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#164 Die maske des todes

Mordlust.
Willkommen bei Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
In jeder Folge erzählen wir einen bedeutsamen, wahren Kriminalfall nach,
ordnen den für euch ein, erörtern und diskutieren die juristischen,
psychologischen oder gesellschaftlichen Aspekte
und sprechen mit Menschen mit Expertise.
Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von echten Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
Das machen wir auch, selbst dann, wenn wir zwischendurch mal ein bisschen abschweifen.
Das ist für uns immer so eine Art Comic-Oleaf,
aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
Und ich entschuldige mich jetzt schon,
denn meine Stimme hört sich wahrscheinlich noch nerviger an als sonst, weil ich krank bin.
Bevor wir mit der heutigen Folge starten, die ziemlich gruselig anfängt,
würde ich gerne passend dazu mit dir über Horrorfilme reden.
Ja.
Was hältst du von Horrorfilmen?
Also wenn man ein Gefühl hervorrufen möchte auf Zwang,
funktioniert das mit Horrorfilmen bei mir, glaube ich, ganz gut.
Ich habe dieses Jahr, glaube ich, zwei Horrorfilme gesehen.
Weißt du, ich finde, viele Horrorfilme sind einfach schlecht gemacht,
aber ich bin natürlich auch nicht im Game drin.
Ich glaube, es gibt sehr viele gute Horrorfilme,
aber es ist kein Genre, was großes Ansehen genießt und auch keins,
was ich jetzt viel gucke, weil ich eh so eine Person bin,
eigentlich vorm Schlafen gehen lieber nochmal unter das Bett gucken würde.
Ja, und gerade deswegen finde ich das so interessant,
dass du trotzdem immer mal wieder Horrorfilme guckst und die ja sogar auch im Kino anschaust.
Äh?
Oder?
Nur unter Zwang.
Ah.
Ja, also ich habe einmal The Nun gesehen.
Ja.
Das war gezwungen und ich habe mir die Hände vor das Gesicht gehalten
und mir wurden die Arme runtergerissen.
Also das war wirklich grauenhaft, dieser Film.
Aber kennst du zum Beispiel Der Verbotene Schlüssel mit Kate Hudson?
Nein.
Das ist ein Horrorfilm, den hatte ich sogar damals auf DVD, weil ich den so gut fand.
Aber gruselig.
Ja?
Ja.
Also den würdest du mir empfehlen?
Ja.
Weil ich will eigentlich auch keine Gruselfilme gucken.
Ich hätte das dann alles gemacht als Teenager, ne?
Mhm.
Wo das dann was Besonderes ist und cool oder so.
Vor allen Dingen, wenn du einen Horrorfilm guckst, der von der FSK-Freigabe, also nicht deinem Alter entspricht, ne?
Aber das war doch früher auch immer so eine Art Mutprobe, oder?
Man hat sich dann so mit Freunden getroffen, um das zu gucken.
Ich habe es dir ja auch schon mal erzählt, dass ich damals jahrelang verstört war, nachdem wir Der Exorzismus von Emily Rose geguckt haben.
Ja, so sinnfrei.
Ja, das ist irgendwie eine Art Mutprobe.
Keiner will es, glaube ich, wirklich machen, aber dann ist es so, ja, aber wir sind doch cool.
Und dann haben wir sogar einmal, sind wir in einen Wald gefahren, in so eine Hütte, die hat dem Vater von einer Freundin gehört, so eine ganz kleine Hütte.
Und dann haben wir extra dann uns nur getroffen, um einen Horrorfilm oder mehrere Horrorfilme in dieser Nacht in dieser Hütte zu gucken.
Meine damalige Mitbewohnerin hat ja auch leidenschaftlich gerne Horrorfilme geschaut.
Und ich fand das immer ganz interessant.
Es gibt tatsächlich auch Studien dazu, warum man das macht.
Also das nennt sich diese Freizeitangst.
Also quasi, dass man sich eine Angst zum Vergnügen aussetzt, wenn man in einer sicheren Umgebung ist.
Und das ist natürlich der Fall, wenn man irgendwie auf der Couch sitzt oder so.
Und ich glaube, da sind wir mit dem Podcast ja auch nicht so weit weg von.
Das spiegeln uns ja auch viele HörerInnen.
Und das liegt an diesem ausgeschütteten Dopamin, weil wir dann in diesen Kampf- oder Fluchtmodus wechseln.
Und das wiederum sorgt dann dafür, dass das Hirn quasi runterfährt und Stress abfällt.
Und das fand ich voll interessant, weil man bei diesen Studien auch herausgefunden hatte, dass offenbar regelmäßiger Horrorfilmkonsum eine Art Bootcamp für die Psyche sein kann.
Und dass man dadurch quasi eine psychologische Resilienz erhöhen kann.
Weißt du, wie eine Art Konfrontationstherapie.
Ja.
Okay.
Also ist dein Rezept hier jetzt, dass die Leute mehr Horrorfilme anschauen sollten?
Ja, das weiß ich nicht.
Das kommt natürlich auf die Person an.
Aber sollten sich Leute jetzt denken, ich will davon jetzt mehr gucken.
Welcher war der schlimmste Horrorfilm, den du je gesehen hast?
Für mich ist es immer besonders schlimm, wenn so eine paranormale Ebene dazukommt.
Deswegen war für mich immer The Ring am schlimmsten.
Genau, also mit Zorn und sowas, das macht mir irgendwie nichts.
Aber diese paranormalen Sachen finde ich grauenhaft, ja.
Ja.
Irgendwie spannend, aber irgendwie auch naheliegend, dass wir jetzt mit Gewaltdarstellung umgehen können.
In dem wirklich unfassbaren Fall, den wir gleich erzählen, geht es auch um Horrorfilme und um die Frage, ob sie Menschen zu TäterInnen machen können.
In der Erzählung haben wir alle Namen geändert und die Triggerwarnung findet ihr wie immer in der Folgenbeschreibung.
Schieb es nicht auf die Filme.
Niemand wird durch sie wahnsinnig.
Zitat aus dem Horrorfilm Scream.
Naja, das ist auch so eine verpackte, vorauseilende Rechtfertigung, ne?
Also wenn in einem Horrorfilm jemand sagt, von Horrorfilmen wird man nicht wahnsinnig.
Wollen sich von aller Verantwortung schon mal gleich am Anfang lossprechen.
Rosenmontag 2002.
Die roten Straßenlaternen, die rechts und links entlang der Hauptstraße stehen, werfen ihre Lichtkegel auf die Bürgersteige wie kleine Spotlights.
Und die Menschen, die in dieser Nacht aus dem Bus an der Haltestelle St. Emmeram steigen, könnten in einem Film mitspielen.
Aufwendig maskiert und in bunten Kostümen wanken sie nach Hause.
Die meisten von ihnen haben eine der Faschingsveranstaltungen des kleinen Städtchens in der Nähe von Augsburg besucht.
Laut starkes Lachen schwappt aus den geöffneten Türen des haltenden Busses und verhallt sofort, als die Grüppchen sich auflösen und jeder den Heimweg antritt.
Beobachtet wird die nächtliche Szene von einer Figur, die etwas abseits steht.
Ohne lang zu zögern heftet sich die dunkle Gestalt, die als tot verkleidet ist, mit wehendem schwarzen Umhang an die Fersen einer Frau.
Bei der Verfolgung durch die angrenzende Siedlung prüft der ganz in schwarz gekleidete Mann immer wieder, ob seine Maske noch richtig sitzt.
Seine Jagd endet vorläufig an einem Gartentor, als die junge Frau schnellen Schrittes in einem Hauseingang verschwindet.
Der Maskierte zieht weiter und verschafft sich schließlich Zutritt zu einem Garten.
Den Mann zieht es zum hell erleuchteten Fenster, wie eine Motte zum Licht.
Gespannt beobachtet er die zwei Kinder, die drinnen auf dem Sofa sitzen.
Geduldig wartet der Mann mit der Maske, bis sie den Fernseher abschalten.
Dann setzt er sich in Bewegung.
Wie ein dunkler Schatten umrundet er das Gebäude, bis er einen Zugang findet.
Dann tritt der Tod ins Haus und sucht sich sein Opfer.
Fünf Stunden zuvor.
Margit ist müde.
Seit ihrer Brustkrebsdiagnose vor drei Jahren und den vielen Chemobehandlungen ist die 41
Jährige nicht mehr so fit wie früher.
Und dann hat gerade auch noch das befreundete Paar von ihr und ihrem Mann Karl für heute abgesagt.
Aber den Rosenmontagsball können sich die beiden eigentlich nicht entgehen lassen.
Immerhin haben sie sich genau vor 18 Jahren auf so einem Ball kennengelernt.
Als Karl nun gestiefelt und gesporn vor ihr steht, kann sich Margit ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Ihr Mann ist ein echter Faschings-Fan.
Dieses Jahr voll ausgestattet im Schlafanzug mit Zipfelmütze.
Auch ihre zwölfjährige Tochter muss lachen, als sie die Kostümierung ihres Papas sieht.
Leonie ist die Erstgeborene und der Sonnenschein der Familie.
Zwei Jahre nach ihr hat dann die Geburt des kleinen Niklas die Familie komplett gemacht.
Ihre Kinder sind Margits große Liebe und ihr größtes Glück ist es, ihnen nach der besiegten Krankheit
weiter beim Aufwachsen zusehen zu dürfen und so viel Zeit wie möglich mit ihnen zu verbringen.
Leonie und Niklas ein paar Stunden alleine zu lassen, ist für Margit gerade so zu ertragen.
Immerhin sind sie schon zehn und zwölf Jahre alt und die Stadthalle, in der die Party stattfindet,
ist nur ein paar Minuten Fußweg entfernt.
Und so verlässt Margit gemeinsam mit Karl trotz ihrer Müdigkeit um kurz vor sieben am Abend das Haus.
Der Rosenmontagsball ist ein voller Erfolg.
Margit ist froh, dass sie hingegangen ist.
Während sie jetzt ihren Rock auf der Tanzfläche schwingen lässt,
den sie sich mühevoll aus den Resten von Leonies Faschings Verkleidung der letzten Jahre zusammengenäht hatte,
dröhnen Karnevalsklassiker aus den Musikboxen.
Nach ein paar Stunden merkt die 41-Jährige dann aber, wie die Müdigkeit sie überrollt.
Gerade will sie aufstehen und mit Karl den Weg nach Hause antreten,
da fordert die Partyband die Feierwütigen zu einer Polonaise auf.
Und so ringt sich das Ehepaar dazu durch, noch kurz zu bleiben.
Ohne zu wissen, dass diese Entscheidung den unfassbaren Verlauf ihres Lebens vielleicht hätte aufhalten können.
Um kurz nach eins kommen Margit und Karl schließlich erschöpft zu Hause an.
Dass im Zimmer ihrer zwölfjährigen Tochter Leonie noch Licht brennt, ist nicht ungewöhnlich.
Die Schülerin ist eine echte Leseratte.
Manchmal schafft sie es bis tief in die Nacht, nicht ihr Buch wegzulegen.
Doch als Margit Leonies Zimmertür mit dem Diddlblatt, auf dem
Eltern bitte draußen bleiben steht, vorsichtig öffnet,
überrascht sie ihre Tochter nicht wie gewohnt mit einem Buch in der Hand im Bett.
Leonie liegt auf dem Boden und der helle Teppich um sie herum ist von dunklen Blutflecken übersät.
Schreiend weist Margit Karl an den Rettungswagen zu rufen.
Dann widmet sie sich ihrer Tochter.
Als sie beginnt, das regungslose Kind zu beatmen, spürt sie,
wie die Luft, die sie Leonie in den kleinen Körper pumpt, an anderen Stellen wieder austritt.
An den Stellen, an denen Leonies Oberkörper von tiefen Schnittwunden gezeichnet ist.
Nachdem Karl den Notruf verständigt hat, übernimmt er.
Doch auch seine Wiederbelebungsmaßnahmen sind vergebens.
Als der Rettungswagen kurze Zeit später eintrifft, kann nur noch Leonies Tod festgestellt werden.
Margit und Karl sind zu spät gekommen.
Wie die Ermittlungen später ergeben, nur ungefähr 15 Minuten zu spät.
Dass ihre Tochter tot ist, kommt bei Margit nicht an.
Sie sitzt noch Stunden später unten im Wohnzimmer und fragt,
wieso die Rettungskräfte Leonie nicht endlich ins Krankenhaus bringen.
Als man ihr erklärt, dass Leonies Leiche mittlerweile auf dem Weg in die Pathologie ist,
kann sie es nicht fassen und wird wütend.
Margit will ihr Kind zurück.
Sie will nicht, dass Leonie irgendwo in einem sterilen, kalten Raum aufgeschnitten und untersucht wird.
Sie will sie in ihrem Arm halten und ihr Trost, Wärme und Liebe spenden.
Erst nachdem man ihr verspricht, dass sie die Leiche morgen Abend noch einmal sehnen und sich verabschieden kann,
beruhigt sie sich ein wenig.
Und dann ist da ja aber auch noch Niklas, ihr zehnjähriger Sohn,
der tief und fest schlief, als seine Schwester starb und der seine Mama jetzt mehr braucht als je zuvor.
Die Nachricht, dass eine Zwölfjährige getötet wurde,
während die Eltern auf einer Faschingsveranstaltung tanzten,
verbreitet sich am nächsten Tag in der Augsburger Umgebung wie ein Lauffeuer.
Vor allem die BewohnerInnen des kleinen Städtchens, aus dem die Familie kommt, sind schockiert.
Die Gräueltat überschattet das sonst so heitere jährliche Faschingstreiben des 20.000-Seelen-Orts
und niemand kann sich vorstellen, wer hinter solch einer Tat stecken könnte.
Auch die Soko Leonie, die die Augsburger Kriminalpolizei am Morgen gegründet hat, steht vor einem Rätsel.
Die Spurensicherung konnte am Haus von Margit und Karl trotz intensiver Suche keine Einbruchsspuren sicherstellen,
weder an den Türen oder den Fenstern noch am Balkon.
Das Einzige, was die BeamtInnen bisher finden konnten, ist die Tatwaffe.
Ein 31 cm langes Küchenmesser mit Qualität made in Soling-Gravur war im Nachbarsgarten gefunden worden.
Nachdem die Soko von Margit und Karl erfahren hat, dass dieses Messer nicht aus ihrem Besitz stammt,
geht es jetzt darum, herauszufinden, wo man es kaufen konnte und wer so ein Messer besaß.
Weil es keine Einbruchsspuren gibt, vermutet die Soko, dass Leonie den Täter bzw. die Täterin kannte.
Was außerdem für eine Beziehung, welcher Art auch immer, zwischen Opfer und Täter entspricht,
sind die Ergebnisse der Obduktion.
Denn dem kleinen Körper wurden 21 Messerstiche zugefügt, teilweise mit enormer Wucht.
Eine klassische Übertötung, die häufig auf ein persönliches Motiv hindeutet.
Um die Person, die diese grausame Tat begangen hat, so schnell wie möglich zu finden,
setzt die Polizei als Belohnung für zielführende Hinweise 10.000 Euro aus.
Der Bürgermeister erhöht die Summe um weitere 25.000.
Die Soko ist jetzt dringend angewiesen auf Hinweise aus der Bevölkerung.
Die Ermittlenden wollen die letzten Wochen im Leben der Realschülerin lückenlos rekonstruieren,
um Antworten auf die Fragen zu finden, mit wem war sie zusammen, wen hat sie getroffen, worüber hat sie gesprochen.
Dazu werden etliche Menschen aus ihrem direkten Umfeld befragt.
Viele davon geben zudem freiwillig ihre DNA-Proben ab.
Aber nicht nur Personen, die Leonie gekannt haben, werden von der Polizei aufgesucht.
Auch AnwohnerInnen aus der näheren Umgebung, Faschingsfans des Rosenmontagsballs in der Stadthalle und KneipenbesucherInnen sollen Auskunft darüber geben,
ob sie an dem Abend von Leonies Tod etwas Ungewöhnliches beobachtet haben.
Als bei dieser Befragung eine junge Frau von einem Mann mit Totenmaske berichtet,
den sie in der Nähe des Hauses von Margit und Karl gesehen hat, werden die Ermittlenden hellhörig.
Sie fangen an, explizit nach dem maskierten Mann zu fragen und treffen schon kurze Zeit später auf eine Gruppe junger Menschen,
die eine Person mit langem schwarzem Umhang und einer weißen Gesichtsmaske am Abend des Rosenmontags in einer Kneipe getroffen hat.
Die Gruppe war auf den Fremden aufmerksam geworden, nachdem er den Raum mit den Worten
»Ich bin der Tod« betrat.
Zwei Frauen aus der Clique hatten den Tod um ein Foto gebeten und dieses Bild legt der Soko nun vor.
Darauf zu erkennen ist ein dünner Mann in schwarzem Umhang, der eine Maske trägt,
die dem berühmten Bild mit dem Titel »Der Schrei« von Edward Munk nachempfunden ist.
Bekannt ist die weiße Maske aus dem Horrorfilm »Scream«, in dessen erster Szene eine Schülerin von einem Mann mit einem Messer erstochen wird,
der genau diese Maskierung trägt.
Natürlich kann man auf dem Foto niemanden identifizieren,
aber die BeamtInnen hoffen, dass irgendjemand weiß, wer sich an diesem Abend in diese Verkleidung geschmissen hat.
Deshalb entscheiden sie sich dafür, das Foto im Internet zu veröffentlichen.
Während die Polizei nach dem Tod sucht, versuchen Margit und Karl das Unfassbare zu begreifen.
Ihre zwölfjährige Tochter wurde in ihrem eigenen Kinderbett getötet, während sie auf der Tanzfläche standen.
Wie geht man damit um?
Was macht man in den Tagen danach?
Margit und Karl werden psychologisch betreut.
Ansonsten funktionieren sie, organisieren die Beerdigung, geben Interviews.
Wann immer sie sich in diesen Tagen in den Medien zu Wort melden, treten sie gemeinsam auf,
wobei sie die Gespräche mit den JournalistInnen immer in Hotels führen.
Sie fühlen sich nicht wohl dabei, Fremde in das Haus zu lassen, ihr Zuhause, das zum Tatort wurde.
Wenn sie vor den Mikros sitzen und vom schlimmsten Tag ihres Lebens erzählen,
tragen sie schwarz und halten die Hand des jeweils anderen so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten.
In dieser Zeit nimmt Margit ihre Umwelt wie durch einen tiefschwarzen Schleier der Traurigkeit und Fassungslosigkeit wahr.
Ihre Leonie ist nicht mehr da, einfach weg von einem auf den anderen Tag.
Alles, was bleibt, sind die Erinnerungen und die zahlreichen Fotos,
eingeklebt in ein Fotoalbum, das sie den MedienvertreterInnen zeigt.
Auf den ersten Seiten sieht man ein kleines Baby im Krankenhausbettchen.
Danach folgen Fotos von dem zarten Mädchen mit den langen, dunklen Haaren,
den Sommersprossen und der Brille beim Skifahren oder beim Reiten.
Wie viele Mädchen in ihrem Alter war Leonie verrückt nach Pferden.
Am liebsten war sie den ganzen Tag nur im Stall.
Margit kann sich noch gut daran erinnern, wie Leonie im Reiturlaub vor drei Jahren
nach dem Kleinen sogar das Großhufeisen gemacht hat, eine Reitprüfung mit Ressuraufgabe.
Und wie gern sie die Ohrringe in Steigbügelform getragen hat,
die Margit ihr auf Kur eigenständig angefertigt hat.
Das winzige Steinpferd, das Margit bei einem der Interviews in der Hand hält,
wollte sie Leonie eigentlich bald schenken, weil ihre Schulnoten so gut waren.
Jetzt wirkt das Miniaturpferd wie ein Strohhalm,
an den sich Margit klammert, um nicht in die Tiefe zu stürzen.
Für sie sind diese Pressetermine und Interviews eine Art Ablenkung
von der furchtbaren Stille, die sich breitmacht, wenn sie alleine ist.
Und von der einen Frage, die sie am liebsten endlich der Person stellen würde,
die sie ihr beantworten kann.
Warum?
Mehr als eine Woche nach der Tat ist die Soko weiterhin auf der Suche nach dem Maskierten.
Bei einer Befragung auf dem Gelände eines Berufsbildungszentrums fällt den Beamtinnen
dann ein junger, schlachsiger Mann auf.
Hastig läuft er umher und verteilt Flyer für den Tag der offenen Tür des Förderwerks.
Als die PolizistInnen ihm das Foto vom Rosenmontag zeigen, sagt er sofort,
das bin ich.
Endlich ist man einen Schritt weiter.
Der Mann stellt sich ihnen als Sebastian vor.
Bereitwillig begleitet der 19-Jährige die PolizistInnen aufs Revier
und beginnt vom Abend des 11. Februar zu berichten.
Doch irgendetwas stimmt nicht mit ihm und seiner Geschichte.
Das spüren die Ermittelnden sofort.
Immer wieder verstrickt er sich in Widersprüche.
Meint zum Beispiel erst Leonie gekannt zu haben und dann wieder sie noch nie gesehen zu haben.
Es dauert nicht lang, da scheint Sebastian dem Druck der Befragung nicht mehr standzuhalten.
Der junge Mann gesteht, Leonie getötet zu haben.
Und zwar in allen Einzelheiten.
Als Sebastian am Abend des Rosenmontags von seiner Mutter zum Abendbrot gerufen wird,
steckt der 19-Jährige schon in seinem Kostüm.
Die geisterhafte Maske, die schwarze Jogginghose und der lange schwarze Umhang sitzen perfekt.
Ob dem Sensenmann denn nicht noch die Sense fehle, scherzt der Freund seiner Mutter und grinst.
Wohl eher das Messer.
Denn Sebastian fühlt sich nicht wie der Sensenmann,
sondern wie ein Killer aus Scream oder Halloween.
Einer seiner Lieblingsfilme.
Etliche Male hat er den Streifen schon gesehen,
bei dem der sechsjährige Michael Myers gleich in der ersten Szene in der Küche nach einem Messer sucht,
die Treppe hinauf geht und seine Schwester mit unzähligen Messerstichen tötet.
Insgesamt hortet Sebastian mehr als 130 Filme im Regal seines kleinen Jugendzimmers mit beigefarbenen Wänden,
einer Ausziehcouch, einer Dartscheibe und Plastikspielzeug aus Überraschungseiern.
Der Teenager liebt Filme, würde selbst am liebsten Regisseur werden.
Aber das traut er sich nicht zu.
Er kann bestimmt kein Drehbuch schreiben, denkt er sich.
Bis er am Rosenmontag 2002 die Regie in seinem ganz persönlichen Horrorfilm übernimmt.
Nach dem Abendbrot macht sich Sebastian gemeinsam mit seiner Mutter und deren Lebensgefährten
gegen 18.30 Uhr zu einer Faschingsveranstaltung auf dem Festplatz auf.
Im Zelt ist es warm und gemütlich.
Die Stimmung ist gut, als sie drei am Tisch eines befreundeten Ehepaars Platz nehmen.
Irgendwann wird es Sebastian aber zu langweilig mit den älteren Leuten.
Er gesellt sich daher zu einem Freund und ein paar anderen Feierwütigen.
Als seine Mutter sich schließlich verabschiedet, drückt sie ihm noch 20 Euro in die Hand.
Er soll noch viel Spaß haben.
Das denkt sich Sebastian auch, als er die Veranstaltung um kurz nach 23 Uhr ebenfalls verlässt
und alleine weiterzieht.
Als der 19-Jährige an einer hell erleuchteten Kneipe vorbeikommt,
wird eine Gruppe Faschingsfans auf ihn und seine Maskerade aufmerksam.
Durch die Scheibe fragen die jungen Leute ihn mit einer kleinen Tafel, wer er sei.
Mit den Fingern schreibt Sebastian ein Wort an die beschlagene Glasscheibe.
Tod.
Da geht er hinein, bestellt sich ein Bier und lässt sich bereitwillig mit zwei Frauen fotografieren.
Alle sind begeistert von seiner Kostümierung.
Kurze Zeit später tritt Sebastian dann den Heimweg an.
Als er im Kurz nach Mitternacht an der Bushaltestelle St. Emmeram vorbeikommt,
bemerkt er eine junge Frau, die gerade aus dem Bus gestiegen ist.
Sie scheint ein genaues Ziel vor Augen zu haben.
Schnurstracks überquert sie die große Straße
und biegt in eine Seitengasse ein.
Hinter der Frau herlaufend beschließt er, sie zu erschrecken.
Schließlich hat er das perfekte Kostüm dafür an.
Und so wechselt Sebastian auf die andere Gehsteigseite und nimmt die Verfolgung auf.
Für ihn wird sie zur Jagd.
Als er der Frau mit immer schneller werdenden Schritten folgt,
kommt ihm zum ersten Mal der Gedanke,
dass er nicht Sebastian ist,
sondern der Killer Michael Myers
aus dem Horrorfilm Halloween.
ein Gefühl breitet sich in seinem Inneren aus, das er nicht kennt.
Das Gefühl, Macht über andere Menschen haben zu können.
Über diese Frau, die Angst vor ihm hat und die er jetzt richtig erschrecken will.
Doch als die Frau schließlich am Vorgarten eines Mehlfamilienhauses ankommt
und das kleine Gartentor hinter sich schließt, herrscht sie ihn an.
Was willst du von mir?
Schwer atmen bleibt Sebastian stehen.
Seine behandschuhten Hände legt er auf das Gartentürchen.
Die Frau dreht sich um und bewegt sich weiter auf das Haus zu, er hinterher.
Als er direkt hinter ihr am Treppenabsatz steht, schreit sie ihn an.
Hau ab, lass mich in Ruhe.
In dem Moment summt die Haustür.
Die Frau drückt sie auf und verschwindet im Flur.
Sebastian bleibt allein zurück.
Nur sein eigener Schatten zeichnet sich ab im Licht der Straßenlaternen.
Er ist enttäuscht, dass sein Plan der junge Frau zu erschrecken nicht funktioniert hat.
Das wohlige Gefühl, das er eben noch verspürt hat, ist verpufft.
Gleichzeitig steckt Wut in ihm hoch.
Sie vernebelt ihm die Sinne.
Sebastian will etwas kaputt machen, etwas zerstören.
Er blickt sich um.
Am Ende der Straße steht ein Haus mit kleinem Garten.
Die Fenster sind hell erleuchtet und fast ist es, als würde ihn das Licht magisch anziehen.
Im Wohnzimmer sitzen zwei Kinder auf dem Sofa und schauen Fernsehen.
Sie kichern und trinken blau gefärbte Limonade.
Sebastian beobachtet sie ungefähr eine Minute lang.
Dann geht er um die Ecke des Hauses und schaut nochmal durch ein anderes Fenster auf den Jungen und das Mädchen.
Von hier aus kann er sehen, was über den Bildschirm flimmert.
Die Serie Hey Arnold.
Sebastian beschließt, nachdem es bei der jungen Frau nicht geklappt hat, die Kinder zu erschrecken.
Und zwar so richtig real.
Dafür muss er ins Haus.
Mit einigem Klettergeschick schafft er es, mithilfe eines Terrassentisches und einer an der Hauswand befestigten Lampe den Balkon zu fassen zu bekommen und sich hochzuziehen.
Doch die bodentiefen Fenster sind verschlossen.
Keine Möglichkeit einzudringen.
Mit flatterndem Umhang geht es dem Balkon auf demselben Weg wieder runter.
Von diesem Manöver haben die Kinder allem Anschein nach nichts mitbekommen.
Sie sitzen immer noch vor dem Fernseher, bis das Mädchen gegen kurz nach halb eins die Austaste auf der Fernbedienung drückt.
Sebastian sieht, wie die Kinder aus dem Wohnzimmer verschwinden.
Er will nicht aufgeben, ist so nah dran.
Also sucht er nach anderen Möglichkeiten, ins Haus zu gelangen.
Dabei findet er eine nicht verschlossene Tür an der rückwärtigen Seite der Garage.
Er tritt ein, schließt die Tür von innen ab und tastet sich durch die mit einem Anhänger Werkbänken und Werkzeugen vollgestellte Garage,
bis er zur Tür gelangt, die ihn ins Erdgeschoss des Hauses führt.
Es ist warm und still.
Der Flur ist nur durch ein Deckenlicht erleuchtet.
Sebastian, oder ist es Michael Myers, schleicht durch das Wohnzimmer, dann durch die angrenzende Küche.
In seiner rechten Hand blitzt die lange Klinge von einem Messer.
Damit steigt er die Treppe in den ersten Stock hinauf und bleibt vor der zweiten Tür stehen.
Im Halbdunkel ist das Dittelblatt, das Eltern den Zutritt verbietet, gerade so zu erkennen.
Sebastian ist wie in Trance.
Leise legt er seine Hand auf die Türklinke, drückt sie nach unten und betritt den Raum.
Sofort erkennt er die Umrisse des schlafenden Kindes im Schein der brennenden Leselampe.
Eingerollt wie in einem Kokon liegt es unter einer dicken Federdecke, auf dem Bauch, das Gesicht zur Wand gedreht.
Noch circa eine Minute lang steht Sebastian einfach nur vor dem Bett.
Da bewegt sich die kleine Gestalt vor ihm auf einmal.
Scheinbar ganz intuitiv spürt sie, dass jemand da ist, der nicht da sein soll.
Als sie sich mit den Armen aufgestützt aufrichten will, sticht Sebastian ohne zu zögern zu.
Das Mädchen schnappt nach Luft, bringt aber kein Laut hervor.
Erneut stößt Sebastian zu.
Wieder und wieder mit wuchtigen Bewegungen.
Als das Mädchen versucht, sich zu wehren, fällt es mitsamt ihrer Bettdecke auf den Boden.
Als es dort regungslos liegen bleibt, wischt Sebastian die Klinge des Messers an der Decke ab und verlässt das Kinderzimmer.
Im Erdgeschoss löscht er das Flurlicht und schiebt behutsam einen Blumentopf zur Seite, damit er die Terrassentür öffnen kann.
Die Luft ist kalt und feucht vom Raureif.
Leichtfüßig steigt Sebastian über den hölzernen Gartenzaun und tritt den Heimweg an.
Im Weggehen wirft er das Messer in den Vorgarten des Nachbarhauses.
Dann verschwindet er in der Dunkelheit.
Die Ermittlenden sind schockiert.
Was ihnen der junge Mann vor ihnen mit emotionsloser Miene erzählt, hört sich unfassbar an.
Er habe ein zwölfjähriges Mädchen getötet, weil er es erschrecken wollte.
Auf den Hinweis, man hätte den Kindern doch auch ohne Messerangst einjagen können,
erklärt Sebastian, dass bei ihm in dem Moment eine Sicherung durchgeknallt sein muss.
Um sein Geständnis zu überprüfen, durchsuchen BeamtInnen sein Kinderzimmer.
Dabei stoßen sie nicht nur auf die Scream-Maske und den schwarzen Umhang,
den der Jugendliche in der Nacht vom Rosenmontag getragen hat,
sondern auch auf etliche Horrorfilme, die in seinem Regal stehen.
Die Neuigkeit, dass es eine Festnahme im Fall Leonie gab, spricht sich schnell herum in der kleinen Stadt.
Niemand kann glauben, dass einer von ihnen zu so einer tatfähig sein soll.
Und dann noch jemand, der selbst fast noch ein Kind ist.
Die Zeitung titeln Schlagzeilen wie
Der jugendliche Mörder kam als der Tod.
Und die LeserInnen fragen sich, wie konnte es dazu kommen?
Und was haben die Unmengen an Horrorfilmen, die bei dem Verdächtigen gefunden wurden, damit zu tun?
So und jetzt springen wir mal raus aus der Erzählung und widmen uns unserem ersten Aha.
Und das geht um die oft gestellte Frage,
machen denn Gewaltdarstellung Menschen zu TäterInnen?
Am Anfang dieser Folge hat Laura ein Zitat aus Scream vorgelesen.
Schieb es nicht auf die Filme.
Niemand wird durch die wahnsinnig.
Aber diese Debatte kommt immer mal wieder auf.
Und ihr ahnt es vielleicht schon, häufig geht es da nicht nur um Gewalt in Filmen,
sondern auch in Videospielen natürlich.
Erst neun Monate vor dem Tod von Leonie hatte man sich in Deutschland mit dem Thema Ego-Shooter beschäftigt,
nachdem ein 19-Jähriger an seiner ehemaligen Schule 16 Menschen erschossen hatte.
Bei dem Amok-Schützen wurden nämlich nach der Tat nicht nur Filme wie Fight Club, Predator und Desperado gefunden,
sondern auch Ego-Shooter-Spiele wie Return to Castle Wolfenstein, Half-Life oder Hitman.
Und letzteres war zum Tatzeitpunkt sogar indiziert.
Also es war auf der Liste der jugendgefährdenden Medien.
Man hat jetzt nicht nachgewiesen, dass der Amok-Schütze wegen dieser Medien diese Tat begangen hat
und dass der Konsum von Gewaltdarstellungen zu Gewalttaten führt.
Das kann man so einfach auch nicht sagen.
Es gab zwar schon etliche Studien zu dem Thema, aber eine eindeutige Ursache-Folgeerklärung
gibt es zur Wirkung von Mediengewalt bisher nicht.
Unstrittig ist aber, dass mediale Gewalt in der Lage ist, die KonsumentInnen gefühlsmäßig zu erregen
und auch sie an Gewalt in den Medien zu gewöhnen.
Daraus kann man aber nicht automatisch auch auf eine Abstumpfung gegenüber realer Gewalt schließen.
Da müsste ich auch dazu sagen, dann hätten wir hier auch ein Problem,
weil wir beschäftigen uns so viel mit Gewaltdarstellungen und so.
Vor uns muss, glaube ich, keiner Angst haben.
Das stimmt.
Allerdings haben verschiedene Studien ergeben,
dass aggressives Verhalten in Filmen oder Spielen eher übernommen wird,
wenn die KonsumentInnen sowieso eher zu Gewalt neigen
und wenn sich Situationen aus ihrem echten Leben denen in den Medien ähneln.
Was man vor allem in Langzeitstudien in Bezug auf Kinder und Jugendliche festgestellt hat,
ist, dass mediale Gewalt bei häufigem Konsum das Aggressionspotenzial steigern
und zu einem Empathieverlust führen kann.
Kann ist ganz wichtig.
Nicht, dass es so ist.
Und das hat damit zu tun, dass Kinder und Jugendliche noch keinen so großen Erfahrungsschatz wie Erwachsene haben.
Das hat uns auch Prof. Simon Eickhoff, Leiter des Instituts für Systemische Neurowissenschaften
an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, im Interview erklärt.
Den jungen KonsumentInnen fehle meist die Fähigkeit,
die Situation in einem Horrorfilm realistisch einzuschätzen und kritisch einzuordnen.
Meist sei diese Fähigkeit erst im Teenager-Alter vollständig entwickelt, so Eickhoff.
Besonders problematisch seien die Darstellungen laut Studien,
wenn die mediale Gewalt als gerechtfertigt präsentiert wird,
das Verhalten nicht bestraft wird oder die gewalttätigen ProtagonistInnen so dargestellt werden,
dass sich Kinder und Jugendliche mit ihnen identifizieren wollen.
Wichtig an der Stelle aber zu betonen ist, dass die mediale Gewalt nur ein Faktor ist,
der mit anderen zusammen auftritt.
Was sich natürlich auch auf das Aggressionspotenzial auswirkt, ist die eigene Persönlichkeit
und ob man selbst vielleicht auch schon mal Gewalt erfahren hat im Leben.
Welche Rolle die Horrorfilme bei Sebastians Tat gespielt haben, soll der Prozess zeigen.
Der ein Jahr später vor der Jugendkammer des Landgerichts Augsburg beginnt.
Die BesucherInnenanzahl an diesem ersten Verhandlungstag ist groß.
Schon um 8 Uhr morgens stehen die Leute in Schlangen vor dem pittoresken,
rosafarbenen Gebäude mit den hellen Säulen an, um einen Sitzplatz zu ergattern.
Als der Maskenmörder, wie der Angeklagte von der Presse genannt wird,
vorbei an den Metalldetektoren in den holzvertefelten Schurgerichtssaal mit der Nummer 101 geführt wird,
wirkt er wieder wie verkleidet, in dem biederen grauen Anzug.
Die Maske, die er heute trägt, ist die eines Emotionslosen.
Nur kurz, als er Margit und Karl erblickt, huscht eine Regung über das Gesicht des Mannes,
der hinter einer schusssicheren Glaswand sitzt.
Danach hat er sich wieder unter Kontrolle.
So bleibt es auch, als die Staatsanwältin die Anklage vorträgt und ihm darin vorwirft,
die zwölfjährige Leonie in der Nacht des Rosenmontags vor einem Jahr heimtückisch
und aus niedrigen Beweggründen getötet zu haben.
Und selbst als der Angeklagte zu Wort kommt, hört es sich an,
als wäre er nicht wirklich anwesend und würde von einem Blatt ablesen.
Dabei wiederholt Sebastian sein Geständnis minutiös und detailliert.
Jedoch mit einem kleinen, aber feinen Unterschied.
Und zwar will er sich jetzt daran erinnern, dass Leonie um Hilfe gerufen habe
und er deshalb panische Angst bekam, ihre Eltern könnten ihn hören und wegen Einbruchsanzeigen.
Dies sei der Auslöser gewesen, weshalb Sebastian auf Leonie eingestochen habe.
Darauf angesprochen, dass seine Angaben vorher anders gelautet haben,
erklärt der Angeklagte, so wie er es heute sage, sei es die Wahrheit und werde es immer die Wahrheit bleiben.
Wenn er in den ersten Vernehmungen einen Hilferuf verneint habe,
liege das nur daran, dass er bei den ersten Befragungen
Zitat völlig mit den Nerven am Ende gewesen sei.
Auf die Nachfrage des Vorsitzenden, wie laut der Hilferuf war,
erklärt Sebastian eher weniger laut.
Geplant sei die Tötung auf jeden Fall nicht gewesen
und mit seinen Horrorfilmen hätte die Tat auch nichts zu tun.
Alle Ähnlichkeiten zu dem Film Halloween seien reiner Zufall.
Richtig sei aber, dass er, wie Michael Myers, in die Küche gegangen sei
und sich da die Tatwaffe geholt habe.
Hartnäckig bleibt er dabei, das Messer nicht selbst mitgebracht zu haben,
sondern es sich erst vor Ort quasi in einem spontanen Impuls genommen zu haben.
Obwohl Leonies Eltern mehrmals versichert haben, dass dieses Messer nie in ihrem Besitz war.
Nach seiner Einlassung wendet sich Sebastian direkt an Margit und Karl.
Ich möchte mich zutiefst bei der Familie entschuldigen, dass ich ihr die Tochter genommen habe,
sagt der mittlerweile 20-Jährige.
Ich hoffe, dass sie mir irgendwann verzeihen können.
Diese Worte lösen bei Margit nicht viel aus.
Sie hasst den jungen Mann auf der Anklagebank nicht.
Er ist ihr egal.
In einem Interview hatte sie vor dem Prozess erklärt, dass ihr nur wichtig sei,
dass klar wird, dass Menschen wie er wegen dieser Horrorfilme in einer Welt leben,
die nicht real, voller Gewalt und Grausamkeit ist.
Was sie mit Menschen wie er meint, wird klar,
als sich die Kammer in den nächsten Verhandlungstagen
Sebastians Psyche und seine Vergangenheit anschaut.
Sebastian kommt ungewollt ins Leben.
Für seine Eltern ist der Säugling eine Last.
Liebe empfinden sie für ihn nicht.
In seinem ersten Lebensjahr wird der Junge daher stark vernachlässigt.
So stark, dass man ihn schließlich völlig verwahrlost und Mangel ernährt in einem Heim unterbringt.
Doch auch da erfährt das Kleinkind Ablehnung.
Niemand möchte Sebastian adaptieren.
Und mit jedem weiteren Jahr, das dazukommt und jedem Zentimeter, den er wächst,
sinken die Chancen, dass er in einem warmen Zuhause aufgenommen wird.
Alle wollen nur die Babys, ist ein Spruch, der meist wahr ist im Kinderheim.
Doch dann, als Sebastian fünf Jahre alt ist, ändert sich plötzlich alles.
Ein Ehepaar möchte ihn mit nach Hause nehmen.
Zum ersten Mal bekommt Sebastian sein eigenes Reich,
sein eigenes Kinderzimmer, eigene Spielzeuge und Platz zum Truben.
Und zum ersten Mal Eltern, die ihn wollen, die sich freuen, dass er jetzt bei ihnen lebt.
Vor allem zu seinem neuen Vater entwickelt Sebastian eine enge Beziehung.
Mit ihm kann er lachen, Quatsch wachen und Kinderfilme schauen.
Sebastian lebt sich gut ein in sein neues Leben,
bis der Adoptivvater eine weit entfernte Arbeitsstelle annimmt
und in der Folge immer seltener zu Hause ist.
Die Vaterfigur, an der er sich gerade so richtig zu orientieren versuchte, ist nicht mehr da.
Sebastian vermisst ihn sehr.
Erst als sein Vater ihn und die Mutter ein Jahr später nachholt,
sind sie endlich wieder eine Familie.
Am neuen Wohnort muss sich Sebastian aber erstmal wieder neu eingewöhnen,
neue Freundinnen finden.
Als sich seine Situation aufs Neue stabilisiert, kommt sein Vater eines Tages nicht nach Hause.
Der Gleisbauer wurde bei seiner Schicht von einem ICE erfasst.
Für Sebastian bricht eine Welt zusammen.
Nach dem Tod seines Adoptivvaters kommt dessen Bruder, also quasi Sebastians Onkel, für ein paar Tage zu Besuch.
Sebastian gibt in den Gesprächen mit dem psychiatrischen Sachverständigen an,
dass dieser ihn mehrfach sexuell missbraucht hat.
In der Folgezeit sacken Sebastians Noten ab.
Er kann sich in der Schule nicht mehr konzentrieren.
Dazu kommt, dass seine Mutter mit ihm in den nächsten Jahren dreimal den Wohnort wechselt
und er so Schwierigkeiten hat, sich ein soziales Umfeld aufzubauen.
Sebastian zieht sich immer weiter zurück, hängt viel an seiner Spielekonsole und dem Fernseher.
Während es mit seinem Adoptivvater noch Trickfilme waren, sind es jetzt Horrorfilme und Spiele, in denen geschossen wird.
Als Sebastian 13 Jahre alt ist, zieht der neue Freund seiner Adoptivmutter bei ihm ein.
Doch mit dem neuen Mann im Haus versteht er sich nicht.
Es kommt immer wieder zu Konflikten, denn der Lebensgefährte seiner Mutter hat ein Alkoholproblem und ist streitlustig.
Und wenn es hart auf hart kommt, dann steht Sebastians Mutter nicht auf seiner Seite, sondern auf der ihres Freundes.
Sebastian fühlt sich nicht mehr wohl zu Hause.
Aber auch in der Fördereinrichtung, auf die er wegen seiner schlechten Leistungen wechseln musste, findet er keinen Anschluss.
In seiner Ausbildung zum Metallbauer fällt er immer wieder negativ auf.
Durch Streiche, die nur er witzig findet, wie Stinkbomben ins Klassenzimmer oder Silvesterkracher in eine Gruppe Mädchen werben.
Oder Bauschaum, der wie Hundekot aussieht, in der Kantine auf einen Teller legen oder einem Mitschüler heimlich Kühlmittel in die Spezi gießen.
Und Sebastian lügt auch immer wieder.
So erzählt er zum Beispiel einmal, dass Skinheads ihn überfallen hätten.
In Wirklichkeit hatte er sich die Verletzung, die sein Körper aufwies, selbst zugefügt.
Es ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit, der ihm zwar Aufsehen, aber kein echtes Interesse einbringt.
Sebastian hat keine FreundInnen, keine PartnerInnen und kein familiäres Umfeld, das sich wirklich für ihn interessiert.
Und so verbringt er die meiste Zeit in seinem Kopf.
Mit Gedanken daran, was alles möglich wäre in seiner Fantasie.
In den Filmen, die er vor seinem inneren Auge abspielen lässt, ist er die Hauptfigur.
Die Figur, die Macht hat, die sich was traut, die sich gegen die Menschen auflehnt, die ihm Unrecht getan haben.
Seinen Onkel zum Beispiel oder den Lebensgefährten seiner Mutter.
In seiner Fantasie schlägt er dann mit einem Baseballschläger zu, gegen den Kopf.
So lange, bis sich sein Gegenüber nicht mehr bewegt.
Der psychiatrische Sachverständige erklärt vor Gericht, dass Sebastian ein besonders starkes Bedürfnis nach Zuwendung, Aufmerksamkeit und Hilfe hat,
welches er schon seit der frühen Kindheit aufweise.
Dieses Bedürfnis habe bei ihm zu einer verfälschten Selbstdarstellung geführt.
Zu dem Jugendlichen, der sich als Clown aufführt, um irgendwie aufzufallen.
Zu wichtigen, tiefen Emotionen wie Verbundenheit, Betroffenheit, Liebe, Hass, Empathie und Trauer
fehle Sebastian weitgehend der Zugang und die Resonanzfähigkeit.
Zurückzuführen sei dies auf die Vernachlässigung emotionaler Art und Verwahrlosung in frühester Kindheit,
sowie die Heimerziehung, die bei ihm eine Identitäts- und eine Bindungsstörung ausgelöst habe.
Also das heißt, der Gutachter sagt, Sebastian sei aufgrund seiner Vergangenheit emotionslos und könne weder zu sich noch zu anderen eine echte Verbindung aufnehmen.
Und das fanden wir interessant, weshalb wir für diese Folge mit dem Bindungsforscher Dr. Simon Meier gesprochen haben.
Er hat uns erklärt, wie Kinder eigentlich lernen, was Gefühle sind.
Normalerweise, wenn ein Baby beispielsweise mit drei oder vier Monaten auf dem Wickeltisch liegt und es schreit und hat Kummer,
dann hypothetisieren die Eltern und sagen, oh, vielleicht hat es Hunger oder ist es zu kalt oder zu warm.
Wenn man das alles ausschließen kann, dann hypothetisiert man, vielleicht bist du traurig.
Vielleicht hast du Angst oder vielleicht ärgerst du dich, weil irgendwas passiert ist.
Und darüber bekommt das Kind oder der Säugling in diesem Fall das Rückgemeldet.
In meinem Körper spüre ich Unbehagen.
Das ist erst mal sehr schwer einzuordnen, zu sortieren.
Und dann gibt es jemanden, der größer, stärker, schlauer ist, eine Bindungsperson und die dolmetscht das zum Beispiel und sagt,
oh, hast du dich jetzt gerade ganz kräftig ärgern müssen, weil dein Spielzeug kaputt gegangen ist.
Das heißt, über dieses Spiegeln der Emotion von der Bindungsperson gegenüber dem Säugling bekommt eben der Säugling in diesem Fall,
obwohl er noch gar nicht sprechen kann, schon vermittelt, das ist nur ein Gefühl, das hat einen Namen.
Das kann man regulieren, das kann man verdauen.
Und wenn Kindern die Emotionen nicht gespiegelt werden, weil sie eben keine Bindungsperson haben, die ihnen dabei hilft,
dann kann das dazu führen, dass sich genetisch etwas bei diesen Kindern verändert, wie uns Dr. Mayer erklärt hat.
Bei Kindern, die stark vernachlässigt werden, werden Gene eingeschaltet,
die bei Kindern, die in einem liebevollen Zuhause aufwachsen, nicht aktiviert werden.
Also wenn sich keiner um sie kümmert, sie stundenlang schreien und keiner auf sie reagiert,
dann ist uns von Natur aus ein Mechanismus gegeben, der uns sagt,
das liegt jetzt nicht daran, dass Mama und Papa böse sind und die irgendwie was Böses wollen,
sondern wahrscheinlich daran, dass die beiden in ganz, ganz großem Stress sind,
weil sie bedroht werden oder in Gefahr sind und die ganze Welt um sie herum bedrohlich ist.
Und evolutionsbiologisch ergibt es dann Sinn, wenn das Kind eben in so einer Situation auf Überlebenskampf umschaltet
und daraufhin programmiert wird.
Und das passiert in den ersten 24 Lebensmonaten.
Und das führt dann dazu, dass solche Kinder extrem wachsam werden,
die ganze Zeit angespannt sind und maximal impulsiv handeln.
Nach dem Motto, sonst überlebe ich das hier nicht.
Und wenn Kinder zu lange vernachlässigt werden, also über Jahre und keine richtigen Bindungen aufbauen können,
dann, hat uns Dr. Meier erzählt, kann das der Körper irgendwann nicht mehr mitmachen.
Also diesen großen Stress und dieses hohe Cortisol-Level.
Und dann kann es eben dazu kommen, dass die Betroffenen irgendwann wie abgeschaltet wirken
und eben total emotionslos werden.
So wie bei Sebastian.
Um die Leerstellen in seinem Leben zu füllen und seinen Selbstwert zu erhöhen,
so erklärt es der Sachverständige im Gericht weiter,
habe sich Sebastian immer wieder in die fiktionale Welt seiner Gedanken zurückgezogen.
In eine Welt, in der auch Horrorfilmgeschichten und Figuren eine Rolle spielen,
die laut Gutachter zum Ersatz für das Vermisste werden.
Sebastian sei außerdem in frustrierenden Situationen hilflos
und reagiere mit Selbstaggression in Form von Selbstvorwürfen.
Eine Umwandlung der Selbstaggression in eine nach außen gerichtete Aggressivität sei möglich
und das vor dem Hintergrund seines Fables für Horrorfilme problematisch.
Denn Sebastian könne sich dann von den Filmen inspiriert fühlen,
schlussfolgert der Psychiater.
Zwar kann der Sachverständige Sebastian letztendlich keine bestimmte Persönlichkeitsstörung zuordnen,
er sagt aber, dass dies nicht heiße, dass die strukturellen Defizite nicht doch in ihrer Qualität
und in ihrem Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung entsprechen könnten.
Davon abgesehen würden diese Defizite, wie es der Gutachter nennt,
bei Sebastian aber so oder so keiner krankhaften seelischen Störung entsprechen.
Das bedeutet, dass Sebastian zum Tatsalpunkt weder schuldunfähig noch vermindert schuldfähig war.
Für die Entscheidung der Kammer ist die Einschätzung des Gutachters essentiell.
Sie gibt Auskunft darüber, dass Sebastian in der Tatnacht wusste, dass er Unrecht hat
und auch die Fähigkeit besaß, nach dieser Einsicht zu handeln.
Und so kann das Gericht nach nur vier Verhandlungstagen am 5. Februar 2003 sein Urteil fällen.
Sebastian wird des Mordes an Leonie schuldig gesprochen.
Aber warum Leonie ermordet wurde, das kann der Vorsitzende bis heute nicht beantworten.
Er erklärt, für die Tötung sei bis in die Hauptverhandlung kein plausibles Motiv erkennbar geworden.
Es bleibe nur, dass der als totmaskierte Angeklagte angesichts des schlafenden Mädchens eine Tötung Realität werden lassen wollte,
so der Richter.
Außerdem betont er, dass nicht ausgeschlossen sei,
dass der Angeklagte durch häufiges Betrachten von Horrorfilmen einen inspirierenden Tatimpuls erfahren hat.
Was die Mordmerkmale angeht, so werden im Urteil gleich zwei angeführt.
Zum einen sei Sebastian heimtückisch vorgegangen, indem er Leonies Arg- und Wehrlosigkeit ausnutzte.
Zum anderen wurde das Mordmerkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe bejaht.
Die Kammer hat sich hierbei an einer Entscheidung des BGHs von 2001 orientiert,
nach der ein Mord aus niedrigen Beweggründen, also die Tötung eines Menschen,
die nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist,
insbesondere dann in Betracht kommt, wenn ein Täter oder eine Täterin kein Motiv für die Tötung hat
und auch in dem Bewusstsein handelt, keinen Grund für die Tötung zu haben oder zu brauchen.
So war es hier, weil der Angeklagte Leonie oder auch deren Familie nicht kannte
und Leonie damit ein reines Zufallsopfer war.
Ja, und es eben nicht diese Übertötung gab, weil er eine Bindung zu ihr hatte oder so,
weil davon ist man ja zuerst ausgegangen.
Genau, man hat ja echt vor allem sich am Anfang auf das Umfeld also von ihr konzentriert.
Und wie es jetzt am Ende war, das konnte sich eben keiner vorstellen.
Und dazu sagt der Vorsitzende noch,
Weil Sebastian erst 19 Jahre alt ist und in seiner Entwicklung laut Gutachten Reife verzögert,
wird er zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt.
Strafmildern sei berücksichtigt worden, dass Sebastian ein paar Bier getrunken habe und daher geringfügig enthemmt war.
Außerdem sei eine gewisse Enthemmung durch den Konsum von Horrorfilmen nicht ausgeschlossen.
Auch seine schwierige Kindheit, die Tatsache, dass er vorher noch nie straffällig wurde
und dass er sich vor Gericht bei den Eltern entschuldigt hat, sei bei der Strafhöhe berücksichtigt worden.
Aber weil die Tat so brutal war, Sebastian in den innersten Schutzbereich der Familie eindrang
und für ihn vorhersehbar gewesen sei, dass durch die Tötung einer Zwölfjährigen
schweres Leid über die Familie kommen würde,
habe das Gericht auch unter Einbeziehung der Strafmildern-Gesichtspunkte
keine geringere Jugendstrafe als 10 Jahre aussprechen können, so die Urteilsbegründung.
Die Länge der Strafe sei aber auch deswegen nötig, um die Persönlichkeitsdefizite des Angeklagten anzugehen
und damit ein mögliches Gefährdungspotenzial zu mindern.
Wesentliches Vollzugsziel müsse sein, durch sozialpädagogische oder psychotherapeutische Maßnahmen
auf die Persönlichkeitsentwicklung von Sebastian einzuwirken.
Und genau darum wird es in den nächsten Jahren für ihn in Haft gehen,
sich mit sich selbst und seiner Tat auseinanderzusetzen.
Mit dem Tod ihrer Tochter, mit dem Margit und Karl jeden Tag konfrontiert werden.
Und mit dem sie sehr unterschiedlich umgehen.
Während Karl nach zwei Monaten wieder zur Arbeit geht und sich zurück in den Alltag kämpft,
steht für Margit seit dem 11. Februar 2002 die Welt still.
Die Depression hat ihren Griff fest um die mittlerweile 42-Jährige geschlungen und sie gelähmt.
Auch jetzt noch, nach der Verurteilung des Mörders ihrer Tochter,
kann sie nicht zurückfinden in ein Leben, das für sie lebenswert ist.
Margit wünscht sich, es zu können, wünscht sich, ein bisschen mehr zu sein wie Karl.
Wie hat er es geschafft, weiterzumachen? Und wieso kann sie es nicht?
Doch Karl kann es ihr nicht erklären, ihr nicht bei ihrer Verarbeitung helfen, auch wenn er es will.
Irgendwann hält die Ehe die unsichtbare Distanz zwischen den beiden nicht mehr aus und zerbricht.
Margit zieht aus dem Haus aus, das so viele schöne Erinnerungen gepachtet hat.
Aber auch eine, die alles zerstört hat. Die dafür gesorgt hat, dass es sich nicht mehr nach einem Zuhause anfühlt.
Und mit Margit ziehen nach und nach auch die Fotos von Leonie aus.
Nur eine einzige Bleistiftzeichnung seiner Tochter behält Karl.
Zu hart ist es für ihn, sein fröhliches Kind für immer eingefroren in Bilderrahmen um sich zu haben.
Für Karl ist die ganze Situation genauso schwer wie für Margit, das weiß sie.
Er hat erzählt, er habe bis heute den Geruch seiner toten Tochter in der Nase.
Wie konnte das alles so schief laufen?
Margit erinnert sich noch gut an die erste Zeit zu dritt.
Karl hatte eineinhalb Jahre Elternzeit genommen nach der Geburt von Leonie.
In diesen ersten Monaten hat Karl zu seiner Tochter ein Band geknüpft, das niemals gerissen wäre.
Jetzt ist nicht nur sein Band zu seiner Tochter gerissen, sondern auch das zu Margit.
Die zehn Jahre, in denen der Mörder von Leonie in Haft sitzt, gehen zugleich schnell und ewig langsam vorüber.
Immer wieder fragen sich Margit und Karl, was Sebastian wohl in dieser Zeit macht.
Wird er therapeutisch betreut, so wie es das Gericht empfohlen hatte?
Absolviert er eine Ausbildung?
Hat er sie schon gebessert?
Ist er vielleicht sogar schon entlassen worden?
Und als der Tag seiner geplanten Entlassung immer näher rückt, werden die Fragen drängender.
Margit will sie beantwortet wissen, damit sie nicht eines Tages beim Brötchenholen neben dem Mörder ihrer Tochter steht.
Aber nicht nur Leonies Eltern haben sich diese Fragen in den letzten Jahren gestellt.
Auch die Staatsanwaltschaft.
Und sie ist zu einer klaren Antwort auf die Frage gekommen, ob sich Sebastian gebessert hat.
Nein.
Dabei bezieht sie sich auf ein Gutachten aus dem Jahr 2010, in dem ein Psychiater zu dem Schluss gekommen war,
dass man Sebastian keinen Hafturlaub gewähren könne, weil die Gefahr zu groß sei, dass er wieder tötet.
Auf Grundlage dieses Gutachtens beantragt die Staatsanwaltschaft für Sebastian die nachträgliche Sicherungsverwahrung.
Und so kommt es zehn Jahre nach dem Mord an Leonie zu einem neuen Prozess gegen Sebastian vor dem Landgericht Augsburg.
Dieses Mal sitzt Margit alleine im Schwurgerichtssaal 101.
Sie will Sebastian noch einmal sehen, ist gespannt auf seine Veränderung und darauf, ob er die Verantwortung dafür tragen wird, was er getan hat.
Für die 51-Jährige mit den dunklen, kurzen Haaren ist das Wichtigste, dass kein weiterer Mensch durch Sebastians Hände stirbt.
Sollte sich bei dieser Verhandlung aber herausstellen, dass sich die psychiatrischen Sachverständigen einig darüber sind, dass Sebastian keine Gefahr mehr darstellt, dann will Margit das akzeptieren.
Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient, wenn er bereit ist, diese anzunehmen.
Zum Start des Prozesses erklärt der Vorsitzende Richter, die Kammer verwahrt sich gegen jeden Erwartungsdruck, dass der Täter auf Dauer weggesperrt wird.
Angesetzt sind 21 Prozestage.
Man möchte sicher gehen, dass die richtige Entscheidung fällt.
Denn eine nachträgliche Sicherungsverwahrung für einen Täter, der nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde, ist äußerst heikel.
Ja, und generell ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung sehr umstritten.
Warum? Da geht es jetzt in diesem Aha nochmal kurz drum.
Beschlossen wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung erstmals 2004 vom Bundestag.
Und zwar, um StraftäterInnen nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe weiterhin festhalten zu können,
bei denen das Gericht bei ihrer Verurteilung keine Sicherungsverwahrung angeordnet hatte.
Vier Jahre später wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung dann auch im Jugendstrafrecht eingeführt.
Und 2011 hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dann aber damit beschäftigt
und die nachträgliche Sicherungsverwahrung für drei Betroffene,
die vor deren Einführung verurteilt wurden, für rechtswidrig erklärt.
Und zwar mit der Begründung, dass es sich faktisch nicht, wie die Bundesrepublik Deutschland behauptete,
um eine Maßregel der Sicherung handele, sondern um eine Strafe.
Und zwar, weil sich die Verwahrung damals nicht deutlich genug von der normalen Haft unterschieden hat.
Und eine Strafe darf man aufgrund des Rückwirkungsverbots nur aufgrund von Gesetzen verhängen,
die zum Zeitpunkt der Tat schon in Kraft waren.
Das haben wir ja auch schon ein paar Mal besprochen.
Die Bundesrepublik hat dann darauf reagiert und deswegen trat 2013 eine Neuregelung in Kraft.
Jetzt kann die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur dann angeordnet werden,
wenn die Gefährlichkeit der Inhaftierten auf eine psychische Störung zurückgeht.
Und das heißt dann aber auch, dass die Verwahrten dann mit entsprechenden Therapieangeboten
in geeigneten Einrichtungen untergebracht werden müssen,
die sich dann von einem normalen Gefängnis zu unterscheiden haben.
Und für Jugendliche und Erwachsene kann sie seitdem nur noch in ganz engen Grenzen angeordnet werden,
nämlich dann, wenn eine psychiatrische Unterbringung, die im ersten Urteil verhängt worden sein muss,
keinen Erfolg mehr verspricht, von der jugendlichen oder heranwachsenden Person,
aber trotz dieser Heilungsversuche immer noch eine hohe Wiederholungsgefahr für schwere Straftaten ausgeht.
Zum Zeitpunkt von Sebastians zweiten Prozess befinden wir uns aber noch vor der Neuregelung.
Und so wird sich in den nächsten Verhandlungstagen Sebastians Zeit in Haft ganz genau angeschaut.
Während seiner Therapie im Gefängnis habe er nach eigenen Angaben einen Rückfallpräventionsplan erstellt,
in welchem er Warnsignale aufgelistet habe.
Horrorfilm und Alkoholkonsum, Rückzug und Abschotten, Probleme nicht klären und sich einer Situation nicht stellen.
Er habe sich geändert, sei nicht mehr gefährlich, wenn es nach ihm und seinem Parteidiger geht.
Doch die Flucht in die Fantasiewelt habe noch immer einen großen Stellenwert in Sebastians Leben,
erzählt ein Sachverständiger vor Gericht.
Vor allem in belastenden Situationen.
Aber auch wenn es zum Beispiel um seine Zukunft gehe.
So stelle sich Sebastian oft vor, ein Star zu werden.
Auch wenn es ausgebrochen schwer sei, ein Star zu sein, so hatte Sebastian es dem Gutachter erzählt,
träumt er von einer Weltkarriere und möchte etwas erreichen.
Sebastian kann sich vorstellen, beim Dart oder Bowling groß rauszukommen.
Er möchte unbedingt berühmt werden.
In seinem Haftraum wurden etliche Male hunderte Bilder von Stars gefunden,
die der mittlerweile 30-Jährige aus Jugendzeitungen fein säuberlich ausgeschnitten und gesammelt hat.
Also dazu möchte ich mal sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass man eine Weltpersönlichkeit wird,
wenn man vorher ein zwölfjähriges Mädchen erstochen hat, relativ gering ist.
Also Resozialisierung hin oder her, die Gesellschaft verzeiht einem nicht alles.
Und das ist vielleicht auch gut so.
Ja, aber daran merkt man eben, in was für einer Traumwelt er lebt, dass er das auch für möglich hält.
Der ist total in seinem Kopf.
Und auch im Bereich emotionaler und sozialer Kompetenzen seien immer noch gravierende Defizite festzustellen.
Sebastian könne sich schwer in andere Menschen hineinversetzen.
Er fühle sich in der Welt fremd und orientierungslos.
Der Gutachter erklärt, dass Sebastians Empfinden mit der Situation eines Aliens zu vergleichen sei,
das sich bemühe, in die Welt zu passen, was ihm aber nicht gelinge.
Das Fazit seiner Begutachtung, Sebastian habe eine Rückfallwahrscheinlichkeit von mehr als 50%.
Der zweite Gutachter, der geladen wird, hält dagegen eine Freilassung unter bestimmten Bedingungen für möglich.
Am 15. November 2012 spricht die Kammer ihr Urteil.
Sie schließt sich der Einschätzung des ersten Sachverständigen an.
Sebastian bleibt in Sicherungsverwahrung.
Der Vorsitzende schiebt nach seiner Urteilsbegründung noch hinterher,
dass er der Meinung ist, dass die Gefahr, die immer noch von Sebastian ausgeht, an den äußeren Umständen liegt.
Die Justiz habe sich in den vergangenen Jahren nicht ausreichend um ihn gekümmert.
Zu wenig Therapie, zu wenig Ausgänge aus der JVA, zu gering die Chancen einer Wiedereingwiederung in die Gesellschaft.
Wobei man hier vielleicht auch noch dazu sagen muss, das hat uns der Experte Dr. Mayer erklärt,
ist, dass Menschen mit einer Bindungsstörung gar nicht so gut auf Therapie anspringen,
weil es ihnen, wie bei anderen Beziehungen auch, super schwerfällt,
überhaupt eine Verbindung mit dem Therapeuten oder der Therapeutin aufzubauen.
Als ein Jahr später die Neuregelung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung in Kraft tritt, ändert das für Sebastian nichts.
Sein Anwalt versucht es zwar auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte,
doch er scheitert und Sebastian sitzt bis heute in Sicherungsverwahrung.
Nach all dem, was Margit über den Mörder ihrer Tochter gehört hat, findet sie die Entscheidung des Gerichts richtig.
In einem Interview sagt sie, wenn ihr unfähig seid, ihn zu ändern, behaltet ihn.
Für sie war es ungemein wichtig, beim Prozess dabei zu sein und zu hören, was aus Sebastian geworden ist.
Die Unwissenheit der letzten Jahre fand sie unerträglich.
Damit es anderen Menschen nicht so geht wie ihr, setzt sich Margit heute für den Opferschutz ein,
dass Angehörige mehr Infos über die TäterInnen erhalten.
Darüber, wie die Haft läuft, ob sie Therapie machen, wann sie entlassen werden.
Ich habe mich nämlich auch schon gewundert, dass die überhaupt da informiert wurde,
dass das Gericht jetzt darüber entscheidet.
Da muss man ja schon echt hinterher sein.
Du kriegst ja nicht einfach ein Schreiben, dass das jetzt passiert.
Denn vor dem Tag, an dem Sebastian entlassen wird, hat Margit immer noch große Angst.
Solch ein Engagement gibt ihr Kraft und einen Sinn.
Arbeiten kann die heute Mitte 60-Jährige schon lange nicht mehr.
Brustkrebs hatte die gelernte Elektroingenieurin zum ersten Mal aus dem Leben geworfen.
Er hatte ihr große Angst gemacht.
Davor, dass sie nicht mehr für ihre Kinder da sein wird, sie nicht mehr aufwachsen sieht.
Dann hatte sie den Krebs besiegt, nur damit ihr der Boden kurze Zeit später
ein zweites Mal unter den Füßen weggerissen wird.
Mit dem eigenen Schicksal klarkommen ist akzeptieren, ist eine Aufgabe, die man meistern muss,
um weiterleben zu können.
Das macht Margit heute, 22 Jahre nach der Tat.
Trotzdem denkt sie jeden Tag an ihre Tochter und es versetzt ihr jedes Mal einen kleinen Stich
ins Herz, wenn sie wieder einmal mitbekommt, dass eine Freundin von Leonie heiratet oder ein
Kind bekommt. So gerne wäre sie heute für ihre geliebte Tochter da und die Oma für Leonies
Kinder. Und nicht mehr in diesem Horrorfilm gefangen, in dem Sebastian Regisseur spielte.
Ich frage mich wirklich, was in dem Moment bei dem eskaliert ist. Ich kann mir denken, dass
das erste Mal, als er halt eben dieses Outfit anhatte und Leute den toll fanden, dass er dann
dachte, jetzt habe ich irgendeine Art von Macht. Ja, hat das Gericht ja auch später festgestellt,
so jetzt ist er wer. Jetzt hat er die Fähigkeit, andere Menschen zu erschrecken, irgendeine Reaktion
auszulösen bei denen, aber dass das so schnell kippt. Also von erschrecken zu, ich steche jetzt
jemanden ab. Ja, und vor allem in Anbetracht dessen, dass er vorher noch nie straffällig wurde und auch
jetzt nicht ein aggressiver Mensch war oder so, sondern ja auch, wie er dann später im Gericht und vor
den Beamtinnen saß, total emotionslos ist. Ja, das ist wirklich gruselig und ich finde auch deswegen einen
besonderen Fall und ihn wichtig zu erzählen, das hatten wir noch nicht oft hier, weil das ja auch wieder
verboten wurde, aber ich meine, dass jemand, der so jung ist, so lange in Sicherungsverwahrung sitzt und er
sitzt da seit mehr als 20 Jahren, hat Therapie, aber die PsychiaterInnen sind sich sicher, er ist immer noch
eine Gefahr. Das muss man sich mal vorstellen so, ja. Ja, gut, nun haben wir ja aber auch gehört, dass die Therapie
da zum Teil nicht wirklich gut angeschlagen hat, was auch nicht unbedingt seine Schuld war in dem
Moment, ja. Ja. Das ist natürlich auch bitter, dass du so eine Sicherungsverwahrung bekommst und dann
heißt es eigentlich, da muss man Therapieangebote kriegen und dann ist das alles unzureichend, was
du da kriegst, ja. Ja. Also als ich von dieser Tat zum ersten Mal gehört habe, habe ich gedacht, sowas kann
gar nicht passieren. Du denkst ja wirklich, du bist im falschen Film, dass jemand als Screamkiller
verkleidet ist und dann auch noch mit einem Messer in dein Haus einbricht und dein Kind im Kinderbett
ersticht. Ja. Ja, das hört sich an wie in einem Film, das ist so krass und ich kann mir vorstellen, dass es
auch deswegen so schwierig ist, das überhaupt zu akzeptieren, weil das so fernab von jeder
Vorstellungskraft ist. Ja und die Familie tut einem wirklich so leid, also was für ein grauenhaftes
Bild, seine eigene Tochter tot im Kinderzimmer zu finden. Also das Kind wurde den genommen und dann
hat es die Ehe auch am Ende noch kaputt gemacht und ist einfach tragisch. Ja, voll. Und jetzt aber zur
nächsten Folge. Neulich hatten wir eine Nachricht im Postfach auf Instagram von einer Frau, die uns
erzählt hat, dass das Verbrechen, was in ihrer eigenen Familie passiert ist, sie schon seit Jahren
beschäftigt. Und mit dieser Familie haben wir Kontakt aufgenommen und die Geschichte dazu hört ihr in der
nächsten Folge.
Rechtliche Abnahme und Beratung, Abel und Kollegen.