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Willkommen bei Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
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Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
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Mein Name ist Paulina Kraser.
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Und ich bin Laura Wohlers.
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In jeder Folge erzählen wir einen bedeutsamen, wahren Kriminalfall nach,
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ordnen den für euch ein, erörtern und diskutieren die juristischen,
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psychologischen oder gesellschaftlichen Aspekte
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und sprechen mit Menschen mit Expertise.
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Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von echten Menschen.
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Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
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Das machen wir auch, selbst dann, wenn wir zwischendurch mal ein bisschen abschweifen.
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Das ist für uns immer so eine Art Comic-Oleaf,
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aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
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Und ich entschuldige mich jetzt schon,
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denn meine Stimme hört sich wahrscheinlich noch nerviger an als sonst, weil ich krank bin.
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Bevor wir mit der heutigen Folge starten, die ziemlich gruselig anfängt,
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würde ich gerne passend dazu mit dir über Horrorfilme reden.
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Was hältst du von Horrorfilmen?
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Also wenn man ein Gefühl hervorrufen möchte auf Zwang,
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funktioniert das mit Horrorfilmen bei mir, glaube ich, ganz gut.
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Ich habe dieses Jahr, glaube ich, zwei Horrorfilme gesehen.
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Weißt du, ich finde, viele Horrorfilme sind einfach schlecht gemacht,
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aber ich bin natürlich auch nicht im Game drin.
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Ich glaube, es gibt sehr viele gute Horrorfilme,
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aber es ist kein Genre, was großes Ansehen genießt und auch keins,
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was ich jetzt viel gucke, weil ich eh so eine Person bin,
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eigentlich vorm Schlafen gehen lieber nochmal unter das Bett gucken würde.
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Ja, und gerade deswegen finde ich das so interessant,
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dass du trotzdem immer mal wieder Horrorfilme guckst und die ja sogar auch im Kino anschaust.
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Nur unter Zwang.
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Ja, also ich habe einmal The Nun gesehen.
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Das war gezwungen und ich habe mir die Hände vor das Gesicht gehalten
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und mir wurden die Arme runtergerissen.
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Also das war wirklich grauenhaft, dieser Film.
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Aber kennst du zum Beispiel Der Verbotene Schlüssel mit Kate Hudson?
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Das ist ein Horrorfilm, den hatte ich sogar damals auf DVD, weil ich den so gut fand.
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Also den würdest du mir empfehlen?
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Weil ich will eigentlich auch keine Gruselfilme gucken.
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Ich hätte das dann alles gemacht als Teenager, ne?
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Wo das dann was Besonderes ist und cool oder so.
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Vor allen Dingen, wenn du einen Horrorfilm guckst, der von der FSK-Freigabe, also nicht deinem Alter entspricht, ne?
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Aber das war doch früher auch immer so eine Art Mutprobe, oder?
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Man hat sich dann so mit Freunden getroffen, um das zu gucken.
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Ich habe es dir ja auch schon mal erzählt, dass ich damals jahrelang verstört war, nachdem wir Der Exorzismus von Emily Rose geguckt haben.
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Ja, so sinnfrei.
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Ja, das ist irgendwie eine Art Mutprobe.
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Keiner will es, glaube ich, wirklich machen, aber dann ist es so, ja, aber wir sind doch cool.
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Und dann haben wir sogar einmal, sind wir in einen Wald gefahren, in so eine Hütte, die hat dem Vater von einer Freundin gehört, so eine ganz kleine Hütte.
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Und dann haben wir extra dann uns nur getroffen, um einen Horrorfilm oder mehrere Horrorfilme in dieser Nacht in dieser Hütte zu gucken.
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Meine damalige Mitbewohnerin hat ja auch leidenschaftlich gerne Horrorfilme geschaut.
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Und ich fand das immer ganz interessant.
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Es gibt tatsächlich auch Studien dazu, warum man das macht.
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Also das nennt sich diese Freizeitangst.
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Also quasi, dass man sich eine Angst zum Vergnügen aussetzt, wenn man in einer sicheren Umgebung ist.
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Und das ist natürlich der Fall, wenn man irgendwie auf der Couch sitzt oder so.
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Und ich glaube, da sind wir mit dem Podcast ja auch nicht so weit weg von.
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Das spiegeln uns ja auch viele HörerInnen.
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Und das liegt an diesem ausgeschütteten Dopamin, weil wir dann in diesen Kampf- oder Fluchtmodus wechseln.
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Und das wiederum sorgt dann dafür, dass das Hirn quasi runterfährt und Stress abfällt.
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Und das fand ich voll interessant, weil man bei diesen Studien auch herausgefunden hatte, dass offenbar regelmäßiger Horrorfilmkonsum eine Art Bootcamp für die Psyche sein kann.
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Und dass man dadurch quasi eine psychologische Resilienz erhöhen kann.
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Weißt du, wie eine Art Konfrontationstherapie.
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Also ist dein Rezept hier jetzt, dass die Leute mehr Horrorfilme anschauen sollten?
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Ja, das weiß ich nicht.
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Das kommt natürlich auf die Person an.
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Aber sollten sich Leute jetzt denken, ich will davon jetzt mehr gucken.
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Welcher war der schlimmste Horrorfilm, den du je gesehen hast?
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Für mich ist es immer besonders schlimm, wenn so eine paranormale Ebene dazukommt.
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Deswegen war für mich immer The Ring am schlimmsten.
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Genau, also mit Zorn und sowas, das macht mir irgendwie nichts.
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Aber diese paranormalen Sachen finde ich grauenhaft, ja.
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Irgendwie spannend, aber irgendwie auch naheliegend, dass wir jetzt mit Gewaltdarstellung umgehen können.
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In dem wirklich unfassbaren Fall, den wir gleich erzählen, geht es auch um Horrorfilme und um die Frage, ob sie Menschen zu TäterInnen machen können.
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In der Erzählung haben wir alle Namen geändert und die Triggerwarnung findet ihr wie immer in der Folgenbeschreibung.
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Schieb es nicht auf die Filme.
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Niemand wird durch sie wahnsinnig.
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Zitat aus dem Horrorfilm Scream.
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Naja, das ist auch so eine verpackte, vorauseilende Rechtfertigung, ne?
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Also wenn in einem Horrorfilm jemand sagt, von Horrorfilmen wird man nicht wahnsinnig.
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Wollen sich von aller Verantwortung schon mal gleich am Anfang lossprechen.
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Rosenmontag 2002.
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Die roten Straßenlaternen, die rechts und links entlang der Hauptstraße stehen, werfen ihre Lichtkegel auf die Bürgersteige wie kleine Spotlights.
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Und die Menschen, die in dieser Nacht aus dem Bus an der Haltestelle St. Emmeram steigen, könnten in einem Film mitspielen.
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Aufwendig maskiert und in bunten Kostümen wanken sie nach Hause.
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Die meisten von ihnen haben eine der Faschingsveranstaltungen des kleinen Städtchens in der Nähe von Augsburg besucht.
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Laut starkes Lachen schwappt aus den geöffneten Türen des haltenden Busses und verhallt sofort, als die Grüppchen sich auflösen und jeder den Heimweg antritt.
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Beobachtet wird die nächtliche Szene von einer Figur, die etwas abseits steht.
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Ohne lang zu zögern heftet sich die dunkle Gestalt, die als tot verkleidet ist, mit wehendem schwarzen Umhang an die Fersen einer Frau.
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Bei der Verfolgung durch die angrenzende Siedlung prüft der ganz in schwarz gekleidete Mann immer wieder, ob seine Maske noch richtig sitzt.
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Seine Jagd endet vorläufig an einem Gartentor, als die junge Frau schnellen Schrittes in einem Hauseingang verschwindet.
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Der Maskierte zieht weiter und verschafft sich schließlich Zutritt zu einem Garten.
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Den Mann zieht es zum hell erleuchteten Fenster, wie eine Motte zum Licht.
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Gespannt beobachtet er die zwei Kinder, die drinnen auf dem Sofa sitzen.
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Geduldig wartet der Mann mit der Maske, bis sie den Fernseher abschalten.
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Dann setzt er sich in Bewegung.
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Wie ein dunkler Schatten umrundet er das Gebäude, bis er einen Zugang findet.
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Dann tritt der Tod ins Haus und sucht sich sein Opfer.
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Fünf Stunden zuvor.
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Margit ist müde.
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Seit ihrer Brustkrebsdiagnose vor drei Jahren und den vielen Chemobehandlungen ist die 41
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Jährige nicht mehr so fit wie früher.
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Und dann hat gerade auch noch das befreundete Paar von ihr und ihrem Mann Karl für heute abgesagt.
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Aber den Rosenmontagsball können sich die beiden eigentlich nicht entgehen lassen.
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Immerhin haben sie sich genau vor 18 Jahren auf so einem Ball kennengelernt.
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Als Karl nun gestiefelt und gesporn vor ihr steht, kann sich Margit ein Schmunzeln nicht verkneifen.
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Ihr Mann ist ein echter Faschings-Fan.
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Dieses Jahr voll ausgestattet im Schlafanzug mit Zipfelmütze.
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Auch ihre zwölfjährige Tochter muss lachen, als sie die Kostümierung ihres Papas sieht.
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Leonie ist die Erstgeborene und der Sonnenschein der Familie.
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Zwei Jahre nach ihr hat dann die Geburt des kleinen Niklas die Familie komplett gemacht.
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Ihre Kinder sind Margits große Liebe und ihr größtes Glück ist es, ihnen nach der besiegten Krankheit
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weiter beim Aufwachsen zusehen zu dürfen und so viel Zeit wie möglich mit ihnen zu verbringen.
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Leonie und Niklas ein paar Stunden alleine zu lassen, ist für Margit gerade so zu ertragen.
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Immerhin sind sie schon zehn und zwölf Jahre alt und die Stadthalle, in der die Party stattfindet,
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ist nur ein paar Minuten Fußweg entfernt.
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Und so verlässt Margit gemeinsam mit Karl trotz ihrer Müdigkeit um kurz vor sieben am Abend das Haus.
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Der Rosenmontagsball ist ein voller Erfolg.
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Margit ist froh, dass sie hingegangen ist.
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Während sie jetzt ihren Rock auf der Tanzfläche schwingen lässt,
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den sie sich mühevoll aus den Resten von Leonies Faschings Verkleidung der letzten Jahre zusammengenäht hatte,
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dröhnen Karnevalsklassiker aus den Musikboxen.
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Nach ein paar Stunden merkt die 41-Jährige dann aber, wie die Müdigkeit sie überrollt.
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Gerade will sie aufstehen und mit Karl den Weg nach Hause antreten,
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da fordert die Partyband die Feierwütigen zu einer Polonaise auf.
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Und so ringt sich das Ehepaar dazu durch, noch kurz zu bleiben.
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Ohne zu wissen, dass diese Entscheidung den unfassbaren Verlauf ihres Lebens vielleicht hätte aufhalten können.
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Um kurz nach eins kommen Margit und Karl schließlich erschöpft zu Hause an.
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Dass im Zimmer ihrer zwölfjährigen Tochter Leonie noch Licht brennt, ist nicht ungewöhnlich.
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Die Schülerin ist eine echte Leseratte.
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Manchmal schafft sie es bis tief in die Nacht, nicht ihr Buch wegzulegen.
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Doch als Margit Leonies Zimmertür mit dem Diddlblatt, auf dem
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Eltern bitte draußen bleiben steht, vorsichtig öffnet,
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überrascht sie ihre Tochter nicht wie gewohnt mit einem Buch in der Hand im Bett.
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Leonie liegt auf dem Boden und der helle Teppich um sie herum ist von dunklen Blutflecken übersät.
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Schreiend weist Margit Karl an den Rettungswagen zu rufen.
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Dann widmet sie sich ihrer Tochter.
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Als sie beginnt, das regungslose Kind zu beatmen, spürt sie,
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wie die Luft, die sie Leonie in den kleinen Körper pumpt, an anderen Stellen wieder austritt.
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An den Stellen, an denen Leonies Oberkörper von tiefen Schnittwunden gezeichnet ist.
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Nachdem Karl den Notruf verständigt hat, übernimmt er.
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Doch auch seine Wiederbelebungsmaßnahmen sind vergebens.
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Als der Rettungswagen kurze Zeit später eintrifft, kann nur noch Leonies Tod festgestellt werden.
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Margit und Karl sind zu spät gekommen.
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Wie die Ermittlungen später ergeben, nur ungefähr 15 Minuten zu spät.
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Dass ihre Tochter tot ist, kommt bei Margit nicht an.
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Sie sitzt noch Stunden später unten im Wohnzimmer und fragt,
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wieso die Rettungskräfte Leonie nicht endlich ins Krankenhaus bringen.
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Als man ihr erklärt, dass Leonies Leiche mittlerweile auf dem Weg in die Pathologie ist,
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kann sie es nicht fassen und wird wütend.
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Margit will ihr Kind zurück.
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Sie will nicht, dass Leonie irgendwo in einem sterilen, kalten Raum aufgeschnitten und untersucht wird.
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Sie will sie in ihrem Arm halten und ihr Trost, Wärme und Liebe spenden.
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Erst nachdem man ihr verspricht, dass sie die Leiche morgen Abend noch einmal sehnen und sich verabschieden kann,
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beruhigt sie sich ein wenig.
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Und dann ist da ja aber auch noch Niklas, ihr zehnjähriger Sohn,
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der tief und fest schlief, als seine Schwester starb und der seine Mama jetzt mehr braucht als je zuvor.
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Die Nachricht, dass eine Zwölfjährige getötet wurde,
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während die Eltern auf einer Faschingsveranstaltung tanzten,
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verbreitet sich am nächsten Tag in der Augsburger Umgebung wie ein Lauffeuer.
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Vor allem die BewohnerInnen des kleinen Städtchens, aus dem die Familie kommt, sind schockiert.
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Die Gräueltat überschattet das sonst so heitere jährliche Faschingstreiben des 20.000-Seelen-Orts
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und niemand kann sich vorstellen, wer hinter solch einer Tat stecken könnte.
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Auch die Soko Leonie, die die Augsburger Kriminalpolizei am Morgen gegründet hat, steht vor einem Rätsel.
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Die Spurensicherung konnte am Haus von Margit und Karl trotz intensiver Suche keine Einbruchsspuren sicherstellen,
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weder an den Türen oder den Fenstern noch am Balkon.
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Das Einzige, was die BeamtInnen bisher finden konnten, ist die Tatwaffe.
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Ein 31 cm langes Küchenmesser mit Qualität made in Soling-Gravur war im Nachbarsgarten gefunden worden.
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Nachdem die Soko von Margit und Karl erfahren hat, dass dieses Messer nicht aus ihrem Besitz stammt,
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geht es jetzt darum, herauszufinden, wo man es kaufen konnte und wer so ein Messer besaß.
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Weil es keine Einbruchsspuren gibt, vermutet die Soko, dass Leonie den Täter bzw. die Täterin kannte.
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Was außerdem für eine Beziehung, welcher Art auch immer, zwischen Opfer und Täter entspricht,
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sind die Ergebnisse der Obduktion.
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Denn dem kleinen Körper wurden 21 Messerstiche zugefügt, teilweise mit enormer Wucht.
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Eine klassische Übertötung, die häufig auf ein persönliches Motiv hindeutet.
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Um die Person, die diese grausame Tat begangen hat, so schnell wie möglich zu finden,
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setzt die Polizei als Belohnung für zielführende Hinweise 10.000 Euro aus.
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Der Bürgermeister erhöht die Summe um weitere 25.000.
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Die Soko ist jetzt dringend angewiesen auf Hinweise aus der Bevölkerung.
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Die Ermittlenden wollen die letzten Wochen im Leben der Realschülerin lückenlos rekonstruieren,
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um Antworten auf die Fragen zu finden, mit wem war sie zusammen, wen hat sie getroffen, worüber hat sie gesprochen.
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Dazu werden etliche Menschen aus ihrem direkten Umfeld befragt.
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Viele davon geben zudem freiwillig ihre DNA-Proben ab.
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Aber nicht nur Personen, die Leonie gekannt haben, werden von der Polizei aufgesucht.
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Auch AnwohnerInnen aus der näheren Umgebung, Faschingsfans des Rosenmontagsballs in der Stadthalle und KneipenbesucherInnen sollen Auskunft darüber geben,
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ob sie an dem Abend von Leonies Tod etwas Ungewöhnliches beobachtet haben.
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Als bei dieser Befragung eine junge Frau von einem Mann mit Totenmaske berichtet,
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den sie in der Nähe des Hauses von Margit und Karl gesehen hat, werden die Ermittlenden hellhörig.
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Sie fangen an, explizit nach dem maskierten Mann zu fragen und treffen schon kurze Zeit später auf eine Gruppe junger Menschen,
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die eine Person mit langem schwarzem Umhang und einer weißen Gesichtsmaske am Abend des Rosenmontags in einer Kneipe getroffen hat.
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Die Gruppe war auf den Fremden aufmerksam geworden, nachdem er den Raum mit den Worten
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»Ich bin der Tod« betrat.
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Zwei Frauen aus der Clique hatten den Tod um ein Foto gebeten und dieses Bild legt der Soko nun vor.
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Darauf zu erkennen ist ein dünner Mann in schwarzem Umhang, der eine Maske trägt,
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die dem berühmten Bild mit dem Titel »Der Schrei« von Edward Munk nachempfunden ist.
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Bekannt ist die weiße Maske aus dem Horrorfilm »Scream«, in dessen erster Szene eine Schülerin von einem Mann mit einem Messer erstochen wird,
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der genau diese Maskierung trägt.
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Natürlich kann man auf dem Foto niemanden identifizieren,
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aber die BeamtInnen hoffen, dass irgendjemand weiß, wer sich an diesem Abend in diese Verkleidung geschmissen hat.
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Deshalb entscheiden sie sich dafür, das Foto im Internet zu veröffentlichen.
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Während die Polizei nach dem Tod sucht, versuchen Margit und Karl das Unfassbare zu begreifen.
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Ihre zwölfjährige Tochter wurde in ihrem eigenen Kinderbett getötet, während sie auf der Tanzfläche standen.
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Wie geht man damit um?
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Was macht man in den Tagen danach?
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Margit und Karl werden psychologisch betreut.
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Ansonsten funktionieren sie, organisieren die Beerdigung, geben Interviews.
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Wann immer sie sich in diesen Tagen in den Medien zu Wort melden, treten sie gemeinsam auf,
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wobei sie die Gespräche mit den JournalistInnen immer in Hotels führen.
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Sie fühlen sich nicht wohl dabei, Fremde in das Haus zu lassen, ihr Zuhause, das zum Tatort wurde.
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Wenn sie vor den Mikros sitzen und vom schlimmsten Tag ihres Lebens erzählen,
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tragen sie schwarz und halten die Hand des jeweils anderen so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten.
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In dieser Zeit nimmt Margit ihre Umwelt wie durch einen tiefschwarzen Schleier der Traurigkeit und Fassungslosigkeit wahr.
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Ihre Leonie ist nicht mehr da, einfach weg von einem auf den anderen Tag.
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Alles, was bleibt, sind die Erinnerungen und die zahlreichen Fotos,
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eingeklebt in ein Fotoalbum, das sie den MedienvertreterInnen zeigt.
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Auf den ersten Seiten sieht man ein kleines Baby im Krankenhausbettchen.
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Danach folgen Fotos von dem zarten Mädchen mit den langen, dunklen Haaren,
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den Sommersprossen und der Brille beim Skifahren oder beim Reiten.
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Wie viele Mädchen in ihrem Alter war Leonie verrückt nach Pferden.
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Am liebsten war sie den ganzen Tag nur im Stall.
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Margit kann sich noch gut daran erinnern, wie Leonie im Reiturlaub vor drei Jahren
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nach dem Kleinen sogar das Großhufeisen gemacht hat, eine Reitprüfung mit Ressuraufgabe.
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Und wie gern sie die Ohrringe in Steigbügelform getragen hat,
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die Margit ihr auf Kur eigenständig angefertigt hat.
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Das winzige Steinpferd, das Margit bei einem der Interviews in der Hand hält,
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wollte sie Leonie eigentlich bald schenken, weil ihre Schulnoten so gut waren.
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Jetzt wirkt das Miniaturpferd wie ein Strohhalm,
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an den sich Margit klammert, um nicht in die Tiefe zu stürzen.
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Für sie sind diese Pressetermine und Interviews eine Art Ablenkung
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von der furchtbaren Stille, die sich breitmacht, wenn sie alleine ist.
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Und von der einen Frage, die sie am liebsten endlich der Person stellen würde,
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die sie ihr beantworten kann.
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Mehr als eine Woche nach der Tat ist die Soko weiterhin auf der Suche nach dem Maskierten.
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Bei einer Befragung auf dem Gelände eines Berufsbildungszentrums fällt den Beamtinnen
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dann ein junger, schlachsiger Mann auf.
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Hastig läuft er umher und verteilt Flyer für den Tag der offenen Tür des Förderwerks.
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Als die PolizistInnen ihm das Foto vom Rosenmontag zeigen, sagt er sofort,
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Endlich ist man einen Schritt weiter.
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Der Mann stellt sich ihnen als Sebastian vor.
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Bereitwillig begleitet der 19-Jährige die PolizistInnen aufs Revier
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und beginnt vom Abend des 11. Februar zu berichten.
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Doch irgendetwas stimmt nicht mit ihm und seiner Geschichte.
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Das spüren die Ermittelnden sofort.
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Immer wieder verstrickt er sich in Widersprüche.
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Meint zum Beispiel erst Leonie gekannt zu haben und dann wieder sie noch nie gesehen zu haben.
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Es dauert nicht lang, da scheint Sebastian dem Druck der Befragung nicht mehr standzuhalten.
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Der junge Mann gesteht, Leonie getötet zu haben.
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Und zwar in allen Einzelheiten.
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Als Sebastian am Abend des Rosenmontags von seiner Mutter zum Abendbrot gerufen wird,
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steckt der 19-Jährige schon in seinem Kostüm.
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Die geisterhafte Maske, die schwarze Jogginghose und der lange schwarze Umhang sitzen perfekt.
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Ob dem Sensenmann denn nicht noch die Sense fehle, scherzt der Freund seiner Mutter und grinst.
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Wohl eher das Messer.
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Denn Sebastian fühlt sich nicht wie der Sensenmann,
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sondern wie ein Killer aus Scream oder Halloween.
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Einer seiner Lieblingsfilme.
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Etliche Male hat er den Streifen schon gesehen,
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bei dem der sechsjährige Michael Myers gleich in der ersten Szene in der Küche nach einem Messer sucht,
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die Treppe hinauf geht und seine Schwester mit unzähligen Messerstichen tötet.
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Insgesamt hortet Sebastian mehr als 130 Filme im Regal seines kleinen Jugendzimmers mit beigefarbenen Wänden,
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einer Ausziehcouch, einer Dartscheibe und Plastikspielzeug aus Überraschungseiern.
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Der Teenager liebt Filme, würde selbst am liebsten Regisseur werden.
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Aber das traut er sich nicht zu.
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Er kann bestimmt kein Drehbuch schreiben, denkt er sich.
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Bis er am Rosenmontag 2002 die Regie in seinem ganz persönlichen Horrorfilm übernimmt.
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Nach dem Abendbrot macht sich Sebastian gemeinsam mit seiner Mutter und deren Lebensgefährten
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gegen 18.30 Uhr zu einer Faschingsveranstaltung auf dem Festplatz auf.
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Im Zelt ist es warm und gemütlich.
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Die Stimmung ist gut, als sie drei am Tisch eines befreundeten Ehepaars Platz nehmen.
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Irgendwann wird es Sebastian aber zu langweilig mit den älteren Leuten.
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Er gesellt sich daher zu einem Freund und ein paar anderen Feierwütigen.
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Als seine Mutter sich schließlich verabschiedet, drückt sie ihm noch 20 Euro in die Hand.
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Er soll noch viel Spaß haben.
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Das denkt sich Sebastian auch, als er die Veranstaltung um kurz nach 23 Uhr ebenfalls verlässt
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und alleine weiterzieht.
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Als der 19-Jährige an einer hell erleuchteten Kneipe vorbeikommt,
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wird eine Gruppe Faschingsfans auf ihn und seine Maskerade aufmerksam.
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Durch die Scheibe fragen die jungen Leute ihn mit einer kleinen Tafel, wer er sei.
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Mit den Fingern schreibt Sebastian ein Wort an die beschlagene Glasscheibe.
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Da geht er hinein, bestellt sich ein Bier und lässt sich bereitwillig mit zwei Frauen fotografieren.
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Alle sind begeistert von seiner Kostümierung.
00:18:32
Kurze Zeit später tritt Sebastian dann den Heimweg an.
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Als er im Kurz nach Mitternacht an der Bushaltestelle St. Emmeram vorbeikommt,
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bemerkt er eine junge Frau, die gerade aus dem Bus gestiegen ist.
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Sie scheint ein genaues Ziel vor Augen zu haben.
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Schnurstracks überquert sie die große Straße
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und biegt in eine Seitengasse ein.
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Hinter der Frau herlaufend beschließt er, sie zu erschrecken.
00:18:52
Schließlich hat er das perfekte Kostüm dafür an.
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Und so wechselt Sebastian auf die andere Gehsteigseite und nimmt die Verfolgung auf.
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Für ihn wird sie zur Jagd.
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Als er der Frau mit immer schneller werdenden Schritten folgt,
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kommt ihm zum ersten Mal der Gedanke,
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dass er nicht Sebastian ist,
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sondern der Killer Michael Myers
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aus dem Horrorfilm Halloween.
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ein Gefühl breitet sich in seinem Inneren aus, das er nicht kennt.
00:19:14
Das Gefühl, Macht über andere Menschen haben zu können.
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Über diese Frau, die Angst vor ihm hat und die er jetzt richtig erschrecken will.
00:19:22
Doch als die Frau schließlich am Vorgarten eines Mehlfamilienhauses ankommt
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und das kleine Gartentor hinter sich schließt, herrscht sie ihn an.
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Was willst du von mir?
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Schwer atmen bleibt Sebastian stehen.
00:19:33
Seine behandschuhten Hände legt er auf das Gartentürchen.
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Die Frau dreht sich um und bewegt sich weiter auf das Haus zu, er hinterher.
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Als er direkt hinter ihr am Treppenabsatz steht, schreit sie ihn an.
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Hau ab, lass mich in Ruhe.
00:19:45
In dem Moment summt die Haustür.
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Die Frau drückt sie auf und verschwindet im Flur.
00:19:50
Sebastian bleibt allein zurück.
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Nur sein eigener Schatten zeichnet sich ab im Licht der Straßenlaternen.
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Er ist enttäuscht, dass sein Plan der junge Frau zu erschrecken nicht funktioniert hat.
00:20:00
Das wohlige Gefühl, das er eben noch verspürt hat, ist verpufft.
00:20:04
Gleichzeitig steckt Wut in ihm hoch.
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Sie vernebelt ihm die Sinne.
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Sebastian will etwas kaputt machen, etwas zerstören.
00:20:10
Er blickt sich um.
00:20:12
Am Ende der Straße steht ein Haus mit kleinem Garten.
00:20:15
Die Fenster sind hell erleuchtet und fast ist es, als würde ihn das Licht magisch anziehen.
00:20:20
Im Wohnzimmer sitzen zwei Kinder auf dem Sofa und schauen Fernsehen.
00:20:24
Sie kichern und trinken blau gefärbte Limonade.
00:20:27
Sebastian beobachtet sie ungefähr eine Minute lang.
00:20:29
Dann geht er um die Ecke des Hauses und schaut nochmal durch ein anderes Fenster auf den Jungen und das Mädchen.
00:20:34
Von hier aus kann er sehen, was über den Bildschirm flimmert.
00:20:37
Die Serie Hey Arnold.
00:20:39
Sebastian beschließt, nachdem es bei der jungen Frau nicht geklappt hat, die Kinder zu erschrecken.
00:20:44
Und zwar so richtig real.
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Dafür muss er ins Haus.
00:20:48
Mit einigem Klettergeschick schafft er es, mithilfe eines Terrassentisches und einer an der Hauswand befestigten Lampe den Balkon zu fassen zu bekommen und sich hochzuziehen.
00:20:56
Doch die bodentiefen Fenster sind verschlossen.
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Keine Möglichkeit einzudringen.
00:21:01
Mit flatterndem Umhang geht es dem Balkon auf demselben Weg wieder runter.
00:21:04
Von diesem Manöver haben die Kinder allem Anschein nach nichts mitbekommen.
00:21:08
Sie sitzen immer noch vor dem Fernseher, bis das Mädchen gegen kurz nach halb eins die Austaste auf der Fernbedienung drückt.
00:21:14
Sebastian sieht, wie die Kinder aus dem Wohnzimmer verschwinden.
00:21:18
Er will nicht aufgeben, ist so nah dran.
00:21:20
Also sucht er nach anderen Möglichkeiten, ins Haus zu gelangen.
00:21:23
Dabei findet er eine nicht verschlossene Tür an der rückwärtigen Seite der Garage.
00:21:28
Er tritt ein, schließt die Tür von innen ab und tastet sich durch die mit einem Anhänger Werkbänken und Werkzeugen vollgestellte Garage,
00:21:36
bis er zur Tür gelangt, die ihn ins Erdgeschoss des Hauses führt.
00:21:39
Es ist warm und still.
00:21:41
Der Flur ist nur durch ein Deckenlicht erleuchtet.
00:21:44
Sebastian, oder ist es Michael Myers, schleicht durch das Wohnzimmer, dann durch die angrenzende Küche.
00:21:50
In seiner rechten Hand blitzt die lange Klinge von einem Messer.
00:21:53
Damit steigt er die Treppe in den ersten Stock hinauf und bleibt vor der zweiten Tür stehen.
00:21:57
Im Halbdunkel ist das Dittelblatt, das Eltern den Zutritt verbietet, gerade so zu erkennen.
00:22:02
Sebastian ist wie in Trance.
00:22:05
Leise legt er seine Hand auf die Türklinke, drückt sie nach unten und betritt den Raum.
00:22:09
Sofort erkennt er die Umrisse des schlafenden Kindes im Schein der brennenden Leselampe.
00:22:13
Eingerollt wie in einem Kokon liegt es unter einer dicken Federdecke, auf dem Bauch, das Gesicht zur Wand gedreht.
00:22:20
Noch circa eine Minute lang steht Sebastian einfach nur vor dem Bett.
00:22:25
Da bewegt sich die kleine Gestalt vor ihm auf einmal.
00:22:27
Scheinbar ganz intuitiv spürt sie, dass jemand da ist, der nicht da sein soll.
00:22:31
Als sie sich mit den Armen aufgestützt aufrichten will, sticht Sebastian ohne zu zögern zu.
00:22:36
Das Mädchen schnappt nach Luft, bringt aber kein Laut hervor.
00:22:40
Erneut stößt Sebastian zu.
00:22:42
Wieder und wieder mit wuchtigen Bewegungen.
00:22:45
Als das Mädchen versucht, sich zu wehren, fällt es mitsamt ihrer Bettdecke auf den Boden.
00:22:48
Als es dort regungslos liegen bleibt, wischt Sebastian die Klinge des Messers an der Decke ab und verlässt das Kinderzimmer.
00:22:54
Im Erdgeschoss löscht er das Flurlicht und schiebt behutsam einen Blumentopf zur Seite, damit er die Terrassentür öffnen kann.
00:23:01
Die Luft ist kalt und feucht vom Raureif.
00:23:03
Leichtfüßig steigt Sebastian über den hölzernen Gartenzaun und tritt den Heimweg an.
00:23:08
Im Weggehen wirft er das Messer in den Vorgarten des Nachbarhauses.
00:23:11
Dann verschwindet er in der Dunkelheit.
00:23:14
Die Ermittlenden sind schockiert.
00:23:16
Was ihnen der junge Mann vor ihnen mit emotionsloser Miene erzählt, hört sich unfassbar an.
00:23:21
Er habe ein zwölfjähriges Mädchen getötet, weil er es erschrecken wollte.
00:23:25
Auf den Hinweis, man hätte den Kindern doch auch ohne Messerangst einjagen können,
00:23:30
erklärt Sebastian, dass bei ihm in dem Moment eine Sicherung durchgeknallt sein muss.
00:23:33
Um sein Geständnis zu überprüfen, durchsuchen BeamtInnen sein Kinderzimmer.
00:23:37
Dabei stoßen sie nicht nur auf die Scream-Maske und den schwarzen Umhang,
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den der Jugendliche in der Nacht vom Rosenmontag getragen hat,
00:23:44
sondern auch auf etliche Horrorfilme, die in seinem Regal stehen.
00:23:47
Die Neuigkeit, dass es eine Festnahme im Fall Leonie gab, spricht sich schnell herum in der kleinen Stadt.
00:23:52
Niemand kann glauben, dass einer von ihnen zu so einer tatfähig sein soll.
00:23:57
Und dann noch jemand, der selbst fast noch ein Kind ist.
00:24:00
Die Zeitung titeln Schlagzeilen wie
00:24:02
Der jugendliche Mörder kam als der Tod.
00:24:05
Und die LeserInnen fragen sich, wie konnte es dazu kommen?
00:24:08
Und was haben die Unmengen an Horrorfilmen, die bei dem Verdächtigen gefunden wurden, damit zu tun?
00:24:14
So und jetzt springen wir mal raus aus der Erzählung und widmen uns unserem ersten Aha.
00:24:18
Und das geht um die oft gestellte Frage,
00:24:20
machen denn Gewaltdarstellung Menschen zu TäterInnen?
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Am Anfang dieser Folge hat Laura ein Zitat aus Scream vorgelesen.
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Schieb es nicht auf die Filme.
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Niemand wird durch die wahnsinnig.
00:24:29
Aber diese Debatte kommt immer mal wieder auf.
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Und ihr ahnt es vielleicht schon, häufig geht es da nicht nur um Gewalt in Filmen,
00:24:36
sondern auch in Videospielen natürlich.
00:24:38
Erst neun Monate vor dem Tod von Leonie hatte man sich in Deutschland mit dem Thema Ego-Shooter beschäftigt,
00:24:43
nachdem ein 19-Jähriger an seiner ehemaligen Schule 16 Menschen erschossen hatte.
00:24:47
Bei dem Amok-Schützen wurden nämlich nach der Tat nicht nur Filme wie Fight Club, Predator und Desperado gefunden,
00:24:53
sondern auch Ego-Shooter-Spiele wie Return to Castle Wolfenstein, Half-Life oder Hitman.
00:24:59
Und letzteres war zum Tatzeitpunkt sogar indiziert.
00:25:02
Also es war auf der Liste der jugendgefährdenden Medien.
00:25:04
Man hat jetzt nicht nachgewiesen, dass der Amok-Schütze wegen dieser Medien diese Tat begangen hat
00:25:10
und dass der Konsum von Gewaltdarstellungen zu Gewalttaten führt.
00:25:14
Das kann man so einfach auch nicht sagen.
00:25:16
Es gab zwar schon etliche Studien zu dem Thema, aber eine eindeutige Ursache-Folgeerklärung
00:25:21
gibt es zur Wirkung von Mediengewalt bisher nicht.
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Unstrittig ist aber, dass mediale Gewalt in der Lage ist, die KonsumentInnen gefühlsmäßig zu erregen
00:25:31
und auch sie an Gewalt in den Medien zu gewöhnen.
00:25:34
Daraus kann man aber nicht automatisch auch auf eine Abstumpfung gegenüber realer Gewalt schließen.
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Da müsste ich auch dazu sagen, dann hätten wir hier auch ein Problem,
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weil wir beschäftigen uns so viel mit Gewaltdarstellungen und so.
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Vor uns muss, glaube ich, keiner Angst haben.
00:25:48
Allerdings haben verschiedene Studien ergeben,
00:25:50
dass aggressives Verhalten in Filmen oder Spielen eher übernommen wird,
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wenn die KonsumentInnen sowieso eher zu Gewalt neigen
00:25:57
und wenn sich Situationen aus ihrem echten Leben denen in den Medien ähneln.
00:26:02
Was man vor allem in Langzeitstudien in Bezug auf Kinder und Jugendliche festgestellt hat,
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ist, dass mediale Gewalt bei häufigem Konsum das Aggressionspotenzial steigern
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und zu einem Empathieverlust führen kann.
00:26:14
Kann ist ganz wichtig.
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Nicht, dass es so ist.
00:26:17
Und das hat damit zu tun, dass Kinder und Jugendliche noch keinen so großen Erfahrungsschatz wie Erwachsene haben.
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Das hat uns auch Prof. Simon Eickhoff, Leiter des Instituts für Systemische Neurowissenschaften
00:26:28
an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, im Interview erklärt.
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Den jungen KonsumentInnen fehle meist die Fähigkeit,
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die Situation in einem Horrorfilm realistisch einzuschätzen und kritisch einzuordnen.
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Meist sei diese Fähigkeit erst im Teenager-Alter vollständig entwickelt, so Eickhoff.
00:26:44
Besonders problematisch seien die Darstellungen laut Studien,
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wenn die mediale Gewalt als gerechtfertigt präsentiert wird,
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das Verhalten nicht bestraft wird oder die gewalttätigen ProtagonistInnen so dargestellt werden,
00:26:55
dass sich Kinder und Jugendliche mit ihnen identifizieren wollen.
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Wichtig an der Stelle aber zu betonen ist, dass die mediale Gewalt nur ein Faktor ist,
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der mit anderen zusammen auftritt.
00:27:06
Was sich natürlich auch auf das Aggressionspotenzial auswirkt, ist die eigene Persönlichkeit
00:27:10
und ob man selbst vielleicht auch schon mal Gewalt erfahren hat im Leben.
00:27:14
Welche Rolle die Horrorfilme bei Sebastians Tat gespielt haben, soll der Prozess zeigen.
00:27:20
Der ein Jahr später vor der Jugendkammer des Landgerichts Augsburg beginnt.
00:27:23
Die BesucherInnenanzahl an diesem ersten Verhandlungstag ist groß.
00:27:27
Schon um 8 Uhr morgens stehen die Leute in Schlangen vor dem pittoresken,
00:27:30
rosafarbenen Gebäude mit den hellen Säulen an, um einen Sitzplatz zu ergattern.
00:27:34
Als der Maskenmörder, wie der Angeklagte von der Presse genannt wird,
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vorbei an den Metalldetektoren in den holzvertefelten Schurgerichtssaal mit der Nummer 101 geführt wird,
00:27:43
wirkt er wieder wie verkleidet, in dem biederen grauen Anzug.
00:27:47
Die Maske, die er heute trägt, ist die eines Emotionslosen.
00:27:51
Nur kurz, als er Margit und Karl erblickt, huscht eine Regung über das Gesicht des Mannes,
00:27:55
der hinter einer schusssicheren Glaswand sitzt.
00:27:57
Danach hat er sich wieder unter Kontrolle.
00:28:01
So bleibt es auch, als die Staatsanwältin die Anklage vorträgt und ihm darin vorwirft,
00:28:05
die zwölfjährige Leonie in der Nacht des Rosenmontags vor einem Jahr heimtückisch
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und aus niedrigen Beweggründen getötet zu haben.
00:28:11
Und selbst als der Angeklagte zu Wort kommt, hört es sich an,
00:28:15
als wäre er nicht wirklich anwesend und würde von einem Blatt ablesen.
00:28:18
Dabei wiederholt Sebastian sein Geständnis minutiös und detailliert.
00:28:22
Jedoch mit einem kleinen, aber feinen Unterschied.
00:28:26
Und zwar will er sich jetzt daran erinnern, dass Leonie um Hilfe gerufen habe
00:28:30
und er deshalb panische Angst bekam, ihre Eltern könnten ihn hören und wegen Einbruchsanzeigen.
00:28:35
Dies sei der Auslöser gewesen, weshalb Sebastian auf Leonie eingestochen habe.
00:28:39
Darauf angesprochen, dass seine Angaben vorher anders gelautet haben,
00:28:44
erklärt der Angeklagte, so wie er es heute sage, sei es die Wahrheit und werde es immer die Wahrheit bleiben.
00:28:49
Wenn er in den ersten Vernehmungen einen Hilferuf verneint habe,
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liege das nur daran, dass er bei den ersten Befragungen
00:28:55
Zitat völlig mit den Nerven am Ende gewesen sei.
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Auf die Nachfrage des Vorsitzenden, wie laut der Hilferuf war,
00:29:02
erklärt Sebastian eher weniger laut.
00:29:04
Geplant sei die Tötung auf jeden Fall nicht gewesen
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und mit seinen Horrorfilmen hätte die Tat auch nichts zu tun.
00:29:09
Alle Ähnlichkeiten zu dem Film Halloween seien reiner Zufall.
00:29:13
Richtig sei aber, dass er, wie Michael Myers, in die Küche gegangen sei
00:29:18
und sich da die Tatwaffe geholt habe.
00:29:21
Hartnäckig bleibt er dabei, das Messer nicht selbst mitgebracht zu haben,
00:29:24
sondern es sich erst vor Ort quasi in einem spontanen Impuls genommen zu haben.
00:29:28
Obwohl Leonies Eltern mehrmals versichert haben, dass dieses Messer nie in ihrem Besitz war.
00:29:33
Nach seiner Einlassung wendet sich Sebastian direkt an Margit und Karl.
00:29:38
Ich möchte mich zutiefst bei der Familie entschuldigen, dass ich ihr die Tochter genommen habe,
00:29:42
sagt der mittlerweile 20-Jährige.
00:29:43
Ich hoffe, dass sie mir irgendwann verzeihen können.
00:29:46
Diese Worte lösen bei Margit nicht viel aus.
00:29:50
Sie hasst den jungen Mann auf der Anklagebank nicht.
00:29:52
Er ist ihr egal.
00:29:54
In einem Interview hatte sie vor dem Prozess erklärt, dass ihr nur wichtig sei,
00:29:57
dass klar wird, dass Menschen wie er wegen dieser Horrorfilme in einer Welt leben,
00:30:02
die nicht real, voller Gewalt und Grausamkeit ist.
00:30:04
Was sie mit Menschen wie er meint, wird klar,
00:30:08
als sich die Kammer in den nächsten Verhandlungstagen
00:30:10
Sebastians Psyche und seine Vergangenheit anschaut.
00:30:14
Sebastian kommt ungewollt ins Leben.
00:30:16
Für seine Eltern ist der Säugling eine Last.
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Liebe empfinden sie für ihn nicht.
00:30:20
In seinem ersten Lebensjahr wird der Junge daher stark vernachlässigt.
00:30:24
So stark, dass man ihn schließlich völlig verwahrlost und Mangel ernährt in einem Heim unterbringt.
00:30:29
Doch auch da erfährt das Kleinkind Ablehnung.
00:30:32
Niemand möchte Sebastian adaptieren.
00:30:34
Und mit jedem weiteren Jahr, das dazukommt und jedem Zentimeter, den er wächst,
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sinken die Chancen, dass er in einem warmen Zuhause aufgenommen wird.
00:30:42
Alle wollen nur die Babys, ist ein Spruch, der meist wahr ist im Kinderheim.
00:30:46
Doch dann, als Sebastian fünf Jahre alt ist, ändert sich plötzlich alles.
00:30:50
Ein Ehepaar möchte ihn mit nach Hause nehmen.
00:30:52
Zum ersten Mal bekommt Sebastian sein eigenes Reich,
00:30:55
sein eigenes Kinderzimmer, eigene Spielzeuge und Platz zum Truben.
00:30:58
Und zum ersten Mal Eltern, die ihn wollen, die sich freuen, dass er jetzt bei ihnen lebt.
00:31:03
Vor allem zu seinem neuen Vater entwickelt Sebastian eine enge Beziehung.
00:31:06
Mit ihm kann er lachen, Quatsch wachen und Kinderfilme schauen.
00:31:10
Sebastian lebt sich gut ein in sein neues Leben,
00:31:13
bis der Adoptivvater eine weit entfernte Arbeitsstelle annimmt
00:31:16
und in der Folge immer seltener zu Hause ist.
00:31:18
Die Vaterfigur, an der er sich gerade so richtig zu orientieren versuchte, ist nicht mehr da.
00:31:23
Sebastian vermisst ihn sehr.
00:31:25
Erst als sein Vater ihn und die Mutter ein Jahr später nachholt,
00:31:29
sind sie endlich wieder eine Familie.
00:31:30
Am neuen Wohnort muss sich Sebastian aber erstmal wieder neu eingewöhnen,
00:31:34
neue Freundinnen finden.
00:31:36
Als sich seine Situation aufs Neue stabilisiert, kommt sein Vater eines Tages nicht nach Hause.
00:31:42
Der Gleisbauer wurde bei seiner Schicht von einem ICE erfasst.
00:31:45
Für Sebastian bricht eine Welt zusammen.
00:31:47
Nach dem Tod seines Adoptivvaters kommt dessen Bruder, also quasi Sebastians Onkel, für ein paar Tage zu Besuch.
00:31:55
Sebastian gibt in den Gesprächen mit dem psychiatrischen Sachverständigen an,
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dass dieser ihn mehrfach sexuell missbraucht hat.
00:32:00
In der Folgezeit sacken Sebastians Noten ab.
00:32:03
Er kann sich in der Schule nicht mehr konzentrieren.
00:32:05
Dazu kommt, dass seine Mutter mit ihm in den nächsten Jahren dreimal den Wohnort wechselt
00:32:10
und er so Schwierigkeiten hat, sich ein soziales Umfeld aufzubauen.
00:32:13
Sebastian zieht sich immer weiter zurück, hängt viel an seiner Spielekonsole und dem Fernseher.
00:32:19
Während es mit seinem Adoptivvater noch Trickfilme waren, sind es jetzt Horrorfilme und Spiele, in denen geschossen wird.
00:32:25
Als Sebastian 13 Jahre alt ist, zieht der neue Freund seiner Adoptivmutter bei ihm ein.
00:32:30
Doch mit dem neuen Mann im Haus versteht er sich nicht.
00:32:33
Es kommt immer wieder zu Konflikten, denn der Lebensgefährte seiner Mutter hat ein Alkoholproblem und ist streitlustig.
00:32:39
Und wenn es hart auf hart kommt, dann steht Sebastians Mutter nicht auf seiner Seite, sondern auf der ihres Freundes.
00:32:44
Sebastian fühlt sich nicht mehr wohl zu Hause.
00:32:47
Aber auch in der Fördereinrichtung, auf die er wegen seiner schlechten Leistungen wechseln musste, findet er keinen Anschluss.
00:32:53
In seiner Ausbildung zum Metallbauer fällt er immer wieder negativ auf.
00:32:57
Durch Streiche, die nur er witzig findet, wie Stinkbomben ins Klassenzimmer oder Silvesterkracher in eine Gruppe Mädchen werben.
00:33:03
Oder Bauschaum, der wie Hundekot aussieht, in der Kantine auf einen Teller legen oder einem Mitschüler heimlich Kühlmittel in die Spezi gießen.
00:33:10
Und Sebastian lügt auch immer wieder.
00:33:12
So erzählt er zum Beispiel einmal, dass Skinheads ihn überfallen hätten.
00:33:15
In Wirklichkeit hatte er sich die Verletzung, die sein Körper aufwies, selbst zugefügt.
00:33:20
Es ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit, der ihm zwar Aufsehen, aber kein echtes Interesse einbringt.
00:33:26
Sebastian hat keine FreundInnen, keine PartnerInnen und kein familiäres Umfeld, das sich wirklich für ihn interessiert.
00:33:32
Und so verbringt er die meiste Zeit in seinem Kopf.
00:33:35
Mit Gedanken daran, was alles möglich wäre in seiner Fantasie.
00:33:39
In den Filmen, die er vor seinem inneren Auge abspielen lässt, ist er die Hauptfigur.
00:33:43
Die Figur, die Macht hat, die sich was traut, die sich gegen die Menschen auflehnt, die ihm Unrecht getan haben.
00:33:49
Seinen Onkel zum Beispiel oder den Lebensgefährten seiner Mutter.
00:33:53
In seiner Fantasie schlägt er dann mit einem Baseballschläger zu, gegen den Kopf.
00:33:58
So lange, bis sich sein Gegenüber nicht mehr bewegt.
00:34:01
Der psychiatrische Sachverständige erklärt vor Gericht, dass Sebastian ein besonders starkes Bedürfnis nach Zuwendung, Aufmerksamkeit und Hilfe hat,
00:34:09
welches er schon seit der frühen Kindheit aufweise.
00:34:11
Dieses Bedürfnis habe bei ihm zu einer verfälschten Selbstdarstellung geführt.
00:34:16
Zu dem Jugendlichen, der sich als Clown aufführt, um irgendwie aufzufallen.
00:34:20
Zu wichtigen, tiefen Emotionen wie Verbundenheit, Betroffenheit, Liebe, Hass, Empathie und Trauer
00:34:26
fehle Sebastian weitgehend der Zugang und die Resonanzfähigkeit.
00:34:30
Zurückzuführen sei dies auf die Vernachlässigung emotionaler Art und Verwahrlosung in frühester Kindheit,
00:34:35
sowie die Heimerziehung, die bei ihm eine Identitäts- und eine Bindungsstörung ausgelöst habe.
00:34:40
Also das heißt, der Gutachter sagt, Sebastian sei aufgrund seiner Vergangenheit emotionslos und könne weder zu sich noch zu anderen eine echte Verbindung aufnehmen.
00:34:51
Und das fanden wir interessant, weshalb wir für diese Folge mit dem Bindungsforscher Dr. Simon Meier gesprochen haben.
00:34:57
Er hat uns erklärt, wie Kinder eigentlich lernen, was Gefühle sind.
00:35:01
Normalerweise, wenn ein Baby beispielsweise mit drei oder vier Monaten auf dem Wickeltisch liegt und es schreit und hat Kummer,
00:35:09
dann hypothetisieren die Eltern und sagen, oh, vielleicht hat es Hunger oder ist es zu kalt oder zu warm.
00:35:15
Wenn man das alles ausschließen kann, dann hypothetisiert man, vielleicht bist du traurig.
00:35:20
Vielleicht hast du Angst oder vielleicht ärgerst du dich, weil irgendwas passiert ist.
00:35:26
Und darüber bekommt das Kind oder der Säugling in diesem Fall das Rückgemeldet.
00:35:32
In meinem Körper spüre ich Unbehagen.
00:35:34
Das ist erst mal sehr schwer einzuordnen, zu sortieren.
00:35:39
Und dann gibt es jemanden, der größer, stärker, schlauer ist, eine Bindungsperson und die dolmetscht das zum Beispiel und sagt,
00:35:46
oh, hast du dich jetzt gerade ganz kräftig ärgern müssen, weil dein Spielzeug kaputt gegangen ist.
00:35:53
Das heißt, über dieses Spiegeln der Emotion von der Bindungsperson gegenüber dem Säugling bekommt eben der Säugling in diesem Fall,
00:36:02
obwohl er noch gar nicht sprechen kann, schon vermittelt, das ist nur ein Gefühl, das hat einen Namen.
00:36:07
Das kann man regulieren, das kann man verdauen.
00:36:09
Und wenn Kindern die Emotionen nicht gespiegelt werden, weil sie eben keine Bindungsperson haben, die ihnen dabei hilft,
00:36:15
dann kann das dazu führen, dass sich genetisch etwas bei diesen Kindern verändert, wie uns Dr. Mayer erklärt hat.
00:36:21
Bei Kindern, die stark vernachlässigt werden, werden Gene eingeschaltet,
00:36:27
die bei Kindern, die in einem liebevollen Zuhause aufwachsen, nicht aktiviert werden.
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Also wenn sich keiner um sie kümmert, sie stundenlang schreien und keiner auf sie reagiert,
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dann ist uns von Natur aus ein Mechanismus gegeben, der uns sagt,
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das liegt jetzt nicht daran, dass Mama und Papa böse sind und die irgendwie was Böses wollen,
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sondern wahrscheinlich daran, dass die beiden in ganz, ganz großem Stress sind,
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weil sie bedroht werden oder in Gefahr sind und die ganze Welt um sie herum bedrohlich ist.
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Und evolutionsbiologisch ergibt es dann Sinn, wenn das Kind eben in so einer Situation auf Überlebenskampf umschaltet
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und daraufhin programmiert wird.
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Und das passiert in den ersten 24 Lebensmonaten.
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Und das führt dann dazu, dass solche Kinder extrem wachsam werden,
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die ganze Zeit angespannt sind und maximal impulsiv handeln.
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Nach dem Motto, sonst überlebe ich das hier nicht.
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Und wenn Kinder zu lange vernachlässigt werden, also über Jahre und keine richtigen Bindungen aufbauen können,
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dann, hat uns Dr. Meier erzählt, kann das der Körper irgendwann nicht mehr mitmachen.
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Also diesen großen Stress und dieses hohe Cortisol-Level.
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Und dann kann es eben dazu kommen, dass die Betroffenen irgendwann wie abgeschaltet wirken
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und eben total emotionslos werden.
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So wie bei Sebastian.
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Um die Leerstellen in seinem Leben zu füllen und seinen Selbstwert zu erhöhen,
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so erklärt es der Sachverständige im Gericht weiter,
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habe sich Sebastian immer wieder in die fiktionale Welt seiner Gedanken zurückgezogen.
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In eine Welt, in der auch Horrorfilmgeschichten und Figuren eine Rolle spielen,
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die laut Gutachter zum Ersatz für das Vermisste werden.
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Sebastian sei außerdem in frustrierenden Situationen hilflos
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und reagiere mit Selbstaggression in Form von Selbstvorwürfen.
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Eine Umwandlung der Selbstaggression in eine nach außen gerichtete Aggressivität sei möglich
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und das vor dem Hintergrund seines Fables für Horrorfilme problematisch.
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Denn Sebastian könne sich dann von den Filmen inspiriert fühlen,
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schlussfolgert der Psychiater.
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Zwar kann der Sachverständige Sebastian letztendlich keine bestimmte Persönlichkeitsstörung zuordnen,
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er sagt aber, dass dies nicht heiße, dass die strukturellen Defizite nicht doch in ihrer Qualität
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und in ihrem Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung entsprechen könnten.
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Davon abgesehen würden diese Defizite, wie es der Gutachter nennt,
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bei Sebastian aber so oder so keiner krankhaften seelischen Störung entsprechen.
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Das bedeutet, dass Sebastian zum Tatsalpunkt weder schuldunfähig noch vermindert schuldfähig war.
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Für die Entscheidung der Kammer ist die Einschätzung des Gutachters essentiell.
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Sie gibt Auskunft darüber, dass Sebastian in der Tatnacht wusste, dass er Unrecht hat
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und auch die Fähigkeit besaß, nach dieser Einsicht zu handeln.
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Und so kann das Gericht nach nur vier Verhandlungstagen am 5. Februar 2003 sein Urteil fällen.
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Sebastian wird des Mordes an Leonie schuldig gesprochen.
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Aber warum Leonie ermordet wurde, das kann der Vorsitzende bis heute nicht beantworten.
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Er erklärt, für die Tötung sei bis in die Hauptverhandlung kein plausibles Motiv erkennbar geworden.
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Es bleibe nur, dass der als totmaskierte Angeklagte angesichts des schlafenden Mädchens eine Tötung Realität werden lassen wollte,
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Außerdem betont er, dass nicht ausgeschlossen sei,
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dass der Angeklagte durch häufiges Betrachten von Horrorfilmen einen inspirierenden Tatimpuls erfahren hat.
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Was die Mordmerkmale angeht, so werden im Urteil gleich zwei angeführt.
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Zum einen sei Sebastian heimtückisch vorgegangen, indem er Leonies Arg- und Wehrlosigkeit ausnutzte.
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Zum anderen wurde das Mordmerkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe bejaht.
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Die Kammer hat sich hierbei an einer Entscheidung des BGHs von 2001 orientiert,
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nach der ein Mord aus niedrigen Beweggründen, also die Tötung eines Menschen,
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die nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist,
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insbesondere dann in Betracht kommt, wenn ein Täter oder eine Täterin kein Motiv für die Tötung hat
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und auch in dem Bewusstsein handelt, keinen Grund für die Tötung zu haben oder zu brauchen.
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So war es hier, weil der Angeklagte Leonie oder auch deren Familie nicht kannte
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und Leonie damit ein reines Zufallsopfer war.
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Ja, und es eben nicht diese Übertötung gab, weil er eine Bindung zu ihr hatte oder so,
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weil davon ist man ja zuerst ausgegangen.
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Genau, man hat ja echt vor allem sich am Anfang auf das Umfeld also von ihr konzentriert.
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Und wie es jetzt am Ende war, das konnte sich eben keiner vorstellen.
00:40:45
Und dazu sagt der Vorsitzende noch,
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Weil Sebastian erst 19 Jahre alt ist und in seiner Entwicklung laut Gutachten Reife verzögert,
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wird er zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt.
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Strafmildern sei berücksichtigt worden, dass Sebastian ein paar Bier getrunken habe und daher geringfügig enthemmt war.
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Außerdem sei eine gewisse Enthemmung durch den Konsum von Horrorfilmen nicht ausgeschlossen.
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Auch seine schwierige Kindheit, die Tatsache, dass er vorher noch nie straffällig wurde
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und dass er sich vor Gericht bei den Eltern entschuldigt hat, sei bei der Strafhöhe berücksichtigt worden.
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Aber weil die Tat so brutal war, Sebastian in den innersten Schutzbereich der Familie eindrang
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und für ihn vorhersehbar gewesen sei, dass durch die Tötung einer Zwölfjährigen
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schweres Leid über die Familie kommen würde,
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habe das Gericht auch unter Einbeziehung der Strafmildern-Gesichtspunkte
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keine geringere Jugendstrafe als 10 Jahre aussprechen können, so die Urteilsbegründung.
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Die Länge der Strafe sei aber auch deswegen nötig, um die Persönlichkeitsdefizite des Angeklagten anzugehen
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und damit ein mögliches Gefährdungspotenzial zu mindern.
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Wesentliches Vollzugsziel müsse sein, durch sozialpädagogische oder psychotherapeutische Maßnahmen
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auf die Persönlichkeitsentwicklung von Sebastian einzuwirken.
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Und genau darum wird es in den nächsten Jahren für ihn in Haft gehen,
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sich mit sich selbst und seiner Tat auseinanderzusetzen.
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Mit dem Tod ihrer Tochter, mit dem Margit und Karl jeden Tag konfrontiert werden.
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Und mit dem sie sehr unterschiedlich umgehen.
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Während Karl nach zwei Monaten wieder zur Arbeit geht und sich zurück in den Alltag kämpft,
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steht für Margit seit dem 11. Februar 2002 die Welt still.
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Die Depression hat ihren Griff fest um die mittlerweile 42-Jährige geschlungen und sie gelähmt.
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Auch jetzt noch, nach der Verurteilung des Mörders ihrer Tochter,
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kann sie nicht zurückfinden in ein Leben, das für sie lebenswert ist.
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Margit wünscht sich, es zu können, wünscht sich, ein bisschen mehr zu sein wie Karl.
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Wie hat er es geschafft, weiterzumachen? Und wieso kann sie es nicht?
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Doch Karl kann es ihr nicht erklären, ihr nicht bei ihrer Verarbeitung helfen, auch wenn er es will.
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Irgendwann hält die Ehe die unsichtbare Distanz zwischen den beiden nicht mehr aus und zerbricht.
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Margit zieht aus dem Haus aus, das so viele schöne Erinnerungen gepachtet hat.
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Aber auch eine, die alles zerstört hat. Die dafür gesorgt hat, dass es sich nicht mehr nach einem Zuhause anfühlt.
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Und mit Margit ziehen nach und nach auch die Fotos von Leonie aus.
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Nur eine einzige Bleistiftzeichnung seiner Tochter behält Karl.
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Zu hart ist es für ihn, sein fröhliches Kind für immer eingefroren in Bilderrahmen um sich zu haben.
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Für Karl ist die ganze Situation genauso schwer wie für Margit, das weiß sie.
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Er hat erzählt, er habe bis heute den Geruch seiner toten Tochter in der Nase.
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Wie konnte das alles so schief laufen?
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Margit erinnert sich noch gut an die erste Zeit zu dritt.
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Karl hatte eineinhalb Jahre Elternzeit genommen nach der Geburt von Leonie.
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In diesen ersten Monaten hat Karl zu seiner Tochter ein Band geknüpft, das niemals gerissen wäre.
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Jetzt ist nicht nur sein Band zu seiner Tochter gerissen, sondern auch das zu Margit.
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Die zehn Jahre, in denen der Mörder von Leonie in Haft sitzt, gehen zugleich schnell und ewig langsam vorüber.
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Immer wieder fragen sich Margit und Karl, was Sebastian wohl in dieser Zeit macht.
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Wird er therapeutisch betreut, so wie es das Gericht empfohlen hatte?
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Absolviert er eine Ausbildung?
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Hat er sie schon gebessert?
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Ist er vielleicht sogar schon entlassen worden?
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Und als der Tag seiner geplanten Entlassung immer näher rückt, werden die Fragen drängender.
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Margit will sie beantwortet wissen, damit sie nicht eines Tages beim Brötchenholen neben dem Mörder ihrer Tochter steht.
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Aber nicht nur Leonies Eltern haben sich diese Fragen in den letzten Jahren gestellt.
00:44:18
Auch die Staatsanwaltschaft.
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Und sie ist zu einer klaren Antwort auf die Frage gekommen, ob sich Sebastian gebessert hat.
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Dabei bezieht sie sich auf ein Gutachten aus dem Jahr 2010, in dem ein Psychiater zu dem Schluss gekommen war,
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dass man Sebastian keinen Hafturlaub gewähren könne, weil die Gefahr zu groß sei, dass er wieder tötet.
00:44:36
Auf Grundlage dieses Gutachtens beantragt die Staatsanwaltschaft für Sebastian die nachträgliche Sicherungsverwahrung.
00:44:43
Und so kommt es zehn Jahre nach dem Mord an Leonie zu einem neuen Prozess gegen Sebastian vor dem Landgericht Augsburg.
00:44:48
Dieses Mal sitzt Margit alleine im Schwurgerichtssaal 101.
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Sie will Sebastian noch einmal sehen, ist gespannt auf seine Veränderung und darauf, ob er die Verantwortung dafür tragen wird, was er getan hat.
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Für die 51-Jährige mit den dunklen, kurzen Haaren ist das Wichtigste, dass kein weiterer Mensch durch Sebastians Hände stirbt.
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Sollte sich bei dieser Verhandlung aber herausstellen, dass sich die psychiatrischen Sachverständigen einig darüber sind, dass Sebastian keine Gefahr mehr darstellt, dann will Margit das akzeptieren.
00:45:15
Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient, wenn er bereit ist, diese anzunehmen.
00:45:20
Zum Start des Prozesses erklärt der Vorsitzende Richter, die Kammer verwahrt sich gegen jeden Erwartungsdruck, dass der Täter auf Dauer weggesperrt wird.
00:45:27
Angesetzt sind 21 Prozestage.
00:45:30
Man möchte sicher gehen, dass die richtige Entscheidung fällt.
00:45:33
Denn eine nachträgliche Sicherungsverwahrung für einen Täter, der nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde, ist äußerst heikel.
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Ja, und generell ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung sehr umstritten.
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Warum? Da geht es jetzt in diesem Aha nochmal kurz drum.
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Beschlossen wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung erstmals 2004 vom Bundestag.
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Und zwar, um StraftäterInnen nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe weiterhin festhalten zu können,
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bei denen das Gericht bei ihrer Verurteilung keine Sicherungsverwahrung angeordnet hatte.
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Vier Jahre später wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung dann auch im Jugendstrafrecht eingeführt.
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Und 2011 hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dann aber damit beschäftigt
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und die nachträgliche Sicherungsverwahrung für drei Betroffene,
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die vor deren Einführung verurteilt wurden, für rechtswidrig erklärt.
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Und zwar mit der Begründung, dass es sich faktisch nicht, wie die Bundesrepublik Deutschland behauptete,
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um eine Maßregel der Sicherung handele, sondern um eine Strafe.
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Und zwar, weil sich die Verwahrung damals nicht deutlich genug von der normalen Haft unterschieden hat.
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Und eine Strafe darf man aufgrund des Rückwirkungsverbots nur aufgrund von Gesetzen verhängen,
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die zum Zeitpunkt der Tat schon in Kraft waren.
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Das haben wir ja auch schon ein paar Mal besprochen.
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Die Bundesrepublik hat dann darauf reagiert und deswegen trat 2013 eine Neuregelung in Kraft.
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Jetzt kann die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur dann angeordnet werden,
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wenn die Gefährlichkeit der Inhaftierten auf eine psychische Störung zurückgeht.
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Und das heißt dann aber auch, dass die Verwahrten dann mit entsprechenden Therapieangeboten
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in geeigneten Einrichtungen untergebracht werden müssen,
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die sich dann von einem normalen Gefängnis zu unterscheiden haben.
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Und für Jugendliche und Erwachsene kann sie seitdem nur noch in ganz engen Grenzen angeordnet werden,
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nämlich dann, wenn eine psychiatrische Unterbringung, die im ersten Urteil verhängt worden sein muss,
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keinen Erfolg mehr verspricht, von der jugendlichen oder heranwachsenden Person,
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aber trotz dieser Heilungsversuche immer noch eine hohe Wiederholungsgefahr für schwere Straftaten ausgeht.
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Zum Zeitpunkt von Sebastians zweiten Prozess befinden wir uns aber noch vor der Neuregelung.
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Und so wird sich in den nächsten Verhandlungstagen Sebastians Zeit in Haft ganz genau angeschaut.
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Während seiner Therapie im Gefängnis habe er nach eigenen Angaben einen Rückfallpräventionsplan erstellt,
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in welchem er Warnsignale aufgelistet habe.
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Horrorfilm und Alkoholkonsum, Rückzug und Abschotten, Probleme nicht klären und sich einer Situation nicht stellen.
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Er habe sich geändert, sei nicht mehr gefährlich, wenn es nach ihm und seinem Parteidiger geht.
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Doch die Flucht in die Fantasiewelt habe noch immer einen großen Stellenwert in Sebastians Leben,
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erzählt ein Sachverständiger vor Gericht.
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Vor allem in belastenden Situationen.
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Aber auch wenn es zum Beispiel um seine Zukunft gehe.
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So stelle sich Sebastian oft vor, ein Star zu werden.
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Auch wenn es ausgebrochen schwer sei, ein Star zu sein, so hatte Sebastian es dem Gutachter erzählt,
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träumt er von einer Weltkarriere und möchte etwas erreichen.
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Sebastian kann sich vorstellen, beim Dart oder Bowling groß rauszukommen.
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Er möchte unbedingt berühmt werden.
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In seinem Haftraum wurden etliche Male hunderte Bilder von Stars gefunden,
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die der mittlerweile 30-Jährige aus Jugendzeitungen fein säuberlich ausgeschnitten und gesammelt hat.
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Also dazu möchte ich mal sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass man eine Weltpersönlichkeit wird,
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wenn man vorher ein zwölfjähriges Mädchen erstochen hat, relativ gering ist.
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Also Resozialisierung hin oder her, die Gesellschaft verzeiht einem nicht alles.
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Und das ist vielleicht auch gut so.
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Ja, aber daran merkt man eben, in was für einer Traumwelt er lebt, dass er das auch für möglich hält.
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Der ist total in seinem Kopf.
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Und auch im Bereich emotionaler und sozialer Kompetenzen seien immer noch gravierende Defizite festzustellen.
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Sebastian könne sich schwer in andere Menschen hineinversetzen.
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Er fühle sich in der Welt fremd und orientierungslos.
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Der Gutachter erklärt, dass Sebastians Empfinden mit der Situation eines Aliens zu vergleichen sei,
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das sich bemühe, in die Welt zu passen, was ihm aber nicht gelinge.
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Das Fazit seiner Begutachtung, Sebastian habe eine Rückfallwahrscheinlichkeit von mehr als 50%.
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Der zweite Gutachter, der geladen wird, hält dagegen eine Freilassung unter bestimmten Bedingungen für möglich.
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Am 15. November 2012 spricht die Kammer ihr Urteil.
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Sie schließt sich der Einschätzung des ersten Sachverständigen an.
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Sebastian bleibt in Sicherungsverwahrung.
00:49:44
Der Vorsitzende schiebt nach seiner Urteilsbegründung noch hinterher,
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dass er der Meinung ist, dass die Gefahr, die immer noch von Sebastian ausgeht, an den äußeren Umständen liegt.
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Die Justiz habe sich in den vergangenen Jahren nicht ausreichend um ihn gekümmert.
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Zu wenig Therapie, zu wenig Ausgänge aus der JVA, zu gering die Chancen einer Wiedereingwiederung in die Gesellschaft.
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Wobei man hier vielleicht auch noch dazu sagen muss, das hat uns der Experte Dr. Mayer erklärt,
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ist, dass Menschen mit einer Bindungsstörung gar nicht so gut auf Therapie anspringen,
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weil es ihnen, wie bei anderen Beziehungen auch, super schwerfällt,
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überhaupt eine Verbindung mit dem Therapeuten oder der Therapeutin aufzubauen.
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Als ein Jahr später die Neuregelung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung in Kraft tritt, ändert das für Sebastian nichts.
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Sein Anwalt versucht es zwar auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte,
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doch er scheitert und Sebastian sitzt bis heute in Sicherungsverwahrung.
00:50:34
Nach all dem, was Margit über den Mörder ihrer Tochter gehört hat, findet sie die Entscheidung des Gerichts richtig.
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In einem Interview sagt sie, wenn ihr unfähig seid, ihn zu ändern, behaltet ihn.
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Für sie war es ungemein wichtig, beim Prozess dabei zu sein und zu hören, was aus Sebastian geworden ist.
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Die Unwissenheit der letzten Jahre fand sie unerträglich.
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Damit es anderen Menschen nicht so geht wie ihr, setzt sich Margit heute für den Opferschutz ein,
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dass Angehörige mehr Infos über die TäterInnen erhalten.
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Darüber, wie die Haft läuft, ob sie Therapie machen, wann sie entlassen werden.
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Ich habe mich nämlich auch schon gewundert, dass die überhaupt da informiert wurde,
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dass das Gericht jetzt darüber entscheidet.
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Da muss man ja schon echt hinterher sein.
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Du kriegst ja nicht einfach ein Schreiben, dass das jetzt passiert.
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Denn vor dem Tag, an dem Sebastian entlassen wird, hat Margit immer noch große Angst.
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Solch ein Engagement gibt ihr Kraft und einen Sinn.
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Arbeiten kann die heute Mitte 60-Jährige schon lange nicht mehr.
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Brustkrebs hatte die gelernte Elektroingenieurin zum ersten Mal aus dem Leben geworfen.
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Er hatte ihr große Angst gemacht.
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Davor, dass sie nicht mehr für ihre Kinder da sein wird, sie nicht mehr aufwachsen sieht.
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Dann hatte sie den Krebs besiegt, nur damit ihr der Boden kurze Zeit später
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ein zweites Mal unter den Füßen weggerissen wird.
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Mit dem eigenen Schicksal klarkommen ist akzeptieren, ist eine Aufgabe, die man meistern muss,
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um weiterleben zu können.
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Das macht Margit heute, 22 Jahre nach der Tat.
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Trotzdem denkt sie jeden Tag an ihre Tochter und es versetzt ihr jedes Mal einen kleinen Stich
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ins Herz, wenn sie wieder einmal mitbekommt, dass eine Freundin von Leonie heiratet oder ein
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Kind bekommt. So gerne wäre sie heute für ihre geliebte Tochter da und die Oma für Leonies
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Kinder. Und nicht mehr in diesem Horrorfilm gefangen, in dem Sebastian Regisseur spielte.
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Ich frage mich wirklich, was in dem Moment bei dem eskaliert ist. Ich kann mir denken, dass
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das erste Mal, als er halt eben dieses Outfit anhatte und Leute den toll fanden, dass er dann
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dachte, jetzt habe ich irgendeine Art von Macht. Ja, hat das Gericht ja auch später festgestellt,
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so jetzt ist er wer. Jetzt hat er die Fähigkeit, andere Menschen zu erschrecken, irgendeine Reaktion
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auszulösen bei denen, aber dass das so schnell kippt. Also von erschrecken zu, ich steche jetzt
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jemanden ab. Ja, und vor allem in Anbetracht dessen, dass er vorher noch nie straffällig wurde und auch
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jetzt nicht ein aggressiver Mensch war oder so, sondern ja auch, wie er dann später im Gericht und vor
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den Beamtinnen saß, total emotionslos ist. Ja, das ist wirklich gruselig und ich finde auch deswegen einen
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besonderen Fall und ihn wichtig zu erzählen, das hatten wir noch nicht oft hier, weil das ja auch wieder
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verboten wurde, aber ich meine, dass jemand, der so jung ist, so lange in Sicherungsverwahrung sitzt und er
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sitzt da seit mehr als 20 Jahren, hat Therapie, aber die PsychiaterInnen sind sich sicher, er ist immer noch
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eine Gefahr. Das muss man sich mal vorstellen so, ja. Ja, gut, nun haben wir ja aber auch gehört, dass die Therapie
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da zum Teil nicht wirklich gut angeschlagen hat, was auch nicht unbedingt seine Schuld war in dem
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Moment, ja. Ja. Das ist natürlich auch bitter, dass du so eine Sicherungsverwahrung bekommst und dann
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heißt es eigentlich, da muss man Therapieangebote kriegen und dann ist das alles unzureichend, was
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du da kriegst, ja. Ja. Also als ich von dieser Tat zum ersten Mal gehört habe, habe ich gedacht, sowas kann
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gar nicht passieren. Du denkst ja wirklich, du bist im falschen Film, dass jemand als Screamkiller
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verkleidet ist und dann auch noch mit einem Messer in dein Haus einbricht und dein Kind im Kinderbett
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ersticht. Ja. Ja, das hört sich an wie in einem Film, das ist so krass und ich kann mir vorstellen, dass es
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auch deswegen so schwierig ist, das überhaupt zu akzeptieren, weil das so fernab von jeder
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Vorstellungskraft ist. Ja und die Familie tut einem wirklich so leid, also was für ein grauenhaftes
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Bild, seine eigene Tochter tot im Kinderzimmer zu finden. Also das Kind wurde den genommen und dann
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hat es die Ehe auch am Ende noch kaputt gemacht und ist einfach tragisch. Ja, voll. Und jetzt aber zur
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nächsten Folge. Neulich hatten wir eine Nachricht im Postfach auf Instagram von einer Frau, die uns
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erzählt hat, dass das Verbrechen, was in ihrer eigenen Familie passiert ist, sie schon seit Jahren
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beschäftigt. Und mit dieser Familie haben wir Kontakt aufgenommen und die Geschichte dazu hört ihr in der
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Rechtliche Abnahme und Beratung, Abel und Kollegen.