
Trotzdem ist er immer diese schwarze Wolke,
die ihn verfolgt.
Das ungute Gefühl,
seine Geschwister im Stich gelassen zu haben.
Bis ihn seine Vergangenheit eingeholt hat.
Jetzt, wo die Beamtinnen ihn aufgesucht haben,
nachdem sein kleiner Bruder Israel
den Mut hatte,
die Polizei zu rufen.
Und zum Schluss seiner Aussage
ist es Edino,
der noch eine wichtige Frage
an die PolizeibeamtInnen hat.
Er will wissen,
ob er selbst mit Israel sprechen dürfe.
Und nur wenige Tage später
findet sich Edino vor Israels Tür wieder.
Als er klingelt,
ist er nervös.
Die Brüder haben sich
neun Jahre lang nicht gesehen.
Damals war Israel 16 und Edino 17.
Heute sind sie 25 und 26.
Zwei erwachsene Männer.
Zwei Männer,
die sich jetzt,
wo sie sich endlich wieder gegenüberstehen,
gleichzeitig völlig fremd sind
und doch so nah.
Es dauert nicht lange,
bis die anfängliche Anspannung
von Edino abfällt.
Und auch Israel
scheint sich riesig zu freuen,
seinen großen Bruder wiederzusehen.
Seit seiner Flucht vom Hof
sei er ständig von Menschen umgeben,
die zwar dieselbe Sprache sprechen wie er,
die er aber oft nicht versteht,
sagt Israel.
Lange habe er diese Welt
nur aus der Ferne gekannt.
Jetzt versuche er,
alles darin aufzusaugen.
Edino kennt das Gefühl
und gleichzeitig versteht er die Sorge,
die Israel hat.
Denn Israel vermisst
seine jüngeren Geschwister.
Jahrelang haben sie zusammen
auf engstem Raum gelebt
und alles miteinander geteilt.
Doch jetzt wollen sie nichts mehr
mit Israel zu tun haben,
erzählt er.
Sie werfen ihm vor,
dass er die Polizei alarmiert hat,
dass er ihre Welt
auf den Kopf gestellt
und ihnen den Vater genommen hat.
Israel ist der Älteste von ihnen.
Er wollte Verantwortung übernehmen,
erklärte Edino.
Doch jetzt fürchtet er,
sie für immer verloren zu haben.
Edino weiß nur zu gut,
wie sich Israel fühlen muss.
Es ist derselbe Grund,
weshalb er
nicht schon früher
Verantwortung übernommen hat.
Und genau das bereut er inzwischen.
Es tut ihm wahnsinnig leid.
Er bestärkt Israel,
das Richtige getan zu haben
und er lässt ihn auch wissen,
dass er von nun an
nicht mehr alleine ist.
Edino ist für ihn da.
Und nicht nur er.
Auch Vincent und Merle,
die Edino nach seiner Flucht
von zu Hause kontaktiert hat,
stehen hinter ihrem kleinen Bruder.
Von da an verfolgen
die vier Geschwister
gemeinsam die Ermittlungen
und die Schlagzeilen,
die wochenlang
die niederländische Presse bestimmen.
Ihr Vater wird darin
als Teufel und Sektenführer bezeichnet.
Außerdem wird bekannt,
dass Joris früher Mitglied
einer strengen christlichen Sekte war,
über die er auch die Mutter der Kinder
und seinen Kumpel Karl
kennengelernt hat.
Beide sind ihm gefolgt,
als Joris die Sekte verlassen hat,
um seine eigene Religion zu gründen.
Seitdem bezeichnet sich Karl
als Joris Jünger.
Die Ermittlungen haben ergeben,
dass er regelmäßig
auf dem Hof ein- und ausging
und wusste,
unter welchen Bedingungen
die Kinder dort leben.
Trotzdem hat er ihnen nicht geholfen,
sondern Joris stattdessen
tatkräftig und finanziell dabei unterstützt,
sein psychisches Gefängnis
aufrecht zu erhalten.
Deshalb hat die Staatsanwaltschaft
nicht nur Joris
wegen Körperverletzung
und Freiheitsberaubung angeklagt,
sondern auch Karl
wegen Freiheitsberaubung.
So sitzt auch Karl
auf der Anklagebank,
als im Januar 2021
schließlich der Prozess
vor dem Landgericht
in Assen beginnt.
Joris Platz hingegen
bleibt an diesem ersten Tag
im Gericht leer.
Seine gesundheitliche Situation
sei zu schlecht,
um derzeit
einen Prozess teilzunehmen,
erklärt sein Anwalt.
Dafür sind Idino,
Israel Merle und Vincent
anwesend,
die gemeinsam
die Nebenklage
angetreten sind.
Die Anklage,
die nun verlesen wird,
beruht in weiten Teilen
auf ihren Aussagen,
die mehrere Aktenordner füllen.
Trotzdem ist es für Idino
nicht leicht,
sich anzuhören,
was er die vergangenen Jahre
erfolgreich verdrängt hat.
Die Worte der Staatsanwaltschaft
versetzen ihn nun
schmerzlich zurück
in das kleine Zimmer
auf dem Dachboden,
in dem er wochenlang
alleine eingesperrt war.
Und auch zu hören,
was seinen Geschwistern
widerfahren ist,
macht ihn traurig.
Vincent war als Kind
mehr als ein Jahr lang
von seinen Geschwistern
isoliert worden
und musste nachts draußen
in einer Hundehütte schlafen.
Und Merle hat inzwischen ausgesagt,
dass auch sie
von ihrem Vater
sexuell missbraucht wurde.
Och, Mann.
Und noch etwas bedrückt
Idino jetzt
zum Prozessstart.
Nämlich,
dass sie heute
nur zu viert hier sitzen
und nicht zu neunt.
Idino hat sich
im vergangenen Jahr
bemüht,
seinen jüngeren Geschwistern
zu erklären,
warum Joris
zur Verantwortung
gezogen werden muss
und dass das,
was er getan hat,
falsch war.
Aber die bleiben dabei.
Ihr Vater habe sie
weder misshandelt
noch eingesperrt.
Sie lieben ihn
und sollte er
freigesprochen werden,
wollen sie wieder
mit ihm zurück
auf den Hof ziehen
und ihn pflegen,
sodass alles wieder
ist wie früher.
In Idino
ruft das Unverständnis
hervor.
Gleichzeitig weiß er,
dass die fünf
ihren Vater weiterhin
regelmäßig im Gefängnis
besuchen
und sich nie
von ihm gelöst haben.
Wahrscheinlich
haben sie in der
neuen Welt
nie richtig Fuß gefasst.
Und einerseits
will Idino,
dass sie das tun,
um die Abhängigkeit
von Joris zu verlieren.
Andererseits
will er ihnen natürlich
nicht seine Meinung
aufzwingen,
denn dann wäre er
kein bisschen besser
als sein Vater.
Idino hofft einfach,
dass das Gericht
seinen Vater
schuldig spricht,
sodass sich die Frage,
ob er je wieder
mit den Jüngeren
zusammenleben wird,
überhaupt nicht stellt.
Doch ob Joris
schuldig gesprochen wird,
bleibt fraglich.
Und auch,
ob er sich
überhaupt verantworten muss,
hängt zwei Monate
nach Prozessstart
am seidenen Faden.
Denn auch bei den
kommenden Verhandlungsterminen
bleibt sein Platz
auf der Anklagebank leer.
Der 68-Jährige
sei weiterhin nicht
in der Verfassung
am Prozess teilzunehmen.
Neben seiner Lähmung
könne sein Mandant
fast nicht sprechen
und nur noch wenig sehen,
betont Joris Anwalt
vor Gericht.
Die Verteidigung
sei deshalb äußerst schwierig.
Selbst die Staatsanwaltschaft
hat sich inzwischen
dafür ausgesprochen,
das Verfahren
gegen Joris einzustellen,
weil er nicht
verhandlungsfähig sei.
Und das bestätigt
letztlich auch
ein ärztliches Gutachten.
Neben seiner
körperlichen Behinderung
sei bei dem Schlaganfall
auch Joris Sprachzentrum
im Gehirn beeinträchtigt worden.
Die Komplexität
eines Verfahrens
würde er nicht mehr verstehen
und selbst wenn,
er kann sich nur noch
mit Lauten ausdrücken.
Das reicht nicht aus,
um eine Verteidigungsstrategie
mit seinem Anwalt
zu besprechen.
Geschweige denn,
um seine Psyche
zu untersuchen.
Und so verkündet
das Gericht
schließlich
im März 2021
das,
was Edino
bereits befürchtet hat.
Das Verfahren
gegen Joris
wird eingestellt.
Er ist laut Gericht
nicht in der Verfassung,
sich adäquat zu verteidigen.
Das Verfahren
gegen seinen Helfer
Karl wird eigenständig
fortgeführt
und dieser
im Juni 2022
wegen Freiheitsberaubung
zu einer Freiheitsstrafe
von drei Jahren
verurteilt.
Joris hingegen
wird mit sofortiger Wirkung
aus der Untersuchungshaft
entlassen.
Er ist frei.
Als die Entscheidung
gefallen ist,
sieht Edino
Israel
Merle
und Vincent an.
Keiner von ihnen
scheint überrascht
über den Ausgang,
nur enttäuscht
über das je Ende
des Prozesses.
Und darüber,
dass ihr Vater
jetzt irgendwie
Recht hatte.
Sein ganzes Leben
lang hat er sich
für eine Art
Gott gehalten,
für unantastbar.
Und jetzt wird er
wirklich nicht
zur Rechenschaft gezogen.
Jetzt ist er
unantastbar
und darf sein Leben
in Freiheit
weiterleben.
Ohne Konsequenzen,
ohne Strafe.
Der einzige
Trost nach dem
gescheiterten Prozess ist,
dass Joris
nicht wie befürchtet
wieder mit seinen
jüngeren Kindern
auf den Hof zieht,
sondern in eine
Pflegeeinrichtung kommt.
Edino hofft,
dass sich seine
Brüder und Schwestern
nun doch langsam
von ihrem Vater
werden lösen können
und der Welt,
in der sie jetzt leben,
eine Chance geben.
Vielleicht können sie
die bösen Geister
der Vergangenheit
ruhen lassen.
Das ist jedenfalls
das, was Edino tut.
Sein Vater hat ihm
schon zu viel geraubt
in seinem Leben.
Seine Kindheit,
seine Freiheit
und so viel Zeit.
Damit muss jetzt
Schluss sein.
Deshalb sieht Edino
mit dem Ende des
Prozesses nicht mehr
in die Vergangenheit,
sondern wieder
nur noch in die Zukunft.
Heute ist der Vater
von drei Kindern.
Er ist Motivationsredner
und begeisterter Sportler.
Und er ist glücklich
in seinem Leben.
Denn wenn er
seine Kinder einmal fragt,
was sie werden wollen,
dann dürfen sie
alles sagen,
was sie möchten.
Sie können
FußballerInnen werden
oder AnwältInnen,
KrankenpflegerInnen
oder LehrerInnen.
Sie können sich auch
ein Beispiel
an ihrem Onkel Israel
nehmen, der inzwischen
Soziologie studiert
und ein Buch veröffentlicht hat.
Oder sie gehen
ihren ganz eigenen Weg.
Denn das ist es,
was Edino sich für sie wünscht.
Das ist es auch,
was er sich als kleiner Junge
gewünscht hat.
Und dass er seinen Kindern
diese Freiheit ermöglichen kann,
halt auch das Kind in Edino
jeden Tag ein bisschen mehr.
Also, weiß man,
wie der auf diese Idee kam,
dass der einen direkten Draht
zu Gott hat?
Also, es kam ja dann raus,
dass der in dieser
christlichen Sekte war.
Und dann wollte er aber ja
auf einmal eine eigene
Religion gründen.
Ich weiß jetzt nicht,
ob er vielleicht
eine Prophezeiung hatte.
Vielleicht hat er auch geträumt,
Gott steht vor ihm
und sagt,
du bist jetzt der Messias.
Oder er wollte halt
einfach eine Rechtfertigung
dafür haben,
für die Taten,
die er dann begeht
und dafür,
dass er sich halt aufführt,
als würde sich
die ganze Welt
um ihn drehen.
Ja, ich hätte es halt
spannend gefunden,
wenn jemand sich mal
mit seiner Psyche beschäftigt,
dass man auch mal guckt,
was da irgendwie
für Hintergründe liegen.
Aber durch seine
Verhandlungsunfähigkeit
konnte man ihn auch
nicht psychologisch evaluieren
oder sowas.
Und das finde ich
eigentlich immer
das Spannendste
an diesen Menschen,
weil die faszinieren mich
tatsächlich wirklich
ungemein.
Ich würde wirklich
immer so gerne wissen,
glauben die das selbst?
Haben die irgendeine
Störung,
was das begründet?
oder sind die halt
einfach so abgewichst,
dass sie das einfach nur
allen erzählen,
um eben Macht auszuüben?
Ich habe doch letztes Jahr
dieses Escaping Twin Flames
gesehen.
Auf Netflix lief das.
Hast du das mal angesehen?
Das ist eine Doku über ein Paar,
das vor allem in der Corona-Pandemie
so eine Online-Sekte gegründet hat.
Und die Idee dahinter ist,
dass jeder eine Twin Flame hat
und dass man die halt finden muss
und die helfen einem da halt dabei.
Was ist das,
eine Twin Flame?
Ach so,
das ist quasi deine Dualseele.
Also sozusagen die andere Hälfte
deiner Seele,
die in einem anderen Menschen ist.
Und den musst du finden,
sonst bist du nicht vollständig.
Glaube ich nicht dran.
Komisch.
Und die sagen eben,
du kannst deine Twin Flame finden,
indem man halt eine Reihe von Coachings
und so absolviert.
Die man dann bezahlt?
Die man natürlich bezahlt.
Und die man unter der Führung
von eben diesem Paar macht.
Und er,
er sieht nachher auch schon so aus wie Jesus.
Und irgendwann kommen die auch auf den Trichter,
dass die bestimmen könnten,
wer deine Twin Flame ist.
Und das Tolle an der Doku ist eben,
dass die halt ganz viele Aussteiger
in einem Interviewen,
die das halt irgendwann gemerkt haben,
weil es einfach zu krass geworden ist.
Und bei der einen war das halt eben so,
dass ihre Twin Flame halt
ein viel, viel älterer verurteilter Straftäter war.
Und sie dann das Gefühl hatte,
sie muss jetzt mit dem in einer Beziehung sein und so.
Und irgendwann hat der dann aber auch angefangen,
andere Twin Flames zusammenzuführen,
also gleichgeschlechtliche Paare
dann halt zusammenzubringen,
bei denen dann aber einer
das Geschlecht wechseln musste
und diesen Personen dann halt auch sozusagen
eingeredet wurde,
dass sie falsch sind.
Was sie dann natürlich
in so eine enorme Identitätskrise geführt hat,
weil es ja tatsächlich gar nicht so war.
Oh mein Gott.
Das ist ja komplett an mir vorbeigegangen.
Wie viele, also was ist das für ein Ausmaß?
Also wie viele Leute, würdest du jetzt sagen,
waren in dieser...
Das kann ich nicht sagen,
weil ja auch so viel online stattfindet.
Das wiederum hat aber zur Folge,
dass die Dokumentation
diese ganzen Videos von denen zeigen konnte
und auch wie er mit den Leuten redet
und was die von den Leuten verlangen und so.
Und die haben auch alles immer aufgezeichnet,
wenn die sich getroffen haben.
Also es ist wahnsinnig.
Und um zum eigentlichen Punkt zurückzubekommen,
ich würde halt super gerne wissen,
ob dieser Typ wirklich denkt,
dass er dieser Auserwählte ist.
Ich kann dir ja zumindest sagen,
was ich für ein Gefühl habe,
nachdem ich mehrere Videos angeguckt habe,
weil der hat sich nämlich auch aufgezeichnet,
wo er eben da sitzt,
in diesem Sitzkreis, von dem ich gesprochen habe,
mit seinen Kindern und auch mit seiner Frau.
Und also erst mal ist er auch ganz wild,
sieht jetzt auch schon fast aus wie Jesus.
Dann bewegt er sich ganz merkwürdig,
redet ganz komisch.
Und dann wird er wirklich von einem Moment auf den anderen
so aggressiv.
Du siehst das gar nicht kommen,
dass er dann auf einmal aufspringt
und sein eigenes Kind ja quasi fast sozusagen
gegen die Wand schubst und schlägt,
sodass sich das wirklich ernsthaft wehtut.
Im nächsten Moment nimmt er das Kind
auf den Arm und setzt sich selber da auf den Stuhl
und tröstet das.
Also es ist wirklich ganz merkwürdig.
Und die ganze Zeit,
ja, ich will jetzt nicht sagen betet der,
aber es ist so eine Art,
ja, Gebet oder Predigt oder so,
die er da hält.
Also was es mir irgendwie so für Vibes gibt,
ist, dass mit seiner Psyche
etwas nicht in Ordnung ist
und nicht, dass er das Ganze sozusagen fabriziert,
um dann Jahre später
seine Kinder sexuell zu missbrauchen.
Weißt du, was ich meine?
Ja, also ich denke mir immer,
dass wenn sie wirklich denken würden,
dass Gott ihnen das befiehlt,
dass doch dann zumindest
irgendeine Art von Widerstandsprozess
in denen passieren müsste.
Weißt du?
Wieso?
Du meinst nach dem Motto,
das kann ja nicht sein,
dass Gott mir das befiehlt?
Naja, oder selbst wenn es Gott befiehlt,
dass man dann doch trotzdem irgendwie weiß,
das ist nicht in Ordnung.
Naja, weil wenn die denken,
Gottes Wille steht über allem?
Also, aber hinterfragen die nicht, nein.
Gott, Mann, warum denn nicht?
Naja, wir wissen ja auch nicht,
ob es bei ihm nicht vielleicht doch so war.
Also was ich sagen wollte,
ich habe schon öfter mit Leuten über Sekten
und auch so Scientology und so gesprochen
und erstaunlich oft die Einschätzung bekommen,
dass die Personen zumindest
für so einen bestimmten Zeitraum ihres Lebens
für sowas anfällig gewesen wären.
Also so nach dem Motto,
wären die in dem Moment auf mich zugekommen
und hätten mir eine Lösung
für meine Probleme angeboten,
was die da ja oft machen
und weshalb das ja auch so gut funktioniert,
dann wären die leichte Opfer gewesen.
Aber wir wissen ja auch ganz genau,
dass die Sekten bei ihrer Rekrutierung
genau auf Menschen gehen,
die irgendwie angreifbar sind,
verletzlich sind oder so,
weil bei ihnen irgendwas im Leben
gerade schiefgelaufen ist
oder irgendwas Schlimmes passiert ist
und Leute nach Halt suchen.
Ja, oder was fehlt.
Bei Joris war es ja aber
nun keine professionell geführte Sekte oder so,
wo man zumindest irgendwann mal
eine Art Zustimmung für geben muss,
sondern seine Kinder
wurden da dann halt einfach reingeboren.
Ja, genau, die hatten keine Wahl.
Was ich im Fall von Joris
auch noch spannend fand, war,
dass die Staatsanwaltschaft es war,
die quasi dafür plädiert hat,
dass man seine Prozessfähigkeit überprüft.
Was ich irgendwie ein bisschen komisch fand
in Anbetracht dessen,
dass die ja kurz vorher
erst Anklage erhoben haben
und Joris auch zu dem Zeitpunkt
schon genauso krank war.
Also erst haben sie Anklage erhoben
und sich dann kurze Zeit später
für den Angeklagten eingesetzt,
was man ja eigentlich eher
von der Verteidigung erwarten würde.
Naja, das fand ich auf jeden Fall interessant
und deshalb habe ich mich noch ein bisschen tiefer
mit der Staatsanwaltschaft
in den Niederlanden beschäftigt
und dabei herausgefunden,
dass sich die Aufgaben der Staatsanwaltschaft
doch zum Teil deutlich von denen
in Deutschland unterscheiden.
Und darum geht es jetzt in meinem Aha.
Also wir wissen ja,
die Staatsanwaltschaft ist dafür verantwortlich,
Straftaten zu verfolgen,
also zu ermitteln,
mit der Polizei zusammen
und dann zu entscheiden,
ob Anklage erhoben wird oder nicht.
Und wenn es dann zum Prozess kommt,
ist es vor Gericht die Aufgabe
der Staatsanwaltschaft,
Beweise und Indizien vorzutragen
und zwar nicht nur die,
die gegen die angeklagte Person sprechen,
sondern auch die,
die für die Person sprechen.
Aber diese Aufgabe hat die Staatsanwaltschaft
auch in den Niederlanden.
Ein großer Unterschied ist aber,
dass die niederländischen Staatsanwältinnen
entscheiden dürfen,
ob überhaupt ermittelt wird.
In Deutschland gilt das sogenannte
Legalitätsprinzip.
Das bedeutet,
dass die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet ist,
jedes Verbrechen zu ermitteln.
Und das ist so,
damit nicht willkürlich entschieden wird,
welche Fälle angeklagt werden
und welche nicht.
Nun muss man sagen,
dass es auch in Deutschland teilweise
so einen Ermessensspielraum
für StaatsanwältInnen gibt,
also in bestimmten Fällen
beispielsweise von geringer Schuld
oder in denen beispielsweise
eine Schadenswiedergutmachung geleistet wurde,
kann eine Staatsanwältin
oder ein Staatsanwalt
sich auch entscheiden,
okay, das verfolge ich jetzt nicht weiter
und das Verfahren dann einstellen.
Diese Möglichkeit ist in den Niederlanden
aber weiter ausgestaltet,
als das in Deutschland der Fall ist.
Ein niederländischer Staatsanwalt
hat dem Deutschlandfunk gesagt,
dass zum Beispiel
dann nicht ermittelt wird,
wenn von vornherein klar ist,
dass es an Beweisen fehlt.
Wo ich mich frage,
wie man das denn wissen will,
wenn man gar nicht ermittelt.
Naja.
In Deutschland würde man
in so einem Fall
dann eben erstmal
in alle Richtungen ermitteln
und das Verfahren dann im Zweifelsfall
nicht zur Anklage bringen.
In den Niederlanden
werden die Ermittlungen
dann aber nicht aufgenommen.
und zwar um Zeit und Ressourcen
zu sparen.
Die Betroffenen,
also zum Beispiel Opfer
oder Angehörige der Opfer,
können die Ermittlungen
dann gerichtlich einfordern,
aber falls sie das dann nicht machen,
passiert auch nichts.
Und um noch mehr Zeit
und Ressourcen zu sparen,
dürfen Staatsanwältinnen
dort da auch quasi
selbst zu RichterInnen werden.
Also bei kleinen Delikten,
die jetzt nicht zwingend
irgendwie Gefängnisstrafen
nach sich ziehen,
also zum Beispiel
sowas wie Beleidigung
oder Sachbeschädigung.
Da dürfen die StaatsanwältInnen
selbst die Strafen verhängen.
Das sind dann zum Beispiel
Sozialstunden,
Geldbußen an den Staat
oder Entschädigungszahlungen
an die Opfer.
Und dann kommt das Verfahren
halt gar nicht erst
vor das Gericht.
Und mittlerweile werden
laut Deutschlandfunk
50 Prozent aller
strafrechtlichen Verfahren
da so geregelt.
Und damit werden die Gerichte
natürlich immens entlastet.
Aber so ein System
öffne auch Tür und Tor
für Fehlentscheidungen,
sagt Strafverteidiger
Benedikt Müller
von der Kanzlei Abel und Kollegen.
Weil wenn diejenigen ermitteln,
die auch entscheiden,
dann fehle jegliche Kontrollinstanz.
Und das ist auch ein bisschen
so bei den schweren Delikten.
Da entscheidet zwar ein Gericht,
aber in den Niederlanden
wird die Beweisaufnahme
abgekürzt.
Also das heißt,
da wird nicht jeder Zeuge
oder jede Zeugin gehört
und auch nicht jedes
Beweisstück gezeigt,
sondern da arbeiten die RichterInnen
mit so Dossiers.
Das ist dann quasi so eine Akte,
in die die Staatsanwaltschaft
und die Verteidigung
alle wichtigen Schriftstücke
und Zeug in den Aussagen
reinpackt.
Und dann schauen sich
die RichterInnen das an.
Und dann wird nur da,
wo sie irgendwie noch
Nachfragen haben,
dann der Zeuge XY gerufen
oder das Beweisstück
Beweisstück Z
dann nochmal gezeigt.
Und das hat dann zum Beispiel
zur Folge,
dass sogar ein Mordprozess
in nur einem
oder zwei Prozesttagen
abgehandelt werden kann.
Und da muss man sich ja schon
fragen,
wie sinnig das ist.
Weil okay,
die Gerichte zu entlasten,
das ist ja im Prinzip
eine gute Idee,
weil wir wissen ja auch
in Deutschland,
wie lange da teilweise
Sachen dauern.
Aber wenn das auf die Qualität
der Rechtsprechung geht,
wonach sich das ja hier
zumindest teilweise anhört,
dann ist das ja vielleicht
die falsche Herangehensweise.
Genau.
Und das wird ja auch
in den Niederlanden
von vielen RechtsexpertInnen
kritisiert.
Und auch zu Recht.
Genauso wie die
lebenslange Haftstrafe.
Die Niederlande sind
nämlich eines
von nur sechs Ländern
in Europa,
bei denen die
lebenslange Haftstrafe
eben auch genau das heißt.
Jetzt heißt zwar
lebenslang
eigentlich auch in
Deutschland lebenslang,
aber im Regelfall
hat man hier ja
nach 15 Jahren
gute Chancen,
dass der Rest der Strafe
zur Bewährung ausgesetzt wird,
wenn nicht etwa
die besondere Schwere
der Schuld festgestellt wurde.
In den Niederlanden
gibt es aber dagegen
keine Möglichkeiten
mehr aus dem Gefängnis
rauszukommen
oder irgendwelche
Resozialisierungsmaßnahmen
wie jetzt zum Beispiel
Therapie zu machen
oder so.
Und die Niederlande
stehen seit sehr,
sehr vielen Jahren
dafür in der Kritik,
genau wie die anderen Länder,
die das halt ähnlich handhaben.
Das sind Island, Litauen,
Malta, Serbien und die Ukraine.
Und warum das so kritisiert wird,
ist, dass jemanden wegzusperren,
ohne dass er die Möglichkeit
auf Freilassung bekommt,
ist laut dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte
wie Folter.
Deshalb wurde vom
Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte
im Jahr 2013 entschieden,
dass auch lebenslang Verurteilte
eine Perspektive haben müssen.
Und darauf hat man dann
2016 in den Niederlanden
auch reagiert.
Seitdem gibt es nämlich
eine Kommission,
die sich die jeweiligen Fälle
nach 25 Jahren Haft
nochmal anschaut.
Also 25 Jahre ist ja auch
schon wirklich sehr, sehr lang.
Ja.
Und dann entscheiden die,
ob die lebenslange Haft
noch begründet ist
oder ob der oder die Gefangene
nicht doch freikommen kann.
Das klingt ja erstmal gut,
aber in der Praxis
hat das skurrilerweise
eine gegenteilige Wirkung ausgelöst.
Also bevor es diese Kommission gab,
haben Richter und Richterinnen
nur selten,
also beziehungsweise wirklich
nur in den allerschlimmsten Mordfällen
diese lebenslange Haftstrafe verhängt.
gerade weil die Strafe eben so hart war
und weil es die Kritik daran gab.
Jetzt, seit es die Kommission gibt,
hat sich das aber verändert,
wie der Deutschlandfunk berichtet.
Seit es die neue Kommission gibt,
wird das Urteil lebenslang
häufiger verkündet,
heißt das dort.
Und jetzt wird es paradox,
weil obwohl die lebenslange Haftstrafe
in den Niederlanden
lebenslang bedeutet,
ist die Dauer der Gefängnisstrafen
generell viel kürzer
als im Rest von Europa.
Und das hat mehrere Gründe.
Zum einen gibt es in den Niederlanden
keine Mindestgrenze
fürs Strafmaß.
Also, wir kennen das ja aus Deutschland,
dass es in der Regel
oft eine Untergrenze gibt.
In den Niederlanden
könnten RichterInnen
aber theoretisch auch für Mord
nur einen Tag Haft verhängen,
wenn sie das irgendwie begründen können.
Zum anderen setzt man da
aber seit einigen Jahren
bei kleineren Delikten,
die jetzt ohne Gewalt stattfinden,
auf alternative Strafen.
Und dann gibt es keine Gefängnisstrafe,
sondern irgendwie gemeinnützige Arbeit
oder Hausarrest mit Fußfesseln.
Und das finde ich ganz absurd.
Also, dass man da nicht mal irgendwie
sich auf den Rahmen einigen kann.
Und ich meine, man kennt das ja schon
hier aus Deutschland,
dass es teilweise so unterschiedliche Strafen
für dieselben Delikte gibt,
dass das bei manchen Menschen
so eine Art Unrechtsempfinden verursacht.
Und ich frage mich auch tatsächlich,
ob das nicht in der Prävention
auch einen Unterschied macht.
Weil wenn man Heranwachsenden sagt,
wenn du klaust
oder wenn du das und das machst,
dann erwartet dich das Strafmaß von bis.
Und wenn du das aber gar nicht eingrenzen kannst,
ich weiß nicht,
ob das nicht einen Unterschied macht.
Ja, genau.
Also einmal das mit dem Eingrenzen,
aber auch mit diesen alternativen Strafen.
Also Hausarrest mit Fußfesseln,
ich glaube für viele Teenager,
die dann einen Computer haben,
gar nicht so schlimm.
Aber das alles führt auf jeden Fall dazu,
dass Gefangene in den Niederlanden
durchschnittlich kürzer im Gefängnis sitzen
als woanders in Europa.
Laut einer Untersuchung der Universität Lausanne
aus dem Jahr 2018
saßen Gefangene in Europa
durchschnittlich 8,5 Monate in Haft.
Und in den Niederlanden
saßen die im Schnitt nicht mal 3 Monate.
Und das heißt,
dass die Gefängnisse natürlich auch immer leerer werden.
Und zwar so leer,
dass man teilweise nicht weiß,
was man halt mit diesen Gebäuden machen soll.
Eine Lösung ist,
dass die Gefängnisplätze an Belgien vermieten.
Heißt, seit mehr als 10 Jahren
kommen belgische Gefangene
sozusagen in den Niederlanden unter.
Was ich nicht schlecht finde,
denn wir hatten ja auch schon eine Belgien-Folge
und die haben ja wirklich ganz spezielle Straftäter da gehabt.
Eine andere Lösung
und die finde ich total super ist,
die einfach zu einem XXL-Escape-Room zu machen.
Das ist so geil.
Ey, ich will unbedingt dahin.
Es gibt eins in Utrecht und Breda.
Da muss man sich dann auch
so einen orangefarbenen Overall anziehen
und dann halt innerhalb von drei Stunden da auszubrechen.
Normalerweise gehen die ja immer nur eine Stunde.
Ja, aber wahrscheinlich,
weil das halt so riesig ist und dann so viele Räume.
Ja, ja.
Und da spielen auch SchauspielerInnen mit,
die dann halt die JustizvollzugsbeamtInnen spielen.
Ich würde das auf jeden Fall 100 Prozent machen.
Ja, doch, das würde ich auch mitmachen.
Es ist so ein bisschen wie ein Videogame halt.
Nur in echt.
Ja, und es ist nochmal viel authentischer
als ein normaler Escape-Room,
weil es da nicht sozusagen so Props gibt,
die dann dahingestellt wurden
und dann wurde das alles so nachgestellt,
sondern es ist halt wirklich das Gefängnis, ja.
Ja.
Der Fall, den ich gleich erzähle,
hat auch mit einem Ausflug von Deutschland
in die Niederlande begonnen,
bei dem gefeiert werden sollte.
Aber stattdessen ist der Trip für einen jungen Mann
zum absoluten Albtraum geworden.
Einige Namen habe ich geändert.
Die Sonne hat in diesen Tagen keine Mühe,
sich durch die Wolken zu kämpfen,
denn die Sommerferien im hessischen Wetzlar
zeigen sich im August 2020 von ihrer allerbesten Seite
und Justine genießt diese in vollen Zügen.
Die 47-jährige Lehrerin mit dem langen, blonden Haar
sitzt vor ihrem Haus auf der Terrasse.
Eigentlich wollte sie joggen gehen,
aber dann gesellt sich ihr Sohn Sammy zu ihr.
Er wartet darauf,
dass das Auto seines Kumpels vorfährt
und er abgeholt wird.
Die beiden wollen gemeinsam nach Amsterdam fahren,
wo sie heute Abend in Sammys 23. Geburtstag reinfeiern wollen.
Also wartet Justine noch kurz mit Sammy.
Auch wenn sie sich schon oft von ihrem Sohn trennen musste,
will sie ihn nie ohne ausgiebige Verabschiedung ziehen lassen.
Zuletzt hat Sammy Thailand bereist, ganz alleine mit seinen 22 Jahren.
Ihr Sohn liebte Abenteuer schon immer, aber die letzte Reise war bisher sein längstes.
Er war knapp ein Jahr unterwegs, hat Land und Leute kennengelernt
und sich nebenher als Fitness- und Motivationscoach unter seinem Namen Sammy Baker
auf Instagram eine Community aufgebaut.
Mehr als 170.000 Menschen sehen ihm regelmäßig dabei zu, wie er Workouts veröffentlicht und seinen Körper in Szene setzt.
Inzwischen kann der Sunny-Boy mit dem dichten und dunklen Haar
und den braunen Augen mit Kooperationen und personalisierten Coachings sein Geld verdienen.
Durch die Zeit in Thailand hat Sammy nicht allein mit Reisen und Arbeiten verbracht,
er hat sich dort auch verliebt.
Justine hatte die junge Frau schon auf Bildern gesehen
und sich darauf gefreut, Sammys Freundin bald kennenzulernen.
Denn eigentlich war der Plan, dass Sammy im März 2020 nur für zwei Wochen nach Deutschland kommt,
um sein Visum für Thailand zu verlängern.
Und dass sie dann gemeinsam mit Justines Mann, Sammys Stiefvater,
zu dritt nach Bangkok fliegen und dort Urlaub machen.
Alles war schon gebucht, doch dann brach die Pandemie aus
und Sammy war gezwungen, in die Ein-Liga-Wohnung im obersten Stock einzuziehen.
Justine tut es zwar leid, dass sie wegen der Pandemie den Plan über den Haufen werfen mussten,
aber sie ist auch froh, dass Sammy gerade jetzt,
wo die Welt in einen Ausnahmezustand verfallen ist,
hier bei ihr ist.
Dass er jetzt nicht auch noch seinen Ehrentag zu Hause verbringen will,
kann sie gut verstehen.
Geburtstage waren für Sammy schon immer etwas Besonderes.
Und die 23 ist Sammys Lieblingszahl,
denn es ist die Rückennummer seines Basketball-Idols Michael Jordan.
Justine weiß, dass Sammy diesen Geburtstag gerade deswegen gerne größer gefeiert hätte.
Nur leider war er mit der Planung für den Trip etwas spät dran,
deshalb haben viele seiner Kumpels abgesagt.
Nur Jojo, ein Freund aus Süddeutschland, kann mitkommen.
Justine merkt, dass ihr Sohn deshalb ein wenig traurig ist und versucht ihn aufzumuntern.
Wenn er zurückkomme, dann könne er ja zu Hause nachfeiern.
Mit all seinen Kumpels.
Als Jojo schließlich vorfährt, drückt sie ihren Sammy noch einmal fest an sich.
Pass auf dich auf, sagt sie, als ihr Sohn ins Auto steigt.
Sie winkt, als die Jungs wegfahren.
Dann geht sie joggen.
Den nächsten Tag, Sammys Geburtstag, lässt Justine erstmal langsam angehen.
Ihren mittlerweile erwachsenen Sohn will Justine erstmal ausschlafen lassen,
bevor sie ihn anruft, um zu gratulieren.
Sicherlich hängt er noch etwas in den Seilen.
Erst gegen Nachmittag wählt sie seine Nummer.
Es dauert nicht lang, bis er abhebt, doch die Verbindung bricht sofort wieder ab.
Verwirrt will Justine erneut, doch diesmal geht ihr Sohn nicht mehr ran.
Komisch.
Justine schaut, was Sammy am gestrigen Abend auf Instagram gepostet hat,
doch findet nichts.
Das sieht ihm gar nicht ähnlich.
Also tippt Justine die zwei Worte in den WhatsApp-Chat, die sie immer tippt, wenn sie länger nichts von Sammy gehört hat.
Alles klar?
Normalerweise weiß er dann, seine Mutter macht sich Sorgen und er meldet sich darauf hin.
Nicht heute.
Stundenlang keine Antwort auf die besorgte Frage.
Erst spät am Abend leuchtet die Nachricht auf, die Panik in Justine aufsteigen lässt.
Sammy schreibt nur ein Wort.
Nein.
Justine klickt sofort auf den Telefonhörer.
Sie muss wissen, was los ist.
Aber Sammy nimmt wieder nicht ab.
Also sucht sie auf Instagram nach Jojo, Sammys Kumpel, und schreibt ihm eine Nachricht.
Kurz darauf hat Justine ihn an der Strippe.
Zu ihrem Entsetzen macht sich auch Jojo Sorgen um Sammy,
denn seit dem gestrigen Abend habe er ihn nicht mehr gesehen, erzählt Jojo.
Sie hätten gestern noch drei andere Freundinnen getroffen und seien zunächst essen und dann in einem Coffeeshop gewesen.
Auf dem Heimweg nach Mitternacht sei Sammy dann plötzlich komisch distanziert geworden.
Sie hätten sich gestritten und Jojo sei wütend abgezogen, erzählt der Justine.
Doch inzwischen ist seine Wut verflogen.
Er mache sich nun Sorgen, denn Sammy sei die ganze Nacht nicht zum Schlafen ins Airbnb gekommen.
Seit dem Morgen versuche Jojo bereits, ihn zu erreichen,
aber Sammy sende ihm nur kryptische Nachrichten und manchmal Standorte.
Und immer wenn Jojo dort ankomme, sei Sammy schon wieder weg.
Justine versteht das nicht.
Nichts davon sieht Sammy ähnlich.
Jojo soll weitersuchen, bittet sie ihn.
Sie müssen in Kontakt bleiben.
Den ganzen Tag versuchen Justine und Jojo ab, da mit Sammy Kontakt aufzunehmen.
Doch es scheint, als spiele Sammy ein seltsames Katz-und-Maus-Spiel.
Immer wieder sehen die beiden, dass er bei WhatsApp online ist, ohne auf ihre Fragen zu antworten.
Stattdessen schickt Sammy weiterhin Standorte, an denen er dann kurze Zeit später aber nicht anzutreffen ist.
Justines Schwester, also seiner Tante, schreibt er, dass er sich wünscht, dass sie seinen Geburtstag nachfeiern.
Auch mit seinem Vater Kai hat Sammy kurz Kontakt.
Und dann, am nächsten Tag, dem Mittwochmorgen, ruft Sammy sogar Justine an.
Doch beim Telefonat antwortet Sammy nur einsilbig.
Er wirkt verwirrt, wie weggetreten.
Auf ihre Fragen, wo er denn sei und wie es ihm gehe, geht er nicht ein.
Stattdessen fragt er sie immer wieder, was er denn jetzt machen soll.
Justine ist überfordert.
Nie hat sie Sammy so hilflos erlebt.
Sie rät ihm, Wasser zu trinken und zu schlafen, hat aber das Gefühl, dass der Rat bei Sammy gar nicht richtig ankommt.
Und dann legt er plötzlich auf.
Spätestens jetzt ist Justine klar, dass Sammy Hilfe braucht und dass sie nach Amsterdam fahren muss, um ihm zu helfen.
Doch ihre Hände zittern und ihr Herz schlägt wie verrückt.
Sie hat in den letzten zwei Nächten kaum geschlafen.
Sich in diesem Zustand hinter das Steuer zu setzen, wäre unverantwortlich.
Also vereinbart Justine mit Sammys bestem Freund Adam, dass sie gleich morgen früh nach Amsterdam fahren
und sie bittet Jojo, Sammy bei der Polizei in Amsterdam als vermisst zu melden.
Als Jojo auf der Wache ist, telefoniert Justine sogar selbst mit den BeamtInnen, die die Vermisstenmeldung aufnehmen.
Ihnen gegenüber sagt sie, dass sie nach dem Telefonat mit ihrem Sohn den Verdacht habe,
dass Sammy psychisch verwirrt sei und vielleicht ärztliche Hilfe bräuchte.
Die Polizei sichert ihr zu, dass sie alles tun wird, um Sammy zu finden.
Doch das allein reicht ihr nicht.
Sie will selbst vor Ort sein.
Und sie kommt vorbereitet.
Sammys Vater Kai hat Suchplakate gestaltet, die Justine am nächsten Tag in Amsterdam aufhängen will.
In der Mitte ist ein Foto von Sammy in dunkelrotem Polo-Shirt zu sehen.
Darüber steht in weißer Schrift auf knallrotem Hintergrund
Help, find me.
Die Plakate laminiert Justine.
Den Stapel hält sie fest in beiden Händen, als sie am nächsten Morgen mit Adam nach Amsterdam aufbricht.
Ihr Ziel ist der letzte Standort, den Sammy geschickt hat.
Ein Dönerladen, an dem sie vier Stunden später ankommen und gemeinsam weitersuchen wollen.
Beim Imbiss treffen sie sich auch mit Jojo.
Von hier an geht ihre Suche zu dritt weiter.
Und gerade als Justine das erste Suchplakat anbringen will, klingelt ihr Handy.
Es ist Sammy.
Erleichterung macht sich in ihrem Körper breit.
Sie ist hier, sagt sie ihm.
Sie will ihm helfen.
Ihn nach Hause bringen.
Sammy beginnt zu buchstabieren.
R-I-J-S.
Am Ende ergeben die Buchstaben einen Straßennamen.
Adam gibt den Standort bei Google Maps ein.
Er ist nur ein Kilometer entfernt.
Sammy soll am Telefon bleiben, sagt Justine.
Sie kommen jetzt zu ihm.
Und vor allem, er soll auf keinen Fall weggehen.
Als sie nur Minuten später mit dem Auto auf einen Parkplatz nahe des Standorts fahren, erkennt Justine ihren Sohn schon vom Weitem.
Da steht er.
Ihr Sammy.
Jetzt wird alles gut.
Jetzt kann sie ihn nach Hause bringen und er ihr erklären, was die letzten Tage passiert ist.
Als Justine Sammys schließlich in die Arme schließt, weicht die Anspannung in Sekundenschnelle aus ihrem Körper.
Sie hat ihn gefunden.
Zum Glück.
Doch Sammy löst sich schnell aus der Umarmung.
Adam und Jojo, die daneben stehen, scheint er gar nicht richtig wahrzunehmen.
Sammy ist unruhig und reserviert.
Und das ist nicht das einzige Seltsame.
Statt einer Hose hat er sich einen Kissenbezug um die Hüften gebunden.
Dazu trägt er Flipflops, ein T-Shirt, eine Sonnenbrille und eine Angel.
Wo auch immer er die Herr hat, geangelt hat Sammy jedenfalls nie.
Irritiert reicht Justine ihrem Sohn eine Flasche Wasser.
Trink was, sagt sie.
Trink du zuerst, entgegnet Sammy trocken.
Justine ist perplex, aber sie tut, was er sagt.
Dann will Sammy, dass sie ihre Handtasche öffnet, um hineinzusehen.
Justine kommt es vor, als würde ihr eigener Sohn ihr nicht trauen.
Irritiert öffnet Justine ihre Tasche und bittet Sammy gleichzeitig, seine Sonnenbrille abzunehmen.
In den großen verspiegelten Gläsern sieht sie nur sich selbst
und es ist, als können sie ihm weder in die Augen schauen, noch ihren Sohn irgendwie erkennen.
Die Situation überfordert sie.
Noch nie hat sie Sammy so distanziert erlebt.
Fast schon kalt.
Irgendwas stimmt nicht mit ihm.
Nur was kann Justine nicht greifen.
Deshalb bittet sie Jojo unauffällig, einen Krankenwagen zu rufen.
Während er sich ein paar Schritte von ihnen entfernt, versucht Justine, Sammy davon zu überzeugen, sich ins Auto zu setzen.
Kurz nimmt er sogar auf der Rückbank Platz, doch schon in der nächsten Sekunde springt er wieder heraus.
Er scheint sich eingeengt gefühlt zu haben.
Er scheint sich eingeengt gefühlt zu haben.
Justine versucht ihren Sohn zu beruhigen.
Da tritt plötzlich ein Streifenpolizist an sie heran.
Jojo hat ihn in einer Nebenstraße angesprochen und gebeten mitzukommen.
Alles in Ordnung, Sir, fragt der Mann an Sammy gerichtet.
Sammy sieht ihn an, mustert seine Uniform und plötzlich, wie von einer Tarantel gestochen, streift er sich die Flipflops von den Füßen und rennt weg.
Justine versucht noch ihn am Rucksack zu packen, aber auch den lässt Sammy von den Schultern gleiten, sodass Justine mit dem Rucksack zurückbleibt, während ihr Sohn wegrennt und der Polizist hinterher.
Sie versteht die Welt nicht mehr.
Was ist da gerade passiert?
Hat Sammy etwa Angst?
Der Beamte wird Sammy schon schnell einholen und zurückbringen, da ist sie sich sicher.
Dann wird alles gut, sagt sie sich.
Denn wenn Justine ehrlich ist, fühlt sie sich gerade selbst extrem hilflos.
Vielleicht ist Verstärkung von der Polizei gar nicht schlecht.
Bis die beiden wieder hier sind, ruft sie ihre Schwester an, um sie auf dem Laufenden zu halten.
Sie telefonieren einige Minuten, als plötzlich aus der Richtung in die Sammy abgehauen ist, ein Knall ertönt.
Und dann noch zwei.
Drei Schüsse.
Panik steigt dann Justine auf.
Ihre Schwester versucht sie am Telefon zu beruhigen, doch nichts kann das ungute Gefühl beiseite schieben, das Justine plötzlich überkommt.
Wenig später sitzt sie auf der Wache.
Die Polizei hat sie hierher gebracht.
Um Sammy abzuholen, denkt sie.
Vielleicht wurde er festgenommen.
Vielleicht ist er sogar verletzt.
Sie will ihn jetzt endlich sehen.
Nur sitzt sie bereits seit mehreren Minuten hier, die sich wie Stunden anfühlen, ohne dass jemand etwas sagt.
Bis sie endlich von zwei Beamtinnen in einen Raum geführt wird.
Der junge Mann, der vor ihr sitzt, spricht nur Englisch und ist reserviert und kühl, als er anfängt, Justine Fragen zu stellen, statt ihre zu beantworten.
Justine ist irritiert.
Wieso sagt er niemand, was mit ihrem Sohn ist?
Dann endlich beginnt der Polizist zu erzählen.
Seine KollegInnen hätten Sammy bis in den Hinterhof eines Häuserblocks verfolgt, sagt er.
Er habe ein Messer gehabt und die PolizistInnen attackiert.
Um sich zu verteidigen, hätten sie schießen müssen.
Die Schüsse habe Sammy nicht überlebt.
Justine hört zwar die Worte, aber sie glaubt sie nicht.
Sie möchte jetzt zu Sammy, sagt sie erst leise und dann immer lauter.
Sie muss zu Sammy.
Vor einer Stunde stand er noch vor ihr.
Das kann, nein, das darf nicht sein.
Da holt der Polizist etwas aus seiner Tasche und legt es vor Justine auf den Tisch.
Sammys goldene Kette, die er immer getragen hat.
Die Kette kann sie haben, sagt der Polizist, als Erinnerung an ihren Sohn.
Erst da begreift sie, Sammy wurde tatsächlich von der Polizei erschossen.
Justines Kopf schmerzt.
Sie kann nicht mehr denken.
Sie braucht Hilfe.
Ob sie bitte eine Schmerztablette haben kann, fragt sie.
Nein, sagen sie, sie dürfen ihr nichts geben.
Aber totschießen dürft ihr ja, entfernt ist Justine.
Sie solle nach Deutschland zurückfahren, sagt man ihr.
Sie könne hier nichts mehr für ihren Sohn tun.
Justine fühlt sich wie in Trance, als sie die Polizeiwache verlässt und sich zu Adam ins Auto setzt.
Am Morgen sind sie nach Amsterdam gefahren, um Sammy nach Hause zu holen.
Jetzt treten sie die Rückfahrt an, ohne Sammy, mit der Gewissheit, dass ihr Sohn nie wieder nach Hause kommen wird.
Der Gedanke daran ist grauenvoll.
Genau wie die Erinnerung an die Schüsse, die in ihrem Kopf wiederheilen.
Justine will nichts davon wahrhaben.
Doch spätestens als sie zu Hause ankommt, wo ihr Mann auf sie wartet, holt sie die Realität ein.
Wellen aus Trauer und Angst erdrücken Justine unter sich, rauben ihr in der Nacht erst den Schlaf und am Morgen die Luft zum Atmen.
Denn da bricht die Panik über Justine herein.
Sie schnappt nach Luft.
Ihr Herz schlägt viel zu schnell.
Die Panikattacke überrollt sie wie ein Traktor.
Erst der Notarzt, den ihr Mann ruft, kann sie wieder beruhigen.
Doch mit der Ruhe kommt auch die Gewissheit zurück, dass Sammy tot ist.
Was ist passiert, dass sie jetzt in diesem Albtraum gefangen sein muss?
Die Antwort auf diese Frage erhofft sich Justine in den Tagen nach Samis Tod von der niederländischen Polizei.
Doch die Behörde aus Amsterdam hält sich bedeckt.
Stattdessen ist es Justines Nichte, die im Internet eine erschreckende Entdeckung macht.
Dort kursieren mehrere Videos, die die letzten Minuten von Samis Leben zeigen.
Sie wurden offenbar von AnwohnerInnen gefilmt, von deren Balkon man die Szene beobachten konnte.
Keiner aus ihrer Familie will, dass Justine sich die Aufnahmen ansieht.
Zu verstören seien sie, sagt man ihr.
Aber Justine will zumindest wissen, was man darauf sehen kann.
Sie will wissen, was Sammy eigentlich getan hat, dass man ihn töten musste.
Und das ist das Merkwürdige, sagt ihre Nichte.
Eigentlich nichts.
Die Aufnahmen sind aus großer Entfernung und aus verschiedenen Winkeln gemacht worden,
aber sie lassen sich zu einer Szene zusammensetzen.
Zunächst versteckt sich Sammy hinter Büschen.
Vor ihm stehen vier Beamte, von denen einer mit einer Waffe auf Sammy zielt.
Nach einiger Zeit geht Sammy ganz langsam, wie in Zeitlupe, auf die Männer zu
und hält sich dabei einen Gegenstand an den Hals.
Was das ist, kann man aus der Entfernung nicht erkennen.
Die Polizisten fordern ihn währenddessen mehrfach auf, stehen zu bleiben.
Sie sind jetzt nur noch zu dritt und zählen alle drei mit ihren Pistolen auf Sammy.
Doch er reagiert nicht auf ihre Befehle, sondern läuft langsam weiter auf sie zu,
während sie jetzt rückwärts gehen.
Der Abstand zwischen ihm beträgt zu diesem Zeitpunkt mehrere Meter.
So, und was man dann auch hört, ist, dass die Polizei sagt,
stay still, otherwise we're gonna shoot.
Also das heißt, sie warnen ihn schon davor, dass sie schießen werden, wenn er jetzt weitergeht.
Was aber meiner Meinung nach auch ganz deutlich im Video zu hören ist.
Also ich höre das und andere Medien haben das auch geschrieben,
dass Sammy auf Deutsch nach einem Arzt fragt.
Das ist aber nicht so ganz hundertprozentig, ja.
Also er sagt, offenbar kann ich einen Arzt haben und die Polizei verneint das.
Obwohl man auf den Videos auch erkennen kann, dass ein Rettungswagen in der Nähe ist
und dass ja nicht nur die vier PolizistInnen vor ihm da sind, sondern insgesamt mindestens elf vor Ort sind.
Einer von ihnen führt einen Hund an der Leine und tritt jetzt von hinten an Sammy heran.
Der Hund zieht seinen Halter energisch in Sammys Richtung,
doch als sie nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt sind, läuft der Hund einfach an Sammy vorbei.
Eine Sekunde später packt der Hundeführer Sammy von hinten und wirft ihn mit Gewalt zu Boden.
Was ab da passiert, ist wegen der Büsche nicht mehr erkennbar.
Auf einem der Videos sieht man nur noch Sammys Arme und Beine, mit denen er in der Luft um sich schlägt und tritt.
Man hört, wie er aus Leibeskräften schreit.
Plötzlich wird der am Boden liegende Sammy in Sekundenschnelle von mehreren PolizistInnen umringt.
Dann hört man drei Schüsse.
Justine ist schockiert, als sie von den Aufnahmen im Internet hört.
Allein die Vorstellung daran, dass es Videos von den letzten Minuten ihres Sohnes im Netz gibt, findet sie furchtbar.
Andererseits, vielleicht könnten die Aufnahmen auch eine Chance sein.
Eine Chance aufzuklären, wieso die BeamtInnen Sammy überhaupt mit Waffen bedroht haben.
Warum sie geschossen haben, obwohl er wehrlos am Boden lag.
Das ist es jedenfalls, was Justine hofft.
Doch in der Presse lösen die Videos die gegenteilige Reaktion aus.
Und zwar deshalb, weil die Medien offenbar wissen, was der Gegenstand war.
Den Sammy sich an den Hals gehalten hat.
Deutscher Influencer läuft mit Messer durch Amsterdam.
Titelt die Bild einen Tag nach seinem Tod.
Im Text ist die Rede von einem 30 Zentimeter langen Chefmesser, mit dem Sammy die PolizistInnen bedroht haben soll.
In einer niederländischen Zeitung spricht der Amsterdamer Polizeichef höchstpersönlich.
Sammy habe die Weste eines Polizisten zerstochen.
Die Einsatzkräfte hätten in Notwehr handeln müssen.
Damit ist sich die Öffentlichkeit in den Kommentarspalten einig.
Sammy war eine Gefahr für die Allgemeinheit und die Polizei hat getan, was sie tun musste.
Wahrscheinlich hat er Drogen genommen, mutmaßen einige.
Und das bricht Justine das Herz.
Allein die Tatsache, dass Sammy nicht mehr bei ihr ist, ist kaum zu ertragen.
Aber ihn gleichzeitig als Verbrecher darzustellen, als Schuldigen, der es nicht anders verdient hat,
das hält Sammys Mutter wirklich nicht aus.
Denn so war es sicher nicht, meint Justine.
Und das wird sie allen beweisen.
Sie wird den Ruf ihres Sohnes wiederherstellen und die Ungerechtigkeit aus dem Weg schaffen.
Das Gefühl der Verzweiflung verstärkt sich noch mehr, als Justine das erste Mal den Obduktionsbericht in den Händen hält.
Denn dort steht, dass in Sammys Körper keine harten Drogen nachgewiesen wurden.
Lediglich ein minimaler THC-Wert wird festgestellt.
Ein Restwert.
Am Montagabend hatte sich Sammy mit vier Freundinnen, vier Joints und zwei Space Cakes geteilt.
Unter dem Einfluss von Drogen hat er, als er erschossen wurde, also nicht gestanden.
Womöglich hatte der Cannabiskonsum aber eine Psychose ausgelöst, vermutet Justine.
Das ist die einzige Erklärung, die sie für sein Verhalten auf dem Parkplatz hat.
Sie denkt, dass Sammy ab da schon paranoid war und dass er selbst ihr, seiner Mutter, misstraut hat.
Er muss sich verfolgt gefühlt haben.
Deshalb wollte er die Sonnenbrille nicht absetzen.
Und deshalb ist er vor der Polizei geflüchtet.
Die Frage, die Justine jetzt umtreibt, ist, wieso hat die Polizei das nicht erkannt?
Warum wurde, bevor die Situation eskalierte, keine ärztliche Hilfe geholt,
wo Sammy doch offensichtlich völlig neben sich stand?
Offenbar hatte er sich ja sogar selbst bedroht.
Mit einem Messer, das Justine ihrem Sohn vor etwa zehn Jahren geschenkt hat,
wie sie nach mehrmaligem Nachhaken bei der Polizei erfährt.
Auf den Fotos, die sie geschickt bekommt, erkennt sie das Messer nämlich deutlich.
Nur ist es kein 30 Zentimeter langes Küchenmesser, wie die Medien schrieben,
sondern ein 16 Zentimeter langes Klappmesser.
Justine versteht das alles nicht.
Woher kommt diese Fehlinformation?
Und wenn Sammy die Polizei wirklich mit einem Messer bedroht hätte,
wäre es dann nicht möglich gewesen, ihn zu entwaffnen, statt ihn zu erschießen.
Spätestens jetzt ist sie sich sicher, irgendwas stimmt hier nicht.
Und selbst wenn sie noch trauert und sie weiterhin Panikattacken heimsuchen, weiß sie,
sie muss jetzt stark sein für Sammy.
Sie will endlich wissen, wer dafür verantwortlich ist, dass er getötet wurde.
Wer wann welches Kommando gegeben hat und wer die tödlichen Schüsse auf ihren Sohn abgefeuert hat.
Doch alles, was sie aktuell tun kann, ist die Füße stillzuhalten.
Das rät ihr zumindest der Anwalt, den sie sich zusammen mit Sammys Vater Kai genommen hat.
Die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft in Amsterdam und der Reichsrecherche,
einer speziellen Polizeieinheit auf nationaler Ebene, sind noch in vollem Gange.
Vielleicht wird ja bald Anklage gegen die PolizistInnen, die den Einsatz im Hinterhof geleitet haben, erhoben.
Das ist jedenfalls, was Justine sich wünscht.
Doch abwarten und Tee trinken kann sie nicht.
Sie will vorher wissen, was passiert ist und kratzt sich gemeinsam mit Sammys Vater Informationen zusammen.
Die wenigen, an die sie teils von der Reichsrecherche, teils vom Internet bekommt,
lassen sie fassungslos zurück und die Version der Polizei immer unglaubwürdiger erscheinen.
Denn nicht nur die Länge des Messers, das Sammy bei sich hatte, wurde von der Polizei falsch an die Presse weitergegeben.
Auch die Behauptung des Polizeichefs, dass Sammy die Weste eines Beamten zerstochen hat, ist nicht richtig.
Forensische Untersuchungen der Reichsrecherche haben ergeben, dass die besagte Weste vollkommen unversehrt war.
Und auch der Polizeihund, der dafür ausgebildet ist, aggressives Verhalten zu erkennen und abzuwehren,
hat in Sammy offenbar keine Gefahr erkannt.
Sonst wäre er im Innenhof nicht an ihm vorbeigelaufen.
Außerdem hat Justines Anwalt von der leitenden Staatsanwältin erfahren,
dass zwei Beamte auf Sammy geschossen haben.
Und einer von ihnen hat direkt danach sein Handy gezückt und Sammy beim Sterben gefilmt.
Warum, kann sie beim besten Willen nicht erklären.
Hinzu kommt, dass nur einer von den BeamtInnen im Hinterhof eine Bodycam getragen hat.
Und ausgerechnet die soll nicht funktioniert haben.
Das sagt jedenfalls die niederländische Polizei.
Und Justine hat mittlerweile auch Kontakt zu dem anwesenden Rettungssanitäter aufgenommen,
dessen Wagen man im Hintergrund auf einem der Videos erkennen kann.
Per Mail erfährt Justine, dass der Mann nicht nur die nötige psychologische Zusatzausbildung hatte,
um Sammy womöglich zu helfen.
Dem Sanitäter zufolge habe er sich vor Ort bei den BeamtInnen erkundigt,
ob er Kontakt zu Sammy aufnehmen dürfe.
Doch die PolizistInnen hätten ihn ignoriert, sagt er.
Je mehr Justine und Sammys Vater Kai in Erfahrung bringen,
desto mehr festigt sich ihr Eindruck, dass bei dem Einsatz,
bei dem Sammy ums Leben gekommen ist, einiges schiefgelaufen ist.
Für Justine liegt es auf der Hand.
Es muss einen Prozess geben und diejenigen zur Verantwortung gezogen werden,
die den Einsatz im Hinterhof geleitet haben.
Aber als sie im Mai 2021, neun Monate nach Sammys Tod,
Nachricht von der leitenden Staatsanwältin erhält,
fällt Justine aus allen Wolken.
Dort heißt es, dass die Einsatzkräfte vor Ort sehr wohl erkannt hätten,
dass Sammy wahrscheinlich an einer Psychose leide.
Deshalb habe man auch einen Verhandlungsführer hinzuziehen wollen.
Aber weil Sammy dann auf die Beamten zugegangen sei
und ein Messer in der Hand gehabt habe,
sei die Situation unsicher gewesen.
Deshalb habe man nicht auf den Verhandlungsführer warten können
und stattdessen den Hundeführer eingesetzt, der schon vor Ort war.
Als der Sammy zu Boden geworfen habe,
hätten mehrere BeamtInnen gesehen,
wie Sammy mit dem Messer in Richtung der zu Hilfe eilenden BeamtInnen gestochen habe.
Aus Angst um deren Sicherheit hätten zwei von ihnen geschossen.
Aber die Männer haben in Notwehr gehandelt,
schlussfolgert die Staatsanwältin.
Deshalb sehe sie keinen Grund darin,
die Polizisten strafrechtlich zu verfolgen.
Sie wird keine Anklage erheben.
Die Sache ist erledigt.
Einfach so.
Justine kocht vor Wut.
Wie kann es sein, dass all die Versäumnisse,
die sie bereits aufgedeckt und an die Staatsanwaltschaft weitergegeben hat,
einfach unter den Teppich gekehrt werden?
Das wird sie nicht auf sich sitzen lassen.
Sammy war keine Gefahr für die Polizei,
da ist sie sich ganz sicher.
Immerhin ist auf den Videos zu erkennen,
dass er sie nicht angreift und sich nur ganz langsam bewegt.
Die ganze Zeit ist er ruhig,
bis der Hundeführer ihn umgenietet hat.
Und das muss ich hier an dieser Stelle jetzt einmal wirklich sagen,
weil es ist ja so schwer,
irgendwas zu beschreiben,
was man auf dem Video sieht und so.
Also es ist tatsächlich so,
als ich das erste Mal gelesen habe,
was auf dem Video zu sehen sein soll,
ich schon davon ausgegangen bin,
dass Sammy zumindest irgendeine Art bedrohliche Situation kreiert hat
für die PolizistInnen da vor Ort.
Aber die sind einfach relativ weit weg.
Er geht ganz langsam mit dem Messer an seinem Hals.
Die umzingeln ihn.
Und dieser Polizist,
der kommt wirklich von hinten angeschossen,
tackelt ihn so gewaltsam um.
Woraufhin der erschrockene Sammy natürlich anfängt zu schreien
und auf dem Boden liegt.
Und dann kommen alle und dann wird geschossen.
Und es hat mich so erschrocken,
als ich das Video gesehen habe,
weil du denkst wirklich,
du bist in einem falschen Film.
Also es ist furchtbar.
Vor allem, also meine Frage ist,
der, der den so umgetackelt hat,
hat er den nicht auch dann zu Boden gedrückt?
Also der hat ihn zu Boden gebracht.
Dann kamen aber gleich die anderen.
Und was genau passiert, das sieht man ja nicht.
Nur, dass Samis Arme und Beine ja irgendwann in der Luft sind.
Also der liegt da auf dem Rücken.
Und die Polizisten sind alle über ihm.
Also dann stellt sich für mich noch mehr die Frage,
wieso dann geschossen wird,
weil man ja dann denkt, die Gefahr ist gebannt.
Die Gefahr, dass Samy sich vielleicht selber wehtut
oder jemand anderem.
Ja, die Polizei sagt ja jetzt,
er hätte in die Richtung gestochen noch mit dem Messer.
Das könnte natürlich eine Gefahr für die dargestellt haben.
Aber die Frage ist,
wieso ist es überhaupt erst so weit gekommen?
Und Justine fragt sich,
wie kann Samy jetzt als Schuldiger dargestellt werden,
obwohl er doch offenbar Hilfe brauchte?
Es muss eine andere Möglichkeit gegeben haben,
um Samy ruhig zu stellen, als ihn zu töten.
Und Justine will, dass das jeder weiß.
Deswegen entscheiden sie, Kai und ihr Anwalt,
sich dazu Zivilklage einzureichen.
Allerdings rät der Anwalt,
dass sie zuvor Gutachten von unvoreingenommenen ExpertInnen
erstellen lassen.
Und die können dauern.
Erst zwei Jahre später, im Sommer 23,
haben Justine und Kai alle Dokumente zusammen.
Zwei Jahre, in denen der Kampf für Gerechtigkeit
zu Justines Hauptaufgabe geworden ist.
Sie hat sich mit Familien vernetzt,
deren Kinder ebenfalls Opfer von Polizeigewalt geworden sind.
Gemeinsam mit Kai hat sie einen Friedensmarsch
durch ihre Heimatstadt Betzlar organisiert,
bei dem 200 Menschen erschienen sind.
Sie hat bei einer Mahnwache und bei einer Demo
gegen Polizeigewalt in Amsterdam gesprochen
und sie ist mehrfach an den Ort zurückgekehrt,
an dem Sammy sterben musste.
Dort hat sie einen Gedenkstein angebracht,
auf dem die Zahl 23 eingraviert ist.
Jedes Jahr zu seinem Todestag
legt sie dort Blumen nieder.
Auch wenn es ihr schwerfällt,
da zu stehen, wo Sammy einst erschossen wurde.
Warum er erschossen wurde,
das versteht Justine auch drei Jahre später noch immer nicht.
Erst recht nicht nach den Gutachten,
die sie in Auftrag gegeben hat.
Bereits zwei Experten aus den Niederlanden,
ein Polizeisoziologe und ein Psychiater,
sind zu dem Schluss gekommen,
dass es sehr wohl andere Möglichkeiten gegeben haben muss,
Sammy festzusetzen und ihm zu helfen.
Zum selben Urteil kommt auch der deutsche Strafverteidiger
und Kriminologe Dr. Thomas Feldes,
den Justine und Kai mit einem dritten Gutachten beauftragt haben.
Für seine Untersuchung hat er sogar
weite Auszüge aus der Akte der Staatsanwaltschaft einsehen können.
Genau natürlich wie die Videos, die im Internet kursieren.
Als Justine liest,
was der Experte über Samis letzte Minuten zu sagen hat,
wird ihr Herz schwer.
Denn sie lassen weder den Einsatz
noch die Ermittlungen in einem guten Licht dastehen.
Zum einen wurden mehrere wichtige Personen,
die am Einsatz beteiligt waren
oder ihn gesehen haben, nie vernommen.
So zum Beispiel mehrere AnwohnerInnen,
die die Szene von ihren Balkonen beobachtet haben.
Aber auch einige PolizistInnen,
die am Einsatz beteiligt waren.
Aufgrund der Akten lässt sich für den Gutachter
nicht einmal nachvollziehen,
wie viele PolizistInnen letztendlich daran beteiligt waren.
Es müssen mehr als 16 gewesen sein,
die im, aber auch rund um den Hinterhof bereitstanden.
Die genaue Zahl wird von den Behörden
allerdings unter Verschluss gehalten.
Noch mehr kritisiert Dr. Feldes aber das Verhalten
der PolizistInnen, die im Innenhof zugange waren.
Denn mehrere von ihnen gaben zu Protokoll,
das für sie klar ersichtlich war,
dass Sammy sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden hat.
Und trotzdem wurde er von den PolizeibeamtInnen
in eine Sackgasse gedrängt und bedroht.
Feldes hat nämlich herausgefunden,
wie Sammy überhaupt erst in diese Situation gekommen ist.
Offenbar hatte er versucht,
bei der Flucht vor dem Polizisten
über einen meterhohen Zaun zu klettern.
Dabei wurde er laut Akte
von einem Beamten mit Pfefferspray attackiert.
Eine Taktik, die bei psychisch verwirrten Personen
zu Panik führen kann, erklärt der Kriminologe.
Nach dem Angriff mit dem Pfefferspray
versteckte sich Sammy etwa zehn Minuten
hinter mehreren Büschen im Hinterhof.
Zu dieser Zeit war die Situation ruhig und unter Kontrolle.
Die Polizei hätte hier auf einen Verhandlungsführer warten
oder zumindest den Rettungsdienst hinzuziehen können.
Oder Justine, die ja nur 200 Meter entfernt war.
Doch die Polizei entschied anders.
Statt die Situation weiter zu deeskalieren,
bewegten sich vier Polizisten auf Sammy zu.
Einer von ihnen mit erhobener Waffe.
Man habe Sammy, der sich das Messer an den Hals hielt,
vor sich selbst schützen wollen,
hieß es später von Seiten der Polizei.
Dr. Feldes hingegen glaubt,
dass man damit das Gegenteil bewirkt habe.
Die Beamten setzten Sammy unter Druck.
Ein Fehler, der nicht hätte passieren dürfen, sagt er.
Denn Stress kann bei psychisch beeinträchtigten Personen
dazu führen, dass sie vollkommen die Orientierung verlieren
oder in einen Kampfmodus umschalten.
Sammy erhob sich dann aus den Büschen.
Der Moment, in dem die BewohnerInnen anfingen zu filmen.
Als er nun mit dem Messer am Hals einen Schritt auf die Polizisten zuging,
gingen diese nun rückwärts, um den Abstand zu wahren.
Manche PolizistInnen haben ausgesagt,
dass Sammy mit dem Messer ihre KollegInnen bedroht hat.
Doch dafür gibt es auf den Videos keine Anhaltspunkte,
urteilt der Gutachter.
Sammy wirkt eigentlich die ganze Zeit gelassen,
bis der Hundeführer ihn von hinten überrascht und gewaltsam zu Boden reißt.
Seiner Aussage zufolge hat er Sammy angegriffen,
weil er sich von Sammy bedroht gefühlt hatte.
Warum, das kann der Experte anhand der Aussagen und der Videos nicht nachvollziehen.
Und das wundert mich auch,
denn Sammy hat den Hundeführer zwar einmal gesehen
und hat ihn einmal angeguckt,
aber der Hundeführer kam ja von hinten.
Also, dass sich der Hundeführer bedroht gefühlt hat,
das halte ich wirklich für unwahrscheinlich, ja.
Was passiert ist, nachdem Sammy zu Boden ging,
ist schwer einzuschätzen.
Sammy strampelt.
Auf einem Video sieht man, dass sieben Polizisten dazukommen.
Einige haben die Waffe gezogen.
Die Situation ist unübersichtlich.
Noch dazu kommt,
dass sich die Aussagen der beteiligten PolizistInnen widersprechen.
Ein paar der BeamtInnen,
die letztlich um den am Boden liegenden Sammy herumstanden,
haben ausgesagt,
dass der Hundeführer mit Sammy auf den Boden gefallen ist.
Zumindest das lässt sich aber anhand der Videos nicht belegen.
Denn dort sieht man den Hundeführer nach seinem Angriff noch stehen.
Was man nicht erkennen kann,
ist, ob Sammy auf dem Boden noch das Messer in der Hand hatte
und wenn ja,
ob er damit in Richtung der BeamtInnen gestochen hat.
Das ist es aber,
was einige der PolizistInnen aussagen.
Andere wiederum wollen das nicht gesehen haben.
Fakt ist,
dass nach etwa sieben Sekunden,
in denen Sammy am Boden liegt und schreit,
drei Schüsse fallen.
Einer trifft ihn im Oberarm,
der andere, der tödlich ist, im Rumpf.
Der dritte geht daneben.
Beide Schützen werden identifiziert.
Nur wer von ihnen den tödlichen Schuss abgegeben hat,
wird nicht weiter untersucht.
Dabei wäre das notwendig,
sagt Feltes im Gutachten.
Schon allein,
um die Motivation des Todesschützen weiter zu untersuchen.
Stattdessen stellt der Experte fest,
dass die BeamtInnen immer wieder teilweise wörtlich
gleiche Aussagen gemacht haben,
um die Schussabgabe zu rechtfertigen.
Feltes vermutet,
dass sie untereinander abgestimmt wurden.
Die ErmittlerInnen haben das,
soweit der Gutachter es nachvollziehen kann,
nicht weiter untersucht,
was für den Experten zumindest den Eindruck erweckt,
dass einseitig und zugunsten der Polizei ermittelt wurde.
Weiterhin schreibt der Kriminologe
von wenig objektiven und oberflächlichen Untersuchungen
und davon,
dass die Einstellung der Ermittlungen
in seinen Augen nicht gerechtfertigt sei.
Vielmehr habe die Amsterdamer Polizei bei dem Einsatz im Hinterhof gegen Grundprinzipien im Umgang
mit psychisch gestörten Personen verstoßen
und damit Semis Tod wesentlich verursacht.
Als Justine das über 70 Seiten lange Dokument aus der Hand legt,
fällt ihr ein Stein vom Herzen.
Hier steht schwarz auf weiß,
was sie schon lange sagt.
Bei dem Einsatz hat die Polizei auf ganzer Linie versagt.
Sie hat die Situation verschärft,
statt sie zu deeskalieren.
Und seitdem wird der Fehler der Polizei
von den Behörden heruntergespielt,
statt Verantwortung zu übernehmen
für den Tod eines jungen Mannes,
der im Hinterhof die Hilfe der Anwesenden gebraucht hätte.
Und dabei wäre es gut möglich gewesen,
ihm zu helfen
oder die Situation zumindest zu deeskalieren.
Auch das macht das Gutachten von Feldes klar.
Und auch ein weiteres vom Forschungsteam
Forensic Architecture,
das sich für die Aufklärung von staatlicher
und unternehmerischer Gewalt einsetzt,
kommt zu dem Ergebnis,
Sammy war keine Gefahr.
Vier Gutachten von unterschiedlichen ExpertInnen
lassen bei Justine und ihrer Familie
nur einen Schluss zu.
Sammy wäre wahrscheinlich noch am Leben,
wenn die Polizei anders reagiert hätte.
Justine und Kai sind sich sicher,
dass auch ein Gericht
zu derselben Einschätzung kommen würde.
Deshalb haben sie sich inzwischen entschlossen,
den Prozess nicht nur zivilrechtlich weiterzuführen,
sondern auch strafrechtlich
gegen die beteiligten PolizistInnen vorzugehen.
Anfang 2024, also dieses Jahres,
haben sie am Gericht in Amsterdam Klage eingereicht.
Zivil und strafrechtlich
und mit der Hoffnung,
die sie von vornherein hatten,
dass der Tod ihres Sohnes aufgeklärt wird.
Was sie antreibt,
ist der Gedanke an Sammy.
Denn nur wenige Wochen vor seinem Tod
hat er zu seiner Mutter gesagt,
dass er einmal etwas hinterlassen will
auf dieser Welt.
Damals hat Justine zu ihm gesagt,
dass er dafür noch alle Zeit der Welt habe.
Heute weiß sie,
dass dem nicht so war.
Deshalb will Justine
nun seinen Namen bekannt machen.
Sammy Baker.
Als Zeichen gegen Polizeigewalt in den Niederlanden,
aber auch in Deutschland.
Denn Sammy ist nicht das einzige Opfer.
Auch wenn er sich sicherlich etwas anderes vorgestellt hat,
für Justine hat Sammy bereits etwas hinterlassen.
Er war ein loyaler Freund,
ein begeisterter Sportler,
ein liebevoller Enkel und Neffe
und der beste Sohn,
den sie sich hätte wünschen können.
Dass sie auch die beste Mutter war,
hat Sammy Justine kurz vor seinem Tod
auf eine Karte geschrieben.
Egal ob Muttertag oder nicht,
du bist und bleibst die beste und tollste Mom für mich.
Love you to the moon and back.
Steht dort und jetzt auch auf Justines Unterarm als Tattoo.
So, als hätte er seine Handschrift auch dahinter lassen.
Ein Leben ohne Sammy fällt Justine auch heute noch schwer.
Nur ein Gedanke spendet Justine inzwischen beinahe schon Trost.
Nämlich, dass sie ihre Angst vor dem Tod verloren hat.
Denn sie weiß, wenn der Tag einmal kommen sollte,
dann wird sie Sammy wiedersehen.
Und wenn sie ihn dann fragt, ob alles klar ist,
dann wird er diesmal sagen,
ja Mama, alles klar.
So wie er es vor Amsterdam immer getan hat.
Also dieser Fall, der macht mich so wahnsinnig,
weil ich mich die ganze Zeit frage,
was ist alles schiefgelaufen
an diesem Amsterdam-Trip, ja.
Also erstens mal, dass es Sammy so schlecht auf einmal ging
und keiner irgendwie weiß, was genau passiert ist
und wie das da zustande kam.
Und dann, dass die Polizei ja eigentlich helfen sollte,
weil sie auch dachte, er ist jetzt eine Gefahr für sich selber,
weil er eben das Messer an seinen Hals gelegt hat.
Und eigentlich sind so viele Leute um ihn herum,
die irgendwie helfen können.
Und die Konsequenz der ganzen Geschichte ist,
dass er getötet wird.
Hä?
Also ich meine, wir kennen ja diese Geschichten schon,
aber so wie du das jetzt erzählt hast,
dass alle so weit von ihm entfernt standen
und eigentlich es gar nicht diese Eskalation gebraucht hätte,
Also es ist einfach so sinnlos,
weil es hätte einfach nicht passieren müssen.
Ja, weißt du, dass mich der Fall
total an den Neptunbrunnenfall erinnert.
Ja, ja, ja, ja, ganz schlimm.
Und das war ja da auch so,
dass sich ein psychisch verwirrter Mann
mit einem Messer selbst verletzt hat,
von dem eigentlich keine akute Gefahr
für andere ausging.
Also zumindest gab es dafür keine Anzeichen, ja.
Und der war nur mit sich selbst beschäftigt,
bis dann ein Polizist zu ihm in den Brunnen gestiegen ist.
Und dann ist der Mann auf ihn zugegangen.
Also ähnlich diese Situation,
dass die beiden auf jemanden zugegangen sind von der Polizei,
die wurde erst durch die Polizei geschaffen, ja.
Um fair zu bleiben, ja.
Also man weiß ja auch nicht immer,
ob die Personen nur eine Gefahr für sich selbst sind
oder im Zweifel dann auch für andere
irgendwann eine darstellen können, ne.
Aber beim Neptunbrunnen,
da hatte der Polizist den Schuss nicht mal angekündigt,
was er eigentlich hätte tun müssen.
Das war jetzt hier, war hier anders, ne, bei Sammy.
Ja.
Aber damals gab es ja eben auch die Debatte darum,
was man sonst hätte machen können mit dem Mann.
Und ob man ihn nicht anders hätte entwaffnen können zum Beispiel.
Und da hatten wir ja gesagt, ne,
also man kann jemanden, der sich auf einen zugewegt,
womöglich noch rennt,
so einer Person kann man das Messer nicht aus der Hand schießen.
Und niemand erwartet es ja vom Polizist,
dass sie sich selbst in Gefahr bringen, ne.
Aber uns hatte damals auch jemand von der Berliner Polizei erzählt,
dass zumindest dieses Video vom Neptunbrunnen intern,
da bei Schulungen und in der Ausbildung gezeigt wird,
um zu demonstrieren, wie man sich nicht verhält.
Ja.
Ja.
Und was man bei dem Einsatz auf jeden Fall anprangern kann,
ist, es wurde nicht der sozialpsychiatrische Dienst gerufen,
der eben auf solche psychischen Notfälle spezialisiert ist,
oder das SEK.
Und das hätten die schon tun müssen.
Und das wurde eben auch im Fall von Sammy ganz klar versäumt.
Und dafür muss sich die Polizei auf jeden Fall kritisieren lassen.
Und ja, jeder kann mal Fehler machen in seiner Arbeit.
Aber wenn man solche Fehler macht,
und die Konsequenz daraus ist, dass jemand stirbt,
dann, finde ich, muss man genauso zur Verantwortung gezogen werden,
wie andere Menschen, die anderswo Fehler machen.
Und wenn so viele ExpertInnen das ganz klar festhalten,
dass es eben ein Fehler war und falsch gehandelt wurde,
dann, finde ich, muss die Justiz da jetzt auch handeln.
Und wir werden euch hier natürlich auch darüber auf dem Laufenden halten.
Wir werden das auch immer von Justine erfahren.
Denn wir stehen mit ihrem Kontakt.
Und viele Infos, die ich jetzt im Fall erzählt habe,
die haben wir auch direkt von Justine bekommen,
haben auch Unterlagen von ihr bekommen.
Und Justine hat nochmal für uns zusammengefasst,
wie es ihr heute geht.
Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Sammy denke,
mich etwas an ihn erinnert, eine Situation, ein Song
oder mich etwas triggert, was ich nicht mehr gut aushalte.
Das Ganze ist so schlimm für mich als Mama, für uns als Eltern,
für die ganze Familie.
Ein Mord kostet immer mehrere Leben.
Und für mich war es ein Mord.
Und es ist nach wie vor einfach unfassbar,
wie die Gegenseite mit der ganzen Situation umgeht.
Dass kein Schuldeingeständnis da ist,
dass in den Zeugenaussagen die Polizisten und Polizistinnen
sich noch als Helden darstellen.
Das versetzt mir als Mutter einen zusätzlichen Schmerz
und einen Stich ins Herz.
Ich würde viel lieber in Ruhe trauern.
Das kann ich aber nicht.
Und das können wir nicht, weil wir kämpfen müssen.
Und das ist ganz schlimm,
dass uns da auch noch Steine in den Weg gelegt werden.
Ja, und das ist ja genau das, was den Fall noch mal tragischer macht.
Für mich auch.
Also, dass Steine schon mit diesem schrecklichen Tod ihres Kindes umgehen muss
und dann aber noch on top das Gefühl bekommt,
keiner interessiert sich dafür,
dass ihr Sohn da irgendwie psychisch verwirrt war
und man als Polizei hätte anders reagieren müssen.
Ja, und deswegen ist es Justine und Samis Vater Kai halt auch so wichtig,
Aufmerksamkeit zu bekommen.
Deswegen haben sie natürlich auch mit uns gesprochen
und wir packen euch die Internetseite,
die Justine auch regelmäßig updatet,
in unsere Folgenbeschreibung.
Da solidarisieren sich die beiden auch mit anderen Familien,
die halt Ähnliches erlebt haben,
weil Samis Fall auch kein Einzelfall ist
und der Umgang mit psychisch verwirrten Menschen
für die niederländische Polizei offenbar seit Jahren eine Herausforderung ist,
die leider dann auch tödlich enden kann.
Und darum geht es jetzt in meinem Aha.
Dass die niederländische Polizei immer wieder überfordert ist,
wenn es um Einsätze mit psychisch verwirrten Menschen geht,
hat 2022 eine Studie von vier niederländischen KriminologInnen ergeben.
Die ExpertInnen hatten dazu alle Akten der Fälle besorgt,
in denen Polizeieinsätze in den Niederlanden für Verdächtige tödlich ausgingen.
Das waren 50 zwischen 2016 und 2020.
Und von den 50 Getöteten waren 42, also 84 Prozent,
psychisch verwirrte Personen, also Menschen mit einer psychischen Erkrankung
oder die sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben.
Und wie vorhin gesagt, wir haben darüber ja auch schon mal bei Mordlos gesprochen.
In Folge 43 war das.
Und was die KriminologInnen in der Studie auch nochmal herausgestellt haben,
ist, dass Personen in psychischen Ausnahmesituationen
eine besondere Behandlung durch die Polizei brauchen,
weil sie eben zum Beispiel schnell in Panik verfallen
oder sich auch manchmal selbst bedrohen.
Und für solche Situationen ist die Polizei aber oft gar nicht ausreichend ausgebildet
und dann halt eben oft selbst damit überfordert.
Gerade halt eben, wenn ihr Gegenüber bewaffnet ist und womöglich dann auch unberechenbar ist.
Weil so eine Situation kann natürlich auch schnell eskalieren
und auch für die PolizistInnen gefährlich werden.
Und es erwartet ja wirklich niemand, dass die sich selbst in Gefahr bringen.
Das möchte ich hier auch nochmal ganz deutlich sagen.
Wir haben auch schon damals betont, dass man einer sich bewegenden Person
nicht das Messer aus der Hand schießen kann oder so.
Ja, das sieht man im Film, aber in echt geht das natürlich nicht.
Und das auch nochmal gerade erwähnt, nachdem am Wochenende der Polizistrufen L verstorben ist,
der durch einen Messerangriff getötet wurde.
Das ist ein gefährlicher Job.
Ja, gar keine Frage.
Nicht, dass wir uns das nachher anhören müssen, dass wir das nicht sehen.
Nur war halt die Situation mit Sammy eben eine andere.
Und wenn man dann aus Selbstschutz zur Waffe greift, anstatt medizinische Hilfe zu rufen,
wird das ein Problem.
Und gerade weil meist zu SpätexpertInnen dazugeholt werden,
enden solche Zusammentreffen zwischen Polizei und psychisch verwirrten Personen häufiger tödlich,
als wenn die verdächtige Person psychisch stabil ist.
Zu diesem Schluss kommt zumindest die Studie aus den Niederlanden.
Wie oft so eine Fälle in Deutschland vorkommen, dazu gibt es keine offiziellen Zahlen,
also zumindest nicht von der Polizei.
Dafür hat die Süddeutsche Zeitung 2022 eine große Untersuchung zu dem Thema durchgeführt.
Und die kommt zu dem Ergebnis, dass von 133 Menschen,
die zwischen 2010 und 2022 von der Polizei getötet wurden,
mindestens 70 psychisch krank waren, verwirrt waren oder unter Alkohol- oder Drogeneinfluss standen.
Das sind ja rund 52 Prozent.
Und nochmal zum Vergleich, in den Niederlanden waren es ja über 80 Prozent.
Also wir sehen, da ist das Problem schon größer.
Ob das damit zu tun hat, dass die PolizistInnen in den Niederlanden quasi schlechter als bei uns in dem Bereich ausgebildet sind.
Oder ob das damit zusammenhängt, dass dort halt viel konsumiert wird.
Also wegen des Drogentourismus, auf den wir gleich auch nochmal eingehen, ob das irgendwie ein Problem ist.
Dass deswegen mehr psychisch verwirrte Menschen mit der Polizei aneinander geraten.
Das ist halt aus dieser Studie jetzt nicht hervorgegangen.
Aber in den Niederlanden geht man das Problem bei der Polizei auch schon an.
Laut des investigativen niederländischen JournalistInnen-Netzwerks VPRO sind seit 2015 schon mehrere Taskforces gebildet worden,
die zum Ziel haben, dass sich PolizistInnen in solchen Situationen sicherer fühlen und dementsprechend besser mit ihnen umgehen können.
Und vor allem die Situation auch regeln, ohne zur Waffe zu greifen.
Allerdings sagt die Studie ja auch, dass die Zahlen dann letztlich im letzten Jahr der Untersuchung 2020 angestiegen sind.
Deswegen hofft man aber jetzt natürlich auch, dass sich da jetzt nochmal mehr verändert und dass diese Studie jetzt auch ein Umdenken bewirkt.
Und immerhin gibt es auch schon eine Veränderung.
Seit 2023 arbeitet die Niederländische Polizeiakademie nämlich mit einem Experten aus der Praxis zusammen,
der vorher 13 Jahre lang Menschen in psychischen Krisen beraten hat.
Und der hat jetzt ganz neue Lehrmaterialien geschaffen, die jetzt in der Grundausbildung der Polizei verankert sind.
Er rät zum Beispiel, dass sich die BeamtInnen anstelle dieser fremden Person, die vor denen steht,
bei dem einen Satz eine geliebte Person vorstellen sollen.
Also zum Beispiel ein Familienmitglied, das jetzt Hilfe braucht,
weil man so sensibler und empathischer mit dem Gegenüber umgeht.
Halt mit Personen wie Sammy, der ja auch ganz deutlich Hilfe gebraucht hat.
Was ich mich ja schon öfter mal gefragt habe, aber noch nie getraut habe, hier zu äußern,
weil das sich schon im ersten Moment ein bisschen schräg anhört ist.
Also warum kann man Menschen, die mit einem Messer bewaffnet sind,
nicht mit einer Art Betäubungsfeil außer Gefecht setzen?
Also zum Beispiel mit, weiß ich nicht, du weißt wie bei Tieren,
also irgendwie, dass man die mit Propofol oder sowas betäubt.
Naja, die Frage ist, ob das dann in dem Moment tatsächlich die Situation so schnell entschärft.
Also wirkt es dann so schnell, dass die Person, von der die PolizistInnen ja sagen,
dass sie Angst davor haben oder dass die eine Bedrohung ja nicht nur unbedingt immer für die selbst,
sondern auch für andere Personen darstellen kann,
dass die Situation dann so schnell entschärft wird.
Und das glaube ich dann halt eben tatsächlich nicht,
weil im Zweifel, weil die müssten ja dann theoretisch zwei Waffen dabei haben,
weil du brauchst natürlich auch noch deine Schusswaffe.
Es gibt ja noch ganz viele andere Situationen, wo sich die Polizei selbst
oder halt auch eben andere Leute verteidigen muss.
Ja klar, das kann auch gefährlich werden, wenn das nicht schnell genug wirkt.
Aber ich kann mir halt einfach nicht vorstellen, dass es nichts gibt,
was man alternativ machen kann, als einen Mann totzuschießen.
Ja.
Ja, reicht doch den Vorschlag mal bei der Polizei ein.
Ich sehe da in unserem Regal schon bald neben dem Podcast Hobbylos und Spotify
auch bald den Friedensnobelpreis stehen.
Also was ich echt sagen muss, dass ich das wirklich wahnsinnig schwierig finde,
dass man eine Person, die schon am Boden liegt, die ja offenbar auch nicht aufstehen kann,
ich meine, der lag ja da wie ein Käfer, dass man die erschießen muss.
Das ist einfach so.
Also ich weiß, da wird jetzt auch unsere Instagram-Seite wieder geflutet werden,
warum das doch nur diesen Ausweg gab.
Wütende Nachrichten bitte an Ed Mordlos, der Podcast.
Aber das hat schon auch einen Grund, wieso es denn da so einen Aufschrei gab.
Also zusätzlich zu diesen ganzen falschen Informationen auch,
die von der Polizei rausgegeben wurden.
Also Stichwort hier die Jacke und wie groß das Messer war und so.
Da hat Justine übrigens auch durchsetzen können,
dass so eine Berichterstattung darüber rausgenommen wird.
Und ob er das Messer noch in der Hand hatte zu dem Zeitpunkt,
der Sammy, als er am Boden lag, das wissen wir nicht.
Können wir nicht beurteilen.
Aber wird hoffentlich der Prozess, den die jetzt angestrebt haben, zutage bringen.
Aber ob Sammy eine Psychose hatte, das ist aber ja nicht offiziell festgestellt worden, oder?
Nee, weil der konnte ja nicht mehr untersucht werden, bevor er erschossen wurde.
Deswegen weiß man es natürlich nicht genau.
Aber es spricht ja ziemlich viel dafür.
Also er hatte ja diese Symptome, Misstrauen, Orientierungslosigkeit und so.
Und dass es sich bei ihm vielleicht um eine Psychose gehandelt haben muss.
Das wurde sogar im Obduktionsbericht vermerkt.
Und dann liegt es jetzt natürlich auch nahe, dass man denkt,
der erste Abend in Amsterdam könnte dafür verantwortlich gewesen sein.
Weil er war ja im Coffeeshop mit seinem Freund und hat ja da auch gekifft.
Cannabiskonsum kann ja das Risiko einer Psychose eh steigern.
Und Menschen, die regelmäßig kiffen, sind sowieso anfälliger.
In welchem Ausmaß, das hat die Forschung aber noch nicht sicher feststellen können.
Das trifft auch Sammy nicht zu, weil er offenbar nicht regelmäßig gekifft hat.
Justine hat uns erzählt, dass er auch so unter seinen Freunden immer der Fahrer war.
Und halt auch nie Probleme mit seiner Psyche vorher hatte.
Was jetzt natürlich passiert sein kann, ist, dass das Gras irgendwas in seinem Körper getriggert hat,
was diese Psychose dann ausgelöst hat.
Was Samys Mutter auch vermutet ist, dass er in den Tagen vor seinem Tod kaum geschlafen hat.
Und zusätzlich war es dann ja auch noch super heiß in Amsterdam.
Und das könnte tatsächlich die psychotischen Symptome über den Tag hinweg auch noch verschlimmert haben.
Ich finde das richtig beängstigend, weil das ja dann so ein bisschen zeigt, dass es eigentlich theoretisch jedem passieren kann.
Also, dass es eben dann nicht so daran festgeknüpft ist, dass man eben regelmäßig Drogen konsumieren muss oder sowas,
um eine Psychose dadurch zu entwickeln.
Und es gibt ja viele Menschen, die man auch kennt, die nach Amsterdam genau deswegen fahren, um das eben mal zu machen, mal in den Coffeeshop zu gehen, mal zu kiffen.
Ja, jetzt wahrscheinlich weniger, zumindest weniger Deutsche.
Stimmt.
Also, ich war schon mal in Amsterdam, fand die Stadt mega.
Aber mich hat es jetzt nicht in den Coffeeshop gezogen.
Also, mich schon.
Nicht in Amsterdam, aber in Seattle.
Und für mich war das wirklich der absolute Horror.
Also, ich weiß, das wirkt bei jedem anders, ne.
Aber, also, ich fand das so schlimm.
Und ich war in so einem beschissenen Film gefangen.
Und ich war auch richtig panisch, dass das nie wieder aufhört.
Und vor allem, dass ich nie wieder arbeiten kann.
Daran habe ich die ganze Zeit gedacht.
Und dann habe ich mir im Kopf immer überlegt, wie würde ich jetzt eine Mordlustfolge aufbauen?
Oh Gott, das ist ja richtig Horror.
Ja, wirklich.
Also, für mich ist es gar nicht.
Und wie lange war es dann sozusagen diese Wirkung?
Also, wie lange hat das dann angehalten, dass du auch so ein bisschen Schiss hattest,
dass das jetzt nicht wieder weggeht?
Ja, drei Jahre.
Nein.
Gefühlt drei Jahre.
Also.
Es fühlt sich doch alles so ewig anders.
Ich dachte gerade, es fühlt sich doch alles so ewig anders.
Ja, aber in Wirklichkeit meine ich jetzt.
Ich kann es dir nicht mal sagen.
Also, wahrscheinlich.
Stunden.
Ja.
Du hast ja schon gesagt, es wirkt ja bei jedem anders, ne.
Oder glaubst du, dass es dann nicht gutes Zeug war?
Nee, das glaube ich nicht.
Das waren ja Coffeeshops.
Das ist ja da auch legal gewesen, wo ich das gemacht habe und so.
Also, das wirkte auch alles professionell.
Und meine Freunde, die da bei mir waren, meinten ja auch immer, das ist ganz normal.
Und das hört irgendwann wieder auf.
Du glaubst es halt nicht in dem Moment.
Also, ich in dem Moment nicht.
Ja.
Aber ich bin mir ganz sicher, das hat gar nichts mit der Qualität des Zeugs zu tun gehabt.
Ja.
Was ich spannend finde und gar nicht wusste, ist, dass in Amsterdam jetzt zum Beispiel die
Polizei diese Coffeeshops regelmäßig überprüft und auch checkt, ob alle Auflagen eingehalten
werden, was ja irgendwie auch ein gutes Zeichen ist.
Also jetzt zum Beispiel, dass keine harten Drogen wie jetzt LSD oder Koks verkauft wird
und auch nicht mehr als fünf Gramm Cannabis pro Kunde oder pro Kundin pro Tag.
Und wer den Check da besteht, bekommt dann so ein rechteckiges grün-weißes Siegel,
dass sich die Ladenbesitzer dann so ins Fenster kleben müssen.
Was aber nicht kontrolliert wird, ist, woher das Cannabis kommt.
Und das ist ein bisschen absurd, also in den Niederlanden, weil der Anbau und die Einfuhr
verboten sind.
Also das bedeutet, dass die Coffeeshops ihr Gras quasi auf dem Schwarzmarkt einkaufen, die
Polizei da aber dann beide Augen zudrückt.
Das finde ich total bescheuert.
Wenn du schon irgendwie so reingehst in die Legalisierung oder Entkriminalisierung von Cannabis,
dann finde ich, sollte man halt auch den Anbau mit im Auge behalten, ja.
Ja, damit man da vielleicht auch diese Checks machen kann, ne?
Und das sicher halt irgendwie für alle machen will.
Es gibt da auch natürlich nur so Vermutungen, warum die Polizei das halt eben seit Jahren
duldet.
Also einerseits, weil sich sonst die ganzen Coffeeshops beschweren würden, weil die natürlich
dann keine Ware mehr in großen Mengen bekämen.
Und andererseits, wenn man seit Jahren nach Lösungen für dieses Problem sucht, also irgendwelche
legalen Wege für den Anbau und den Ankauf von Cannabis schaffen will.
Aber bisher ist da eben noch nichts passiert und so lange macht man da halt eben keinen Fass
auf und keiner checkt, woher das jetzt irgendwie kommt.
Ja, und dann ist Cannabis halt auch nicht die einzige Droge, die in die Niederlande importiert
wird.
Denn die Niederlande sind neben Belgien der größte Drogenumschaltplatz Europas.
Also gerade Koks wird da von Lateinamerika am häufigsten in diesen riesigen Containern versteckt
nach Rotterdam und Anwerpen geschmuggelt und dann halt weiter in Europa verteilt.
Und das machen ja dann nicht so Einzelpersonen, sondern das ist ja dann schon so richtig organisiert.
Eine Gruppe, die da so ganz groß im Business ist, ist die Mokromafia.
Das ist so ein richtiges Drogenkartell.
Das kann man sich schon ein bisschen wie bei Narcos vorstellen, wo auch wirklich über Leichen
gegangen wird.
Also im September 2019 wurde zum Beispiel der niederländische Anwalt Dirk Wiersum auf
offener Straße erschossen.
Und knapp zwei Jahre später der Investigativjournalist Peter de Vries.
Diese beiden Männer sind da ins Fadenkreuz gelangt, weil die ganz nah an Nabil B. dran waren.
Und das war der Kronzeuge im größten Prozess gegen diese Mafia.
Wiersum war halt der Anwalt von dem und Dirk Wiersum war für Nabil B. so eine Art Vertrauensperson
und Berater.
Und bei dem Prozess ging es natürlich nicht um die beiden Opfer, aber um sechs andere Morde
und vier Mordversuche.
Nach drei Jahren wurden im Februar 2024 dann auch der Mafia-Boss und sein Handlanger zu lebenslangen
Freiheitsstrafen verurteilt.
Und wir wissen ja jetzt, dass das auf jeden Fall 25 Jahre im Gefängnis heißt.
Ja, und das Urteil im Mordfall Peter de Vries fällt voraussichtlich diesen Sommer.
Vielleicht erzählen wir den Fall ja auch nochmal hier im Podcast.
Der hat die Niederlande nämlich richtig erschüttert, weil das quasi so ist, als wäre hier in Deutschland
Rudi Zerne wegen einer Recherche erschossen worden.
Und was natürlich auch super interessant daran ist, ist, dass der Fall natürlich eine Diskussion
über das Thema Pressefreiheit in den Niederlanden ausgelöst hat.
Also vielleicht machen wir dann nochmal einen Abstecher in die Niederlande in Zukunft.
Ja, und der de Vries, der hat ja in ganz vielen Fällen, also über ganz viele Fälle berichtet,
spannende Fälle und bei manchen auch richtig quasi eingegriffen.
Also da könnte man auch so ein bisschen ausschwärmen, wenn wir jetzt den Fall erzählen würden,
in seiner Arbeit und die anderen Fälle, bei denen der irgendwie involviert war.
Jo.
Für heute ist jetzt ja aber erstmal Schluss.
Ja, tot ziens.
Das war ein Podcast der Partner in Crime.
Hosts und Produktion Paulina Graser und Laura Wohlers.
Redaktion Isabel Mayer und wir.
Schnitt Pauline Korb.
Rechtliche Abnahme und Beratung Abel und Kollegen.