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#172 Eine schreckliche familie

und damit herzlich willkommen zu Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime. Wir sprechen
hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe. Mein Name ist Paulina Kraser und ich bin Laura
Wohlers. In jeder Folge erzählen wir einen bedeutsamen, wahren Kriminalfall nach, ordnen
den für euch ein, erordnen und diskutieren die juristischen, psychologischen oder gesellschaftlichen
Aspekte und sprechen mit Menschen mit Expertise. Hier geht es um True Crime, also auch um die
Schicksale von echten Menschen. Bitte behaltet das immer im Hinterkopf, das machen wir auch.
Selbst dann, wenn wir zwischendurch mal ein bisschen abschweifen und quatschen, das ist
für uns aber immer so eine Art Comic Relief, aber das ist natürlich nicht despektierlich
gemeint. Bevor wir mit der heutigen Folge starten, in der es darum geht, was passiert, wenn ein
Kind durch die Lücken im System fällt, möchte ich mit dir, Paulina, gerne über ein Vorhaben
in der EU sprechen. Und zwar will die EU alle Ärztinnen und Psychotherapeutinnen dazu
verpflichten, mögliche Fälle von Kindesmissbrauch zu melden.
Ja, das finde ich gut, weil wir hatten ja schon öfter Fälle von Kindesmissbrauch, der dann
bei Besuchen beim Arzt oder bei der Ärztin aufgefallen ist und die eigentlich schon alarmiert
waren und aber die Eltern dann Ärztinnen hopping oder manchen dann das ja auch shopping betrieben
haben. Also immer zu jemand anderem gehen, damit der Arzt oder die Ärztin nicht zu häufig
diese Verletzung beispielsweise feststellt. Genau, also für mich klang das, als ich von
dieser Nachricht gehört habe, auch alles total sinnvoll. Das sehen aber nicht alle so.
Die Bundesärztekammer zum Beispiel findet es problematisch, dass diese Meldepflicht unabhängig
davon gilt, ob eine Gefährdung des Kindes besteht und ob die Meldung im Interesse des Kindes
und dem Kindeswohl dient. Interessant, wieso?
Ja, und zwar würde laut der Bundesärztekammer die Pflicht zur Meldung das Vertrauensverhältnis
zwischen Patientinnen und Ärztinnen untergraben, weil es Opfern damit unmöglich gemacht werden
würde, sich behandeln zu lassen, ohne dass eine Behörde von dem Missbrauch erfährt. Und
dadurch würden laut Ärztekammer die Opfer ihren geschützten therapeutischen Raum verlieren
und damit die Möglichkeit, überhaupt vertrauliche ärztliche beziehungsweise therapeutische Hilfe
in Anspruch zu nehmen. Wir reden hier aber von minderjährigen Opfern.
Genau. Was die jetzt sozusagen als Beispiel anbringen, damit man das auch ein bisschen
nachvollziehen kann, ist, wenn eine 17-Jährige einen Therapeuten aufsucht, um mit dem dann
über einen sexuellen Missbrauch zu sprechen, der irgendwie fünf Jahre vorher stattgefunden
hat, um ihr Trauma zu verarbeiten, müsste das der Therapeut in Zukunft melden, auch wenn
die 17-Jährige das nicht möchte. Im Umkehrschluss würde das also heißen, dass diese 17-Jährige
sich dann gar keine therapeutische Hilfe mehr suchen würde, aus Angst, dass es dann Konsequenzen
hat, die sie aber nicht möchte. Weil die Meldepflicht, die die EU da plant, auch für abgeschlossene
Menschenereignisse in der Vergangenheit gilt. Also auch dann, wenn keine akute Gefährdung
vorliegt.
Ja, verstehe. Ich habe da jetzt natürlich in dem Moment nicht an Psychotherapie gedacht,
sondern halt an Kinderärzte und Kinderärztinnen, die halt Kleinkinder untersuchen, die natürlich
auch immer mit ihren Elternteilen dahin gehen. Ja, schwierig.
Die Bundesärztekammer ist quasi mit der Regelung, die es in Deutschland gerade gibt, zufrieden.
Die wollen nicht, dass es diese Pflicht gibt. Die sagen eben, die Meldebefugnis, die wir hier
in Deutschland haben, reicht. Und diese Meldebefugnis, die besagt halt, dass Ärztinnen
das Jugendamt unverzüglich informieren soll, wenn nach ihrer Einschätzung eine dringende
Gefahr für das Wohl des Kindes oder der Jugendlichen oder des Jugendlichen besteht. Wenn keine Gefahr
besteht, dann kann der Arzt oder die Ärztin hier in Deutschland dann selber entscheiden, ob
sie das melden wollen oder nicht. Und dann bei ihrer Entscheidung das Interesse des Kindes
sozusagen mit berücksichtigen. Ja, also ich glaube, was einfach auch später zum Problem
werden wird, ist, wenn Ärztinnen die Verletzung nicht als solche erkennen, aber in der
Meldepflicht sind und denen danach der Vorwurf gemacht wird, gegen ihre Meldepflicht verstoßen
zu haben. Also ich meine, es ist ja teilweise eh schon heikel, wenn sie Spuren von Missbrauch
beispielsweise jetzt nicht als solche erkennen und dann der Vorwurf im Raum steht, dass sie
Hilfeleistung unterlassen haben. Weißt du?
Ja, für mich ist es nur so ein bisschen schwierig, was mit dieser dringenden Gefahr gemeint ist,
weil bei der EU, bei der Meldepflicht, was die eben wollen, ist, dass auch zum Beispiel ein
Verdacht gemeldet wird. Und das finde ich irgendwie schon wichtig, weil das hast du ja eben schon
angesprochen mit dem Ärztehopping. Wenn dann der eine Arzt nur einmal das Kind sieht, dann
hat er vielleicht auch nur einen Verdacht auf sexuellen Missbrauch oder auf andere Art von
Misshandlungen. Aber wenn es dann beim nächsten Besuch oder beim nächsten blauen Fleck oder
sowas bei einem anderen Arzt oder bei einer anderen Ärztin ist, dann kann die behandelnde
Person gar nicht erst ausmachen, dass es eine dringende Gefahr gibt, weil sie das Kind zu
wenig gesehen haben. Deswegen ergibt es für mich schon Sinn, dass man auch bei Verdacht irgendwie
eine Meldung machen sollte. Und ich finde es auch gut, wenn man irgendwie das Interesse des
Kindes mit berücksichtigt. Wenn das aber ein zwei-, dreijähriges Kind ist und das nicht
explizit eine 17-Jährige ist, die sagt, ich möchte nicht, dass das jetzt gemeldet wird, dann finde ich
das okay. Aber ich glaube, generell ist es schon gut, wenn man ein bisschen genauer hinsieht und das
auch melden darf.
Was ich immer nicht verstehe, so ein Verdacht, den spricht man ja auch als behandelnder Arzt vielleicht
noch gar nicht so beim ersten Mal aus, sondern den Verdacht, den hast du ja vielleicht erst, wenn das
öfter stattgefunden hat. Warum werden nicht alle Diagnosen in irgendeinem System gespeichert, was mit
einer Krankenkassenkarte verbunden ist? Und warum gibt es da nicht mittlerweile mit Hilfe von KI ein
Warnsystem, das bei bestimmten Diagnosen, die da gestellt werden, beispielsweise blaue Flecke an
bestimmten Stellen, so und so oft. Vielleicht kann da der Arzt sogar vermerken, könnte auch zu Gewalt
passen oder so. Damit, wenn der nächste Arzt das da eingibt, da schon gleich klar ist, da gab es schon mal
einen zumindest leichten Verdacht eines anderen Arztes. Denn dieser Schritt, die Behörden zu informieren, der ist
natürlich nicht, sag ich jetzt mal, niedrigschwellig, sondern da passiert dann ganz schön was. Und ich kann mir
vorstellen, dass ÄrztInnen nicht bereit sind, das zu machen, wenn sie sich gar nicht wirklich sicher sind, ja.
Das stimmt. Dass es so was bis heute nicht gibt, hat wahrscheinlich mit dem Datenschutz zu tun.
Ja, sicherlich. Und auch auf die Gefahr hin, dass das jetzt populistisch klingen mag. Ich weiß, dass das nicht so einfach
umzusetzen ist, aber man muss sich dann vielleicht auch mal fragen, wo man da lieber Abstriche machen will.
Naja, der Fall, von dem wir euch gleich erzählen, der handelt von einem kleinen Mädchen, das von einem
Elend ins nächste geschickt wird und dessen Fall für ein so großes politisches Beben gesorgt hat, dass sich
sogar der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz damals dazu geäußert hat. Fast alle Namen sind geändert und die
Triggerwarnung zum Fall findet ihr in der Folgenbeschreibung. Ein Juliabend in Hamburg im Jahr 2008. Die
Dämmerung in der Fährstraße in Wilhelmsburg hat bereits eingesetzt. Es ist kühl für die Jahreszeit. Auf der Straße
sind kaum Menschen unterwegs. Bars oder Restaurants gibt es hier wenige, nur hier und da gibt es mal einen
heruntergekommenen Imbiss oder einen Kiosk. Die einzigen Menschen, die sich zu dieser Uhrzeit noch draußen
rumtreiben, sind diejenigen, die kein Zuhause haben oder nicht nach Hause wollen. Und eine, die nach Hause
möchte, aber nicht kann. Jackie. Das achtjährige Mädchen mit blondem Haar und wachen Augen läuft an
diesem späten Abend ziellos durch Hamburgs Hinterhof. Eine Bezeichnung, die man immer wieder für den
Stadtteil Wilhelmsburg verwendet. 50.000 Menschen leben im flächenmäßig größten Bezirk der Stadt, gelegen
auf Deutschlands größter Flussinsel im Süden Hamburgs. Und der Kontrast zum gegenüberliegenden Elbufer könnte
nicht größer sein. Die Hafencity boomt, dort entstehen moderne Wohnungen und pompöse Bauprojekte,
sowie die Elbphilharmonie, die gerade gebaut wird. In Wilhelmsburg sehen die BewohnerInnen den Glamour
der Hansestadt nur aus der Ferne. Obwohl Wilhelmsburg in zentraler Lage liegt, wirkt es, als habe die Stadt
den Bezirk und seine BewohnerInnen aufgegeben. Verfallene Fabrikgebäude sind ein Sinnbild für die
hohe Arbeitslosigkeit. Statt Geranien und bunten Blumen sieht man auf den Balkonen auf dieser Seite der
Elbe, vor allem graue Satellitenschüsseln und vor einigen heruntergekommenen Hauseingängen findet man
ab und zu sogar benutzte Spritzen. Und obwohl Wilhelmsburg ein Potpourri aus unterschiedlichsten
Nationalitäten ist und jeder seinen eigenen Sorgen nachhängt, fällt Jackie hier auf. Nicht zum ersten
Mal beobachten NachbarInnen das kleine blonde Mädchen, das so gar nicht ins Bild passen will. Mit
breitem Lächeln liegt es im Gras und bestaunt kleine Tiere. Dann wieder sitzt es verträumt auf einer
Parkbank, beäugt die Erwachsenen, die alle mit sich selbst beschäftigt sind. Doch an diesem Abend
spricht eine Nachbarin das Kind an. Wie es denn heiße, wie alt es sei und warum es so spät noch
alleine draußen sei. Sie heiße Jackie, sagt die Kleine mit schüchterner Stimme. Acht Jahre alt sei
sie. Sie könne nicht nach Hause, weil ihre Mutter sie ausgesperrt habe. Die Frau ist schockiert und
verständigt sofort die Polizei. Es dauert nicht lange, bis ein Streifenwagen vorfährt und Jackie
einsammelt. Die BeamtInnen bringen das kleine Mädchen bis zu ihrem Zuhause. Doch dort offenbart
sich ihnen ein Bild, auf das sie nicht gefasst sind. Vor ihnen steht eine völlig betrunkene Mutter in
einer völlig verwahrlosten Wohnung. Für Jackie ist der Anblick ihrer alkoholisierten Mutter hingegen
nichts Neues. Im Gegenteil, eigentlich kennt sie ihre Mama in kaum einem anderen Zustand. Sogar schon vor
ihrer Geburt hat Jackie dank ihrer Mutter mit Alkohol zu tun. Jackies Mutter Regina ist schwere
Alkoholikerin. Und nicht nur Regina vergiftet ihren Körper immer wieder. Auch Jackies Vater Markus. Er ist
drogenabhängig, kräft regelmäßig zur Heroin. Noch während der Schwangerschaft geht die Beziehung der
beiden in die Brüche. Regina muss Jackie also allein großziehen, nachdem diese am 7. April 2000 das Licht
der Welt erblickt. Jackie wächst bei ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung in der Fährstraße in
Wilhelmsburg auf, zusammen mit ihrer zehn Jahre älteren Halbschwester Jennifer, die aus einer früheren
Beziehung ihrer Mutter stammt. Liebe, Fürsorge und Geborgenheit erfährt Jackie zu Hause nicht. Mutter
Regina ist mit ihren zwei Kindern völlig überfordert. Und mit den Jahren wird Reginas Alkoholsucht immer
schlimmer. Wo sie anfangs noch heimlich trank, ändert sich das, als Jackie in den Kindergarten kommt. Jetzt greift Regina
immer häufiger auch in Jackies Anwesenheit zur Flasche. Oft ist sie so betrunken, dass sie nicht
mal mehr ansprechbar ist. Doch das sind gar nicht die schlimmsten Momente für Jackie. Denn immer
wieder sperrt Regina Jackie aus der Wohnung aus. Manchmal aus Versehen, manchmal, um sich ungestört und
komatöse Zustände zu saufen. Jackie ist noch zu jung, um zu verstehen, dass ihre Mutter suchtkrank ist
und deshalb so handelt. Für sie muss es sich dann so anfühlen, als würde ihre Mutter sie bestrafen.
Um besperrte Zeit erfährt Jackie nur im Kindergarten. Dort geht sie auf, spielt gerne mit anderen Kindern
und ist fasziniert von Tieren. Nach dem Kindergarten geht es für Jackie dann regelmäßig zur
Wilhelmsburger Tafel. Weil Mutter Regina keinem geordneten Beruf nachgehen kann und das wenige
Arbeitslosen- und Kindergeld, das sie vom Staat erhält, direkt in den Alkohol fließt, ist die Tafel die
einzige Möglichkeit, Jackie eine warme Mahlzeit zu garantieren.
In Reginas guten Phasen hilft sie ehrenamtlich in der Tafel mit. 2006 hat sie gerade so eine
Phase. Da lernt Regina die Leiterin Monika besser kennen. Monika ist 42 Jahre alt, schlank, hat
dunkelblonde Haare, fahle Haut und einen Nasenring. Regina freundet sich mit ihr an. Monika hat Verständnis
für Regina. Sie selbst hat drei Kinder und verurteilt sie nicht für ihre Sucht, sondern versucht ihr und
Jackie ein Stütze zu sein. So kommen Mutter und Tochter in der Folgezeit immer häufiger in die
Tafel. Auch für Jackie ist der Kontakt zu Monikas Familie eine willkommene Abwechslung. Denn durch sie
hat sie drei neue Spielgefährdinnen, Alina, Kevin und Leonie. Besonders die fünf Jahre ältere Alina hat es
ihr angetan. Zu ihr schaut Jackie auf. Nach dem Sommer kommt Jackie dann in die Schule. Auch hier ist sie
aufgeschlossen und wissbegierig. Trotzdem tut sie sich schwer. Auf Unterstützung von zu Hause, so wie
viele ihrer Klassenkameradinnen, kann die Sechsjährige nicht zählen. Niemand setzt sich nach der Schule
mit ihr hin, um ihr den Stoff nochmal zu erklären oder mit ihr zu üben. Die erste Klasse muss Jackie
daher wiederholen. Die einzige, die sie bei den Hausaufgaben unterstützt, ist Monika. Und so geht
Jackie nach der Schule statt in die Tafel immer häufiger zu Monika nach Hause. In ihre Vier-Zimmer-Wohnung,
in der sie mit ihrem Lebensgefährten Thomas und den drei Kindern lebt. Mit der Zeit steht Jackie aber
nicht nur vor der Tür von Monika, wenn sie Hilfe bei den Schulaufgaben braucht, sondern auch,
wenn ihre Mutter sie mal wieder ausgesperrt hat oder auf einem stationären Entzug ist. Monikas
Wohnung wird ihr zweites Zuhause. Eine Zuflucht aus ihrer eigentlichen Familie und der einzige Ort,
an den Jackie gehen kann, wenn sie nachts nicht weiß, wohin.
Und bei Monika daheim ist immer etwas los. Neben der elfjährigen Alina leben hier ja noch die
anderen zwei Kinder. Der fünfjährige Kevin und die vierjährige Leonie. Leonie ist aber nicht Monikas
leibliches Kind. Sie ist die Tochter von Monikas erstgeborener Judith, die nicht mehr bei ihr wohnt. Judith
kann sich nicht selbst um Leonie kümmern, daher hat Monika sie als Pflegekind aufgenommen. Und dann ist da noch
Thomas. Der großgewachsene Mann mit den schwarzen Haaren und den vielen Tattoos am Körper. In seiner
Freizeit schraubt der 46-Jährige vor seiner Garage an alten Autos und Motorrädern herum, während Monika
viel Zeit in die Kinder investiert, mit ihnen Hausaufgaben macht oder mit ihnen ins Kino geht.
Weitere Bewohner, über die sich Jackie sehr freut, sind die Haustiere.
So sehr hat sich Jackie immer einen eigenen Hund oder eine Katze gewünscht. Hier bei Monika und Thomas
gibt es nicht nur ein Tier, sondern gleich fünf. Drei Hunde und zwei Katzen. Und so langsam scheint in
Jackies Leben so etwas wie Stabilität Einzug zu halten. Nicht nur zu Monikas Familie baut sie Verbindungen
auf, auch zu ihrem Vater Markus hat sie immer mehr Kontakt. Auch sein Leben hat eine positive Wendung
genommen. Er ist vom Heroin weg, hat eine neue Freundin und einen Job gefunden. Und er bemüht sich, die
verlorenen Jahre mit Jackie aufzuholen. Und dann kommt der Juliabend im Jahr 2008. Der Abend, an dem
Jackie spätabends alleine durch die Straßen von Wilhelmsburg streunt und von der Polizei aufgegabelt
wird, nachdem eine besorgte Nachbarin die 1.1 Uhr gewählt hatte. Nachdem die Beamtinnen Jackie bis vor die
Wohnungstür ihrer Mutter gebracht haben, wird ihnen schnell klar, dass dies kein geeignetes Umfeld für ein
Kind ist. Sie verständigen das Jugendamt. Dabei erfahren sie, dass es nicht die erste Beschwerde ist, die das
Jugendamt bezüglich Jackies Mutter hört. Aber es ist die Beschwerde, die die Behörde zum Handeln bewegt. Und so
entscheidet das Amtsgericht am 16. Juli 2008, dass Jackies Mutter Regina das Sorgerecht entzogen wird.
Doch was passiert jetzt mit Jackie? Markus, ihr leiblicher Vater, würde die Achtjährige gerne zu sich
nehmen. Aber nach Prüfung seiner Lebensumstände sind die SozialarbeiterInnen des
Jugendamts Wilhelmsburg skeptisch. Seine Wohnung ist zu klein, Jackie hätte nur wenig Platz. Außerdem ist
es SozialarbeiterInnen in Hamburg verboten, Kinder an drogenabhängige Eltern zu übergeben. Zwar ist
Markus aktuell clean und er substituiert, aber wie lange noch? Nachdem sich auch Jackies Mutter Regina
klar gegen ihren Ex ausspricht, fällt die Entscheidung gegen ihn. Eine andere Option wäre, Jackie in eine
Pflegefamilie zu geben. Damit würde man sie allerdings aus ihrem gewohnten Umfeld reißen. Sie müsste die
Schule wechseln und neue Freundinnen finden. Doch bevor das passiert, bieten Monika und Thomas an,
Jackie zu sich zu nehmen. Auch Regina unterstützt das Angebot. Also überprüft das Jugendamt als nächstes
die Lebensumstände von Monika und ihrem Lebensgefährten und den drei Kindern. Dafür beauftragt es wie so oft
den Freien Jugendhilfeträgerverein Sozialtherapeutische Einrichtungen, kurz VSE. Der VSE schickt dafür eine
SozialarbeiterIn. Sie inspiziert die aufgeräumte Wohnung von Monika und Thomas, die sie durch die Räume führen und alle
Fragen der SozialarbeiterIn beantworten. Der Bericht, den sie schreibt, nachdem sie sich mehrmals mit den
potenziellen Pflegeeltern getroffen hat, liest sich vielversprechend. Die Familie lebt in einer
kindgerechten Vierzimmerwohnung. Außerdem sei Monika sehr kontaktfreudig und gehe offen und ehrlich auf
Menschen zu. Thomas scheint der Ruhepol der Familie zu sein. Und sie schreibt, bei einem meiner Besuche
teilte mir Jackie schüchtern aber sehr glaubhaft mit, dass sie sich in der Familie sehr wohl fühlt und sie
dort bleiben möchte. Das Fazit der SozialarbeiterIn. Ich nehme die Pflegeeltern als sehr verantwortungsbewusst
und reflektiert wahr. Das Paar sei in der Lage, Jackie als Pflegekind zu betreuen. Nach dem Bericht durch das
VSE hält das Jugendamt Monika und Thomas für die ideale Lösung für Jackie. Endlich kann sie dem
Alkoholsumpf ihrer Mutter entfliehen, ohne aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen zu werden. Sie
bekommt Pflegegeschwister, die gleichzeitig ihre FreundInnen sind und Pflegeeltern, die sich um sie
kümmern. Und so erhalten Monika und Thomas im August 2008 das Sorgerecht und Jackie kann ganz
offiziell zu ihrer neuen Familie ziehen.
Dort teilt Jackie sich ab jetzt ein Zimmer mit der zwei Jahre jüngeren Leonie. Es ist insgesamt etwas eng in der
Vier-Zimmer-Wohnung, aber Jackie muss nun keine Angst mehr davor haben, ausgesperrt zu werden und nicht zu wissen,
wohin sie gehen kann. Sie hat jetzt ein Zuhause, dessen Türen immer offen stehen. Und das neue Umfeld macht sich schnell
positiv bemerkbar. Monika betreut Jackie weiterhin regelmäßig bei ihren Hausaufgaben und ihre schulischen Leistungen
verbessern sich deutlich. Auch die finanzielle Situation ist bei Monika und Thomas besser als bei
Jackies Mutter Regina. Thomas hat eine Stelle als Lagerist, Monika leitet die Wilhelmsburger Tafel und für die
Fürsorge der nun zwei Pflegekinder erhalten sie knapp 1500 Euro pro Monat vom Staat. Für Jackie
bedeutet das zum ersten Mal in ihrem Leben Taschengeld. In den nächsten Jahren entwickelt sich Jackie zu einem
ganz normalen vorkubertären Mädchen. Sie ist großer Fan von Tokio Hotel, besonders von Bill und Tom und gibt ihr
Taschengeld für Radiergummis aus, auf denen das Gesicht von Justin Bieber abgedruckt ist. Jackie liebt Hip-Hop, hat
Tanzauftritte in der Schule und auch ihre Liebe für Tiere reißt nicht ab. Ihr großer Traum ist es, später einmal
Tierärztin zu werden und Tieren in Not zu helfen. Im Mai 2010, knapp zwei Jahre nachdem Jackie zu Monika und
Thomas gezogen ist, erhält die Zehnjährige dann eine schlimme Nachricht. Ihre leibliche Mutter Regina ist
ihrer Alkoholsucht zum Opfer gefallen und gestorben. Jackie ist sehr traurig über den Tod ihrer Mutter.
Sie hat wohl mittlerweile verstanden, dass sie suchtkrank und nicht absichtlich böse zu ihr war. Und trotz allem
war sie ja auch noch immer ihre Mama. Halt, findet Jackie jetzt bei ihrem leiblichen Vater Markus. Im
Gegensatz zu Jackies Mutter hat der 39-Jährige den Absprung von der Sucht geschafft. Mit seiner Freundin hat er
mittlerweile eine neue Familie gegründet und ist Vater einer zweijährigen Tochter. Jackie ist ganz
vernaht in ihre kleine Halbschwester Lotta. Regelmäßig unternehmen die vier gemeinsam Ausflüge. Im Winter
geht es zum Schlitzschuhlaufen auf den Weihnachtsmarkt, im Sommer auf die Fahrgeschäfte auf dem Hamburger Dom und
immer, wenn das Wetter es hergibt, zum Picknick im Park. Ich liebe den Hamburger Dom. Ich weiß, bin die
einzige Person über 14 Jahre, die den liebt. Und wenn Jackie nicht gerade bei ihrer Pflegefamilie oder ihrem Vater
Markus ist, verbringt sie gerne Zeit in der Insel Arche, einer christlichen Kindereinrichtung in
Wilhelmsburg, die sich um benachteiligte Kinder kümmert. Mitte Januar 2012 kommt ein Reporter einer
kirchlichen Zeitung in die Insel Arche und unterhält sich mit Jackie, während sein Tonbandgerät alles
aufzeichnet. Die mittlerweile Elfjährige erzählt ihm stolz mit herder Stimme: "Ich habe schon drei grüne
Karten bekommen." Grüne Karten bekommt man, wenn man einem anderen Kind geholfen hat. Und für drei
grüne Karten gibt es ein Geschenk. Ob es Jackie denn nur auf das Geschenk ankomme oder auch auf das
gute Verhalten, fragt der Reporter. Beides, sagt Jackie und kichert. Drei Tage nach diesem Interview
ist Jackie tot.
16. Januar 2012. Es ist 17:07 Uhr, als bei der Notrufzentrale ein Anruf eingeht. Eine völlig
aufgelöste Frau schreit ins Telefon. Ihre Tochter Jackie liege regungslos im Bett und habe blaue Lippen.
Sofort wird ein Rettungswagen geschickt. Noch am Telefon wird die Frau aufgefordert,
unverzüglich Reanimationsmaßnahmen einzuleiten. Um 17:21 Uhr trifft der Notarzt ein. Als er das
Zimmer betritt, sieht er, wie eine Frau und eine Teenagerin über ein Mädchen gebeugt sind und wie
verzweifelt auf ihren Brustkorb drücken. Der Mediziner übernimmt, kann aber weder Atmung noch
Herzschlag feststellen. Dann misst er die Körpertemperatur des Kindes und die liegt bei
besorgniserregenden 26 Grad. Umgehend wird Jackie ins nächste Kinderkrankenhaus gebracht. Zwei Stunden
kämpfen die Ärztinnen dort um ihr Leben. Aber es ist zu spät. Um 18:52 Uhr wird der Tod des
kleinen Mädchens festgestellt. Jackie stirbt mit gerade einmal 11 Jahren. Die Mediziner*innen im
Krankenhaus können sich nicht erklären, was passiert ist. Und weil sie keine natürliche
Todesursache feststellen können, verständigen sie schließlich die Polizei. Noch am selben Abend
befragen Beamtinnen Monika und Thomas. Auch sie können sich nicht erklären, was passiert ist. Zwar habe
Jackie am Vortag über Übelkeit geklagt. Das habe sie allerdings häufiger und sei vom Hausarzt als
Allergie diagnostiziert worden. Um herauszufinden, ob Jackie vielleicht an einem allergischen Schock
gestorben ist, wird eine Obduktion durchgeführt. Und zwar von niemand Geringerem als dem Rechtsmediziner
Klaus Püschel. Er untersucht Jackies leblosen Körper. Dabei kann er keine äußeren Gewalteinwirkungen
feststellen. Ihm fällt zwar auf, dass Jackie sehr schlank ist, er findet aber keine Hinweise auf
Unterernährung oder physische Vernachlässigung. Erst als Püschel Jackies Organe unter die Lupe nimmt,
keimt ein Verdacht auf. Jackie hat ein mit starken Blutungen einhergehendes Lungenödem,
also Wassereinlagerung in der Lunge. Außerdem findet er in ihren Atemwegen Speisereste, was auf
Erbrechen schließen lässt, eine Blutstauung der Bauchorgane und ein weiteres Ödem in ihrem
Gehirn. Für Püschel sind das klare Indizien einer drogeninduzierten Vergiftung. Er vermutet
durch Opiate. Eine Überdosis harter Drogen bei einer Elfjährigen? Klingt weit hergeholt. Doch nach der
chemisch-toxikologischen Untersuchung hat es der Rechtsmediziner schwarz auf weiß. Jackie ist an
einer Methadonvergiftung gestorben. Und für alle, die jetzt nicht wissen, was Methadon ist, einmal ein
kleiner Exkurs. Also das ist ein synthetisch hergestelltes Opioid. Und das benutzt man für
die Schmerztherapie. Und das wird aber auch seit den 80er Jahren als Ersatzmittel für Heroin
verwendet. Also heißt das neben Menschen, die vorher heroinabhängig waren und jetzt halt versuchen,
clean zu werden. Und das Methadon ist deswegen dafür sinnvoll, weil das quasi wie Morphin und
Heroin eine stark schmerzlindernde Wirkung hat, aber nicht diese starken Rauschzustände erzeugt. Was es
auch macht, ist, dass es das sogenannte Craving, also diesen Suchtdruck nach Heroin hemmt. Und das ist
gut, weil Methadon dadurch drogenabhängigen Normalität im Leben ermöglichen kann. Und der
Toxikologe Klaus Püschel, der auch hier bei Jackie die Untersuchung gemacht hat, der hat uns im
Hintergrundgespräch erklärt, dass Methadon für Heroinabhängige wirklich so eine Art Segen sei,
weil sie dadurch halt sozial angepasst sind und auch ihrem Beruf wieder nachgehen können. Und was bei
sowas natürlich auch wichtig ist, ist, dass die Infektionsgefahr hier wegfällt, weil Methadon oral
eingenommen wird, so Püschel. 2005 wurde Methadon deshalb von der WHO sogar in der Liste der
unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen. Wie alle Opiate fällt Methadon aber unter das
Betäubungsmittelgesetz. Das heißt, es ist nur verschreibungspflichtig zu erhalten. Und weil es schnell
schwer abhängig machen kann, findet die Einnahme meist in Arztpraxen oder halt in so extra Einrichtungen
statt. Aber unter bestimmten Bedingungen können PatientInnen das Methadon nach einer bestimmten
Zeit auch zu Hause einnehmen. Wie gefährlich Methadon aber auch sein kann, das zeigt ein Bericht
des Deutschen Ärzteblatts aus dem Jahr 1999. Dort wird festgehalten, dass in Hamburg im Vorjahr
32 Drogenabhängige an Heroin und 38, also sechs mehr, an Methadonen gestorben sind. Damit seien erstmalig
in Deutschland mehr Drogenabhängige an Methadon als an Heroin gestorben. Und der Bericht sagt,
dass die Gründe dafür die falsche Dosierung sind oder das am Mischkonsum liegt oder an fehlender
Kontrolle durch Ärztinnen. Aber wie ist das Methadon in Jackys Körper gelangt? Um herauszufinden,
ob Jackie schon vor ihrem Tod Opioide konsumiert hat, nimmt Klaus Püschel eine Haarprobe von ihr.
In ihren Haarwurzeln findet er keine Spuren von Methadon, was darauf schließen lässt, dass sie es
erstmals eingenommen haben muss. Den Zeitpunkt der Einnahme bestimmt der Rechtsmediziner auf 12 bis 18
Stunden vor ihrem Tod. Um herauszufinden, wie es zu dieser Einnahme kam, durchsuchen Polizisten in die
Wohnung von Monika und Thomas. Sie finden aber keine Hinweise auf Methadon. Dafür geben Monika und
Thomas den Ermittlenden einen Tipp. Jackys leiblicher Vater Markus nehme an einem Heroin-Ersatzprogramm
teil. Und so richtet sich der Fokus der Ermittlungen als nächstes auf Markus. Doch auch bei ihm findet sich
kein Methadon. Denn es stellt sich heraus, Markus bekommt kein Methadon verschrieben, sondern das
Substituid Buprenorphin. Die Polizei steht also wieder bei Null. Um weiterzukommen, ordnet die
Staatsanwaltschaft schließlich eine toxikologische Untersuchung der Pflegeeltern an. Acht Tage nach
Jackys Tod stattet der Rechtsmediziner Klaus Püschel Monika und Thomas also einen Besuch in ihrer
Wohnung ab, um ihnen Blut abzunehmen. Das Ergebnis lässt nicht lange auf sich warten und lenkt den Fokus
der ErmittlerInnen zurück auf die Pflegeeltern. Denn sie haben beide nicht nur Methadon, sondern auch
Heroin im Körper.
Einen Tag später kommt es zur zweiten Hausdurchsuchung bei der Pflegefamilie. Diesmal weiten die
BeamtInnen ihren Radius aus und tatsächlich können sie in der 600 Meter entfernten Garage von
Thomas 31 Tabletten des Methadon-Medikaments Meth-Addict sicherstellen. Äh, finde ich auch geil, dass das
einfach Meth-Addict heißt.
Ich glaube das nicht.
Haben Monika und Thomas nicht behauptet, sie hätten keine Ahnung, wie das Methadon in Jackys Körper gelangt
sein könnte? Mit den neuen Hinweisen konfrontiert, geben die beiden schließlich zu, dass auch sie
heroinabhängig waren und deswegen an einem Methadon-Programm teilnehmen. Nun wird den
Ermittlenden klar, was später bundesweit für Entsetzen sorgen wird. Jackie wurde ihrer
alkoholkranken Mutter entzogen, um sie in die Obhut heroinabhängiger zu geben. Für die Polizei ist das
der Wendepunkt in ihren Ermittlungen. Doch Monika und Thomas beteuern, dass sie die Tabletten ausschließlich
in der Garage lagern würden, wo die Kinder keinen Zugriff drauf hätten. Nur Thomas habe
einen Schlüssel für die Garage und nur er hole die tägliche Ration für sich und Monika jeden Tag
aufs Neue. Jackie könne das Methadon also nicht von ihnen haben. Die Pflegeeltern bezichtigen weiter
Jackys leiblichen Vater Markus. Doch die Version scheint den Polizisten nicht glaubhaft. Schließlich ist die
Garage 600 Meter von der Wohnung entfernt. Nimmt Thomas wirklich täglich die 10 Minuten Fußweg bei Wind und
Wetter auf sich, um sich und Monika mit der Tagesration zu versorgen? Drei Tabletten a 40 Milligramm
Methadon, also 120 Milligramm, nehmen die beiden jeweils täglich zu sich. Eine durchaus hohe, aber nicht
unübliche Dosis für Abhängige. Doch schon eine der Tabletten mit 40 Milligramm ist tödlich für ein Kind.
Aber genau die Menge, die in Jackys Körper gefunden wurde. Die Behörden reagieren sofort. Monika und Thomas
wird das Sorgerecht ihrer verbliebenen Kinder entzogen. Das Jugendamt übernimmt die Vormundschaft für
Alina, Kevin und Leonie. Und die Ermittelnden beginnen tiefer im Leben von Monika und Thomas zu bohren.
Was dabei rauskommt, reißt die Fassade der liebenden und fürsorglichen Pflegeeltern ein und wird eine
bundesweite Diskussion auslösen, bei der sich sogar der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz zu Wort melden wird.
Thomas wächst als Jüngstes von vier Kindern in einer von Hamburgs besseren Wohngegenden in Winterhude
auf. Sein Vater ist Bankkaufmann, seine Mutter Hausfrau. Noch vor seiner Einschulung lassen sich die
Eltern jedoch scheiden. Thomas und seine Geschwister bleiben bei der Mutter, die sich bald darauf in einen
ehemaligen Boxer und Zuhälter verliebt. Thomas' neuer Ersatzvater ist Alkoholiker und lässt mehr
Fäuste als Worte sprechen. Thomas meidet daher immer öfter sein Zuhause, treibt sich wie Jackie später
draußen rum. Mit zwölf beginnt er zu rauchen und Alkohol zu trinken. Thomas wechselt auf die
Hauptschule und schnell hat er den Ruf, ein Problemkind zu sein. Er stört den Unterricht,
pleitigt LehrerInnen und prügelt sich in den Pausen mit seinen MitschülerInnen. Nach der Schule
beginnt Thomas eine Ausbildung zum Autoschlosser. Danach leistet er seinen Wehrdienst bei der Marine
ab, findet eine Freundin und eine feste Anstellung im Hafen. Es scheint die stabilste Phase in seinem Leben
zu sein. Bis er und seine Freundin sich trennen und Thomas wieder auf die schiefe Bahn gerät. Er
fängt an, Drogen zu nehmen und wird kriminell. Körperverletzung, Diebstahl, bewaffneter
Raubüberfall. Thomas' Strafregister wird immer länger. Mitte der 90er lernt er dann während einer
Entzugstherapie Monika kennen.
Anders als Thomas entstammt Monika keinem wohlhabenden Elternhaus. Sie wächst in einem
Büttel auf, zieht mit 16 Jahren von zu Hause weg. Sie macht eine Ausbildung zur Dienstleistungsfachkraft
bei der Post und wird schon mit 21 Jahren schwanger mit ihrer ersten Tochter Judith. Der Vater ihres
Kindes kümmert sich weder physisch noch finanziell. Auf sich allein gestellt muss Monika nur sechs
Wochen nach der Geburt wieder arbeiten. Die Doppelbelastung versucht sie erst mit Aufputschmittel
auszugleichen. Mit 22 nimmt sie das erste Mal Heroin. Die Begegnung mit Thomas scheint zunächst
ihre Rettung zu sein. Beide werden clean. 1995 bekommen sie ihr erstes gemeinsames Kind. Alina
wird geboren. Die kleine Familie zieht aufs Land nach Schleswig-Holstein. Einfach nur weg vom
Hamburger Drogensumpf. Rein in die norddeutsche Idylle. Sogar einen kleinen Garten haben sie dort.
Monika pflanzt Blumen vor der Tür. Thomas verbringt seine Freizeit an der Werkbank im Keller. Doch viel
Freizeit hat Thomas nicht. Oft ist er von Sonntagnacht bis Freitagabend auf Montage. Das Pendeln und die
Arbeit machen ihm irgendwann immer mehr zu schaffen. Dazu kommt der Druck, die Familie ernähren zu müssen.
Thomas wird rückfällig und die Abwärtsspirale nimmt ihren Lauf. Schnell kann sich Thomas seinen
exzessiven Drogenkonsum mit seinem dürftigen Gehalt nicht mehr leisten. Er fängt an zu dealen,
doch die Einnahmen decken kaum seinen eigenen Konsum. Die Straftaten werden wieder schwerwiegender.
Erst Diebstahl, dann Raub. Mit 36 Jahren muss Thomas dann für zwei Jahre ins Gefängnis. Und Monika,
die wartet nicht auf ihn. Sie will ein Neuanfang. Sie zieht mit Alina zurück nach Hamburg. Als
Thomas aus der Haft entlassen wird, erhren sich Monika und er dann doch langsam wieder an und bekommen
2001 sogar erneut ein Kind. Kevin. Die Familie wächst. Und als ihre erstgeborene Judith wegen
Kokainhandels festgenommen wird und ihr das Sorgerecht für ihre Tochter Leonie entzogen wird,
springt Monika für sie in die Bresche und nimmt Leonie bei sich auf. 2008, das Jahr, als Jackie zu
Monika und Thomas kommt, ist die finanzielle Lage der Familie angesichts der vielen Kinder und der
Drogensucht angespannt. Als sich die Chance bietet, das Sorgerecht für Jackie zu übernehmen,
sehen Thomas und Monika in dem Mädchen nicht nur eine neue Schwester für ihre drei Kinder,
sondern vor allem eins, eine neue Geldquelle. Fast 800 Euro pro Monat bekommen sie ab da für Jackie.
In den dreieinhalb Jahren bis zu ihrem Tod werden sie so knapp 33.000 Euro vorm Start für ihre
Betreuung erhalten. Den Ermittlenden wird bei ihren Nachforschungen zu den Pflegeeltern immer klarer,
dass Jackie bei Monika und Thomas nicht das Leben führte, von dem das Jugendamt ausgegangen war. Hatte man
sich so sehr gewünscht, dass Jackie endlich Fürsorge und Liebe erfährt, dass man vorbei statt
hingesehen hat? Denn als Jackie in die Vier-Zimmer-Wohnung zieht, ist für sie eigentlich gar kein Platz. Jackie bekommt
kein eigenes Bett, kein Schrank, wo sie ihre Sachen einräumen kann. Und sie kriegt auch kein Essen.
Gekocht wird so gut wie nie, der Herd in der Küche ist nicht mehr angeschlossen, im Kühlschrank sammelt
sich Schimmel. Die hygienischen Bedingungen sind schlecht. Kein Wunder bei fünf Haustieren und sechs
Menschen. Von den Umständen in ihrem neuen Zuhause erzählt Jackie nur ihrem leiblichen Vater Markus.
Sie habe kaum Zeit, Hausaufgaben zu machen, weil sie nach der Schule den Haushalt schmeißen muss,
beschwert sie sich bei ihm. Ganz im Gegenteil zu ihren Pflegegeschwistern. Die müssten keinen
Finger rühren, sagt sie, und so käme es immer häufiger zum Streit. Aber nicht nur im Haushalt muss
Jackie schuften. Um sich etwas dazu zu verdienen, hat Monika einen Minijob zum Zeitungsaustragen
angenommen. NachbarInnen beobachten aber, dass es vor allem Jackie und ihre Pflegeschwester Leonie sind,
die die Zeitungen in die Briefkästen werfen. Im August 2008, wenige Wochen nach Jackies Unterbringung
bei Monika und Thomas, geht dann bei Jackies Amtsvermund im Jugendamt eine Beschwerde über die neuen
Pflegeeltern ein. Die sind asozial neben Drogen, erklärt Markus, Jackies leiblicher Vater, dem Amtsvermund.
Das Jugendamt nimmt die Beschwerde auf, bort aber nicht weiter nach. Vielleicht hält man Markus für befangen,
wenig glaubwürdig und eifersüchtig, weil seine Tochter nicht bei ihm wohnen darf. Doch Markus' Beschwerde ist
nicht die einzige, die bei der Behörde eingeht. Aufmerksame NachbarInnen melden sich beim Jugendamt und
berichten von schlimmen Zuständen, in denen keine Kinder aufwachsen sollten. So zum Beispiel am 19.
Mai 2010, da ist Jackie fast zwei Jahre bei ihrer Pflegefamilie. Eine anonyme Nachbarin ruft beim
Jugendamt an. Der Amtsvermund notiert, es gebe Gerüchte, dass die Pflegeeltern mit Drogen zu tun
haben. Der VSE, der Verein, mit dem das Jugendamt die Prüfung des Paares vor der Inobhutnahme
beauftragt hatte, soll nun nochmal hin und die Angelegenheit nachverfolgen. Der VSE schickt
schließlich zwei SozialarbeiterInnen, die Monika mit den Aussagen konfrontieren. Monika
bezeichnet die Anschuldigungen als haltlos. Sie und Thomas würden von der Nachbarschaft gemobbt und
verleumdet werden. Die AnschweizerInnen seien selbst drogensüchtig und nur eifersüchtig auf ihre
glückliche Familie. Die SozialarbeiterInnen glauben ihr. Auch nachdem sich StreetworkerInnen beim
Jugendamt melden, dass Jackie oft bis spät nachts noch draußen sei und schwere Einkäufe erledigen
müsse, reagiert das Jugendamt nicht. MitarbeiterInnen der Wilhelmsburger Tafel erheben ebenfalls
Vorwürfe. So sagt eine ehemalige Mitarbeiterin über Monika, dass sie wegen der Drogen offene Arme und
Beine gehabt habe, die vernarbt und entzündet gewesen seien. Auch sei immer wieder Geld aus der
Kasse der Tafel verschwunden. 2009 wird Monika deswegen gekündigt. Schließlich meldet sich im April
2011 auch Jackys Lehrerin beim Jugendamt. Jackie komme oft verwahrlost in die Schule,
ohne Hausaufgaben gemacht zu haben. Außerdem beklagt sich die Frau über die Ungleichbehandlung
zwischen Jackie und ihren Pflegegeschwistern. Als Lehrerin habe sie mehrfach das Gespräch mit
Monika und Thomas gesucht, doch geändert habe sich nie etwas. Im Gegenteil, sie habe bei den
Pflegeeltern zunehmendes Desinteresse an Jackie beobachtet. Monika und Thomas würden grob und
lieblos mit ihr umgehen. Die MitarbeiterInnen des Jugendamts zeigen sich überrascht und entgegnende
Lehrerin, dass sie bei ihren Besuchen der Familie einen anderen Eindruck hätten.
Kurz darauf meldet sich sogar der stellvertretende Schulleiter beim Jugendamt. Jackys Pflegeschwester
Leonie fehle oft unentschuldigt in der Schule und immer wieder müsse er Leonie nach Hause fahren,
weil sie von ihren Eltern nicht abgeholt werde. Einmal sei er deshalb in der Wohnung der Familie
gewesen. Das Chaos habe ihn so erschüttert, dass er sich genötigt fühlte, die Familie zu melden.
Wie die anderen Beschwerden wird diese zwar vermerkt, gehandelt wird nicht.
In den Monaten vor ihrem Tod will Jackie nur noch weg von ihrer Pflegefamilie. Weg von der Enge,
weg von den Streitigkeiten, weg von den Drogen. Zuflucht findet sie bei ihrem Vater Markus. Bei ihm kann
sie sich ausweilen, nachdem es mal wieder Streit gab oder Monika erneut benommen auf dem Sofa liegt.
Ein Anblick, den sie dank ihrer Vergangenheit nur zu gut kennt. Als es ihr zu viel wird, schreibt
Jackie einen Brief an ihren Vater. Zur Sicherheit verfasst sie ihn gleich zweimal. Einen wirft sie
persönlich in den Briefkasten ihres Papas. Den anderen schickt sie per Post. Jackie fehlt das Geld
für die Briefmarke. Der Brief ist mit nur 5 Cent frankiert. Die Post stellt ihn trotzdem zu. Die zwei
Briefe, die Markus in seinem Briefkasten findet, sind mit kleinen Herzchen verziert. Darin zu lesen,
Liebe Bea, lieber Papa, liebe Lotta, bitte holt mich aus dieser schrecklichen Familie. Ich will zu
euch zurück. Ich freue mich auf euch. Ich liebe euch. Jackie. Oh, das ist so herzzerreißend,
Alter. Am 2. November 2011 unternehmt Papa Markus einen letzten Versuch beim Jugendamt, um seine
Tochter aus der Familie zu befreien. Monika und Thomas würden Drogen nehmen und sie seien kein
gesunder Umgang für Jackie, erklärt er nochmals. Der Amtsvormund des Jugendamts macht sich wieder
eine Notiz. Wenige Wochen später ist Jackie tot. Während die Polizei die Hintergründe zu Jackies Tod
ermittelt, entfacht parallel dazu ein medialer Flächenbrand. Denn ganz Deutschland fragt sich,
warum musste Jackie sterben? Das Jugendamt hat versagt, schreibt das Hamburger Abendblatt. Von
Schande ist in der Bild zu lesen und Markus Lanz wird mit dem Fall eine ganze Sendung. Und das führt in
Hamburg zum politischen Beben. Noch bevor Anklage erhoben wird, gibt es im Sommer 2012 die ersten
Konsequenzen. Die Leiterin des Jugendamts muss ihren Posten räumen. Doch der Opposition reicht das
nicht. Sie fordert den Rücktritt des SPD-Bezirksamtschefs. Der Druck wird schließlich zu groß. Nach einem
Gespräch mit dem Oberbürgermeister Olaf Scholz bittet der Bezirksamtschef darum, dass ihn der Senat
abberuft. Olaf Scholz kommt seiner Bitte nach und verkündet öffentlich, Zitat,
Wir kümmern uns beharrlich darum, dass die zuständigen Behörden alles tun, damit kein Kind ein solches
Schicksal wie Jackie erleiden muss. Als ersten Schritt ordnet Scholz einen Sonderausschuss zur
Aufklärung von Jackies Todesumständen an. Gleichzeitig erhebt die Staatsanwaltschaft nicht
nur Anklage gegen Monika und Thomas, sondern auch gegen sechs MitarbeiterInnen des Jugendamts und des
VSE. Und während die BeamtInnen weiter ermitteln, fängt auch der Sonderausschuss im Sommer 2012 mit der
Aufarbeitung des Behördenversagens an. Dabei wird en detail herausgearbeitet, was in dem Fall
schiefgelaufen ist und wie es dazu kommen konnte, dass Jackie ihrer alkoholkranken Mutter entzogen
wurde, nur um bei Heroinabhängigen untergebracht zu werden. Dabei wird klar, dass man einfach versäumt
hatte, ein polizeiliches Führungszeugnis von Monika und Thomas einzuholen. Und selbst als immer mehr
Beschwerden über die Pflegeeltern beim Jugendamt eintrafen und diese auch aufgenommen wurden, reagierte man
nicht. Man ordnete keinen Drogentest an, man befragte Jackie nicht. Man schaute weg. Das Ergebnis des
Sonderausschusses ist niederschmetternd. Die Vorwürfe gegen die betreffenden MitarbeiterInnen des
Jugendamts hätten sich, Zitat, vollumfänglich bestätigt, heißt es. Es sei keine Verkettung
unglücklicher Umstände, die dazu führte, dass Jackie jahrelang bei ihren drogensüchtigen
Pflegeeltern blieb. Es sei vielmehr von Fehleinschätzungen und Unvermögen der JugendamtsmitarbeiterInnen
auszugehen. So das Fazit des Berichts.
Und dass Jugendämter viel Kritik einstecken müssen, das ist ja nichts Neues. Das war bei uns auch schon
öfter Thema im Podcast. Denn wir hatten hier schon ein, zwei Fälle, wo das Jugendamt auch eine Rolle
gespielt hat, wo wir auch kritisiert haben. Bei den Fällen war auch klar, dass das Jugendamt
etwas vergeigt hat. Und trotzdem haben wir danach von JugendamtmitarbeiterInnen emotionale Nachrichten,
möchte ich mal meinen, bekommen. Weshalb wir uns heute dazu entschieden haben, mit einem Experten zu
sprechen. Und zwar ist heute bei uns Thomas Mörsberger, Rechtsanwalt für Familienrecht. Mörsberger war von
1999 bis 2019 Vorsitzender des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht und hat selbst
jahrelang ein Jugendamt in Karlsruhe geleitet. Er weiß also, wie es ist, auf der anderen Seite zu
stehen, hat er uns erzählt.
Wer in diesem Bereich engagiert ist, der lebt eigentlich ständig unter dem Druck, nämlich, dass er
möglicherweise irgendetwas übersieht oder etwas nicht bewirkt, was er vielleicht bewirken könnte.
Verstärkt wird dieser Druck von außen, also von der Gesellschaft, die erwartet, dass hilfsbedürftige
Kinder schnell aus den problematischen Verhältnissen geholt und vermittelt werden. Laut Mörsberger sind aber
erstens viele SozialarbeiterInnen nicht ausreichend geschult, um Probleme in den Familien wie Drogenkonsum
überhaupt zu erkennen, geschweige denn richtig darauf zu reagieren. Und zweitens gibt es auch einfach nicht
genügend Mitarbeitende, also Stichwort Personal- und Fachkräftemangel. Und gerade bei pflegeintensiven
Familien sei das halt ein Problem. Weil da müsse man eigentlich wöchentliche Besucher
abstatten, so Mörsberger. In der Realität sei das aber oft nicht möglich. Und so seien
politische Maßnahmen oft realitätsfern und auch wenig hilfreich. Und wie fast überall geht es auch in der
Jugendhilfe unter anderem um Geld. Familienbetreuung gehört zwar zu den sensibelsten Aufgaben
des Staates, trotzdem ist sie in Deutschland meist privatisiert. Also freie Träger wie der VSE,
also der Verein, der in dem Fall von Jackie die Pflegefamilie überprüft hat und oft vom Jugendamt
beauftragt wird, sind finanziell abhängig von ihren betreuten Fällen, wie uns Mörsberger erklärt hat.
Selbstverständlich ist jeder dazu geneigt, der Sorge hat, er kriegt vielleicht keinen Auftrag mehr. Dass er alles tut,
dass für den Auftraggeber erkennbar wird, er ist unentbehrlich. Er müsste weiterarbeiten und dadurch kriegt er auch mehr Geld.
Was Mörsberger hier andeutet, ist, dass diese finanzielle Abhängigkeit bedeutet, dass, wenn den Pflegeeltern das
Sorgerecht anzogen wird, die Träger dann auch ihre finanzielle Förderung für die Betreuung des Falls
verlieren. Und das wiederum heißt, dass sie einen Anreiz haben, die Kinder nicht aus den Familien zu nehmen.
SozialarbeiterInnen stehen also chronisch unter Druck. Nicht nur was die Arbeitsbelastung angeht, sondern auch die
finanzielle Komponente. Dass die Kritik im Fall Jackie so heftig ausfällt, hat aber noch einen anderen Grund.
Denn es ist nicht der erste Fall von massivem Jugendamtsversagen in Hamburg. Jackie reiht sich ein in eine traurige
Reihe von toten Kindern in der Hansestadt, die durch das Eingreifen von Jugendämtern hätten verhindert werden
können und müssen.
2004 stirbt eine Zweijährige, nachdem sie monatelang von ihrer Mutter vernachlässigt wurde. Den Behörden waren die
Zustände bekannt, gehandelt wurde nicht. Ein Jahr später stirbt eine Siebenjährige, nachdem sie jahrelang eingesperrt,
gequält und misshandelt wurde. Zwar war von den Behörden ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern eingeleitet
wurden. Nachdem sie aber nie in der Schule erschien, blieben weitere Maßnahmen aus. Die Mutter wird wegen
Mordes zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Strafrechtliche Verfolgung der JugendamtsmitarbeiterInnen
gibt es keine. So auch 2007, als ein nur neun Monate altes Mädchen stirbt, ebenfalls in
Hamburg-Wilhelmsburg. Auch hier gibt es mehrere Hinweise auf Verwahrlosung. Werden den Worten von
Oberbürgermeister Olaf Scholz nun endlich Taten folgen, oder sind sie nicht mehr als leere Versprechungen?
Was die juristischen Folgen für die SozialarbeiterInnen aus Jackys Fall angeht, sieht es mau aus. Wie auch schon bei
den anderen Mädchen muss sich bei Jackie niemand der Beteiligten verantworten. Während der Ausschuss der Meinung ist,
dass in Jackys Fall ein massives Versagen seitens der SozialarbeiterInnen vorlag, sehen die
Strafverfolgungsbehörden nicht genug Hinweise dafür, dass die SozialarbeiterInnen im rechtlichen Sinne ihre
Fürsorgepflicht verletzt hätten und vom Drogenkonsum der Pflegeeltern hätten wissen müssen. Die Anklage
gegen die sechs Mitarbeitenden wird daher fallen gelassen. Eine Entscheidung, die in ganz Hamburg für
Empörung sorgt. Vor allem bei einem sitzt der Schock tief. Bei Jackys Vater Markus. Für den mittlerweile
43-Jährigen, der immer wieder versucht hatte, das Jugendamt davon zu überzeugen, dass Monika und Thomas
Drogen nehmen, ist das Ganze unverständlich. Seine letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit liegt jetzt auf dem
kommenden Gerichtsverfahren gegen die ehemaligen Pflegeeltern seiner Tochter. Im Dezember 2014 und
damit fast drei Jahre nach Jackys Tod wird der Prozess eröffnet. Wegen seiner Bedeutung und des
öffentlichen Aufsehens wird der Fall am Hamburger Oberlandesgericht verhandelt. Normalerweise werden
am Oberlandesgericht vor allem staatsgefährdende Delikte zur Anklage gebracht, also beispielsweise Hochverrat
oder Straftaten gegen Verfassungsorgane. Ein OLG kann aber auch Straftaten wie Mord oder Raub
übernehmen, wenn diese von besonderer Bedeutung sind. Dass das hier der Fall ist, wird beim Anblick der
MedienvertreterInnen deutlich, deren Blitzlichtgewitter auf die Angeklagten im Saal einschlägt. Monika sitzt
mit verschränkten Händen vor dem Gesicht auf der Anklagebank. Sie versucht, sich mit Schal und Kapuze vor den
Kameras zu schützen. Ihre eigentlich dunkelblonden Haare hat sie mittlerweile schwarz gefärbt. Ihre Haut
wirkt jetzt noch blasser. Thomas versteckt sein Gesicht unter einer Mütze. Die Bartstoppeln, die am
Kinn hervorlugen, verraten, dass er langsam grau wird. Nachdem die MedienvertreterInnen ihre Kameras
senken, verließ der Staatsanwalt die Anklage und führt die Anwesenden zurück an den Morgen des 15.
Januar 2012. Thomas ist an diesem Sonntag mit Jackie und den anderen Kindern zu Hause. Monika ist nicht da.
Sie hat die Nacht bei ihrer erwachsenen Tochter Judith verbracht. Sie wollte in Ruhe Bewerbung für
einen neuen Job schreiben. Thomas und die Kinder frühstücken an diesem Morgen also ohne sie,
obwohl es Leonis 8. Geburtstag ist. Am Nachmittag fährt Thomas mit Jackie und den anderen ins Kino.
Um 17.24 Uhr erhält er eine SMS von Monika. Sie komme erst spät nach Hause und schreibe weiter an
ihren Bewerbungen. Gegen 18 Uhr kommen Jackie, Thomas und die anderen Kinder vom Kino zurück. Jackie hat
Hunger und holt gegen 20 Uhr für sich Alina und Leonie Pizza vom Imbiss um die Ecke.
Thomas ist nicht mit. Er verabschiedet sich stattdessen und verlässt gegen 21 Uhr die
Wohnung, um seinen Bruder zu besuchen. Er lässt die vier Kinder alleine zu Hause. Auch Alina
verschwindet kurze Zeit später zu ihrem Freund. Um 22.59 Uhr erhält sie dort dann eine SMS von
ihrer Mutter Monika, sie habe den letzten Bus verpasst und komme erst am nächsten Tag nach
Hause. Das bedeutet, dass die 11-jährige Jackie, die 8-jährige Leonie und der 7-jährige Kevin in den
nächsten Stunden ohne eine erwachsene Person zu Hause sind. Und das, obwohl es Jackie gar nicht gut geht.
Sie klagt über Übelkeit und Juckreiz. Sie glaubt an eine allergische Reaktion, hatte sie doch nur
wenige Wochen vorher ähnliche Symptome. Damals ging es Jackie nach einem Festbesuch schlecht. Der Arzt
vermutete eine Allergie und verschrieb Jackie Promethazintropfen. Ein Medikament, das Übelkeit
lindert und eine schlaffördernde Wirkung hat. Um 23.23 Uhr ruft Jackie Thomas an. Ihr gehe es
schlecht und sie habe wieder so einen allergischen Anfall, sagt sie. Er sei bald zu Hause, beschwichtigt
Thomas. Hilfesuchend ruft Jackie direkt danach auch noch Monika an. Monika weist sie an, die Tropfen
zu nehmen. Sie könne die Tropfen nicht finden, sagt Jackie am Telefon. Monika bittet Leonie,
mit ihr zu suchen. Danach endet das Telefonat. Wann genau Jackie die Methadontabletten zu sich
genommen hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es ist aber zu vermuten, dass es nach diesem
Telefonat passiert ist. Denn Jackie wusste, dass es das Promethazin auch in Tablettenform
in der Medikamentenbox gibt. Fatalerweise ähnelt die Verpackung sehr der des Methadon.
Um 23.34 Uhr schreibt Monika Thomas noch eine SMS. Er solle am nächsten Tag doch bitte ausnahmsweise
die Kinder wecken und erinnert ihn daran, die Hunde zu füttern. Jackie erwähnt sie
nicht. Am nächsten Morgen tut Thomas das, was Monika ihm aufgetragen hat. Doch als er Jackie
wecken will, rührt sie sich nicht. Er denkt, sie brauche Ruhe und Schlaf. Wo ich mich immer
frage, das kann, so einen ähnlichen Fall hatten wir doch schon mal. Also wie kann man, wenn das
Kind sich nicht wecken lässt, dann einfach denken, ja okay. Also das ist ja nicht irgendwie wie ein
Erwachsener, der seinen Rausch ausschläft oder so. Und tatsächlich ist die Elfjährige in dem Moment
bewusstlos. Um 11.30 Uhr verlässt Thomas dann die Wohnung. Jackie befindet sich zu diesem Zeitpunkt seit
mehr als zwölf Stunden im Todeskampf. Für den Staatsanwalt haben sich Monika und Thomas damit der
fahrlässigen Tötung und der Verletzung ihrer Fürsorge und Erziehungspflicht schuldig gemacht.
Das Meth Addict, das Jackie geschluckt hat, stamme von den Angeklagten. Da gebe es keinen Zweifel,
so der Jurist. Aus Sicht der Anklage hat das Paar mindestens eine Tablette in der Küche ungesichert
herumliegen lassen. Doch das weisen Monika und Thomas weiterhin von sich. Sie bleiben bei ihrer
Version, sie hätten das Methadon ausschließlich in ihrer Garage gelagert. In ihrer Wohnung aber habe
es sich nie befunden, betont Monika nochmal vor Gericht. Der vorsitzende Richter entgegnet ihr,
Jackie muss an dieses Medikament gekommen sein, sonst wäre sie nicht tot. Daraufhin fragt der
Staatsanwalt Monika, warum sie bei den Methadon-Medikamenten so penibel auf Sicherheit geachtet
habe, andere verschreibungspflichtige Medikamente aber in einer für jedermann zugänglichen
Box in der Wohnung aufbewahrt habe. Die Kinder hätten nie etwas daraus genommen ohne ihre
Zustimmung, so Monika. Die Angeklagte versucht alles, um den Anwesenden glaubhaft zu machen,
wie sehr sie unter dem Tod von Jackie leide. Ihre Kinder seien ihr genommen worden, Freundinnen
und Bekannte würden sie meiden und Nachbarinnen sie schikanieren. Der Tod von Jackie habe ihr
die Augen geöffnet, sie habe angefangen, sich selbst zu entziehen. Ich bin seit zwei Jahren
clean, sagt die mittlerweile 50-Jährige mit stolzer Stimme. Auch Thomas habe der Tod von Jackie
so schockiert, dass er den Drogen abgeschworen hat. Monika sei sogar vom Methadon weggekommen,
erklärt sie. Zumindest den Teil ihrer Aussage bestätigt eine Blutuntersuchung eines Drogentests.
Als der Richter sich schließlich Thomas zuwendet, will er von ihm wissen, wieso er am nächsten
Morgen die Wohnung verlassen habe, ohne sich um Jackie zu kümmern.
Ich habe ihre Körperwärme gespürt, für mich hat mein Kind geschlafen, entgegnet er. Wieso
haben sie nicht nochmal ihre Frau angerufen oder ihre Frau sie, fragt der Richter ungläubig.
Normal sei doch, dass man sich über den Gesundheitszustand des Krankenkindes austausche.
Ja, das frage ich mich auch, sagt Thomas nun resigniert.
Ich habe die Situation total falsch eingeschätzt. Den Vorwurf mache ich mir selber, sagt er mit
gedämpfter Stimme. Der Richter stutzt und ruft, das ist ja fast ein Geständnis.
Prompt relativiert Thomas seine Aussage. Morgens habe Jackie ja noch mit einem Gemurmel reagiert.
Doch diese Behauptung fegt Rechtsmediziner Klaus Püschel vom Tisch, als er geladen wird.
Jackie habe sich zu dem Zeitpunkt, als Thomas sie wecken wollte, bereits in einem komatösen
Zustand befunden und hätte dementsprechend gar nicht reagiert haben können. Er sagt
aber klar, Jackies Leben wäre da höchstwahrscheinlich noch zu retten gewesen.
Auch die Rolle von Jugendamt und VSE, sowie deren Kommunikation, wird im Prozess noch einmal
thematisiert. Tatsächlich wusste das Jugendamt seit 2008 darüber Bescheid, dass Monika und
Thomas substituiert werden. Den VSE, der für die Betreuung der Familie zuständig war, hat
man offenkundig nicht darüber informiert. Seit den Mitarbeitenden des VSE bei ihren Besuchen
in der Wohnung, denn nie etwas aufgefallen, will der Richter wissen. Ja, die Wohnung sei
voller Gerümpel und unordentlich gewesen. Ja, in ihr lebten zwei Erwachsene, vier Kinder,
drei Hunde und zwei Katzen auf 100 Quadratmetern. Eben Wilhelmsburger Verhältnisse, so eine der
Sozialarbeiterinnen. Das sollte nicht heißen, dass es dem Kind schlecht geht, sagt eine andere
Sozialpädagogin. Es war eben einfach ein anderer Standard. Hätte man Jackie nicht genau aus
diesen Wilhelmsburger Verhältnissen retten müssen, fragt der Richter. Eine der
Jugendamtmitarbeiterinnen entgegnet. Es sei eine Maßgabe, dass das Pflegekind möglichst
millionär unterzubringen sei. Zitat, es ist besser, wenn ein Kind aus einfachen Verhältnissen
in einfachen Verhältnissen bleibt, als es in eine Familie nach Blankenese zu geben. Und
da frage ich mich, wieso ist das denn eigentlich so? Also ich verstehe, dass man Kinder nicht aus
ihrer gewohnten Umgebung holen soll. Aber wieso muss man sie millionär unterbringen, was ja hier
dann impliziert, in eine Familie, die vielleicht nicht so viel Geld hat, würden wir das Kind lieber
tun, wenn es auch aus so einer Familie kommt, als in die andere Familie, die dem Kind aber mehr
Möglichkeiten bieten kann? Das finde ich irgendwie einen komischen Ansatz.
Also im Fall von Jackie kann ich das halt super gut verstehen, weil die wollte ja auch nicht aus dem
Umfeld raus. Das war ja nur irgendwie ein paar Türen weitergefühlt. Und sie kannte die ja auch
schon. Also so auf dem Papier sah das jetzt erst mal alles super aus. Und ich bin definitiv auch der
Meinung, dass mehr Geld nicht automatisch besseres Umfeld immer heißt. Weil Familien, die vielleicht einen
niedrigeren Lebensstandard haben, genauso liebevoll für ein Kind sorgen können. Also wie gut das Kind
jetzt betreut wird, hat ja nichts mit dem Einkommen der Eltern zu tun. Aber ja, die Frage ist
tatsächlich, warum das so so eine Art Regel sein soll. Ja, und ob es dann eben in manchen Fällen dann
vielleicht so ist, dass man sagt, ja, lieber Millionär, weil das ist irgendwie wichtiger, aber
eigentlich ist die Familie aus Blankenese die liebevollere Familie in dem Fall oder so. Das kann dann eben
ein Problem werden, wenn man dann auf, ja, bei manchen Sachen sozusagen wegschaut, nur damit es
Milieu nah bleibt. Ich finde, hier hat es halt irgendwie einen negativen Beigeschmack, Milieu nahe zu
sagen, wenn sie eh aus einem Umfeld kommt, wo Alkohol und Drogen eine Rolle gespielt haben und jetzt
halt wieder in so ein Umfeld reingekommen ist. Ja, das stimmt. Wer vor Gericht übrigens nicht
geladen wird, ist Jackies leiblicher Vater Markus. Während die Kammer eine ganze Reihe von
ZeugInnen hört, die Aussagen, wie gut es Jackie in ihrer Pflegefamilie gehabt haben
soll, SozialarbeiterInnen, SozialpädagogInnen und ein befreundeter Pastor der Pflegefamilie,
bleibt die Seite des Opfers stumm. Weder ihr Vater noch ihre leibliche Schwester oder die
NachbarInnen dürfen ihre Seite der Geschichte präsentieren. Was ich absurd finde, ja. Und auch
ein Umstand, den der Staatsanwalt in seinem Abschlussplädoyer kritisiert. Es sei nicht
nachvollziehbar, dass der vorsitzende Richter es abgelehnt hatte, Markus anzuhören. Auf ihn
hatten die Angeklagten direkt nach Jackies Tod aber auch noch während der Ermittlungen immer
wieder den Verdacht gelenkt. Der Prozess habe deshalb einen Fadenbeigeschmack, erklärt der
Staatsanwalt. Für Thomas fordert er eine Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Für Monika eine
Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Er spricht von einem Tod, der nie hätte passieren
dürfen und nie passiert wäre, wenn die Pflegeeltern aber auch das Jugendamt ihre Pflichten und Aufgaben
erfüllt hätten. Nie hätte Jackie in die Obhut des drogenabhängigen Paares gegeben werden
dürfen, dass trotz Substitution nebenbei auch noch Heroin konsumierte, wie im Prozess nachgewiesen
worden sei. Strafmildernd wertet er, dass das Paar ein Pflegekind verloren habe, auch wenn dessen
Trauerzeugenaussagen zufolge atypisch gewesen sei. Der Staatsanwalt sagt, aber ich nehme ihnen ab,
dass sie das bedauern, auch wenn ihr Bedauern wirtschaftlicher Natur ist.
Das finde ich schon echt hart, ja. Also ich meine, dann ist es doch kein ernsthaftes Bedauern.
Hä? Dann bedauert man den Verlust der Geldeinnahmequelle und nicht des Kindes, oder was?
Nach nur sieben Verhandlungstagen wird am 5. Februar 2015 das Urteil gesprochen. Wegen
fahrlässiger Tötung durch Unterlassen wird Monika zu acht Monaten Haft und Thomas zu zwölf Monaten
Haft verurteilt. Beide Haftstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt.
Mehr als eine Stunde lang begründet der Vorsitzende seine Verurteilung. Vor allem
aber, warum das Urteil auf Bewährung ausgesetzt wird. Es wirkt, als wolle er der drohenden
Kritik schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln nehmen. Es wurde als Strafmildernd gewertet,
dass sowohl Thomas als auch Monika mittlerweile clean sind und sich ernsthaft bemühten, das
Sorgerecht ihrer leiblichen Kinder zurückzuerhalten. Der Richter kritisiert außerdem die massive
Vorverurteilung, der Monika und Thomas nach dem Tod von Jackie ausgesetzt wurden und die durch die
Medien befeuert worden sein. Von dem Vorwurf der Verletzung der Fürsorge und Erziehungspflicht
werden beide aber freigesprochen. Ja, es sei chaotisch und unordentlich gewesen. Chaos sei
allerdings keine Begründung für eine gröbliche Pflichtverletzung. Die hygienischen Bedingungen
seien schwierig, aber nicht untragbar gewesen. Als Beleg führt der Richter an, dass es noch eine
Woche vor Jackies Tod zu einem Besuch des Jugendamts gekommen sei, bei der man keine
Kindeswohlgefährdung entdecken konnte. Und das finde ich ja irgendwie auch witzig, dass der
Richter sich jetzt da auf das Jugendamt bezieht oder eben auf die SozialarbeiterInnen, die da
vorbeikommen und denen glaubt. Obwohl hier schon auch eher außerhalb des Gerichtssaal festgestellt
wurde von diesem Sonderausschuss, dass es da krasse Mängel gab und da Fehler begangen wurden.
Ja, das ist so ein bisschen falsch. Ja. Die Stadt Hamburg hat Jackies Leben verwaltet. Nun
verwaltet sie ihren Tod. Nie wieder soll ein Kind auf ähnlich tragische Weise sterben. Da ist man sich
einig. Also kommt es nach Jackies Tod zu politischen Reformen. Die Sozialbehörde richtet eine Kontrollstelle
ein, die die Arbeit von Jugendämtern und sozialen Diensten beobachten soll. Zudem werden die Kriterien
für Hamburger Pflegeeltern verschärft. Wer ein Pflegekind aufnimmt, muss nun ein Gesundheitszeugnis mit
Drogentest vorlegen. Das ist in anderen Bundesländern zu dem Zeitpunkt übrigens längst
üblich. Pflegeeltern müssen von nun an auch ein polizeiliches Führungszeugnis
vorlegen, das nicht nur auf Einschläge gestraft hat, wie Kindesmissbrauch überprüft
wird, sondern auf alle Straftaten. Auch soll es häufiger zu unangekündigten
Besuchen bei als kritisch eingestuften Familien kommen. Und diese Reformen,
die lesen sich ja teilweise so banal, dass man sich fragt, weshalb jetzt erst ein Kind sterben
musste oder wie wir ja wissen, mehrere Kinder sterben mussten, um diese Standards
jetzt festzulegen. Und nach dem Fall von Jackie wurden auch Rufe über bundesweit
einheitliche Regeln im Bereich der Jugend- und Kinderarbeit laut. Aber die gibt es bis heute
nicht. Und wir haben deswegen unseren Experten Thomas Mörsberger gefragt, was er jetzt von
den Konsequenzen im Fall von Jackie hält.
Die Politik will leider schnelle Aktionen, will schnelle Reaktionen und
es ist dann immer am besten, man kann am nächsten Tag sagen, wer schuldig war, wer da versagt
hat. Mörsberger kann verstehen, dass auch der Ruf nach strafrechtlichen Konsequenzen in der
Arbeit wird. Sie seien allerdings wenig zielführend, weder für die betroffenen
Kinder noch für die tägliche Arbeit von Sozialarbeiter*innen. Es sei nämlich ohnehin
schon schwierig, gutes Personal im Bereich Kinder- und Jugendhilfe zu bekommen. Und wenn die jetzt
dann noch in ständiger Angst leben müssten, für ihre Fehler ins Gefängnis zu kommen, wäre es noch
schwieriger, Leute zu finden, sagt Mörsberger. Außerdem sei die Frage, wer schlussendlich für Fehler zur
Verantwortung zu ziehen sei, nicht so einfach.
Wie will ich eigentlich herauskriegen, an wem es gelegen hat, dass hier massive, vorwerfbare, schuldhafte
Fehler gemacht worden sind. Die Gesellschaft macht es sich da etwas leicht. Da wird dann gesagt, ja, da soll
der Staatsanwalt nach gucken. Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland auch wieder eine Tendenz ist, nach
Schuldigen zu suchen, wo man als Gesellschaft versagt. Und dann sollte man nochmal genauer diskutieren, wer
versagt eigentlich. Und wer kann wirklich etwas ändern?
Mit Gesellschaft meint Thomas Mörsberger übrigens allen voran die Politik. Aber auch Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Hebammen,
Hausärzt*innen und so weiter, die hinschauen sollen und reagieren sollen, wenn sie eben mitbekommen, dass Kindern
Unrecht widerfährt. Generell plädiert Mörsberger dafür, in der Gesellschaft mehr zusammenzuwachsen, sich mehr für die
anderen zu interessieren, um dann eben solche Schicksale vermeiden zu können. Was jetzt zum Beispiel bundeseinheitliche
Regelungen für Jugendämter angeht, da sieht er jetzt eher nicht die Lösung.
Sie können bei einer Blinddarm-Operation natürlich genau sagen, was bei jeder Blinddarm-Operation
zu beachten ist. Wenn sie mit Familien zu tun haben, wenn das nach Regeln läuft, was da die Regeln sind, kann ich nur sagen, da können sie gleich aufhören. Die Sozialarbeit lebt davon, dass hier erstmal
Fantasie, individuelle Behandlung und so weiter, dass das ermöglicht wird, wenn die Leute mittlerweile nur noch mit langen Papieren, mit vielen Vorschriften durch die Gegend laufen, können sie eigentlich auch gleich vergessen, was die tun. Es wird sich nichts positiv verändern.
Unser Experte sieht so eine Bürokratisierung als großes Problem an, weil er meint, dass heute so viel dokumentiert werden müsse, dass darunter dann der Kontakt zu den Betroffenen leidet. Also, weil die Sozialarbeiter*innen
sozusagen durch dieses ganze Dokumentieren weniger Zeit haben, sich wirklich mit der Familie zu beschäftigen.
Mörsberger fordert, dass die Verantwortung für hilfsbedürftige Kinder nicht allein auf Jugendämter und freie Träger abgewälzt werden sollte, sondern dass zum Beispiel auch an Schulen viel mehr auf Prävention gesetzt wird und das Fachpersonal eingestellt wird, um Probleme in den Familien frühzeitig zu erkennen.
Und mit dieser derzeitigen Situation, die wir auch heute noch haben, besteht dieses Grundübel bei Jugendämtern aber weiter, also diese Unterfinanzierung und der Personalmangel.
Und das Ding ist, die Arbeit von den Behörden, die ist jetzt nicht weniger geworden seit Jackys Fall.
Das ist eher komplett das Gegenteil. Also, die Zahl der Kinder, die Jugendämter in Obhut nehmen, die steigt kontinuierlich an.
Heute wäre Jacky nicht mehr in der Obhut des Jugendamtes. Sie wäre heute 24 Jahre alt.
Sie wäre heute 24 Jahre alt. Vielleicht würde sie Tiermedizin studieren, um sich ihren großen Traum zu erfüllen, Tieren in Not zu helfen. Wer weiß.
Sie hatte keine Chance, es sich und der Welt zu beweisen. Sie hatte nie eine Stimme. Ihr Leben lang war sie umgeben von Menschen, die ihr nicht zuhörten. Angefangen bei ihrem Vater Markus, der in der wichtigsten Entwicklungsphase ihres Lebens nur mit sich selbst beschäftigt war.
Ihre Mutter Regina, die nicht auf das Klopfen und Rufen ihrer Tochter reagierte, wenn sie mal wieder ausgesperrt vor der Tür stand.
Das Jugendamt, das nicht auf die Beschwerden reagierte. Und schließlich Monika und Thomas, die das Leid des Kindes bewusst oder unbewusst für ihre Drogensucht ausbeuteten.
Und ihr auch dann nicht zuhörten, als sie um Hilfe bat. Immerhin nach ihrem Tod erhält Jacky die Aufmerksamkeit, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb.
NachbarInnen organisieren über Facebook einen Trauermarsch durch Wilhelmsburg, an dem über 500 Menschen teilnehmen.
Sie tragen Kerzen, Blumen und Bilder der kleinen Jacky in den Händen. Eine Stunde laufen sie schweigend durch die bittere Kälte der grauen Siedlung.
Es ist nicht nur ein Trauermarsch, sondern auch ein stiller Protest. Gegen das Versagen der Behörden und gegen das Vergessen.
Am Ende des Trauerzugs wird aus den Kerzen ein großes Herz geformt. Jackys Geschichte soll als Mahnung erinnert bleiben.
Nie wieder soll ein Kind auf so einsame und vermeidbare Weise sterben müssen.
Ich finde das so einen tragischen Fall, weil man ja auch schon davon ausgehen kann, dass Thomas und Monika nicht wollten, dass ihre Pflegetochter so stirbt oder dass sie überhaupt stirbt.
Aber man sieht halt an dem Fall diese Verkettung von Fehleinschätzungen aller Beteiligter.
Also angefangen bei ihrer leiblichen Familie und dann bei dem Jugendamt und dann bei der Pflegefamilie.
Aber ich kann dann auch den Mörsberger verstehen, der dann eben sagt, wir können hier nicht alle Schuld auf dieses Amt und auf diese einzelnen Mitarbeitenden fokussieren.
Sondern man muss auch, und klar, das sind Leute und die haben Fehler gemacht, aber juristische Fehler wurden nicht festgestellt.
Das muss man dann jetzt auch so ein bisschen akzeptieren.
Also man steckt ja nicht drin und hat alle Ermittlungsakten durchgelesen.
Sondern dass man auch schon dieses große Ganze sehen muss, was vielleicht falsch läuft, warum diese Jugendamt-MitarbeiterInnen da nicht richtig hingucken konnten.
Naja, weißt du, und die Frage ist ja auch immer, weil wir haben das jetzt vorhin so diskutiert, ja, Familie aus Blankenese oder aus Wilhelmsburg, in der Realität gibt es diese Wahl ja gar nicht.
Also es gibt ja nicht unendlich viele Familien, die Kinder aufnehmen wollen.
Und das ist natürlich auch das, womit solche Mitarbeitenden dann konfrontiert sind und dass sie dann entscheiden müssen, bleibt dieses Kind jetzt in einer Familie, die vielleicht nicht ideal geeignet ist, es zu betreuen.
Aber für das Kind ist es am Ende vielleicht immer noch besser, als es irgendwie ins Heim zu geben, wo man dann mit ganz anderen Problemen konfrontiert ist.
Das Einzige, was mich nur wirklich wahnsinnig aufregt und das will ich auch nochmal ganz deutlich sagen, man mag keine juristische Schuld der Mitarbeitenden vom Jugendamt oder vom Träger festgestellt haben.
Ja, und ich verstehe auch unseren Experten, der sagt, die sind da nicht alleine für verantwortlich, aber die haben trotzdem ihre Arbeit nicht richtig gemacht.
Und bei jedem anderen Job wirst du für Fehler auch gerade stehen müssen.
Und wenn man halt eben in einem Job arbeitet, wo ein Fehler nicht nur bedeutet, dass, keine Ahnung, eine Präsentation nicht rechtzeitig fertig wird, sondern ein Leben auf dem Spiel steht, dann kann die Konsequenz aus dem Fachkräftemangel aber eben auch nicht sein, dass man das nicht entsprechend verfolgt, wenn es verfolgt werden müsste.
Und nur, weil das nicht deren Schuld ist, dass Jackie gestorben ist, muss man denen ja jetzt trotzdem nicht jede Verantwortung absprechen.
Also ich meine, es gab auch den Vater, der mehrmals gesagt hat, holt mein Kind da raus.
Und das tut mir so weh und dass er nicht mal vor Gericht geladen wird und so, weißt du, dafür habe ich gar kein Verständnis.
Also mir ist schon klar, dass nicht jedes Mal, wenn jemand sagt, holt das Kind da aus der Familie, dass das Jugendamt dann aktiv wird und sofort das Kind da rausholt, weil ansonsten hätten wir jetzt gerade in Zeiten des Internets, wo sehr viele auch einfach aus Hass beim Jugendamt angeschwärzt werden, die ein Kind haben und in der Öffentlichkeit stehen.
Aber da man bei der Familie ja eh wusste, dass sie eine Drogenvergangenheit haben und es da ja offenbar unter anderem daran lag, dass der Informationsaustausch nicht stattgefunden hat, das finde ich halt so fies und das muss sich wahnsinnig furchtbar für den Vater anfühlen, der das quasi ja am Ende hat kommen sehen.
Und ganz ehrlich, diese Briefe, die die geschrieben hat an den Papa, sie wollte da ja auch raus, das ist so dramatisch.
Also, oh Mann, das fand ich so schwer zu ertragen eben und dann kommt halt eben auch noch dazu, ich meine, ja, die wollten nicht, dass ihr Pflegekind stirbt, die Familie, die Monika und der Thomas, aber sie haben sie definitiv aus falschen Gründen zu sich genommen.
Und dann haben sie sich nicht um sie gekümmert, sondern haben das Geld vor allem dankend entgegengenommen, aber waren eigentlich gar nicht in der Lage, irgendwie diesem Kind ein gutes Zuhause zu bieten und dafür gehören die sowas von verurteilt.
Ja, 1000 Prozent und auch schon alleine dieses Kind ist zu Hause alleine mit jüngeren Geschwistern, es hat Bauchschmerzen, es geht schlecht, kann bitte einer mal nach Hause kommen?
Kann einer nach Hause kommen und nicht einfach sagen, nimm die Tropfen und sie sagt dir doch ganz klar, ich finde die Tropfen nicht.
Und sie hat Schmerzen und sie möchte, dass diese Schmerzen aufhören und natürlich nimmt sie dann was, wo sie denkt, dass das ihr hilft und das ist so, so traurig.
Und es ist ja nicht genau, nicht nur dieser eine Tag da gewesen, sondern wenn der Schulleiter was sagt, wenn die Lehrerin sagt, die gehen mit ihr grob um und so, lieblos.
Nee, also wenn man diese Worte hört und nicht vom Vater, wo die dann vielleicht noch sagen können, ja, der ist eifersüchtig, der will selber das Kind haben.
Aber von Leuten, die jeden Tag das Kind in der Schule sehen und auch die Eltern mal in Interaktion damit und auch NachbarInnen und so.
Ja, nee, das stimmt schon.
Ja, und deswegen, ich finde die Haftstrafe zu gering dafür, dass man ein Kind auf dem Gewissen hat.
Beziehungsweise es ist ja nur eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt gewesen.
Das lag in deren Verantwortung auf, die aufzupassen und in deren Verantwortung ist Jackie gestorben, obwohl sie um Hilfe gebeten hat.
Ja, mir fällt jetzt auch schon wieder zu dem Thema ein Podcast ein, den ich empfehlen kann.
Machen wir das?
Ja, okay.
Den habe ich dir auch schon empfohlen.
Der heißt Do No Harm.
Und da geht es eben um, würde ich sagen, das andere Extrem, das passieren kann, wenn es um das Jugendamt geht.
Es geht um einen Fall in Amerika oder eigentlich um mehrere Fälle, weil es auch so ein bisschen leider System da hat,
dass Kinder aus Familien genommen werden, die nicht aus diesen Familien genommen werden sollten.
Und ja, ganz, ganz große Empfehlung.
Ich konnte nicht aufhören und habe das, glaube ich, an einem Tag durchgesuchtet.
Aber auf Englisch wahrscheinlich, ne?
Auf Englisch, ja.
Wir machen hier nächste Woche wieder mit einem deutschen Fall weiter.
Und zwar wird das ein Fall sein, den wir sicherlich hundertfach vorgeschlagen bekommen haben von Leuten,
der auch noch nicht so lange her ist und der für viel mediale Aufregung gesorgt hat.
Und, soweit ich weiß, hat auch noch kein Crime-Podcast darüber berichtet.
Und wir haben mit Prozessbeteiligten gesprochen.
Gründe zum Einschalten.
Das war ein Podcast der Partner in Crime.
Hosts und Produktion Paulina Graser und Laura Wohlers.
Redaktion Simon Garschhammer und wir.
Schnitt Pauline Korb.
Rechtliche Abnahme und Beratung Abel und Kollegen.