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Willkommen bei Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
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Hier geht's um wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
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Ich bin die sehr verschnupfte Paulina Krasa.
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Ich hoffe, meine Stimme hält das hier heute aus, denn es ist ein langer Fall.
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Normalerweise sitzt hier mit mir meine Kollegin und Freundin Laura Wohlers,
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mit der ich immer einen bedeutsamen, wahren Kriminalfall nacherzähle.
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Gemeinsam ordnen wir den ein, erörtern oder diskutieren die juristischen,
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psychologischen oder gesellschaftlichen Aspekte und wir sprechen mit Menschen mit Expertise.
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Heute aber führe ich euch alleine durch diese Folge.
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Auch heute geht es natürlich wieder um True Crime, also auch um die Schicksale von echten Menschen.
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Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
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Das machen wir auch, selbst dann, wenn wir zwischendurch mal etwas abschweifen.
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Das ist für uns so eine Art Comic Relief, aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
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Und bevor ich mit unserem heutigen Fall starte, in dem es um eine Aussage ging,
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Aussagekonstellation geht.
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Und um diejenigen, die herausfinden sollen, wer Märchen erzählt, erzähle ich euch noch ganz kurz was ganz Tolles.
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Laura und ich sind nämlich am Times Square zu sehen, ganz groß auf so einer Werbetafel, dank Amazon Music.
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Und zwar ab dem 18. April 2025, direkt neben TSX.
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Und wir haben da eine Bitte.
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Laura und ich waren schon mal gemeinsam in New York und aus gegebenem Anlass können wir da gerade nicht zusammen hin.
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Aber solltet ihr da sein und eh zufällig zum Times Square wollen, vom 18. bis zum 24. April werden wir da zwei bis dreimal die Stunde ausgespielt und zwar rund um die Uhr.
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Genauere Infos zu Minuten Slots habe ich noch nicht.
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Sollten wir die kriegen, dann würden wir dir die Tage auf Instagram nochmal veröffentlichen.
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Also, falls ihr da seid, macht ein Video von euch mit uns im Hintergrund.
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Da würden wir uns mega drüber freuen und reposten das dann auch auf Instagram.
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Zur einfachen Navigation packen wir euch auch nochmal einen Maps-Link und die genauen Daten in die Folgenbeschreibung.
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Diesen Podcast hier könnt ihr natürlich auch kostenlos bei Amazon Music hören.
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Vielen, vielen Dank.
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Und jetzt beschäftigen wir uns aber mit unserem heutigen Fall, der die Frage aufwirft.
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Ist die Urteilsfindung wirklich Sache der RichterInnen oder entscheiden da letztlich doch ganz andere Menschen über die Zukunft derer, die auf der Anklagebank sitzen?
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Paulina, wir fliegen ja schon ganz bald mit unserer Redaktion nach Mallorca für ein Arbeitsbootcamp, aber ja auch für ein bisschen Spaß.
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Poolmeisterschaft, sag ich da.
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Ja, unter anderem. Und ich habe mir gedacht, es wäre ja cool, eine Drohne mitzunehmen.
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Ich habe immer so ein bisschen Angst. Also, ich würde die auf jeden Fall im Pool versenken.
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Hast du schon mal mit einer Drohne gedreht?
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Naja, nee, das waren ja immer nur die Kameramänner oder die Kamerafrauen, die das bedient haben.
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Aber ich fand es immer so cool und ich fand auch, es sah nicht so schwer aus.
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Ich habe früher auf jeden Fall gerne diese Elektroautos gehabt mit der Fernbedienung, weißt du?
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Ja. Aber das Ding ist bei Drohnen natürlich, anders als bei den Autos, die man fernsteuern kann, dass die schon eher teuer sind.
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Also zu teuer dafür, dass ich da auf Mallorca jetzt einmal zum Spaß ein Drohnenvideo von der Natur oder von uns machen will.
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Aber da ist mir unser heutiger Werbepartner eingefallen. Bei Grover kann ich ja einfach eine Drohne ausleihen.
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Ich hätte noch einen Wunsch. Wenn du eh eine Drohne ausleihst, kannst du dann einen Beamer ausleihen, weil ich habe so ein paar Filme auf meiner Liste, die wir da abends zusammen gucken können.
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Das finde ich gut. Bei Grover kann man ja ganz viele verschiedene technische Geräte ausleihen.
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Also ob es jetzt Beamer, Drohne, Laptop, Kamera oder sonst was ist. Und zwar ganz ohne Anzahlung oder Kaution. Und zwar so lang, wie man die eben benötigt.
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Falls wir euch jetzt damit auf Ideen bringen und ihr ganz dringend, so wie wir, eine Kamera oder einen Beamer braucht, keine Panik.
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Grover liefert innerhalb von drei Werktagen direkt bis zu euch nach Hause.
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Und falls mir das Drohnenfliegen dann entgegen aller Erwartungen so richtig, richtig viel Spaß macht und ich das dann irgendwie zu Hause weiterführen möchte, dann kann ich die Drohne auch behalten.
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Denn wenn die Mietdauer vorbei ist, kann man die Sachen ganz einfach weitermieten, wenn man die nicht zurückschicken will oder gegen was Neues tauschen oder, wenn man will, eben auch kaufen.
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Und ihr müsst euch keine Gedanken machen, wenn mal was kaputt geht, weil Grover Care ist ja immer inklusive.
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Grover reduziert übrigens gerade seine Preise. Viele Produkte sind da aktuell mehr als 20 Prozent günstiger.
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Also falls ihr Grover jetzt auch mal testen wollt, schaut einfach mal rein auf grover.com slash de minus de slash deals.
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Und mit dem Code Mordlust40, also M-O-R-D-L-U-S-T und dann 40, die 4 und die 0, spart ihr 40 Euro auf den ersten Mietmonat ab einer Mietdauer von mindestens sechs Monaten.
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Das ist gültig für alle Produkte.
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Und alle Infos findet ihr auch nochmal, wie immer, in unserer Folgenbeschreibung.
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Einige Namen haben wir geändert und die entsprechende Trigger-Warnung findet ihr in der Folgenbeschreibung.
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Unsere Geschichte heute beginnt am 22. Januar 2003 auf einer Polizeiwache in Saarbrücken, wo sich an diesem Mittwoch die Tür öffnet und ein Mann in Begleitung eines jungen Mädchens das Gebäude betritt.
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Als sich einer der anwesenden Beamtinnen Zeit für sie nimmt, macht der Mann klar, warum er und das Mädchen hier sind.
00:05:29
Die beiden möchten eine Anzeige aufgeben.
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Etwas, das hier ja quasi zum bürokratischen Alltag gehört.
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Doch als der Mann fortfährt, wird deutlich, dass es sich in diesem Fall um eines der schlimmsten Verbrechen handelt.
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Seine Tochter Sina wurde missbraucht, berichtet der Mann mit Verweis auf das Mädchen mit den mittellangen, dunklen, blond gestrehenden Haaren.
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Das Mädchen, das es im Leben bisher eh nie leicht hatte.
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Als Sina 1989 zur Welt kommt, sind ihre Eltern noch voller Trauer um ihren Bruder.
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Er war gerade mal fünf Jahre alt, als er kurz vor Sinas Geburt beim unbeaufsichtigten Spielen auf den Gleisen nahe ihres Zuhauses von einem Zug erfasst wurde.
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Sein Unfalltod hinterließ damals eine dramatische Lücke in der Familie, die ohnehin alles andere als stabil ist.
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Sinas Mutter leidet an ALS, einer unheilbaren Erkrankung des zentralen Nervensystems, die sich durch Krämpfe und Muskelschwäche äußert und die es ihr unmöglich macht, sich richtig um ihre Tochter zu kümmern.
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Als Sina sechs Jahre alt ist, verstirbt ihre Mutter daran.
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Ihr Vater war mit seiner Rolle bereits zu Lebzeiten seiner Frau überfordert, aber jetzt kriegt er in seiner Trauer gar nichts mehr auf die Reihe.
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Deshalb schaltet sich schließlich das Jugendamt ein und bringt die kleine Sina in einer Wohngruppe für Kinder und Jugendliche unter.
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Immer wieder versucht ihr Vater dafür zu sorgen, dass sie wieder zu ihm ziehen kann.
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Doch das Jugendamt hält das für keine gute Idee und findet für Sina 2001, nach etwa fünf Jahren in der Einrichtung, endlich eine andere Lösung, nämlich eine Pflegefamilie.
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Die inzwischen Zwölfjährige soll ihre Koffer packen, um bei einem Bundeswehrbeamten und dessen Frau zu leben, die in der Vergangenheit schon einmal Pflegekinder aufgenommen haben und Sina Stabilität, Liebe und Geborgenheit schenken sollen.
00:07:11
Etwas, das das Mädchen seit Jahren nicht wirklich erleben durfte.
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Doch laut Ansicht des Vaters wurden ihr genau diese vier Wände zum Verhängnis.
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Im Gespräch auf der Wache schildert Sinas Vater der Polizei, dass seine Tochter, nachdem sie wegen andauernder Konflikte in der Pflegefamilie wieder bei ihm zu Hause einzog, ihm berichtete, dass ihr Pflegevater sich an ihr vergangen habe.
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Und das ist natürlich jetzt eine ernste Situation für die Beamtinnen in Saarbrücken.
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Immerhin geht es hier um ein Sexualverbrechen.
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Es ist also Fingerspitzengefühl gefragt.
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Denn um dem Ganzen nachzugehen, müssen die Ermittelnden mehr wissen, und zwar von Sina selbst.
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Eine Beamtin nimmt sich ihrer Vernehmung an.
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Sie fragt Sina nach ihrem Leben in der Pflegefamilie und hakt nach, was zwischen ihr und ihrem Pflegefater vorgefallen ist.
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Und es gelingt ihr, Sina zum Reden zu bringen.
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Eigentlich habe es direkt angefangen, nachdem sie im Juli 2001 im Alter von zwölf Jahren zu ihren Pflegeeltern Norbert und Rita gezogen sei.
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So schildert es Sina bei der Polizei.
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Norbert habe ihr befohlen, sich hinzulegen, ihr zwischen die Beine gegriffen und sie an den Brüsten angefasst.
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Außerdem habe sie ihn mit der Hand befriedigen müssen.
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Das sei regelmäßig und in unterschiedlichen Räumen des Hauses vorgekommen.
00:08:22
Mal in ihrem Zimmer, mal im Wohnzimmer, einmal sogar in der Hundehütte in einer Scheune hinterm Haus.
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Gewährt, sagt Sina, habe sie sich nie, sondern es einfach über sich ergehen lassen.
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Außerdem habe Norbert ihr immer wieder klargemacht, dass das ihr Geheimnis bleiben müsse und Rita sie beide hochkant rausschmeißen würde, wenn sie davon erfahre.
00:08:43
Das, was Sina hier beschreibt, ist ein schreckliches Paradebeispiel von Kindesmissbrauch.
00:08:49
Die Worte der 13-Jährigen haben Konsequenzen.
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Kurz nach dem Besuch von ihr und ihrem Vater auf der Polizeiwache schaltet sich die Staatsanwaltschaft Saarbrücken ein, um ein Ermittlungsverfahren gegen Norbert einzuleiten.
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Die Polizei informiert den 59-Jährigen telefonisch über die Strafanzeige, die gegen ihn vorliegt, und bittet ihn, für eine Vernehmung auf die Wache zu kommen.
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Doch Norbert will keine Aussage machen, erklärt er vom anderen Ende der Leitung aus.
00:09:14
Diese Entscheidung müssen die BeamtInnen hinnehmen, denn Norbert hat als Beschuldigter das Recht, die Aussage zu verweigern.
00:09:20
Obwohl das Verbrechen, das er laut Sina begangen haben soll, schwerwiegend ist, wird er zunächst nicht in U-Haft genommen.
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Und hier kurz zur Erinnerung, um jemanden festzunehmen oder in U-Haft zu nehmen, reicht es nicht, dass die Person dringend verdächtigt wird, eine Straftat zu begehen.
00:09:34
Denn es muss auch ein sogenannter Haftgrund vorliegen, beispielsweise die Fluchtgefahr oder die Verdunklungsgefahr.
00:09:40
Also, dass jemand womöglich die, Zitat, Ermittlungen der Wahrheit erschweren könnte,
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beispielsweise indem er oder sie Beweismittel verändert oder vernichtet oder auf ZeugInnen einwirkt.
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Und bei Sinas Pflegevater Norbert greift nach Ansicht der Ermittelnden nun offenbar keiner dieser Haftgründe.
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Daher bleibt Norbert weiterhin auf freiem Fuß.
00:10:00
Zumindest, bis mittels Prozess geklärt ist, ob Norbert für das, was ihm zur Last gelegt wird, verurteilt wird.
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Die Staatsanwaltschaft erhebt nämlich Anklage gegen ihn.
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Und so muss Sina ihrem ehemaligen Pflegevater in einem Gerichtssaal gegenübertreten.
00:10:12
Am 11. Mai 2004, 16 Monate nach der Anzeige, beginnt am Landgericht Saarbrücken der Prozess gegen Pflegevater Norbert.
00:10:19
Insgesamt drei Verhandlungstage hat die Strafkammer angesetzt.
00:10:24
Kurz zur Besonderheit dieses Falls. Es handelt sich hier ja um eine Aussage gegen Aussagesituation.
00:10:29
Und tatsächlich kommt es in diesem Fall zum Prozess, obwohl es nur die Aussage von Sina gibt.
00:10:34
Es gibt also keine anderen Beweismittel, die ihren Vorwurf stützen.
00:10:37
Und das hat mich so ein bisschen gewundert, weil wir ja genug andere Fälle kennen,
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bei denen eine Frau beispielsweise eine Vergewaltigung anzeigt und es noch nicht mal zur Anklage kommt.
00:10:47
Rechtsanwalt Benedikt Müller von unserer Partnerkanzlei Abel und Kollegen gibt uns deswegen eine Einschätzung,
00:10:52
wieso es in dem Fall hier zum Prozess gekommen ist.
00:10:55
Unabhängig davon, was jetzt der konkrete Vorwurf ist, prüft die Staatsanwaltschaft und dann in einem nächsten Schritt
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übrigens auch das Gericht bei der Frage, ob es die Anklage zulässt, ob ein sogenannter hinreichender Tatverdacht vorliegt.
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Das ist ein Verdachtsgrad unterhalb der Schwelle eines dringenden Tatverdachts,
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der sich so sinngemäß in überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit übersetzen lässt.
00:11:17
In Zahlen und vereinfacht könnte man sagen, 51% Verurteilungschance, dann wird angeklagt
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und dann wird letztlich auch vor einem Gericht mündlich verhandelt.
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Wenn jetzt wie hier Anschuldigungen erhoben werden und die sind einigermaßen plausibel und belastbar,
00:11:32
dann kann das also im Einzelfall genügen, um auf diese 51% zu kommen.
00:11:38
Dass jetzt hier eine Anschuldigung ausgereicht hat für eine Anklage, ist also gar nicht so unüblich.
00:11:43
Insbesondere auch nicht in Strafbarkeitsbereichen, in denen Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen typisch sind,
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wie das im Sexualstrafrecht im weitesten Sinne ganz oft der Fall ist.
00:11:55
Der kleine Verhandlungssaal ist für Sina und ihren ehemaligen Pflegevater zunächst aber kein Ort des Wiedersehens.
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Denn die 15-jährige Nebenklickerin wird, abgesehen von ihrer späteren Aussage, dem Prozess fernbleiben und lässt sich von ihrem Anwalt vertreten.
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Unterdessen sitzt Ex-Pflegevater Norbert, ein 60-jähriger Mann mit drahtiger Figur, graumeliertem Vollbart und Brille auf der Anklagebank.
00:12:17
Von außen betrachtet macht er einen ruhigen Eindruck.
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Das Schweigen jedoch hat er mittlerweile abgelegt.
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Nachdem Norbert im Ermittlungsverfahren die Aussage verweigert hatte, möchte er sich nun plötzlich doch äußern.
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Allerdings nicht, um ein Geständnis abzulegen.
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Sinas Anschuldigungen seien erstunken und erlogen.
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Das ist die Version, die der 60-Jährige präsentiert.
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In den anderthalb Jahren, die Sina bei ihm und seiner Frau Rita gelebt habe, seien er und Rita immer gut zu ihr gewesen.
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Sie hätten sich gekümmert, ihre Pflegetochter gefördert und unterstützt und er habe nie etwas Böses getan und er habe sie sicherlich niemals angefasst.
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Norbert behauptet also, unschuldig zu sein, während Sinas Nebenklagevertreter weiterhin eine Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn fordert.
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Als Sina ihre Aussage vor Gericht machen soll, werden alle ZuschauerInnen gebeten, den Raum zu verlassen.
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Das ist relativ häufig so, wenn Minderjährige zu Sexualdelikten befragt werden.
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Und als die meisten Plätze im Saal schließlich leer sind, beginnt Sina all die schrecklichen Dinge zu wiederholen, die sie bereits in mehreren polizeilichen Vernehmungen erzählt hat.
00:13:20
Sie spricht von Norberts Händen auf ihrem Körper, seinen Anweisungen, ihn mit der Hand zu befriedigen und seinem Befehl über all diese Dinge zu schweigen.
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Hin und wieder gerät sie dabei ins Stocken und ist überfordert mit inhaltlichen Nachfragen.
00:13:34
Sie macht beispielsweise ein verwirrtes Gesicht, als man sie fragt, ob es auch zum Geschlechtsverkehr zwischen ihr und ihrem ehemaligen Pflegefater, also zu einer Vergewaltigung gekommen sei.
00:13:43
Und erst als das Wort Sex fällt, weiß Sina, worauf die Kammer hinaus will und sagt, nein, das sei nicht passiert.
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Für das Landgericht Saarbrücken ist es eine juristische Partsituation.
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Wie so oft bei Aussage-gegen-Aussage-Fällen gibt es keinerlei objektive Beweise, die die Anschuldigungen untermauern oder auch entkräften.
00:14:02
Keine TatzeugInnen, keine forensischen Beweise, nichts.
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Und deshalb lädt das Gericht Dr. Beate Kaufmann, eine renommierte Psychologin des Instituts für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie der Universität des Saarlandes, in den Zeugenstand.
00:14:17
Sie soll der Kammer mit ihrer Expertise den Weg zu einem gerechten Urteil weisen und bewerten, wie wahrscheinlich es ist, dass Sinas Missbrauchsvorwürfe der Wahrheit entsprechen.
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Und zwar mit Hilfe eines sogenannten Glaubhaftigkeitsgutachtens.
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Wichtig hier, Glaubhaftigkeitsgutachten und nicht Glaubwürdigkeitsgutachten.
00:14:35
Wieso das so heißt, hat uns Professorin Michaela Fundmeier, Fachpsychologin für Rechtspsychologie, erklärt,
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die neben ihrer Lehrtätigkeit an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung auch Teil des Zentrums für Aussagepsychologie Berlin ist
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und im Auftrag von Gerichten regelmäßig solche Gutachten anfertigt.
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Bei Glaubwürdigkeit, da sprechen wir eher von der Glaubwürdigkeit einer Person.
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Also lügt die immer oder sagt die immer die Wahrheit?
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So eine Art Persönlichkeitseigenschaft.
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Und eigentlich gibt es das gar nicht.
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Also auch Menschen, die immer die Wahrheit sagen können, vielleicht bei der einen Sache einmal lügen.
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Oder Leute, die immer lügen können, auch einmal die Wahrheit sagen.
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Darum vermeiden wir so ein bisschen den Begriff Glaubwürdigkeitsgutachten und sagen Glaubhaftigkeitsgutachten.
00:15:15
Bei einem Glaubhaftigkeitsgutachten geht es also darum herauszufinden, ob die Aussage einer Zeugin oder eines Zeugen der Wahrheit entspricht.
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Und tatsächlich ist so ein Fall, wie wir den jetzt hier heute besprechen, auch ein Paradebeispiel dafür, wann diese Gutachten eingesetzt werden, hat uns Professorin Fundmeier erklärt.
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Im Prinzip wird das erstellt, eigentlich wenn Aussage gegen Aussage steht und sich zusätzlich Gerichte unsicher sind, wer die Wahrheit sagt oder nicht, ganz platt gesagt.
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Also wenn das Gericht im Prinzip nicht über ausreichend Sachkunde verfügt, um sagen zu können, welche Aussage erlebnisbasiert ist und welche nicht.
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Und in der Realität sind das solche Fälle eben Aussage gegen Aussagekonstellationen, wo noch irgendeine andere Besonderheit vorliegt, wie es ist schon sehr lange her oder die Person hat irgendwelche psychischen Auffälligkeiten.
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Also sozusagen eher in schwierigeren Fällen wird man häufig zugezogen.
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Wenn Sachverständige jetzt die Aufgabe bekommen, ein Glaubhaftigkeitsgutachten zu erstellen, dann nehmen sie sich erstmal die Ermittlungsakte vor, um sich einen Überblick zu verschaffen.
00:16:15
Anschließend sprechen sie dann persönlich mit dem Zeugen oder der Zeugin.
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Und dabei beginnt dann ein sehr umfangreicher Prüfprozess, für den der BGH auch methodische Mindeststandards vorgeschrieben hat.
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Dazu gehört in erster Linie die Arbeit mit Hypothesen.
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Ausgangspunkt eines Glaubhaftigkeitsgutachtens ist zum Beispiel immer die sogenannte Nullhypothese.
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Und die besagt, dass eine Aussage nicht erlebnisbasiert, also unwahr ist.
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Heißt, die GutachterInnen müssen erstmal immer davon ausgehen, dass das, was man ihnen erzählt, nicht stimmt.
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Und daran anknüpfend prüft man dann weitere Hypothesen, die das nochmal konkretisieren und quasi Ursachen für die Lüge nennen.
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Da gibt es zum Beispiel die sogenannte Konfabulationshypothese, laut der eine Aussage ein reines Fantasieprodukt ist.
00:17:00
Die Wahrnehmungsübertragungshypothese sagt, dass der Zeuge oder die Zeugin von Büchern, Filmen oder Serien inspiriert wurde, für die Lüge, sage ich jetzt mal.
00:17:10
Und die Suggestionshypothese, dass eine Aussage halt das Ergebnis von Suggestivfragen ist.
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Also beispielsweise die, die Ermittelnden gestellt haben.
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Und nur wenn man diese Hypothesen alle verwerfen kann, kann man eine Aussage als erlebnisorientiert, also wahr einstufen.
00:17:26
Aber das ist nur ein Schritt.
00:17:27
Also man muss auch noch andere Dinge zur Prüfung heranziehen.
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Zum Beispiel muss man nach sogenannten Realkennzeichen suchen, wie Michaela Fundmeier uns erklärt hat.
00:17:36
Da prüft man dann, ob bestimmte Merkmale in der Aussage vorkommen, die eher von erlebnisbasiert aussagenden Zeugen vorgebracht werden, als von lügenden Zeugen.
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Also zum Beispiel ein Realkennzeichen, das ganz hoch in der Regel gewichtet wird, heißt phänomengemäße Darstellung unverstandener Handlungselemente.
00:17:54
Das bedeutet, man schildert irgendwas so ganz naiv, ohne dass man verstanden hat, um was es wirklich geht.
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Wenn jetzt ein lügender Zeuge oder eine lügende Zeugin sowas schildern würde, müsste die erstmal Naivität vorgaukeln, um dieses Realkennzeichen vorbringen zu können.
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Also daher wird das von lügenden Zeugen eher weniger genutzt.
00:18:12
Oder auch sowas wie Komplikationen im Handlungsverlauf ist ein anderes Realkennzeichen, dass man irgendwas schildert, was nicht geklappt hat, irgendeine Handlung, die abgebrochen ist.
00:18:23
Sowas würden lügende Zeugen tendenziell auch weniger schildern, weil das ja unnötig ist.
00:18:27
Es verkompliziert die Geschichte und braucht man ja eigentlich nicht schildern, um konstant irgendwas vorzubringen.
00:18:32
Und Personen, die eher wahr aussagen, würden das schon vorbringen, denn sie erzählen ja einfach aus ihrem autobiografischen Gedächtnis, wie es gewesen ist.
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Zu den Realkennzeichen gehören ansonsten noch Detailreichtum, eine Kohärenz, also eine logische und zusammenhängende Darstellung.
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Was dagegen bei Glaubhaftigkeitsgutachten gar keine Rolle spielt, sind die sogenannten nonverbalen Verhaltensweisen, also ob jemand während der Aussage irgendeine körperliche Reaktion zeigt, wie zum Beispiel Zucken, Zittern oder Schwitzen.
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Beate Kaufmann, die in unserem Fall jetzt das Glaubhaftigkeitsgutachten durchgeführt hat, ist Gerichten schon seit vielen Jahren eine Hilfe.
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Mehr als 100 Gutachten hat sie im Laufe ihrer Karriere bereits erstellt.
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Die dunkelhaarige Frau mit der Brille hat nun hier in der Kulisse des Landgerichts die Aufgabe, ihre fachliche Meinung über Sina und ihre Aussage zu präsentieren.
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Dazu hat sie halt im Vorfeld persönlich mit Sina gesprochen und die Videoaufzeichnung der Polizeivernehmungen analysiert.
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Die Sachverständige berichtet, dass die 15-Jährige bei sämtlichen Befragungen immer bei ihren Beschuldigungen geblieben sei.
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Nicht einmal sei sie vom Vorwurf, Norbert habe sie missbraucht, zurückgetreten, sondern im Gegenteil, sie sei standhaft geblieben, was für ihre Glaubwürdigkeit spreche.
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Außerdem habe Sina, Zitat, keinen übermäßigen Belastungseifer gezeigt.
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Das hört man immer mal wieder von Prozessen, das bedeutet, dass man jetzt nicht nur voller Hass und Ablehnung berichtet.
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Bei Sina war das so, dass sie auch gut über ihren ehemaligen Pflegevater gesprochen hat und seine positiven Seiten hervorgehoben hat.
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Auch das ist für die Gutachterin ein Zeichen von Authentizität.
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Dem gegenüber stehe dagegen ihre abstrakte, pauschale Erzählweise.
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In ihren Aussagen gebe es nahezu keine konkreten Interaktionsschilderungen und Sina schaffe es kaum, so die Beobachtung der Expertin, einzelne Szenen und Vorfälle detailliert darzustellen.
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Das heißt, hier gibt es angesichts der Realkennzeichen, über die wir gerade gesprochen haben, einige Dinge, die Sinas Aussage unglaubhaft erscheinen lassen.
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Große Bedeutung misst Beate Kaufmann diesen fehlenden Realkennzeichen aber nicht zu.
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Sie erklärt sie nämlich mit Sinas niedrigem IQ.
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Die Psychologin macht dem Gericht klar, dass man nicht außer Acht lassen dürfe, dass Sina eine diagnostizierte Lernschwäche habe.
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Ihre Aussagemängel, allen voran die fehlenden Details und die oberflächliche Erzählungsweise, seien auf ihre, Zitat,
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reduzierte intellektuelle Leistungsfähigkeit zurückzuführen.
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Das fachliche Urteil, zu dem die Sachverständige in ihrem Gutachten kommt, ist daher eindeutig.
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Sinas Aussage ist, Zitat, mit hoher Wahrscheinlichkeit als glaubhaft einzustufen.
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Eine Einschätzung, die dafür spricht, dass der Missbrauch wie angeklagt stattgefunden hat.
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Norbert Strafverteidiger möchte dem etwas entgegenhalten, und zwar mit Hilfe von ZeugInnen.
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So berichten etwa zwei ehemalige Lehrkräfte, dass Sina ein Kind gewesen sei, das gerne im Mittelpunkt gestanden habe
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und in der Vergangenheit schon öfter beim Lügen ertappt worden sei.
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So habe es im Klassenzimmer etwa einmal einen Vorfall gegeben, bei dem sie rote Bonbons gelutscht,
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sich auf die Zunge gebissen und anschließend behauptet hatte, sie müsse Blut spucken.
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Und auch bei dem Gespräch mit der Gutachterin hat Sina es offenbar mit der Wahrheit nicht ganz so genau genommen, wie jetzt rauskommt.
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Ihr hatte sie nämlich erzählt, sie sei Jungfrau.
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Ein ehemaliger Betreuer der Wohngruppe, in der Sina vor ihrem Einzug bei Norbert und Rita gelebt hat,
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berichtet dem Gericht jetzt aber, dass Sina bereits im Alter von 10,5 Jahren Geschlechtsverkehr gehabt habe.
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Damals habe man Sina zusammen mit einem 15-jährigen Jungen erwischt.
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Nur kurz, ich finde es hier ganz, ganz befremdlich, das als Geschlechtsverkehr zu bezeichnen.
00:22:13
Ich übernehme hier jetzt gerade die Wortwahl des Gerichts, aber das sei von meiner Stelle hier mal kurz angemerkt,
00:22:17
dass es eigentlich Kindesmissbrauch, denn Sina war mit 10 Jahren noch ganz klar ein Kind und der 15-Jährige schon strafmündig.
00:22:25
Der Vollständigkeit halber, man kann von einer Strafe bei Kindesmissbrauch absehen, wenn das Ganze einvernehmlich war.
00:22:32
Und ganz wichtig, die jeweiligen Personen einen ähnlichen Reifegrad haben.
00:22:36
Jetzt möchte ich aber mal meinen, dass bei einem 15-Jährigen und einer 10-Jährigen,
00:22:41
also das ist meiner Meinung nach ein Stretch, das nicht als Kindesmissbrauch anzusehen
00:22:47
und zu sagen, dass die einen ähnlichen Reifegrad haben.
00:22:49
Jedenfalls soll es nach dieser Situation damals ein Aufklärungsgespräch in der Wohngruppe gegeben haben
00:22:55
und da habe sich dann herauskristallisiert, dass Sina sehr aufgeklärt und frühreif gewesen sei.
00:23:00
Jedenfalls wissen wir nichts über strafrechtliche Konsequenzen in Bezug auf den Jungen
00:23:05
und das ist ja jetzt auch nicht das Thema beim Prozess gegen Norbert.
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Das Gericht möchte jetzt aber schon wissen, ob diese Geschichte, was an dem Gutachten der Sachverständigen,
00:23:15
die ja offenbar angelogen wurde, ändert.
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Beate Kaufmann verneint und sagt, nicht, wenn das Mädchen freiwillig mitgemacht hat.
00:23:23
Eine Antwort, die später noch von gravierender Bedeutung sein wird.
00:23:28
Sinas Missbrauchsanschuldigungen sind glaubhaft, so schätzt es die Psychologin ein und präsentiert
00:23:33
damit ein Ergebnis, an dem sich die Kammer orientiert, als sie schließlich am 24. Mai 2004
00:23:39
nach drei Prozesstagen im Namen des Volkes ihr Urteil verkündet.
00:23:42
Norbert ist schuldig.
00:23:44
Das Gericht hält es für erwiesen, dass der 60-Jährige sich wiederholt an seiner ehemaligen
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Pflegetochter Sina vergangen hat.
00:23:50
Er wird wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie in einem Fall wegen schweren sexuellen Missbrauchs
00:23:56
von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen schuldig gesprochen und
00:24:00
zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
00:24:03
Es ist ein Urteil, das aus dem bis dato nicht vorbestraften Pflegevater nun offiziell einen
00:24:09
Sexualstraftäter macht und das vor allem auf Basis eines Indizes gefällt wurde, dem
00:24:15
Glaubhaftigkeitsgutachten.
00:24:16
Also hier kann man sagen, die Einschätzung der psychologischen Sachverständigen ist hier
00:24:21
die Grundlage für den Schuldspruch und die Verurteilung von Norbert.
00:24:23
Der Schuldspruch fußt also allein auf einen Indiz.
00:24:27
Zwei vielleicht, wenn du die Aussage von Sina selbst mit dazu nimmst, aber mehr gibt es nicht.
00:24:32
Und ich habe mich da gefragt, ob das oft vorkommt, denn eigentlich soll so eine Verurteilung
00:24:37
ja nur erfolgen, wenn das Gericht von der Schuld der beschuldigten Person überzeugt ist.
00:24:42
Und in der Regel ist das ja der Fall, wenn es beispielsweise klare Beweise gibt oder eine
00:24:47
dichte Indizienkette.
00:24:49
Rechtsanwalt Benedikt Müller hat uns dazu Folgendes erzählt.
00:24:52
Dass es wirklich nur ein, beziehungsweise formal hier ja mit der Aussage und dem Glaubhaftigkeitsgutachten
00:24:59
zwei Beweismittel gibt, das ist schon eher selten.
00:25:01
Auch in Konstellationen wie der vorliegenden, also wo man erstmal so Aussage gegen Aussage hat,
00:25:07
da gibt es dann im Laufe des Verfahrens doch irgendwie Familienangehörige, die mal was
00:25:11
beobachtet haben, Personal aus Schulen oder Ämtern.
00:25:15
Es gibt Ärztinnen und Ärzte, da kann man schon Zeugen oftmals finden, wenn man ein bisschen
00:25:22
Man muss aber auch sagen, es braucht eben keine Überzeugung ohne erheblichen Zweifel.
00:25:28
Man spricht ja eher von vernünftigen Zweifel, die nicht mehr verbleiben dürfen und an was
00:25:33
man vernünftig zweifeln kann, darüber lässt sich im Einzelfall eben driftig streiten.
00:25:37
Es kann da auch schon mal vorkommen, dass ein einziges Beweismittel, also beispielsweise eine
00:25:42
Zeugenaussage, gegebenenfalls flankiert mit einem Glaubhaftigkeitsgutachten wie hier, solche
00:25:47
Zweifel nach Überzeugung des Gerichts ausschließen.
00:25:51
Und darum geht es letztlich.
00:25:52
Egal wie viele Beweismittel oder Indizien man hat oder nicht hat, kann sich das Gericht
00:25:57
von einer Wahrheit überzeugen und diese nachvollziehbar begründen.
00:26:01
Auch unsere Expertin Michaela Fundmeier hat uns gesagt, dass aus ihrer Erfahrung das eher
00:26:06
eine Ausnahme und nicht der Standard ist.
00:26:09
Am Ende, so beide ExpertInnen, liegt die Entscheidung über Schuld oder Freispruch aber ohnehin bei
00:26:14
den zuständigen RichterInnen.
00:26:16
Zumindest in der Theorie.
00:26:18
Ob das in der Praxis auch so ist, darüber sprechen wir später nochmal.
00:26:21
Als das Urteil im Landgericht Saarbrücken verkündet wird, ist einer Person der Schock ins
00:26:27
Gesicht geschrieben.
00:26:28
Pflegevater Norbert.
00:26:29
Der 60-Jährige fühlt sich wortwörtlich wie im falschen Film.
00:26:33
Was zur Hölle ist hier gerade passiert?
00:26:36
Hat man tatsächlich soeben verkündet, dass er schuldig ist und die nächsten drei Jahre
00:26:41
im Gefängnis verbringen wird?
00:26:42
Norbert fragt sich, ob das alles nur ein böser Traum ist.
00:26:46
Vielleicht wacht er ja gleich erschrocken auf und stellt beruhigt fest, dass ihm seine Fantasie
00:26:50
nur einen nächtlichen Streich gespielt hat.
00:26:52
Doch spätestens, als er in die verzweifelten, traurigen Augen seiner Frau Rita schaut, trifft
00:26:58
ihm die Erkenntnis wie ein Schlag.
00:27:00
Das hier ist kein Traum, sondern furchtbare Realität.
00:27:04
Er wird den Gerichtssaal am heutigen Tag nicht nur mit einem Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht
00:27:09
verlassen, sondern mit dem juristisch auferlegten Stempel Sexualstraftäter.
00:27:14
Und das, obwohl doch eigentlich alles ganz anders war.
00:27:20
Etwa drei Jahre vor Norberts Verurteilung.
00:27:23
Es ist ein Sommertag im Jahr 2001, als bei Norbert und Rita, die mit mehreren Hunden ein
00:27:28
großes Haus im saarländischen Marpingen bewohnt, das Telefon klingelt.
00:27:32
Am Apparat ist das Jugendamt.
00:27:34
Ob sie sich vorstellen können, ein zwölfjähriges Mädchen aus einer Wohngruppe aufzunehmen?
00:27:39
Die Frage kommt nicht von ungefähr.
00:27:40
Norbert und Rita sind erfahrene Pflegeeltern.
00:27:43
Aus einem unerfüllten Kinderwunsch heraus nahmen sie Anfang der 90er erst den elfjährigen
00:27:47
Ramon und ein Jahr später den siebenjährigen Kilian bei sich auf.
00:27:51
Beide hatten schwierige Startbedingungen, aber Norbert und Rita kümmerten sich liebevoll,
00:27:55
mit Geduld und wenn nötig auch mit etwas Strenge um die beiden.
00:27:59
Für sie spielte es nie eine Rolle, dass sie ihn nicht ähnlich sehen und die ersten
00:28:03
Jahre ihres Lebens nicht zu ihnen Mama und Papa gesagt haben.
00:28:06
Ramon und Kilian sind ihre Söhne.
00:28:09
Mittlerweile, im Jahr 2001, gehen die beiden Jungs größtenteils ihre eigenen Wege, halten
00:28:15
aber natürlich Kontakt zu ihren Pflegeeltern.
00:28:17
Der 21-jährige Ramon ist ausgezogen, Kilian in Ausbildung und nur noch selten daheim.
00:28:23
Theoretisch wäre also Platz für ein Kind.
00:28:26
Aber das Paar ist unsicher.
00:28:28
Eigentlich ist ihre Familienplanung abgeschlossen, vor allem, da sie mit 58 und 50 Jahren mittlerweile
00:28:33
ein gewisses Alter erreicht haben.
00:28:35
Doch als das Jugendamt ihnen mehr über das Mädchen erzählt und sie unter anderem von der
00:28:40
verstorbenen Mutter und dem überforderten Vater erfahren, haben Norbert und Rita mitleid.
00:28:45
Und so nehmen sie am 21.
00:28:47
Juli 2001 schließlich die zwölfjährige Sina bei sich auf.
00:28:50
Vom Jugendamt weiß das Paar, dass Sina eine Lernschwäche hat und sich neben dem Schreiben
00:28:56
vor allem mit dem Rechnen schwer tut.
00:28:58
Selbst kleine Aufgaben wie 2 plus 3 muss sie mit den Fingern abzählen.
00:29:01
Sie zu fördern steht für Norbert und Rita an oberster Stelle.
00:29:05
Da Rita die Förderschule, die Sina besucht, für ungeeignet hält, organisiert sie einen
00:29:10
Platz an einer heilpädagogischen Waldorfschule in einem anderen Ort.
00:29:14
Etwa zwei Wochen lang übt sie mit ihr fast täglich den einstündigen Schulweg mit Bus und Zug, bis Sina ihn verinnerlicht hat.
00:29:21
Die Bemühung zahlt sich aus.
00:29:23
Die neue Schule tut Sina gut.
00:29:24
Sie entdeckt kreative Talente und bringt Norbert und Rita regelmäßig selbst geschnitzte Holzfiguren mit.
00:29:30
Auch das Schwimmen wird zu ihrer Leidenschaft.
00:29:32
Zweimal pro Woche fährt Norbert deswegen mit ihr ins Schwimmbad, damit sie ihre Bahn ziehen kann.
00:29:36
Und trotz all dieser positiven Entwicklungen verläuft das Zusammenleben alles andere als harmonisch.
00:29:42
Denn Sina rastet aus.
00:29:44
Heftig und regelmäßig.
00:29:46
Schon Kleinigkeiten bringen die Zwölfjährige derart auf die Palme, dass die Situation zu Hause eskaliert.
00:29:52
So flippt sie beispielsweise aus, wenn ihr Norbert und Ritas Regeln nicht passen,
00:29:56
wenn sie keinen Gameboy mehr spielen darf oder wenn sie einfach nur ein Nein hört.
00:30:00
Dann fliegen Gegenstände durch den Raum.
00:30:02
Außerdem wird sie handgreiflich und geht mit voller Wucht auf die Person los, über die sie sich ärgert.
00:30:07
Ihren Pflegeeltern ist schleierhaft, wie ein Kind solche Kräfte entwickeln kann.
00:30:12
Während Norbert als athletischer Mann noch halbwegs gegen Sina ankommt, kann Rita ihr nichts entgegensetzen.
00:30:18
Jedes Mal, wenn Sina mit den Fäusten auf sie losgeht, muss Norbert eingreifen und sie mit vollem Körpereinsatz von seiner Frau wegziehen.
00:30:25
Neulich hat Ritas Hausarzt sie sogar auf die blauen Flecke angesprochen und gefragt, ob ihr Mann sie schlägt.
00:30:31
Die Lage zu Hause bringt Norbert und Rita regelmäßig an ihre Belastungsgrenze.
00:30:36
Sie wussten, dass es mit Sina nicht leicht würde.
00:30:39
Auch mit ihren Pflegesöhnen war nicht alles immer Friede, Freude, Eierkuchen.
00:30:43
Doch dass das Zusammenleben mit Sina sie derart fordern und vor so große Herausforderungen stellen würde,
00:30:49
damit hatten sie nicht gerechnet.
00:30:52
Zumal die Gewalt, die von Sina ausgeht, nicht mal das Schlimmste ist.
00:30:56
Denn Sina benutzt ihre Hände nicht nur zum Schlagen, sondern auch zum Grabschen.
00:31:01
Schon kurz nach ihrem Einzug fällt Norbert und Rita auf, dass Sina sich oft übergriffig und auffällig sexualisiert verhält.
00:31:09
Immer wieder greift sie ihn zwischen die Beine und kneift in die Brüste.
00:31:13
Vor allem Norbert hat das in einige unangenehme Situationen gebracht.
00:31:17
Einmal hat sie ihn bei einer scherzhaften Rangelei auf dem Sofa etwa in den Schritt gegriffen und ihn als Drecksau betitelt.
00:31:24
Ein anderes Mal hat sie ihn im Schwimmbad mit dem Knie im Genitalbereich angestoßen und ihn gefragt, ob er einen Stracken,
00:31:30
das soll wohl Ständer heißen, also sie hat ihn gefragt, ob er einen Ständer habe.
00:31:35
Norbert und Rita wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen und sind massiv überfordert mit Sinas Verhalten.
00:31:41
Auch Gespräche bringen kaum etwas.
00:31:44
Jedes Mal, wenn sie Sina zurechtweisen, macht sie dicht und schweigt.
00:31:47
Und auch die Sitzung bei einem Jugendpsychologen, den sie für die Zwölfjährige organisieren und den sie einmal pro Woche besucht, ändert nichts an ihrem Verhalten.
00:31:55
Wenige Monate nach Sinas Einzug beginnen Norbert und Rita daher zu zweifeln.
00:32:00
War es die falsche Entscheidung, das Mädchen bei sich aufzunehmen?
00:32:03
Die Sina schaut schon gerne mal nach Jungs.
00:32:05
So hatte das Jugendamt es ihnen damals gesagt.
00:32:08
Dass die Zwölfjährige allerdings so sexualisiert ist, hat man ihnen unterschlagen.
00:32:14
In den folgenden Monaten stecken Norbert und Rita in einem emotionalen Zwiespalt.
00:32:18
Einerseits ertragen sie Sinas Psychoterror kaum noch, andererseits hat sie offensichtlich große Probleme und nach Jahren in der Wohngruppe auch ein richtiges Zuhause verdient.
00:32:29
In Gesprächen mit dem Jugendamt schildern sie die Situation und machen klar, dass sie nicht wissen, wie lange sie das noch aushalten.
00:32:35
Die Behörde zeigt Verständnis, bittet sie jedoch, Sina nicht aufzugeben.
00:32:39
Also halten Norbert und Rita durch.
00:32:42
Bis am 12. Dezember 2002, etwa eineinhalb Jahre nach Sinas Einzug, die Situation eskaliert.
00:32:49
Sina ist beleidigt.
00:32:51
Vor wenigen Tagen kam heraus, dass sie heimlich raucht und ihre Zigaretten sogar mit in die Schule nimmt.
00:32:55
Seit dem darauf folgenden Streit mit Norbert und Rita ist die 13-Jährige trotzig und verweigert sich allem.
00:33:01
Sie will weder in die Schule noch zum Zahnarzt oder zum Kinderpsychologen, den sie sonst selbstverständlich besucht.
00:33:08
Statt Sina ist heute Rita hingefahren.
00:33:10
Vielleicht hat der Psychologe einen Rat, wie sie besser zu ihrer Pflegetochter durchdringen können.
00:33:14
Norbert und Sina sind also alleine zu Hause.
00:33:17
Norbert beobachtet, wie sie am Küchentisch sitzt und mit einem Löffel spielt.
00:33:21
Taktvoll schlägt sie das Metall immer wieder auf die Tischplatte.
00:33:25
Dann schleudert sie den Löffel plötzlich durch den Raum und trifft einen der Hunde.
00:33:29
Norbert wird sauer.
00:33:30
Ruhig bittet er sie, das zu lassen.
00:33:32
Wenige Sekunden später passiert das, was er schon oft erlebt hat.
00:33:36
Sina fasst ihm in den Schritt.
00:33:38
Was soll das denn?
00:33:39
fährt er sie sauer an, woraufhin Sina aufspringt und in ihr Zimmer läuft.
00:33:43
Norbert geht ihr hinterher.
00:33:45
Als der 59-Jährige das Zimmer betritt, sitzt seine Pflegetochter mit verschränktem Arm auf dem Bett.
00:33:50
Sina spricht er sie an.
00:33:52
Das geht so nicht mehr.
00:33:53
Er macht ihr klar, dass die Situation für ihn und Rita nicht mehr tragbar ist.
00:33:58
Dass sie sich ihr Verhalten nicht länger gefallen lassen werden.
00:34:01
Morgen Mittag bist du hier raus, sagt er.
00:34:04
Sina schaut ihm in die Augen und entgegnet.
00:34:07
Dann sage ich, du hättest gefummelt.
00:34:08
Norbert ist fassungslos und zugleich sicher, dass es richtig ist, nun einen Schlussstrich zu ziehen.
00:34:14
Als Rita vom Kinderpsychologen nach Hause kommt, entscheiden sie gemeinsam, Sina muss gehen.
00:34:19
Bei einem Anruf mit dem Jugendamt berichtet Rita von der Drohung.
00:34:23
Bereits am nächsten Tag steht Sinas Vater vor der Tür, um sie abzuholen.
00:34:27
Fürs Erste wird sie wieder bei ihm wohnen.
00:34:29
Der Abschied fällt kurz und kühl aus.
00:34:32
Lediglich ein Tschüss bringt Sina emotionslos über die Lippen.
00:34:36
Dann verschwindet sie durch die Haustür und aus dem Leben ihrer Pflegeeltern.
00:34:39
Auch wenn die 13-jährige Norbert und Rita irgendwie fehlt, sind sie erleichtert, dass die Anstrengungen und Konflikte nun der Vergangenheit angehören.
00:34:48
An Sinas Drohung denkt niemand mehr.
00:34:49
Bis Norbert im Januar 2003 von der Anzeige erfährt, die ihn im Mai 2004 in den Gerichtssaal des Landgerichts Saarbrücken geführt hat.
00:34:58
Schon zu Beginn der Verhandlung hat Norbert ein ungutes Gefühl.
00:35:03
Obwohl er sich ausführlich zu den Vorwürfen äußern will, hat er den Eindruck, nicht viel Raum für seine Aussage zu bekommen.
00:35:08
Vor allem über das Zusammenleben mit Sina und die Konflikte hätte er so viel zu sagen.
00:35:13
Doch viele seiner Worte, so nimmt es der 60-Jährige wahr, scheinen in den Ohren der Kammer zu verpuffen.
00:35:19
Andere dagegen werden ihm negativ ausgelegt.
00:35:22
Als Norbert etwa von Sinas Drohung und ihrem Satz
00:35:25
Dann erzähle ich, du hast gefummelt, berichtet, sieht die Kammer darin keinesfalls eine Ankündigung des Missbrauchsvorwurfs,
00:35:31
sondern vielmehr ein Anzeichen dafür, dass Norbert tatsächlich gefummelt habe.
00:35:35
Wenn Norbert in die strengen Augen des Vorsitzenden und des Staatsanwalts schaut,
00:35:39
hat er das Gefühl, sie würden ihn bereits verurteilen.
00:35:42
Auch ihre Worte zeugen von Ablehnung.
00:35:44
So muss sich Norbert etwa anhören, wie der Richter sich darüber aufregt,
00:35:48
dass Pflegeeltern Geld vom Staat bekommen
00:35:50
und auch Norberts und Ritas vegetarische Ernährung, kommentiert der Jurist abwertend.
00:35:55
Aus Norberts ungutem Bauchgefühl wird im Laufe des Prozesses eine traurige Überzeugung.
00:36:00
Er hat hier keine Chance.
00:36:02
Insofern ist das Urteil, das das Gericht letztendlich verkündet, für ihn keine große Überraschung.
00:36:09
Herzungslos macht es ihn trotzdem.
00:36:12
Wie ein Echo heilt dieses Wort in Norberts Gedanken nach.
00:36:15
Er hat Sina bei sich aufgenommen, ihr gemeinsam mit Rita ein Zuhause geschenkt
00:36:19
und sie wie ein eigenes Kind behandelt.
00:36:22
Wie kann es sein, dass ihm diese Gutmütigkeit offensichtlich zum Verhängnis wurde?
00:36:27
So viele Menschen haben ihm Unrecht getan.
00:36:29
Die Staatsanwaltschaft, der vorsitzende Richter.
00:36:31
Aber auch die Gutachterin hat schlichtweg die Wahrheit verkannt.
00:36:34
Besonders schockiert ist Norbert darüber, dass die Gutachterin Sinas Anschuldigung nicht als Lügenmärchen entlarvt hat
00:36:40
und ihr offenbar uneingeschränkt Glauben geschenkt hat.
00:36:43
Sie ist doch die mit der Expertise.
00:36:46
Wie konnte sie nicht sehen, dass sie da einer Lüge aufgesessen ist?
00:36:49
Auf keinen Fall wird er für ein Verbrechen ins Gefängnis gehen, das er nicht begangen hat und damit seine Rita verlassen.
00:36:58
Seit fast 20 Jahren gehen sie gemeinsam durchs Leben und haben nur selten einen Tag ohne einander verbracht.
00:37:04
Die Vorstellung, die kommenden Jahre getrennt voneinander zu sein,
00:37:08
nicht mehr gemeinsam am Frühstückstisch zu sitzen oder gemeinsam eine Lieblingsserie anzuschauen,
00:37:13
droht sowohl Norbert als auch Rita das Herz zu zerreißen.
00:37:17
Sie setzen deswegen alles daran, das doch noch irgendwie zu verhindern.
00:37:21
Mit seinem Anwalt geht Norbert in Revision.
00:37:23
Tagtäglich sitzen er und Rita in den kommenden Monaten zu Hause,
00:37:27
in der Hoffnung, dass der BGH Erbarmen mit ihnen hat und ihnen die Möglichkeit gibt,
00:37:31
diesen unberechtigten Schuldspruch zu korrigieren.
00:37:34
Doch ihre Hoffnung zerplatzt wie eine Seifenblase.
00:37:37
Der Revisionsantrag wird vom BGH verworfen.
00:37:40
Das Urteil des Landgerichts Saarbrücken weist offenbar keine Rechtsfehler auf und wird rechtskräftig.
00:37:46
Als Norbert schließlich das Schreiben in den Händen hält, auf dem der Termin für seinen Haftantritt vermerkt ist,
00:37:51
haben er und Rita die traurige Gewissheit schwarz auf weiß.
00:37:54
Sie müssen sich ihrem Schicksal fügen.
00:37:56
Am 2. Januar 2006, etwa eineinhalb Jahre nach dem Prozessende,
00:38:01
ist der Tag gekommen, vor dem sich Norbert seit seinem Schuldspruch fürchtet.
00:38:05
Gemeinsam mit Rita steht er vor den Mauern der JVA Saarbrücken.
00:38:09
Die vergangene Nächte hat der mittlerweile 62-Jährige kein Auge zugemacht und sich diesen
00:38:14
Moment detailliert ausgemalt.
00:38:16
Wie wird's wohl sein, wenn er seiner Rita bis auf weiteres Lebewohl sagt?
00:38:20
Letztendlich geht alles ganz schnell.
00:38:22
Viel zu schnell.
00:38:23
Er hat noch nicht einmal Zeit, Rita ein Küsschen zu geben.
00:38:26
Auf Anweisung des Justizvollzugsbeamten geht er durch eine schwere grüne Tür.
00:38:31
Als sie ins Schloss fällt, ist Norbert klar, dass dieses dumpfe Geräusch eine Zäsur darstellt.
00:38:36
Sein altes Leben liegt nun vorerst hinter ihm.
00:38:39
Und ein neues Kapitel hat soeben begonnen.
00:38:41
Ein sehr dunkles.
00:38:43
Die Zeit hinter Gedanken gleicht für Norbert einem Albtraum.
00:38:47
Er vermisst seine Rita, die zu Beginn seiner Haftzeit nur einmal wöchentlich anrufen darf.
00:38:51
Außerdem hat sich bereits nach wenigen Wochen herumgesprochen, warum er inhaftiert ist.
00:38:56
Als verurteilter Sexualstraftäter, der sich an einem Kind vergangen haben soll, steht der 62-Jährige in der Gefängnishierarchie ganz unten.
00:39:05
Immer wieder wird er von Mitinsassen beleidigt und bedroht.
00:39:08
Einmal landet beim Hofgang sogar ein Holzklotz neben ihm, den ein anderer Inhaftierter aus dem Fenster wirft und der Norbert nur wenige Zentimeter verfehlt.
00:39:17
Von dem Moment an trägt Norbert immer einen Kugelschreiber mit geöffneter Spitze in seiner Hosentasche mit sich.
00:39:24
Jahre zuvor hatte er einen Fernsehbeitrag gesehen, in dem das als Waffe für Frauen empfohlen wurde, die nachts allein unterwegs sind.
00:39:30
Die psychischen Belastungen machen sich mittlerweile auch körperlich bemerkbar.
00:39:35
Norbert hat Schlafstörungen und liegt nachts regelmäßig wach.
00:39:38
Außerdem macht ihm ein Tinnitus zu schaffen, an dem er seit der Urteilsverkündung leidet.
00:39:43
Das Schlimmste jedoch ist für ihn die Fremdbestimmung.
00:39:46
Norbert kommt es so vor, als habe er hier hinter Gitterstäben und Stacheldrahtzaun nicht nur die Freiheit, sondern die gesamte Kontrolle über sein Leben abgegeben.
00:39:55
Er fühlt sich als Marionette, deren Fäden die Justizvollzugsbeamtinnen in den Händen halten.
00:40:01
Eigentlich ist Norbert ein zäher Typ.
00:40:04
Doch da auch sein Leben jenseits der Gefängnismauern auseinanderfällt, droht er zu zerbrechen.
00:40:09
Denn seine Verurteilung hatte weitreichende Konsequenzen.
00:40:13
Nach 46 Jahren bei der Bundeswehr wurde Norbert nach dem Prozess aus dem Beamtenverhältnis entlassen.
00:40:19
Bundesansprüche wurden ihm aberkannt und auch für den Anwalt und die Prozesskosten, die er als Verurteilter tragen muss, muss er tief in die Tasche greifen.
00:40:27
Norbert und Rita stehen vor dem finanziellen Ruin.
00:40:30
Die Geldsorgen drohen Norbert regelrecht, die Luft abzuschnüren.
00:40:33
Auch deshalb strebt er ein Wiederaufnahmeverfahren an.
00:40:37
Doch gleich zwei Anträge, die sein Anwalt nacheinander beim Landgericht Saarbrücken stellt, werden abgelehnt.
00:40:42
Für Norbert gleicht diese Nachricht jedes Mal einem Schlag in die Magengrube und führt ihm erneut das Unrecht seiner Situation vor Augen.
00:40:50
Das Leben hinter Gittern bietet Norbert viel Zeit zum Nachdenken.
00:40:53
Immer wieder grübelt er, wie seine ehemalige Pflegetochter Sina ihm so etwas antun konnte.
00:40:58
Wollte sie ihm eins auswischen, weil sie die Familie verlassen musste?
00:41:02
War ihr überhaupt bewusst, was ihre Anschuldigungen für Konsequenzen haben würden?
00:41:06
Oder ist eine anfängliche Flunkerei womöglich außer Kontrolle geraten?
00:41:10
Es sind Fragen, die Norbert tagtäglich beschäftigen und auf die er keine Antwort findet.
00:41:16
Er weiß nur eins, er ist schwer enttäuscht von ihr.
00:41:19
Und dieses Gefühl wird noch stärker, als er 2007 nach rund einem Jahr Gefängnis ein neues Schreiben in den Händen hält.
00:41:26
Sina verklagt ihn auf Schmerzensgeld.
00:41:29
25.000 Euro will die inzwischen 18-Jährige von ihm für den angeblichen Missbrauch haben.
00:41:35
Erst macht sie aus ihm einen Sexualstraftäter und nun bittet sie ihn auch noch zur Kasse?
00:41:40
Norbert weiß in diesem Moment nicht, ob er lachen oder weinen soll.
00:41:45
Aber auch, wenn er gerade jetzt glaubt, an seinem Tiefpunkt angekommen zu sein, wird er in ein paar Jahren froh sein, dass Sina diesen Schritt gegangen ist.
00:41:53
Denn sie begeht damit einen schweren Fehler.
00:41:56
Die zuständige Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken nimmt sich Sinas Klage an, um sie zu prüfen.
00:42:01
Und dabei spielt das Urteil der Strafkammer aber gar nicht eine so große Rolle, wie uns Rechtsanwalt Benedikt Müller erklärt hat.
00:42:10
Ein Zivilgericht ist nicht an die Feststellung aus einem Strafverfahren gebunden.
00:42:13
Es können zwar Erkenntnisse oder auch die Akte aus dem Strafverfahren einbezogen werden.
00:42:19
Unterm Strich wird hier aber eine neue und eine eigene Entscheidung getroffen, die im Zweifel auch dem strafrechtlichen Urteil widersprechen kann.
00:42:26
Das Straf- und das Zivilverfahren sind nämlich von Grund auf verschieden.
00:42:29
Im Zivilverfahren gilt der sogenannte Dispositions- oder Beibringungsgrundsatz.
00:42:34
Das heißt, die Parteien bestimmen über den Prozessstoff und auch über den Ablauf des Verfahrens während im Strafprozess das Gericht von Amts wegen den Sachverhalt aufklären muss, sogenannter Amtsermittlungsgrundsatz.
00:42:45
Wenn im Zivilverfahren also niemand sagt, wir wollen hier ein Gutachten oder gar ein Obergutachten, dann wird das auch nicht erstellt.
00:42:51
Das ist im Strafverfahren grundlegend anders.
00:42:55
Erneut sichten JuristInnen das Material zum Fall und studieren alles, was im Prozess gegen Norbert eine Rolle gespielt hat.
00:43:01
Nur sind sie im Gegensatz zu ihren KollegInnen der Strafkammer nicht davon überzeugt, dass alles so gewesen ist, wie im Urteil festgehalten.
00:43:09
Sie haben Zweifel vor allem am Wahrheitsgehalt von Sinas Aussage.
00:43:14
Und damit auch Zweifel an Norbert Schuld.
00:43:17
Grund dafür ist unter anderem ein sogenanntes Privatgutachten, das ihnen vorliegt.
00:43:22
Norbert und Rita haben es kurz nach der Zustellung von Sinas Zivilklage auf eigene Kosten bei einem Berliner Psychologen in Auftrag gegeben.
00:43:29
Und der kam zu einem ganz anderen Ergebnis als Beate Kaufmann, also die Gutachterin aus dem Strafprozess.
00:43:36
Und sein Ergebnis scheint der Zivilkammer auch schlüssiger.
00:43:41
Tatsächlich entscheidet die Kammer, dass Sinas Aussage nicht der Wahrheit entspricht und kein Missbrauch durch Norbert stattgefunden hat, für den er Schmerzensgeld zahlen müsste.
00:43:49
Ihre Klage auf Schadensersatz wird daher abgelehnt.
00:43:52
Und da Sina und ihr Rechtsanwalt das nicht akzeptieren wollen, gehen sie in Berufung.
00:43:58
Nach knapp zwei Jahren darf Norbert das Gefängnis wegen guter Führung und positiver Sozialprognose vorzeitig verlassen.
00:44:04
Nach insgesamt 683 Tagen in Haft.
00:44:08
Zwar hatte er zwischenzeitlich Freigang und durfte in einen offenen Trakt wechseln.
00:44:13
Doch der Moment, als er im November 2007 wieder durch jene grüne Tür tritt, diesmal in die Freiheit und in die Arme seiner geliebten Rita, die all die Zeit zu ihm gestanden hat, ist für ihn überwältigend.
00:44:23
Aber trotz der Erleichterung bleibt Norbert niedergeschlagen.
00:44:27
Die Zeit hinter Gittern hat Spuren hinterlassen, ebenso wie die finanzielle Belastung.
00:44:32
Zwar haben Freundinnen und Bekannte geholfen, doch der Schuldenberg aus Anwaltskosten und dem Verlust seiner Beamtenpension scheint kaum zu bewältigen.
00:44:40
Sollte Sinas Berufung zugelassen werden und ein Gericht ihr am Ende doch noch Schmerzensgeld zusprechen, wäre das Norberts und Ritas endgültiger Ruin.
00:44:49
Im Juli 2009, zwei Jahre nachdem Norbert Sinas Zivilklage in der Hand hielt, ist es dann soweit.
00:44:55
Der Zivilsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts verhandelt im Berufungsprozess über die zuvor abgelehnte Schadensersatzklage von Sina.
00:45:03
Ein Anlass, zu dem auch Norbert gemeinsam mit seiner Rita ins Gericht gekommen ist.
00:45:08
Für den 66-Jährigen ist es ein merkwürdiges Gefühl, wieder in einem Gerichtssaal zu sein.
00:45:13
Das letzte Mal hat er so einen Raum als verurteilter Straftäter verlassen.
00:45:17
Und obwohl Norbert nach der erstinstanzlichen Ablehnung des Verfahrens eigentlich zuversichtlich ist, ist er nervös.
00:45:24
Schließlich wird Norbert heute seiner ehemaligen Pflegetochter Sina wieder gegenübertreten müssen.
00:45:29
Als er die inzwischen 20-Jährigen neben ihrem Anwalt betrachtet und sich ihre Blicke kurz treffen, spürt Norbert einen kurzen Stich.
00:45:36
Sina ist richtig erwachsen geworden, stellt er fest.
00:45:39
Eine junge Frau, die ihr Leben offenbar selbstständig bewältigen kann.
00:45:44
Und trotzdem hält sie noch immer an ihrer Lüge fest.
00:45:47
Warum tut sie das?
00:45:51
Nachdem in der ersten zivilrechtlichen Instanz erhebliche Zweifel daran aufgekommen sind,
00:45:55
ob Sinas Aussage über den angeblichen Missbrauch durch Norbert wirklich so glaubhaft ist,
00:45:59
wie von der Sachverständigen im Strafverfahren festgestellt,
00:46:02
hat sich das Oberlandesgericht dazu entschieden, ein neues Gutachten in Auftrag zu geben.
00:46:07
Die Wahl fiel auf Professor Eberhard Schulz, ein Kinder- und Jugendpsychiater aus Freiburg.
00:46:12
Seine Aufgabe bestand nicht nur darin, ein neues Glaubhaftigkeitsgutachten von Sina anzufertigen,
00:46:17
sondern auch, das seiner Kollegin Beate Kaufmann kritisch unter die Lupe zu nehmen.
00:46:22
Methodisch-kritische Stellungnahme nennt man das, also ein Gutachten über ein Gutachten.
00:46:27
Schulz präsentiert nun also sein Ergebnis. Und das ist eindeutig.
00:46:32
Seine Kollegin hat fahrlässig gearbeitet, macht Schulz klar.
00:46:35
Ihr Gutachten ist schlichtweg eine Vollkatastrophe.
00:46:38
Der Sachverständige erklärt, dass Beate Kaufmanns Gutachten gravierende methodische Mängel aufweise
00:46:44
und vor Gericht gar nicht hätte verwertet werden dürfen.
00:46:47
So habe die Psychologin etwa die persönliche Vorgeschichte von Sina,
00:46:50
insbesondere ihr sexualisiertes Verhalten und ihre sexuellen Erfahrungen schlichtweg nicht berücksichtigt.
00:46:57
Sie hat also Sinas Lügenkompetenz offenbar unzureichend bewertet.
00:47:01
Und das heißt, so hat es uns Michaela Pfundmeier erklärt,
00:47:04
Man schaut sich an, ob die Person aus ihren Vorerfahrungen heraus mit ihren verbalen und kognitiven Kompetenzen so eine Aussage erfinden könnte.
00:47:13
Man sucht da sozusagen nach bereichspezifischem Wissen.
00:47:17
Also das wäre sozusagen ein Aspekt, wo man sagen würde, ah, okay, sie hat doch bereichspezifisches Wissen.
00:47:22
Sie weiß was zu Sexualität.
00:47:24
Und damit steigt sozusagen ihre Kompetenz an, irgendwas zu erfinden, was sie gar nicht erlebt hat.
00:47:30
Also was Pfundmeier hier anspricht, ist Folgendes.
00:47:32
Man würde ja meinen, dass die meisten Zwölfjährigen über wenig sexuelle Erfahrung verfügen,
00:47:37
also kein bereichsspezifisches Wissen haben.
00:47:40
Besonders, wenn sie sagen, dass sie noch Jungfrau sind.
00:47:43
Heißt, die Lügenkompetenz wäre eher gering.
00:47:45
Wenn solche Menschen dann einen Missbrauch schildern, inklusive Realkennzeichen etc. pp.
00:47:50
Dann könnte das ein Hinweis dafür sein, dass die Schilderung tatsächlich auf einem realen Erlebnis basiert.
00:47:56
Das bedarf aber natürlich noch weiterer Prüfungen.
00:47:59
Jetzt war es ja so, dass Sina im Vorgespräch mit der Gutachterin erst behauptet hatte, Jungfrau zu sein.
00:48:05
Und im Prozess kam dann aber raus, dass das eine Lüge war, woraufhin die Gutachterin gefragt wurde,
00:48:10
ändert das was an ihrer Einschätzung.
00:48:12
Woraufhin die Gutachterin sagte, nicht, wenn sie freiwillig mitgemacht hat.
00:48:16
Unsere Expertin sagt jetzt, dass die Gutachterin ihre Einschätzung zumindest nochmal hätte überdenken müssen.
00:48:23
Denn selbst wenn Sina dadurch, dass sie freiwillig in Anführungszeichen mit dem 15-Jährigen geschlafen hat,
00:48:29
kein bereichsspezifisches Wissen hatte, was Missbrauch betrifft,
00:48:33
was sie auf den Pflegevater ja hätte übertragen können,
00:48:36
hat sie natürlich trotzdem bereichsspezifisches Wissen in Sachen Sex
00:48:40
und kann beispielsweise den männlichen Körper beschreiben, den irrigierten Zustand
00:48:45
und diese Dinge theoretisch für eine glaubhafte Lüge nutzen.
00:48:49
Aber das ist jetzt hier beim Oberlandesgericht nicht der einzige Kritikpunkt vom Gutachter Schulz.
00:48:55
Auch die Art der Begutachtung von Kaufmann sieht Schulz problematisch.
00:48:59
Aus Gesprächsprotokollen gehe nämlich hervor,
00:49:02
dass die Sachverständige immer wieder Suggestivfragen an Sina gerichtet habe.
00:49:06
Also solche Fragen, die schon einen gewissen Inhalt vorgeben.
00:49:10
Also ein Beispiel in diesem Fall wäre, wenn man Sina fragen würde,
00:49:13
wie hast du dich gefühlt, als Norbert das und das mit dir gemacht hat?
00:49:16
Oder wie genau lief der Missbrauch ab?
00:49:19
Und das ist in der Aussagepsychologie beziehungsweise in der Erstellung von Glaubhaftigkeitsgutachten
00:49:25
ein absolutes No-Go.
00:49:27
Das hat uns auch die Expertin, Professorin Fundmeier, erklärt.
00:49:30
Das ist absolut problematisch.
00:49:32
Also das sollte eigentlich gar nicht passieren.
00:49:33
In der Aussagepsychologie wird explizit geprüft, könnte eine Aussage suggestiv verzerrt sein.
00:49:39
Und dazu zählt nicht nur, dass eine Person vielleicht suggestiv gesprochen hat mit einer Therapeutin
00:49:45
oder mit dem Freundeskreis oder mit der Familie, sondern eben auch gab es suggestive Befragungen durch die Polizei
00:49:52
oder durch andere Institutionen oder auch durch mich selbst als Gutachterin.
00:49:56
Alle Dinge, die man suggestiv vorgegeben hat in der Befragung, muss man im Prinzip später wegschneiden.
00:50:02
In der Bewertung, weil man eben nicht mehr sicher sein kann, kam das jetzt von mir oder kam das von der Zeugin?
00:50:09
Ja, und das ist in diesem Fall offenbar richtig schief gelaufen.
00:50:13
Denn laut dem Gutachter Professor Schulz hätten, und jetzt kommt es, alle vernehmenden Personen suggestive Fragen gestellt.
00:50:21
Also nicht nur Gutachterin Beate Kaufmann, sondern auch die VernehmungsbeamtInnen, die Sina befragt haben.
00:50:27
Und auch das zu erkennen, also dass die ersten Befragungen schon suggestiv waren, hat Beate Kaufmann verpasst.
00:50:34
Und jetzt stehen nicht nur die doof da, sondern auch Sina.
00:50:37
Und das spielt Norbert in die Karten.
00:50:40
Im Mai 2011 wird Sinas Berufung zurückgewiesen.
00:50:45
Grund dafür ist neben dem neuen Gutachten außerdem ein Detail,
00:50:49
das im Strafprozess gegen Norbert zwar ins Licht kam, aber auch nicht groß beachtet wurde.
00:50:55
Sina hat schon einmal jemanden falsch beschuldigt, nämlich 2003, so hat es eine ehemalige Lehrkraft vor Gericht berichtet.
00:51:03
Sina hatte behauptet, ein Mitschüler habe sich sexuell an ihr vergangen.
00:51:07
Eine Lüge, wie sie später herausstellte.
00:51:09
Norbert muss seiner ehemaligen Pflegetochter also kein Schmerzensgeld zahlen.
00:51:14
Die Sache ist nun endgültig vom Tisch.
00:51:17
In ihm macht sich Erleichterung breit.
00:51:19
Theoretisch könnte er nun also nach vorne schauen.
00:51:22
Doch so weit ist er noch nicht.
00:51:24
Mit dem neuen Gutachten von Professor Eberhard Schulz sieht Norbert die Chance, endlich seine Unschuld zu beweisen.
00:51:31
Gemeinsam mit seinem Strafverteidiger stellt der inzwischen 67-Jährige, acht Jahre nach der Falschbeschuldigung,
00:51:37
erneut einen Antrag auf Wiederaufnahme.
00:51:40
Doch das Landgericht lehnt wieder ab.
00:51:43
Norbert gibt nicht auf und legt Beschwerde ein.
00:51:46
Er will diesen neuen Strafprozess um jeden Preis.
00:51:49
Schließlich haben inzwischen zwei Gutachter, also sein eigener und der von der Zivilkammer,
00:51:54
festgestellt, dass der ersten Sachverständigen offensichtlich schwerwiegende Fehler unterlaufen sind.
00:52:00
Einige Monate später meldet sich sein Anwalt.
00:52:03
Und als der ihm verkündet, dass er, Zitat,
00:52:05
den Sechser im Lotto habe, ist Norbert sofort klar, was das bedeutet.
00:52:10
Er bekommt sein Wiederaufnahmeverfahren.
00:52:12
Im November 2013 beginnt vor dem Amtsgericht Neunkirchen endlich die Verhandlung,
00:52:18
für die Norbert jahrelang gekämpft hat und für die er sehr viel Geduld mitbringen musste.
00:52:23
Zwischen dem grünen Licht vom Oberlandesgericht und dem Prozessauftakt
00:52:27
lagen nochmal ganze vier Jahre.
00:52:30
Eine lange Zeit, in der es juristische Hürden, Zuständigkeitsfragen
00:52:35
und sogar eine kurzzeitig verschwundene Gerichtsakte gab.
00:52:38
Trotz allem, der mittlerweile 70-Jährige ist zuversichtlich.
00:52:42
Rita ist auch heute wieder dabei, drückt ihm von den ZuschauerInnenplätzen die Daumen.
00:52:47
Der Zivilprozess hat gezeigt, der neue Sachverständige Professor Eberhard Schulz ist auf Norberts Seite
00:52:53
und der wird auch heute aussagen.
00:52:55
Aufmerksam verfolgt Norbert, wie der Psychiater dem Gericht erklärt,
00:52:59
warum das ursprüngliche Gutachten aus seiner Sicht nicht tragfähig ist.
00:53:02
Schulz macht deutlich, dass Sinas Schilderungen über den angeblichen Missbrauch
00:53:07
nicht erlebnisorientiert seien.
00:53:08
Der Experte spricht von pauschalen, unkonkreten Angaben,
00:53:12
die auch schon die erste Gutachterin festgestellt hat.
00:53:15
Doch anders als Beate Kaufmann, die das auf Sinas Lernschwäche geschoben hatte,
00:53:19
führt Schulz an, dass die qualitativen Mängel in ihrer Aussage
00:53:23
nicht auf eine Minderbegabung zurückzuführen seien.
00:53:26
Schließlich habe Sina in anderen Situationen gezeigt,
00:53:29
dass sie sehr wohl in der Lage ist, Dinge detailliert zu schildern.
00:53:32
Wir sehen jetzt, die eine Gutachterin sagt dies, der andere Gutachter sagt das.
00:53:37
Und deswegen haben wir jetzt die Einschätzung darüber an Michaela Fundmeier weitergegeben.
00:53:42
Es ist schon möglich, dass eine Person womöglich aufgrund von einer Intelligenzminderung
00:53:48
einen weniger elaborierten Berichtsstil hat.
00:53:50
Allerdings ist wichtig zu betonen, dass man das nicht pauschal für Personen mit Intelligenzminderung sagen kann.
00:53:58
Wenn man aber in einer sachverhaltsneutralen Schilderung festgestellt hat,
00:54:02
dass der Berichtsstil tatsächlich wenig komplex ist,
00:54:05
dann ist es auch so, dass man an die Qualität einer Aussage weniger Ansprüche stellen kann.
00:54:10
Und jetzt kommt das große Aber.
00:54:12
Die Qualität muss so oder so immer noch gewissen Ansprüchen genügen.
00:54:18
Das heißt, eine Aussage muss immer noch in relevanten Punkten konstant sein.
00:54:23
Regulanzmängel ließen sich jetzt nicht über reduziertere Fähigkeiten erklären.
00:54:27
Und es ist auch so, dass bloße pauschale Aussagen, die keinerlei Details enthalten, auch nicht ausreichen.
00:54:34
Also in anderen Worten, wenn eine Zeugin nur ein Grundgerüst eines fraglichen Geschehens wiedergibt,
00:54:40
dann kann man eben nicht abweisen, dass diese Aussage eine Lüge ist.
00:54:45
Selbst wenn diese Person jetzt reduziertere Fähigkeiten hat.
00:54:49
Ja, und die Aussage war ja super pauschal und oberflächlich.
00:54:53
So geht der Punkt hier an den neuen Gutachter Schulz.
00:54:55
Schulz hält drei Optionen für möglich.
00:54:58
Entweder entsprang die Sache mit dem Missbrauch einfach komplett Sinas Fantasie.
00:55:02
Oder sie übertrug ihre Erlebnisse mit anderen auf Norbert.
00:55:07
Oder sie wurde so erheblich durch suggestive Befragung beeinflusst,
00:55:11
dass sich ihre anfängliche Lüge auf diese Weise verfestigt hat.
00:55:14
In jedem Fall sei klar, ihre Aussage ist unglaubhaft.
00:55:18
Eine Einschätzung, die Norbert nahezu siegessicher stimmt.
00:55:22
Und als seine ehemalige Pflegetochter ihre Aussage auch noch verweigert
00:55:25
und Sinas Anwalt im Schlussplädoyer letztendlich betont,
00:55:28
dass seine Mandantin mit Sicherheit nicht böswillig gelogen habe,
00:55:32
sondern durch Suggestionen beeinflusst wurde,
00:55:35
ist Norbert endgültig klar, dass seine Weste wieder reingewaschen wird.
00:55:40
Und das mit dem böswillige Gelogen, das möchte ich mal in Frage stellen,
00:55:43
denn sie hat es ja angekündigt und auch wahrgemacht.
00:55:46
Also auf mich wirkt das schon so, als wollte sie Norbert und Rita einen reindrücken,
00:55:51
weil sie nicht dort bleiben durfte.
00:55:53
Nach nur fünf Stunden verkündet der Vorsitzende das, worauf Norbert neun Jahre gewartet hat.
00:55:58
Er wird freigesprochen.
00:56:00
Die Kammer hält es angesichts des neuen Gutachtens für erwiesen,
00:56:03
dass er seine Ex-Pflegetochter nie missbraucht hat.
00:56:05
Norbert kann es kaum fassen.
00:56:07
Es ist geschafft.
00:56:08
Er hat bewiesen, dass er kein Täter ist, unschuldig verurteilt,
00:56:11
durch die Hölle gegangen und zwei Jahre hinter Gittern saß.
00:56:15
An diesem Tag verlässt Norbert den Gericht, sei glücklich.
00:56:18
Hand in Hand mit seiner Frau.
00:56:19
Und doch weiß er, ganz abschließend kann er nicht.
00:56:23
Für ihn ist Gerechtigkeit erst erreicht, wenn die zur Rechenschaft gezogen wird,
00:56:27
die für die Fehlverurteilung verantwortlich ist.
00:56:30
Und das ist für Norbert nicht nur Sina.
00:56:33
Deswegen wird im Oktober 2014, fast ein Jahr nach seinem Freispruch, noch einmal verhandelt.
00:56:39
Norbert klagt gegen die Sachverständige Beate Kaufmann
00:56:42
und fordert Schadensersatz und Schmerzensgeld.
00:56:45
Wegen der Folgen ihres fehlerhaften Gutachtens.
00:56:47
Das Landgericht gibt ihm Recht.
00:56:50
Doch Kaufmann, die sich keiner Schuld bewusst scheint, geht in Berufung.
00:56:53
Ab Januar 2016 befasst sich deshalb das Oberlandesgericht mit dem Fall.
00:56:58
Weil Kaufmann weiterhin zu ihrer Einschätzung steht
00:57:01
und das Gutachten von Eberhard Schulz
00:57:03
deutliche methodische Mängel an ihrer Arbeit offenlegt,
00:57:05
ordnet das Oberlandesgericht eine neue Beweisaufnahme an.
00:57:09
Und dazu gehört auch, surprise, surprise, ein weiteres Gutachten.
00:57:15
Der Rechtspsychologe Max Steller soll die Gutachten gegen Gutachtensituationen auflösen
00:57:20
und dafür ein sogenanntes Obergutachten erstellen.
00:57:23
Rein rechtlich gibt es diesen Begriff jetzt nicht, aber der hat sich trotzdem etabliert.
00:57:28
Michaela Fundmeier hat uns erklärt, was da genau hinter steckt.
00:57:31
Es wird auf jeden Fall genutzt, wenn es zwei widerstreitende Gutachten gibt.
00:57:34
Also zwei Gutachten, die sozusagen zu einem anderen Ergebnis kommen,
00:57:37
dass eine dritte Person kommt, bestenfalls mit höherer Expertise,
00:57:41
die sicherlich vorlag bei Max Steller,
00:57:43
der sozusagen nochmal guckt, ob Mängel vorgelegen haben könnten oder nicht.
00:57:48
Also so eine richtige Schiedsfunktion nimmt es nicht ein, es ist einfach nochmal eine Prüfung.
00:57:51
Als Max Steller sein Obergutachten vorstellt, findet er deutliche Worte.
00:57:56
Es tut mir leid, das so grob sagen zu müssen, beginnt er.
00:58:01
Doch er müsse seinem Kollegen Eberhard Schulz beipflichten.
00:58:04
Er habe im Gutachten von Beate Kaufmann erhebliche ergebnisrelevante Mängel festgestellt.
00:58:09
Sie sei beispielsweise nicht von der Nullhypothese ausgegangen,
00:58:13
obwohl das die wissenschaftliche Ausgangslage sein muss.
00:58:15
Und obwohl das ja aus den Protokollen hervorgeht,
00:58:19
habe Beate Kaufmann das gar nicht berücksichtigt.
00:58:21
Stattdessen habe Kaufmann zentrale Befunde wie Sinas pauschale Erzählweise
00:58:26
und ihre sexuelle Vorgeschichte ausgeblendet und falsche Schlussfolgerungen gezogen.
00:58:31
Außerdem verstoße ihr Gutachten gegen das Transparenzgebot,
00:58:35
das Sachverständige verpflichtet, Methoden und Entscheidungsprozesse offen zu legen.
00:58:39
Das geht so nicht, sagt Max Steller.
00:58:42
Er hält fest, Kaufmann habe grob fahrlässig gearbeitet,
00:58:45
ihre Pflichten verletzt und wissenschaftliche Standards missachtet.
00:58:48
Nach dieser vernichtenden Einschätzung passiert im November 2017 etwas,
00:58:53
das einer juristischen Rarität gleicht.
00:58:55
Das Oberlandesgericht macht Beate Kaufmann haftbar.
00:58:59
60.000 Euro Schadensersatz muss sie Norbert zahlen.
00:59:02
Für die finanziellen Nachteile, die ihm durch ihr Gutachten
00:59:05
und das darauf basierende Urteil entstanden sind.
00:59:08
Als Rita das hört, stößt sie einen Jubelschrei aus.
00:59:11
Über ein mögliches Schmerzensgeld soll später entschieden werden.
00:59:14
Aber die Entschädigung wird jetzt schon den Schuldenberg schrumpfen
00:59:17
und Norbert nachts wieder ruhig schlafen lassen.
00:59:20
Aber das ist nicht Norberts größter Triumph.
00:59:23
Er hat es geschafft.
00:59:24
Dem 74-Jährigen ist es endlich gelungen, die Frau zur Rechenschaft zu ziehen,
00:59:28
die 2004 im Gerichtssaal die Macht über ihn und seine Zukunft hatte.
00:59:32
Und Macht ist tatsächlich ein wichtiges Stichwort.
00:59:37
Ich habe ja anfangs schon gesagt, Norbert Schicksal war angesichts dieser Aussage-gegen-Aussagesituation
00:59:42
komplett davon abhängig, wie die Psychologin Beate Kaufmann sie nachs Glaubwürdigkeit einschätzt.
00:59:48
Und deswegen liegt ja die Frage nahe, wie viel Macht die GutachterInnen in so einem Prozess in der Regel eigentlich haben.
00:59:54
Und ob sie nicht vielleicht auch irgendwie die heimlichen RichterInnen in so einem Prozess sind.
00:59:59
Und das haben wir Dr. Hanna Ziegert gefragt.
01:00:02
Sie ist Psychiaterin, Psychoanalytikerin und selbst seit Jahrzehnten als Gerichtsgutachterin tätig.
01:00:07
Meine persönliche Meinung ist die, dass Gutachter, Psychiater insbesondere große Macht im Strafprozess haben.
01:00:16
Das heißt, wir entscheiden faktisch, wer kriegt eine lebenslange Freiheitsstrafe, eine zeitliche Freiheitsstrafe.
01:00:23
Wir entscheiden, ob jemand ins Gefängnis geht oder in den Maßregelvollzug, das heißt ins Nervenkrankenhaus.
01:00:29
Auch wenn RichterInnen am Ende das Urteil fällen, sind ja die GutachterInnen da, um ihnen in Bereichen zu helfen,
01:00:36
in denen ihnen selbst die fachliche Expertise fehlt.
01:00:39
Und deswegen sind die ja auch sehr wichtig, aber es ist natürlich auch echt von Bedeutung, dass die nicht fahrlässig arbeiten.
01:00:45
Und vielleicht erinnert ihr euch auch noch an die Folge 57, in der wir über Monika de Montgasson gesprochen haben.
01:00:52
Bei ihr brach 2003 ein Feuer aus und ihr Vater starb.
01:00:56
Und obwohl später rauskam, dass wohl der Vater selbst den Brand verursacht hatte, weil der im Bett geraucht hat, wurde Monika wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
01:01:05
Sie saß 888 Tage unschuldig in Haft, bis herauskam, dass das ursprüngliche Gutachten fehlerhaft war.
01:01:12
In dem Fall war das offenbar nicht fahrlässig verursacht worden.
01:01:16
Dazu will ich aber auch noch sagen, dass es zwar gesetzliche Regelungen gibt, die eine Haftung von GutachterInnen bei vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Fehlern vorsehen.
01:01:27
Aber an sich ist das ein schwieriges Thema, unter anderem, weil die Nachweispflicht für so ein schuldhaftes Fehlverhalten hoch ist und Gerichtsverfahren in solchen Fällen oft langwierig und kompliziert sind.
01:01:38
Und deswegen ist der Fall von Norbert wirklich einer der wenigen, wo das nachweislich festgestellt werden konnte.
01:01:45
Aber auch Hanna Ziegert ist der Ansicht, dass man hier nicht von einem bitteren Einzelfall sprechen kann,
01:01:50
sondern zumindest ihrer Meinung nach immer wieder Gutachten in Strafprozessen vorgestellt werden, die nicht fundiert erhoben wurden.
01:01:57
Ziegert hat uns von einem Fall aus Augsburg erzählt, in dem sie als Sachverständige für die Verteidigung hinzugezogen wurde.
01:02:05
Das nennt man Selbstladung.
01:02:06
Und es ging um einen Mann, der drei NachbarInnen erschossen hatte, vorher aber völlig unauffällig war.
01:02:13
Und aufgrund seiner medizinischen Vorgeschichte vermutete Ziegert eine Demenz und empfahl, die Schuldfähigkeit zu prüfen.
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Der Gutachter der Staatsanwaltschaft aber schenkte den entsprechenden Befunden keine Bedeutung.
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Vermutlich, so Ziegert, aus einem guten Grund.
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Bei solchen Taten, wie dass jemand seine drei Nachbarn aus dem Stand erschießt,
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das ist so, dass die Öffentlichkeit da Schwierigkeiten hat, strafbildernde Gründe zu finden oder das als Krankheit zu definieren.
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Das will man nicht hören.
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Damit will man sich nicht auseinandersetzen, sondern jemand, der ein Mensch, der drei Menschen tötet, erschießt, der muss tendenziell böse sein.
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Aber er darf nicht krank sein.
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Im Allgemeinen ist es so, dass ein Gutachter in einem bestimmten Bezirk ganz häufig von der Staatsanwaltschaft und oder vom Gericht,
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aber meist natürlich von der Staatsanwaltschaft, beauftragt wird.
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Das heißt, da gibt es enge Verbindungen zwischen psychiatrischen oder psychologischen Gutachtern und den Staatsanwaltschaften.
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Und da muss ein Staatsanwalt gar nicht viel sagen oder vielleicht auch nur was andeuten.
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Und natürlich ist es so, dass in großen Verfahren, in wichtigen Verfahren schon bestimmte Ergebnisse erwartet werden, antizipiert werden.
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Und der Gutachter, wenn er weiter beauftragt werden will, dem folgt.
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Hannah Ziegert spricht hier ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis an.
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Denn wenn das Gutachten nicht dem entspricht, was der Staatsanwaltschaft in die Karten spielt,
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dann könnte sie sich ja theoretisch beim nächsten Mal überlegen, ob die nicht eine andere Person beauftragen.
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Und das kann für Sachverständige zum echten Problem werden, wie uns unsere Expertin verraten hat.
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Es ist tatsächlich so, dass viele Gutachter ausschließlich als Gutachter arbeiten,
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ihr Geld ausschließlich damit verdienen, dass sie beauftragt werden von Staatsanwaltschaften und oder Gerichten.
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Die wenigsten Psychiater haben nebenbei noch eine Praxis oder wie ich, dass ich nebenbei noch alles Mögliche andere mache.
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Ich bin völlig unabhängig finanziell von den Aufträgen zur Begutachtung.
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Diesen Luxus leisten sich die allerwenigsten, sondern die meisten sind dann wirklich nur Gutachter und infolgedessen abhängiger von den Auftraggebern.
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Und dann könnte eben die Gefahr bestehen, dass man im Sinne des Auftraggebenden begutachtet.
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Gefälligkeitsgutachten nennt man sowas.
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Aber bei all der Kritik, die wir an der Arbeit von manchen GutachterInnen jetzt geübt haben, müssen wir natürlich trotzdem noch festhalten,
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Sachverständige sind vor Gericht super wertvoll und man braucht die natürlich auch zur Urteilsfindung.
01:05:04
Und eine Idee, sowas zu verhindern, wäre laut Hannah Ziegert eine unabhängige Stelle,
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die Gutachtenaufträge verteilt und schaut, welche Sachverständigen sich im jeweiligen Thema auskennen und zeitlich gerade zur Verfügung stehen.
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Öffentlich darüber gesprochen, sagt Ziegert, hat sie über diesen Vorschlag auf jeden Fall schon oft, aber was getan hat sich in der Richtung noch nichts.
01:05:25
Für Norbert käme das eh zu spät.
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Noch immer leidet er unter der Haftzeit, unter dem Tinnitus, er schläft schlecht und schreckt nachts immer wieder aus Albträumen hoch.
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Ihm ist klar, dass diese körperlichen und seelischen Nachwirkungen ihn womöglich ein Leben lang begleiten werden.
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Also versucht er sie anzunehmen und sich stattdessen auf das Gute in seinem Leben zu konzentrieren.
01:05:46
Erst vor kurzem haben er und Gutachterin Beate Kaufmann sich außergerichtlich auf eine Schmerzensgeldzahlung geeinigt.
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Das hat Norbert uns erzählt, denn mit dem haben wir für diese Folge gesprochen.
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Wie hoch die Summe ist, das wollte Norbert für sich behalten, aber sie reicht aus, um zuversichtlicher nach vorn zu blicken.
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Und zumindest ein Stück weiter mit der Vergangenheit abzuschließen.
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Und dafür haben sie sich noch Unterstützung ins Haus geholt.
01:06:11
Etwa ein Jahr nach dem Urteil gegen die Sachverständige leben Norbert und Rita nicht mehr allein,
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nur haben ihre neuen Pflegekinder diesmal Fell, vier Pfoten und spitze Ohren.
01:06:20
Die beiden haben eine Pflegestelle für heimatlose Katzen eingerichtet.
01:06:25
Mit viel Liebe und Hingabe kümmern sie sich jetzt um ihre kleinen Schützlinge,
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die sie nicht nur ordentlich auf Trab halten, sondern sich abends auch schnurrend auf dem Sofa bedanken.
01:06:33
Wenn Norbert sie beim Spielen beobachtet oder mit ihnen schmust, spürt er etwas, das lange verschwunden war.
01:06:42
Also, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich spüre eine Wut gegenüber Sina, aber auch so etwas wie Mitleid.
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Was sich wirklich nur auf eine Sache bezieht, weil ich denke, dass ein Kind nicht einfach so schon so früh sexualisiert ist.
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Also, selbst wenn sie mit zehn freiwillig, in Anführungszeichen, Sex hatte und bei dem Gespräch danach mit dem Betreuer aus der Wohngruppe rauskam,
01:07:08
dass sie da schon sehr sexualisiert war.
01:07:11
Wieso war sie das denn zu dem Zeitpunkt schon?
01:07:14
Ich denke dann immer, da muss ja vorher was vorgefallen sein.
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Ich meine, die hat auch lange in dieser Wohngruppe gelebt.
01:07:20
Ich weiß nicht, irgendwie macht mir das einfach Bauchweh.
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Aber jetzt abgesehen davon finde ich es natürlich unfassbar, was die Norbert und seiner Frau Rita angetan hat.
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Also, wir haben ja mit Norbert gesprochen und obwohl man natürlich merkt, dass ihm das Ganze noch voll nachhängt,
01:07:38
hatten wir nicht mal den Eindruck, dass er Sina gegenüber so etwas wie Hass empfindet.
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Also, er hat auch überhaupt nicht schlecht über sie geredet, sondern im Gegenteil halt auch von schönen Erinnerungen mit ihr gesprochen.
01:07:50
Also, zum Beispiel über gemeinsame Ausflüge und Urlaube.
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Und das finde ich echt wahnsinnig stark.
01:07:55
Und der wirkt so authentisch, wenn er sagt, dass er den Pflegekindern immer nur ein gutes Zuhause bieten wollte.
01:08:01
Und ich meine, da gehört ja auch einiges dazu, so ein Kind bei sich aufzunehmen.
01:08:06
Und dieses Gefühl, was er hatte, dass obwohl er so viel für Sina gemacht hat, die ihm das angetan hat.
01:08:13
Ich komme da nicht drüber hinweg.
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Kleine Side-Story.
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Sina hat übrigens im Juli 2003, also ein halbes Jahr, nachdem sie Norbert bei der Polizei des Misstrauchs beschuldigt hat,
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sogar nochmal bei ihm und Rita zu Hause angerufen, um Norbert zum Geburtstag zu gratulieren.
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Norbert weiß bis heute nicht, warum sie diese Lüge erzählt hat.
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Er geht davon aus, dass sie vielleicht ihr eigenes übergriffiges Verhalten rechtfertigen wollte.
01:08:40
Und auch, dass aus einer anfänglichen kleineren Lüge dann auf einmal sowas Großes wurde
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und diese suggestive Befragung das halt alles gefestigt hat.
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Aber um das Ganze jetzt in einen größeren Kontext zu setzen,
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gerade nachdem ja in den letzten Jahren durch MeToo immer mehr Fälle von Missbrauch und sexualisierter Gewalt ernstlich gekommen sind,
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bei denen viele Aussage-gegen-Aussagesituationen nicht bewiesen werden konnten
01:09:04
und es deswegen oft nicht mal zu einem Verfahren kam,
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gibt es diese Angst vor Falschbeschuldigungen.
01:09:10
Obwohl fast alle Fälle, die jetzt an die Öffentlichkeit kamen,
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keine erwiesenen Falschbeschuldigungen waren.
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Und ich rede oft und offen über das Thema, am liebsten mit Männern.
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Und ich möchte keine Person für eine Angst verurteilen.
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Ich will an dieser Stelle aber natürlich darauf hinweisen, dass Untersuchungen zeigen,
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dass der Anteil solcher Falschbeschuldigungen sehr gering ist.
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Sie liegt auch nicht höher als bei vergleichbar schweren Straftaten.
01:09:36
Wie hoch die Zahlen genau sind, da gibt es leider keine aktuellen belastbaren empirischen Daten zu.
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Und weil es an einigen auch Kritik gab, nur Folgendes.
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International gesehen liegen die Werte je nach Land zwischen zwei und neun Prozent.
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Und gleichzeitig wird ja nur ein Bruchteil der tatsächlichen Fälle von sexualisierter Gewalt zur Anzeige gebracht.
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Schätzungen zufolge werden nur fünf bis 15 Prozent der Vergewaltigung überhaupt gemeldet.
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Und das bedeutet natürlich, dass auf jede Falschbeschuldigung etliche nicht gemeldete tatsächliche Fälle kommen.
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Und deswegen ist schon wichtig, die geringe Häufigkeit von Falschbeschuldigungen auch im Verhältnis zur hohen Dunkelziffer nicht angezeigter Sexualdelikte zu berücksichtigen,
01:10:18
ohne die wenigen Fälle, die es gibt, natürlich runterzureden.
01:10:21
Aber die Annahme, dass Falschanschuldigungen so ein Riesending sind, die wird durch empirische Daten einfach nicht gestützt.
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Und deswegen will ich das hier am Ende der Folge natürlich auch nochmal einordnend erwähnen.
01:10:32
Menschen, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, haben das so schwer, Gerechtigkeit zu bekommen.
01:10:38
Und ihnen werden so viele Hürden in den Weg gelegt.
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Und deswegen machen mich solche Fälle natürlich auch wütend.
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Nicht nur, weil ich so viel Mitleid für Norbert habe, sondern weil es auch wieder auf die Erzählung einzahlt.
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Männer müssten Angst haben, dass ihnen das passiert.
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Denn wenn solche Fälle an die Öffentlichkeit kommen, dann wird darüber natürlich groß berichtet,
01:10:55
wohingegen sexualisierte Gewalt kaum medial Erwähnung findet.
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Und ich würde das mal gerne testweise ausprobieren, damit alle ein Gefühl dafür bekommen,
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wie oft vor allem Frauen tatsächlich Opfer sexualisierter Gewalt werden.
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Da würde die Medienlandschaft dann ganz schön monoton aussehen.
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Und dann würden Leute sagen, nicht immer wieder dasselbe.
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Ich will Waldbrände und Steuerhinterziehung sehen.
01:11:19
Weil das natürlich nerven würde, mit der ekligen Wahrheit konfrontiert zu werden,
01:11:23
mit der vor allem Frauen tagtäglich leben müssen.
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Da kann man natürlich auch sagen, naja, ihr berichtet ja aber auch darüber
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und nähert das nicht den Narrativ selbst.
01:11:31
Aber ich bin der Meinung, dass es nicht die Lösung sein kann, nicht darüber zu sprechen.
01:11:36
Die Frage ist halt nur, wie.
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So nochmal zum Prozess und dem Gutachten.
01:11:40
Ich frage mich halt die ganze Zeit, weil Norbert und Rita das ja dem Jugendamt berichtet haben.
01:11:45
Und laut Norbert kam das sehr wohl im Prozess auch zur Sprache.
01:11:49
Und auch, dass sie so gegrapscht hat vorher immer, weil das hat sie ja auch vor anderen gemacht.
01:11:55
Also auch im Schwimmbad und auch bei anderen hat Norbert uns erzählt.
01:11:58
Auf jeden Fall ist die Psychologin, die mittlerweile übrigens auch Professorin ist,
01:12:03
laut ihrer Webseite weiterhin als Gutachterin tätig.
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Da gibt es für alle ein Happy End.
01:12:08
Ob sie auch als solcher eingesetzt wird, wissen wir natürlich nicht.
01:12:12
Also in medienwirksamen Fällen der letzten Jahre ist sie auf jeden Fall nicht aufgetreten,
01:12:16
soweit wir das nachrecherchieren konnten.
01:12:17
Und Norbert hegt tatsächlich auch gegen sie keinen Geroll.
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Er würde sich nur wünschen, dass es zwei Gutachten gebe,
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damit in solchen Fällen nicht alles in der Hand einer Person liegt.
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Unser Rechtsexperte Benedikt Müller sagt aber,
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dass die Probleme, die wir bei einem Gutachten haben,
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die haben wir natürlich auch bei einem zweiten.
01:12:36
Er würde es gut finden, wenn, sobald ein Gericht oder die Staatsanwaltschaft
01:12:40
ein Gutachten in Auftrag geben,
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dass der Verteidigung das Recht zu käme,
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ein eigenes Gutachten zum selben Thema in Auftrag zu geben.
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Aber, und das ist wichtig, zunächst mal auf Staatskosten,
01:12:51
weil oft scheitert sowas an den finanziellen Mitteln der Beschuldigten.
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Das ist eh was, was ich furchtbar ungerecht finde,
01:12:58
dass es, wenn es darum geht, sich verteidigen zu müssen,
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so sehr auch auf den Geldbeutel ankommt.
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So, und euren Geldbeutel wollen wir schon,
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deswegen gibt es innerhalb der nächsten Woche ein Gewinnspiel
01:13:10
auf unserer Instagram-Seite,
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Mordlust, der Podcast.
01:13:12
Abonniert uns da und schaut da mal jeden Tag vorbei.
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Da könnt ihr nämlich wieder Merch gewinnen.
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Das war die Folge über Gutachten oder Schlechtachten.
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Den Titel fanden andere leider nicht so überzeugend.
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Nächste Woche besprechen Laura und ich einen Fall,
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bei dem es um ein Ehepaar geht, das in Luxus lebt,
01:13:30
bis eine Person tot aufgefunden wird
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und die Frage im Raum steht,
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ob das Leben des Ehepaars mehr Schein als sein war.
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Das war ein Podcast der Partner in Crime.
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Hosts und Produktion Paulina Graser und Laura Wohlers.
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Redaktion Jennifer Fahrenholz und wir.
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Schnitt Pauline Korb.
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Rechtliche Abnahme und Beratung Abel und Kollegen.