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#198 Tödlicher rollentausch

Mordlust
Herzlich Willkommen bei Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
In jeder Folge erzählen wir einen bedeutsamen, wahren Kriminalfall nach,
ordnen ihn für euch ein, erörtern und diskutieren die juristischen, psychologischen oder die gesellschaftlichen Aspekte
und wir sprechen mit Menschen mit Expertise.
Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von echten Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf.
Das machen wir auch, selbst dann, wenn wir zwischendurch mal etwas abschweifen.
Das ist für uns eine Art Comico-Lief, aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
Bevor wir mit der heutigen Folge starten, in der wir von einer fragwürdigen Mutter-Tochter-Beziehung erzählen,
möchte ich mit dir, Paulina, aber noch über ein ganz anderes Thema sprechen.
Und zwar bin ich auf einen sehr absurden, aber auch tragischen Fall gestoßen.
Und zwar, es geht um einen Mann aus North Carolina, der von der Geburtstagsfeier seiner Tochter
allein mit dem Auto im Dunkeln nach Hause unterwegs war und quasi in einen Abgrund gestürzt ist
und dort dann in einem Fluss ertrunken.
Und seine Frau verklagt jetzt Google Maps, weil ihr Mann einer ihm unbekannten Route gefolgt ist,
die eben auf Google Maps halt als ganz normale Straße eingezeichnet war.
Das Problem war aber, dass die Brücke, über die diese Straße hätte führen sollen,
schon seit neun Jahren nicht mehr existiert hat, weil sie eingestürzt ist.
Also, als diese ganzen Navigationssysteme gerade kamen, das ist ja schon viele Jahre her,
da habe ich einen Kommentar in irgendeiner Zeitschrift gelesen von einem Mann,
der das alles so ein bisschen mit Häme und Sorge betrachtet hat,
vor allem, weil sein Vater nur noch auf das Fräulein hört.
Also, er hat dann diese Stimme im Auto, das waren ja früher noch so richtige Geräte,
hat er dann nur noch auf das Fräulein gehört.
Und der hatte damals schon sowas prophezeit, dass eventuell sein Vater,
der so viel Vertrauen in dieses Fräulein setzt, irgendwann sehr enttäuscht von der sein wird,
weil die dann für einen Unfall verantwortlich sein wird oder für ein Unglück.
Das nette Fräulein TomTom, ne?
Ja, genau.
So hießen die Dinge.
So, hier in dem Fall würde man ja jetzt vielleicht eigentlich denken,
ja, gut, das ist jetzt nicht unbedingt Google Maps schuld,
dass diese Brücke da nicht repariert wurde, sondern vielleicht eher von der Stadt, ne?
Aber in dem Fall ist das nicht so, weil das Grundstück, auf dem diese eingestürzte Brücke liegt, privat ist.
Das heißt, wenn, dann hätten sich diese Leute da um den Wiederaufbau der Brücke kümmern müssen
oder zumindest vielleicht Schilder aufstellen können von wegen, hier ist keine Brücke mehr.
Ja, ich glaube, dazu ist man ja auch verpflichtet.
Du bist ja auch auf deinem privaten Grundstück dazu verpflichtet, darauf aufzupassen,
wenn beispielsweise kein Wasser im Pool ist oder so.
Das dementsprechend abzusichern.
Hast du gesagt, wenn kein Wasser im Pool ist?
Ja, damit da niemand reinfällt.
Ach so, ja.
Ja, ja, stimmt.
Und sich was bricht oder so.
Ja, genau.
Und deswegen verklagt die Ehefrau auch die Eigentümer von diesem Grundstück, aber eben auch Google Maps.
Und da wollte ich dich einfach mal fragen, findest du das nachvollziehbar, dass die das macht?
Also an ihrer Stelle, ja, die hat ihren Mann auf diese Art und Weise verloren, kann ich, glaube ich, alles nachvollziehen, was die macht.
Auch völlig irrationale Dinge kann ich, glaube ich, mit allem empathisieren, ohne dass ich jetzt glaube, dass sie damit erfolgreich sein wird oder vielleicht auch erfolgreich sein sollte.
Denn wenn man damit jetzt anfängt, ich meine, wie oft wurde ich schon in irgendeinen Verkehr oder Stau geschickt und kam dann sonst wo zu spät, ist natürlich nicht mal ansatzweise vergleichbar.
Aber für solche Fälle haften die ja auch nicht.
Also am Ende muss es ja immer in der eigenen Verantwortung liegen eigentlich, welchen Weg man einschlägt.
Und man kann technische Hilfsmittel als das benutzen, was sie sein sollen, Hilfsmittel, aber den Kopf ausschalten und so, weiß ich jetzt nicht.
Also ich kenne natürlich nicht die genauen Umstände.
Also war das in irgendeiner Art ersichtlich für den Mann, dass es da keine Brücke mehr gab?
Genau die Gedanken habe ich mir halt auch gemacht.
Also man guckt ja trotzdem noch vorne durch die Fensterscheibe, aber in dem Fall hätte ihnen das auch nichts gebracht.
Es war ja schon sehr dunkel, es war nicht beleuchtet und es hat richtig doll geregnet und gestürmt.
Und ich habe mir die Bilder angeguckt und ich sage mal so, ich glaube, mir hätte das auch passieren können.
Vor allen Dingen, weil ich nachts auch das Gefühl habe, ich kann gar nicht richtig gucken.
Ja, und dann kannst du auch bei klarer Sicht nicht richtig fahren.
Das kommt ja auch noch dazu.
Also für mich sind ganz klar diese Grundstückbesitzer daran schuld.
Wenn offenbar ein öffentlicher Weg über deren Grundstück führt, dann sind die doch dafür verantwortlich.
Woher soll Google Maps wissen, dass da jetzt gerade was kaputt ist, wenn niemand Google Maps es sagt?
Genau, und da ist dieser große Punkt, warum die Erfolgsaussichten für die Ehefrau vielleicht nicht so schlecht sind, weil nämlich laut Klage mehrere Dokumente vorliegen, die beweisen sollen, dass Google von der Gefahr wusste, weil eben mehrere AnwohnerInnen in den letzten Jahren, weil das ja schon seit neun Jahren so ist, Google darauf hingewiesen haben, dass da eben keine Brücke mehr ist und es halt gefährlich wird.
Interessant.
Jetzt ändert sich das alles natürlich ein bisschen.
Genau.
Ja, weil eigentlich ist es so, wie du es auch am Anfang gesagt hast, dass man ja auch irgendwie selber noch verantwortlich ist, wo man hinfährt und so weiter.
Und Google ist natürlich auch schlau und hat sich in seinen AGBs juristisch absichern wollen, indem die da reingeschrieben haben, dass der Dienst eben, Zitat, nur Orientierungshilfe ist und dass es eben keine Garantie für Richtigkeit gibt.
Aber durch diese Dokumente jetzt kann es eben dazu kommen, dass Google eine grobe Fahrlässigkeit vor Gericht nachgewiesen werden kann.
Und dann müssen die richtig tief in die Tasche greifen.
Ja, das wünsche ich der Frau auch.
In Deutschland wären die Erfolgsaussichten bei so einem CV-Prozess nicht so hoch.
Also voraussichtlich würde man sogar eher leer ausgehen, hat uns Rechtsanwalt Benedikt Müller erklärt.
Es ist nämlich so, dass die Gerichte hier in Deutschland die Messlatte für eine Pflicht zur regelmäßigen Aktualisierung von solchen kostenlosen Diensten super hoch ansetzen.
Und die Gerichte neigen auch eher dazu, die Eigenverantwortung der NutzerInnen zu betonen.
Also das, was du eben auch gesagt hast.
Also, hier in Deutschland vor allem, bitte nicht blind dem lieben Fräulein TomTom oder Google Maps vertrauen und immer einen Abgrund vermuten.
Ja, vor allem, wenn ihr euch gerade auf unsere Fälle konzentriert, die ihr vielleicht gerade hört, während ihr Auto fahrt.
Ja, und jetzt geht's aber los mit einem Fall, in dem es um eine Person geht, die viel zu schnell erwachsen werden muss und um einen damit zusammenhängenden Rollentausch, der tödliche Folgen hat.
Paulina, wir fliegen ja schon ganz bald mit unserer Redaktion nach Mallorca für ein Arbeitsbootcamp, aber ja auch für ein bisschen Spaß.
Poolmeisterschaft, sag ich da.
Ja, unter anderem. Und ich hab mir gedacht, es wäre ja cool, eine Drohne mitzunehmen.
Ich hab immer so ein bisschen Angst. Also, ich würde die auf jeden Fall im Pool versenken. Hast du schon mal mit einer Drohne gedreht?
Naja, nee, das waren ja immer nur die Kameramänner oder die Kamerafrauen, die das bedient haben. Aber ich fand's immer so cool und ich fand auch, es sah nicht so schwer aus.
Ich hab früher auf jeden Fall gerne diese Elektroautos gehabt mit der Fernbedienung, weißt du?
Ja.
Aber das Ding ist bei Drohnen natürlich, anders als bei den Autos, die man fernsteuern kann, dass die schon eher teuer sind.
Also, zu teuer dafür, dass ich da auf Mallorca jetzt einmal zum Spaß ein Drohnenvideo von der Natur oder von uns machen will.
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Ich hätte noch einen Wunsch. Wenn du eh eine Drohne ausleihst, kannst du dann einen Beamer ausleihen, weil ich hab so ein paar Filme auf meiner Liste, die wir ja abends zusammen gucken können.
Das finde ich gut. Bei Grover kann man ja ganz viele verschiedene technische Geräte ausleihen.
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Und alle Infos findet ihr auch nochmal, wie immer, in unserer Folgenbeschreibung.
Alle Namen haben wir geändert.
Der 28. Dezember 2020.
Es ist einer dieser merkwürdigen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, an denen sich das Leben irgendwie anders anfühlt.
Während viele Menschen das Jahr Revue passieren lassen und sich noch immer an der Weihnachtsbeleuchtung vieler Häuser erfreuen,
liegen auf den Gehwegen die ersten Tannen abgeschmückt und nackt zur Abholung bereit.
Inmitten dieses Schwebezustands aus Nostalgie und Neubeginn müssen sich einige PolizistInnen an diesem Morgen
an einer vielbefahrenen Straßenecke am Ortseingang von Königswinter versammeln.
Im Gegensatz zu vielen anderen sind sie heute beruflich unterwegs.
Gemeinsam richten sie ihren Blick auf das Fahrzeug vor ihnen.
Es ist ein grauer Renault Captur, der einsam und verlassen schräg am Straßenrand geparkt wurde.
Mit der linken Seite steht er auf dem grauen Asphalt, mit der rechten auf dem schmalen Rasenstück, das parallel zur Straße verläuft.
Ein Verkehrsteilnehmer hatte das schludrig abgestellte Auto ohne Kennzeichen telefonisch gemeldet
und so die Aufmerksamkeit der Polizei darauf gelenkt, die den Wagen nun genauer betrachtet.
Zwar verhindern die verschlossenen Türen einen genaueren Blick ins Fahrzeuginnere,
doch das Äußere ist für die BeamtInnen ohnehin erstmal interessanter.
Der Wagen ist beschädigt.
Neben einigen Schrammen, die die graue Lackierung ziehen, ist der rechte Außenspiegel kaputt,
außerdem gibt es Schäden am rechten hinteren Radlauf.
War der Renault womöglich in einen Verkehrsunfall verwickelt und deswegen zurückgelassen worden?
Hat hier vielleicht jemand Fahrerflucht begangen?
Um dieser Theorie nachzugehen, gilt es zunächst herauszufinden, wem das Fahrzeug gehört.
Ein Kinderspiel für die BeamtInnen und das trotz fehlender Kennzeichen.
Anhand der Umweltplakette und der Fahrzeugidentifikationsnummer, die an mehreren Stellen des Autos eingraviert ist,
ist die Halterin schnell ermittelt.
Der verlassene Renault gehört Kerstin Schulz, einer 48-jährigen Frau, die zwar im Besitz eines Führerscheins ist,
den Wagen aber eigentlich keinen Meter mehr bewegen dürfte, da er seit über zwei Jahren abgemeldet ist.
Für die PolizistInnen steht fest, sie haben einige Fragen an Kerstin Schulz und es wird Zeit, ihr einen Besuch abzustatten.
Es ist etwa 10 Uhr morgens, knapp eine Stunde nach Auffinden des verlassenen Autos,
als die BeamtInnen die Anschrift von Kerstin Schulz erreichen und ihren Streifenwagen inmitten einer ruhigen Wohnsiedlung
vor einem Mehrfamilienhaus zum Stehen bringen.
Gemeinsam gehen sie auf das Gebäude mit der hellgrünen Fassade zu und entdecken dabei etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregt.
Die Hauswand ist beschädigt. Es sieht so aus, als hätte sie etwas touchiert.
Möglicherweise ein Auto?
Für die PolizistInnen passen die Schäden an der Fassade auf den ersten Blick auf jeden Fall zu denen,
die sie am Renault vorgefunden haben.
Nach Betätigung der Klingel dauert es nicht lange, bis ein so runder Ton den BeamtInnen den Eintritt ins Haus gestattet.
Wenige Sekunden später stehen sie vor der Wohnungstür der 48-Jährigen, wo sich ihnen ein regelrechtes Empfangskomitee bietet.
Im Türrahmen steht eine junge Frau, Anfang 20, mit dunkelblonden langen Haaren,
die sich als Kerstin Schulz' Tochter Anna vorstellt.
Im Hintergrund erkennen die PolizistInnen außerdem ein deutlich jüngeres Mädchen im Teenager-Alter sowie einen etwa gleichaltrigen Jungen,
die ebenfalls interessiert zur Tür blicken.
Die BeamtInnen berichten Anna daraufhin von dem gefundenen Fahrzeug und bitten sie, mit ihrer Mutter sprechen zu können.
Das gehe leider nicht. Ihre Mutter sei verreist, sagt Anna.
Vor zwei Tagen, am zweiten Weihnachtstag, sei sie ins Auto gestiegen und zu einer Freundin gefahren, die sie besuchen wollte.
Eine Aussage, die das jüngere Mädchen bestätigt, das nun neben Anna im Türrahmen steht.
Seitdem, führt Anna fort, habe sie nichts mehr von ihrer Mutter gehört und keine Ahnung, wann sie wiederkomme.
Die Polizei ist irritiert.
Eine Mutter, die offensichtlich mit ihrer Tochter unter einem Dach lebt, verreist, ohne ihr zu sagen, wann sie zurückkehrt?
Eine Vorstellung, die für die BeamtInnen eher unwahrscheinlich klingt.
Doch für heute lassen sie es gut sein und beschränken sich auf eine Bitte.
Wenn Kerstin Schulz zurückkehrt, möge Anna ihr ausrichten, dass sie sich bei ihnen melden soll.
Das genügt fürs Erste.
Schließlich geht es bei dieser Sache nur um einen möglichen Verkehrsunfall.
Das ist zumindest ihre Annahme.
Eine Woche später, selbe Straße, selbes Haus, selbes Klingelschild.
Nachdem sich Kerstin Schulz auch sieben Tage nach dem Fund ihres Wagens nicht bei der Polizei gemeldet hat,
haben die BeamtInnen entschieden, erneut zu ihr nach Hause zu fahren.
Doch als sie schließlich vor ihrer Wohnung stehen, ergibt sich ein vertrautes Bild.
Schon wieder ist es Tochter Anna, die ihnen die Tür öffnet.
Schon wieder sagt sie, ihre Mutter sei verreist.
Schon wieder halten sich die zwei Teenager mit Anna in der Wohnung auf.
Die BeamtInnen fragen sie erneut, wann sie mit einer Rückkehr ihrer Mutter rechnen können.
So langsam müsste sie doch auch mal was von ihr gehört haben, mit ihr telefoniert oder zumindest eine Textnachricht ausgetauscht haben.
Doch Anna verneint. Sie habe nach wie vor keine Ahnung, wann die 48-Jährige zurückkomme.
Ob sie sich denn gar keine Sorgen mache, möchte einer der PolizistInnen von Anna wissen.
Ihre Mutter sei, Zitat, dreimal sieben Jahre alt, antwortet sie trotzig.
Was ja gar nicht stimmt.
Nee.
Also ja, doch, aber halt noch älter.
Aber es ist wohl eine Aussage, mit der sie klar machen will, dass ihre Mutter als erwachsene Frau tun und lassen kann, was sie will und ihr keinerlei Rechenschaft schuldig ist.
Womit sie recht hat.
Dennoch interessieren sich die BeamtInnen für den Aufenthaltsort von Kerstin Schulz wegen des abgestellten, teils kaputten Autos.
Doch auf die Fragen, was es mit dem Wagen auf sich hat und wo Kerstin Schulz ist, haben die PolizistInnen auch nach dem zweiten Besuch bei ihr Zuhause keine Antwort.
Und da ihnen die Tochter keine große Hilfe ist, werden sie nun einen anderen Zeugen zu Rate ziehen müssen.
Und zwar einen mit vier Rädern.
Es ist etwa 8.30 Uhr, als sich mehrere BeamtInnen am nächsten Tag auf dem Gelände einer Abschleppfirma vor Kerstin Schulz Pkw versammeln, wo der Wagen in der Zwischenzeit hingebracht wurde.
Und da von der 48-jährigen Halterin noch immer jede Spur fehlt, hält es die Polizei nun für an der Zeit, einmal einen Blick hineinzuwerfen.
Nur ein paar geschickte und kräftige Handgriffe sind nötig, um den verschlossenen Wagen aufzubrechen.
Als sich dann eine der Türen öffnet, strömt den BeamtInnen sofort ein beißender, süßlicher Gestank entgegen.
Dessen Ursprung klar wird, als sie die Heckklappe öffnen.
Im Kofferraum des Wagens liegt eine in mehrere Bettlaken eingewickelte Leiche.
Die Fäulnis ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass selbst die vielen Schichten Textil keine Chance hatten, den Geruch des Todes einzudämmen.
Ein Schock für die BeamtInnen, deren Vermutung sich bestätigt, als sie der Leiche ins Gesicht blicken.
Es ist Kerstin Schulz, deren Aussehen sie von ihrem Führerschein her kennen.
Die Fahrzeughalterin ist tot und kann sich deshalb nicht bei ihnen melden.
Und der Verwesungszustand ihres Körpers lässt keinen Zweifel daran, dass sie bereits liblos im Kofferraum lag, als ihr Auto vor einer Woche gefunden wurde.
Diese neue Entwicklung führt dazu, dass von nun an die Kriminalpolizei zuständig ist.
Denn das, womit die BeamtInnen zu tun haben, ist kein vermeintlicher Verkehrsunfall, sondern ein Tötungsdelikt.
Wenige Stunden später, in einem kleinen Vernehmungsraum des Polizeipräsidiums, ist es nun erneut Anna Schulz, die den Ermittlenden gegenübersteht.
Nachdem PolizeikollegInnen am Morgen die Leiche ihrer Mutter im Kofferraum des Wagens gefunden hatten, waren sie wieder zu der gemeinsamen Adresse von Mutter und Tochter gefahren,
um die 21-Jährige über den grausamen Fund zu informieren und sie zur Befragung mit auf die Wache zu nehmen.
Und das nicht als Zeugin.
Die Ermittlenden vernehmen Anna als Beschuldigte.
Denn sie halten es für sehr wahrscheinlich, dass Anna mehr weiß, als sie sagt.
Dafür spricht unter anderem ein Detail, das ihnen bereits aufgefallen war, als sie zum ersten Mal zur Wohnung von Kerstin Schulz gefahren waren.
Obwohl die 21-Jährige ihnen gesagt hatte, dass ihre Mutter vor zwei Tagen, also am 26. Dezember, mit dem Auto weggefahren sei,
war der Parkplatz vor der Haustür, wo der Wagen laut Anna sonst immer stehe, am 28. Dezember, als die BeamtInnen dort waren,
trotz eines starken Regens in der Nacht zuvor trocken gewesen.
Der Wagen muss also noch bis zum 28. Dezember in der Einfahrt gestanden haben.
Was bedeutet, Annas Geschichte kann so nicht stimmen.
Und dann wäre da auch noch die angeblich tagelange Funkstille zwischen Mutter und Tochter,
bezüglich der Anna im Gespräch mit den PolizistInnen keinerlei Sorgen oder Bedenken gezeigt hatte.
Verhält sich so eine junge Frau, deren Elternteil seit über einer Woche verschwunden ist?
Nein, die Ermittlungen sind überzeugt, Anna verschweigt ihnen etwas.
Womöglich ist sie sogar dafür verantwortlich, dass ihre Mutter sich nie bei der Polizei gemeldet hat.
Es ist ein Vorwurf, den die 21-Jährige vehement abstreitet.
Zumindest am Anfang.
Denn bereits nach wenigen Minuten beginnt Annas taffe Fassade zu bröckeln.
Und als sie dem Druck der Vernehmungssituation gar nicht mehr standhalten kann,
legt sie tatsächlich ein Ständnis ab.
Ja, sie hat ihre Mutter getötet.
Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Betty.
Die Ermittlungen lauschen gebannt, als Anna anfängt, von dem verhängnisvollen 26. Dezember zu erzählen.
Anna habe gewollt, dass Betty an dem Abend bei ihr übernachtet, doch ihre Mutter habe das nicht erlaubt.
Daraufhin sei es zum Streit gekommen, woraufhin sie und Betty ihre Mutter, die schwer krank gewesen sei und deshalb stets im Bett gelegen habe, getötet hätten.
Nach der Tat hätten die beiden zunächst nicht gewusst, was sie machen sollen.
Zwei Tage später hätten sie dann schließlich Bettys Freund Nils dazu gerufen, um ihnen beim Verschwindenlassen der Leiche zu helfen.
Dazu hätten sie den toten Körper in mehrere Bettlaken gewickelt und mitten in der Nacht in den Kofferraum des Renault gelegt.
Anschließend hätten sich Nils und Betty ohne Anna auf den Weg Richtung Rhein gemacht, um den Leichnam dort zu versenken.
Weit gekommen seien sie jedoch nicht.
Bereits beim Losfahren habe Nils mit dem Auto die Hauswand touchiert.
Nach wenigen hundert Metern sei die Fahrt dann endgültig zu Ende gewesen, da der Wagen aus unerklärlichen Gründen nicht mehr funktioniert habe.
Nils und Betty seien daraufhin zurück zur Wohnung gelaufen, um Anna darüber zu informieren.
Anschließend, so Anna weiter, sei sie mit Nils dann noch einmal zum Auto gegangen, um die Kennzeichen abzumontieren und das Fahrzeug zu verschließen.
So, wie die Polizei es vor acht Tagen vorgefunden hatte.
Die Vernehmungsbeamtinnen sind schockiert.
Zwei Freundinnen, die eine kranke Frau wegen eines geplatzten Übernachtungsbesuch in ihrem Bett töten.
Das zeugt von besonderer Kaltblütigkeit.
Doch so simpel und zugleich grausam dieses Verbrechen auf den ersten Blick erscheint,
Im Verlauf der weiteren Ermittlungen wird klar, dass die Realität deutlich komplexer ist
und hinter dem Tod von Kerstin Schulz eine langjährige Leidensgeschichte steckt.
Und zwar nicht nur ihre eigene.
Um diese Geschichte wird es nun in den Prozess gehen, der sieben Monate nach dem Tod von Kerstin Schulz am Bonner Landgericht seinen Anfang nimmt.
Es ist der 3. August 2021, als sich in den Fluren des Gerichtsgebäudes zahlreiche JournalistInnen tummeln.
Sie alle wollen den Prozessauftakt jenes Falls begleiten, in dem eine junge Frau beschuldigt wird,
gemeinsam mit ihrer Freundin ihre schwerkranke Mutter getötet zu haben und der in den vergangenen Monaten deutschlandweit für Entsetzung gesorgt hat.
Doch als sich schließlich die Türen zum Schwurgerichtssaal öffnen, wird schnell klar,
eigentlich hätten sich die ReporterInnen den Weg sparen können.
Die Verhandlung wird nämlich nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
So hat es die Kammer entschieden.
Grund dafür ist das Alter der 16-jährigen Betty, der neben Anna und Freund Nils ab heute der Prozess gemacht wird.
Eine bittere Pille für die JournalistInnen, die nun lediglich fotografisch festhalten dürfen,
wie zwei der drei Angeklagten an diesem Morgen in Handschellen in den Raum geführt werden.
Nils, dem, anders als Anna und Betty, kein Tötungsdelikt, sondern nur die versuchte Leichenbeseitigung vorgeworfen wird,
war nicht wie seine Freundinnen in U-Haft.
Er wirkt daher viel mehr wie ein Besucher, als er an diesem Dienstag als Erster im Alleingang und ohne Fesseln den Raum betritt.
Nach ihm folgt die Person, für die sich die Presse am meisten interessiert.
Anna.
Die mittlerweile 22-Jährige trägt eine graue Sweatshirtjacke, deren Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hat.
Vermutlich, um sich zumindest ein wenig von dem Blitzlichtgewitter abzuschirmen, das nun auf sie einprasselt.
Ihre Anwältin empfängt Anna bereits im Türrahmen, wo sie ihr schützend, beinahe mütterlich, die Hand auf die Schulter legt
und sie zu ihrem Platz auf der Anklagebank begleitet.
Keine fünf Minuten später wird auch Betty von BeamtInnen in den Raum eskortiert.
Sie lässt das Klicken der Kameras nahezu unbeeindruckt über sich ergehen und schaut hier und da sogar direkt in die Linse.
Ganz so, als wolle sie beweisen, dass ihr all das hier nichts ausmacht.
Während Betty auch nach dem Verschwinden der JournalistInnen um ein selbstbewusstes Auftreten bemüht ist, gleicht Anna einem Häufchen Elend.
Mit ihren hängenden Schultern, dem ängstlichen Blick und den verweinten Augen verkörpert sie optisch keinesfalls das,
was die Presse sich unter einer Frau vorstellen würde, die ihre Mutter wegen eines banalen Streits tötet.
Die 22-Jährige wirkt vielmehr erschöpft und nahezu gebrochen.
Der Grund dafür, Anna soll nicht nur Täterin, sondern auch Opfer sein.
Und den Beweis dafür soll das Vernehmungsvideo liefern, das gleich am ersten Prozesstag abgespielt wird und den Blick auf die Anklage mehr und mehr verstellt.
In dem Vernehmungsvideo, das jetzt vor Gericht abgespielt wird, blickt Anna auf ihre Kindheit und Jugend zurück, in der ab 2012 ein neues, trauriges Kapitel beginnt.
Ein Jahr, in dem es die 13-Jährige sowieso schon nicht leicht hat.
Die Teenagerin leidet an einer angeborenen Hörstörung, die auch durch mehrere Operationen nicht behoben werden konnte.
Zwar kann sie sich im Alltag verständigen, wenn ihr gegenüber laut und deutlich mit ihr spricht,
doch aufgrund ihres Defizits ist Anna schüchtern und zutiefst verunsichert.
Eine Kombi, die sie in der Schule zur Zielscheibe macht.
Seit Jahren wird Anna von den anderen in der Schule gemobbt.
An guten Tagen sind es nur beleidigende Worte, die auf sie einprasseln.
An schlechten münden die verbalen Attacken in Schläge.
Einmal muss Anna sogar wegen einer Rippenfraktur ins Krankenhaus.
Ihrer Mutter erzählt sie nichts davon.
Mama Kerstin weiß auch nichts von den anderen Mobbing-Attacken, die dazu führen,
dass Anna regelmäßig nach Schulschluss entkräftet und unter Tränen nach Hause trottet.
Wirklich Gelegenheit, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, hatte Anna bisher aber auch nicht,
da Kerstin in der Vergangenheit aufgrund ihrer Vollzeitanstellung als Krankenschwester
mehr mit Abwesenheit als durch häusliche Präsenz glänzte.
Zu ihrem leiblichen Vater hat Anna keinen Kontakt.
Er und Kerstin waren nur kurz zusammen und haben sich bereits vor Annas Geburt wieder getrennt.
Und Thomas, der aktuelle Freund ihrer Mutter, ist erst seit wenigen Monaten Teil ihres Lebens,
sodass Anna sich ihm nicht verbunden genug fühlt, um sich ihm gegenüber verletzlich zu zeigen.
Der einzigen Person, der sie sich anvertrauen würde, ist ihre Mama.
Liebend gern würde Anna ihr von den tagtäglichen Hänseleien und Schikanen erzählen,
sich an ihrer Schulter ausweinen und sich von ihr, begleitet vom Klang aufmunternder Worte,
tröstend übers Haar streicheln lassen.
Doch selbst wenn Kerstin mal frei hat und zu Hause ist,
gibt sie Anna nicht das Gefühl, sich sonderlich für ihren Tag und ihre Themen zu interessieren.
Es ist ein Verhalten, das Anna zwar verletzt,
ihrer Zuneigung gegenüber ihrer Mutter jedoch keinen Abbruch tut.
Die 13-Jährige liebt ihre Mama, sehr sogar.
Sie ist der Mittelpunkt ihres Lebens, ihre Konstante.
Und im Moment, das weiß Anna, muss sie ihr gegenüber besonders verständnisvoll sein.
Denn ihre Mutter ist erkrankt. Und zwar schwer.
Bereits in den vergangenen Jahren hatte die 40-Jährige immer wieder gesundheitliche Schwierigkeiten,
unter anderem aufgrund einer Endometriose.
Das kennen wir beide ja auch gut, ne?
Ja.
Naja, aber seit einigen Wochen ist es bei Annas Mutter anders, schlimmer.
Kerstin geht so schlecht wie nie zuvor.
Immer wieder steckt Anna besorgt den Kopf durch die Schlafzimmertür und muss mit ansehen,
wie sich ihre Mutter im Bett vor Schmerzen krümmt und das Gesicht verzieht.
Der 13-Jährige macht das große Angst.
Denn gesundheitliche Schwierigkeiten hin oder her, so kennt sie ihre Mutter einfach nicht.
Aus Kerstin, einer taffen Frau, ist ein Schatten ihrer selbst geworden.
Seit ein paar Wochen ist sie so schwach, dass sie ihrer Arbeit als Krankenschwester nicht mehr nachgehen kann.
Zu schwach, um den Haushalt zu schmeißen, zu schwach, um ihren Alltag zu meistern.
Anna empfindet großes Mitleid für Kerstin.
Außerdem fühlt sie sich macht- und hilflos.
Und das nicht nur, weil sie die Schmerzen ihrer Mutter nicht lindern kann,
sondern auch, weil sie keine Ahnung hat, was eigentlich los ist.
So gerne würde sie wissen, was ihrer Mutter fehlt.
Ist ihre Endometriose schlimmer geworden?
Oder leidet sie noch an einer ganz anderen Krankheit?
Obwohl sich Anna vor den Antworten auf diese Fragen fürchtet, sehnt sie sich nach Klarheit.
Die zwar nicht ihrer Sorge, aber zumindest ihrem kindlichen Gedankenkarussell aus Spekulationen und Horrordiagnosen ein Ende setzen würde.
Immer wieder sucht die Teenagerin deswegen das Gespräch mit ihrer Mutter.
setzt sich an die Kante ihres Bettes und versucht, ihr eine Antwort zu entlocken.
Doch Kerstin rückt einfach nicht mit der Sprache raus und blockt jede besorgte Nachfrage ab.
Anna versetzt diese Ablehnung jedes Mal einen Stich.
Macht ihre Mutter das, um sie zu schützen?
Oder schließt sie sie aus?
Anna weiß es nicht.
Doch je mehr sie darüber grübelt, desto sicherer ist sie sich, dass ihre Mutter irgendetwas Schlimmes hat.
Vermutlich Krebs, denkt sie.
Eine nachvollziehbare Schlussfolgerung für ein Kind, das seine Mutter so leiden sieht.
Doch was die 13-Jährige zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, sie liegt falsch.
Der Gesundheitszustand lässt sich nicht mit einem einzelnen Schlagwort wie Krebs beschreiben.
Es ist ein Mix verschiedener Diagnosen, der ihr körperlich so zusetzt.
So wird Kerstins Uterus neben der Endometriose etwa durch mehrere gutartige Tumore strapaziert.
Außerdem leidet sie an einer chronischen Pankreatitis, also einer Bauchspeicheldrüsenentzündung,
die im Zusammenhang mit der entzündlichen Erkrankung Sargoidose steht,
die sich wiederum durch Symptome wie Fieber, Müdigkeit, Gewichtsverlust und Atemnot äußert.
Und einmal der Transparenz wegen.
Wir wissen nicht genau, wann und ob Anna erfahren hat, dass ihre Mutter an all diesen Krankheiten litt
oder ob sie womöglich bis zu Kerstins Tod davon ausging, dass es Krebs war.
Fakt ist aber, sie merkt jetzt hier im Jahr 2012 als 13-jähriges Mädchen ganz klar,
dass es ihrer Mutter richtig, richtig schlecht geht.
Für sie ist daher klar, alles, was sie jetzt tun kann, ist für ihre Mutter da zu sein.
Und deshalb versucht sie mit Thomas und ihrer Oma, also der Mutter ihrer Mutter,
die nun täglich zu ihnen kommt, Kerstin so gut es geht, den Rücken freizuhalten.
Sobald die Klingel das Ende des Schultages symbolisiert, läuft Anna so schnell sie kann nach Hause.
Engagiert hilft sie dann in der Küche mit, kümmert sich um die zwei Hunde
oder stopft schmutzige Wäsche in die Waschmaschine.
Während ihre KlassenkameradInnen ihre Nachmittage mit Hobbys, Verabredungen und Spaß füllen,
zählt für Anna nach Schulschluss nur eins, sich nützlich zu machen
und ihrer Mutter beweisen, dass sie sich auf sie verlassen kann.
Für Anna ist diese Unterstützung eine Selbstverständlichkeit.
So machen es Kinder für ihre kranken Eltern. Davon ist sie überzeugt.
Und außerdem muss sie all das ja nicht alleine stemmen, sondern gemeinsam mit Thomas und Oma.
Zu dritt werden sie die Zeit schon meistern. Solange, bis es ihrer Mutter wieder gut geht.
Doch Annas Mutter geht es nicht wieder gut. Im Gegenteil.
Ihr körperlicher Verfall schreitet immer weiter voran.
Im Jahr 2015, Anna entlastet ihre Mutter da schon seit mittlerweile drei Jahren im Haushalt,
ist Kerstin in so schlechter Verfassung, dass sie es fast gar nicht mehr aus dem Bett schafft,
immer mehr Schmerztabletten schlucken muss
und selbst bei den kleinsten Aufgaben im Alltag Unterstützung braucht.
Dazu kommt, dass aus dem aufopferungsvollen Dreiergespann aus Anna, Oma und Thomas mittlerweile ein Duo geworden ist.
Thomas und Kerstin haben sich nach vier Jahren Beziehung getrennt.
Damit hat ihre Mutter nach ihrer Gesundheit nicht nur ihre Liebe verloren,
sondern auch eine große Hilfe im Alltag.
Und für die mittlerweile 16-jährige Anna bedeutet das, noch mehr mit anpacken.
Während andere Mädchen in ihrem Alter abends mit Jungs im Kino Hähnchen halten
oder ihr erstes Smirn auf Eis in der Dorfdisco trinken,
muss Anna den Haushalt nun alleine schmeißen,
während sich ihre Oma um die Pflege ihrer Mutter kümmert, der es immer schlechter geht.
Anna bereitet dieser Entwicklung große Sorge.
Anstatt wie andere Mädchen zu büffeln, ihre Freizeit mit Hobbys zu füllen
oder an Max aus der CMB zu denken, hat Anna nur noch ihre Mutter im Kopf.
Zur Schule geht sie nach der 9. gar nicht mehr.
Sie hat dafür keinen Nerv, keine Zeit.
Wie soll das alles weitergehen?
Was, wenn es ihrer Mutter bald noch schlechter geht?
Und was, wenn ihre Oma sie auch noch verlässt?
Das Worst-Case-Szenario tritt knapp zwei Jahre später ein.
Im Jahr 2017 ereilt Anna ein weiterer Schicksalsschlag,
der ihre Belastung auf ein neues Level hebt.
Ihre Großmutter stirbt.
Ein Verlust, der Anna nicht nur eine wichtige Bezugsperson nimmt,
sondern zur Konsequenz hat, dass die 18-Jährige nun ganz alleine dasteht.
Alleine mit der Verantwortung für ihre Mutter.
Alleine mit einem Zwei-Personen-Haushalt, zu dem außerdem zwei Hunde gehören.
Alleine mit ihren Sorgen und Ängsten.
Anna kümmert sich fortan um alles.
Wenn sie nicht gerade in einem Restaurant kellnert,
um Kerstins Frührentenbezüge aufzustocken
und so etwas Geld mit nach Hause zu bringen,
geht sie einkaufen, kocht, wäscht die Wäsche
und führt die gemeinsamen Hunde aus.
Annas Leben folgt dem Abarbeiten einer nie endenden To-Do-Liste.
Doch das, was sie am meisten anstrengt und einnimmt,
ist das, worum sich zuvor vor allem ihre Oma gekümmert hat.
Die Pflege ihrer Mutter.
Mit dem Tod ihrer Großmutter ist Anna zu Kerstins Pflegerin geworden
und ihre Rollen wurden endgültig getauscht.
Die Mutter kümmert sich nicht ums Kind,
sondern das Kind kümmert sich um die Mutter.
Dadurch ist nun wirklich gar kein Platz mehr für Annas Bedürfnisse,
ihre Träume und Wünsche.
Nicht nur, weil dafür keine Zeit ist,
sondern weil sie jetzt die Rolle der Mutter inne hat,
die das Kind an erster Stelle stellt und sein Überleben sichert.
So soll es doch sein, oder?
Und da Anna weder einen festen Freund noch gute Freundinnen hat,
gibt es in ihrem Leben niemanden, der sich für sie interessiert.
Und dass ihre Mutter mal fragt, wie es ihr geht oder nachhakt,
was ihre Tochter so beschäftigt, kommt nicht vor.
Nie würde Anna den Gedanken laut aussprechen,
doch manchmal wünscht sie sich, sie wäre nicht die mit der kranken Mutter.
Und es würde zur Abwechslung mal um sie und nicht immer um Kerstin gehen.
Doch das tut es.
Die 45-Jährige ist der kräftezehrende Mittelpunkt ihres Alltags.
Denn auch wenn Kerstin Anna nicht nach ihrem Wohlbefinden befragt,
nach Hilfe fragt sie 24-7.
Egal, was Kerstin möchte, ihre Tochter steht parat.
Kerstin hat Durst, Anna bringt ihr etwas zu trinken.
Kerstin muss auf die Toilette, Anna hilft ihr auf.
Kerstins Schmerzmittel gehen zu Ende, Anna kümmert sich um Nachschub.
Aus Anna, der fürsorglichen Tochter, ist so etwas wie eine Vollzeitpflegekraft geworden,
die rund um die Uhr abrufbar für ihre Mutter ist und dabei keinerlei Unterstützung bekommt.
Nicht einmal von offizieller Seite.
Um einen Pflegedienst hat Anna sich bisher nicht gekümmert.
Der Hausarzt ihrer Mutter hat ihr gesagt, dass daraus wahrscheinlich ohnehin nichts werden würde,
da Kerstin zwar körperlich krank ist und Schmerzen hat,
ihr siechender Zustand im Bett jedoch einen anderen Hintergrund habe.
Einen, den Kerstin gewissermaßen selbst verursache.
Und zwar mit der Einnahme von Schmerzmitteln.
Opioiden in dem Ausmaß, dass ihre Wirkung dafür sorgt,
dass Kerstin nicht mehr aus dem Bett rausstehen kann.
So, und das ist uns irgendwie komisch aufgestoßen, dieser Fakt,
weil das klingt ja so, als würde die Schmerzmittelabhängigkeit eine Pflegeunterstützung ausschließen,
weil man selber daran schuld ist.
Also so soll es ja dieser Arzt gesagt haben.
Aber diese Abhängigkeit ist ja ausgelöst durch die Schmerzen, die sie hat.
Und sie versucht ja nur mit denen klarzukommen.
Ja, und deswegen haben wir mal beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen nachgefragt.
Und da wurde uns gesagt, dass eine Suchterkrankung definitiv kein Ausschlusskriterium ist,
um grünes Licht von einem Pflegedienst zu bekommen.
In der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung gibt es nämlich kein Schuldprinzip.
Das bedeutet, welche Erkrankung einer Pflegebedürftigkeit zugrunde liegt,
woher die kommt und ob die vielleicht selbst verschuldet ist, ist total egal.
Das einzig Wichtige ist der Grad der Selbstständigkeit
und auf wie viel Unterstützung man deshalb angewiesen ist.
Das heißt, eigentlich wäre es gut möglich, dass Anna Unterstützung vom Staat bekommen würde.
Aber einen Termin beim Medizinischen Dienst für so eine Begutachtung ihrer Mama
macht sie eben nicht aus, weil sie auf die Einschätzung des Hausarztes vertraut.
Und dabei werden die Schmerzen ihrer Mutter immer schlimmer.
Da Kerstin mittlerweile ein chronisches Schmerzsyndrom entwickelt hat
und ihr die verschriebenen Medikamente nicht genügen,
schickt sie Anna regelmäßig mit ausgedachten Geschichten in verschiedene Praxen,
wo die 18-Jährige beispielsweise erzählen soll, ihre Mutter seien die Medikamente geklaut worden.
Es sind Märchen, die selten zum Erfolg führen
und bei ihrem Gegenüber für hochgezogene Augenbrauen sorgen.
Anna sind diese Beschaffungsversuche jedes Mal peinlich.
Doch sie hat keine Kraft, sich den Anweisungen ihrer Mutter zu widersetzen.
Denn obwohl Kerstin körperlich schwach und komplett auf Anna angewiesen ist,
hat sie in der Mutter-Tochter-Beziehung die Oberhand.
Selbst dann, wenn sie nicht zusammen sind.
Wenn Anna ausnahmsweise mal nicht zu Hause ist
und sich mit den wenigen Freundinnen, die sie hat, trifft,
ruft Kerstin sie an und fordert ihre Tochter auf, nach Hause zu kommen,
um sich um sie zu kümmern.
Anna gehorcht. Jedes Mal.
Die 18-Jährige hat ihr gesamtes Leben auf ihre Mutter ausgerichtet.
Und das, obwohl die unterdessen keinerlei Dankbarkeit
für ihr aufopferndes Verhalten zeigt.
Im Gegenteil.
Regelmäßig ist sie richtig unfair und gemein zu Anna,
schreit sie an und kritisiert sie bei allen Dingen,
die Anna für sie tut und leistet.
Theoretisch könnte Anna die Reißleine ziehen, ihre Sachen packen
und aus der Wohnung verschwinden, um Kerstin aufzuzeigen,
dass sie all das nicht mit sich machen lässt.
Schließlich wäre sie körperlich nicht in der Lage, sich ihr in den Weg zu stellen.
Doch in der Praxis würde Anna das nie machen.
Denn die Beziehung zwischen ihr und Kerstin basiert auf Abhängigkeiten.
Nicht nur Kerstin ist auf Anna angewiesen, sondern auch andersrum.
Das Gefühl, sich um ihre Mutter sorgen und kümmern zu müssen, dem kann sie sich nicht entziehen.
Egal wie unfair Kerstin zu ihr ist, egal wie fordernd sie ist, Anna bleibt.
Denn genauso süchtig wie Kerstin nach dem Schmerzmitteln ist, die sie täglich nimmt,
ist die 18-Jährige abhängig von dem Gefühl und der Gewissheit, eine gute Tochter zu sein
und alles in ihrer Macht stehende für ihre Mutter zu tun.
Wenngleich sie das nicht in einen wohltuenden Rausch versetzt, sondern ihr Tag für Tag mehr Kraft raubt.
Nach mehr als zwei Jahren alleiniger Pflege ist Anna an ihrer Belastungsgrenze angelangt.
Die Mutter, die sich um ihr Kind kümmert, kann nicht mehr.
Körperlich wie auch mental.
Denn Fakt ist, Kerstin ist kein Kind.
Sie ist eine kranke, aber dennoch erwachsene Frau, die durchaus in der Lage ist,
ihr Verhalten zu reflektieren und zu erkennen, wie sich ihre Tochter trotz ihres egoistischen Verhaltens
für sie aufopfert.
Doch Annas Anstrengung zu würdigen kommt für sie offensichtlich nicht in Frage.
Anna macht es traurig, dass ihre Mutter nie ein liebes Wort für sie übrig hat.
Ihr nie sagt, wie dankbar sie dafür ist, sie als Tochter an ihrer Seite zu haben.
Außerdem sehnt sich Anna zunehmend nach einem eigenen, selbstbestimmten Leben.
So beginnt sie 2019 ein FSJ in der Kita und versucht danach,
einen Ausbildungsplatz in dem Restaurant zu bekommen, in dem sie kellnert.
Doch weil sich die Inhaber keine Azubis leisten können, kommt sie da nicht weiter.
Ein Versuch, sich in einem Seniorenheim ausbilden zu lassen, fällt wegen der einsetzenden Corona-Pandemie
ebenfalls flach.
Solch eine Arbeitsbelastung könnte sie neben der Pflege ihrer Mutter höchstwahrscheinlich
aber eh nicht bewerkstelligen.
Und ihr Verantwortungsbewusstsein ihrer Mutter gegenüber gleicht unsichtbaren Ketten.
Sie kann sie nicht hängen lassen.
Schließlich ist sie die einzige Person, die ihre Mutter noch hat.
Bereits die Vorstellung, wie Kerstin einsam und hilflos in der gemeinsamen Wohnung vor sich hin
und vegetiert, ist ein Bild, das Anna droht, das Herz zu zerreißen.
Denn auch wenn Kerstin ihr das Leben teilweise zur Hölle macht, sie klein hält und emotional
aussaugt wie ein Vampir, so ist sie zugleich der Mensch, den Anna auf der Welt am allermeisten
liebt.
Für die mittlerweile 20-Jährige ist daher klar, sie wird für ihre Mutter da sein.
Koste es, was es wolle.
Und so geht es ja nicht nur Anna.
Neben ihr gibt es in Deutschland laut Bundesfamilienministerium um die 500.000 Kinder und Jugendliche, die ihre
kranken Angehörigen pflegen.
Für diese jungen Menschen gibt es auch eine eigene Bezeichnung und zwar Young Carer.
Und bei dieser Zahl, dieser halben Million, ist nicht mal klar, wie verlässlich die ist, weil
viele von ihnen nicht als pflegende Angehörige erfasst werden.
Laut der Krankenkasse hängt das damit zusammen, dass viele von ihnen unter dem Radar bleiben, weil
sie ihre Rolle gar nicht richtig reflektieren, weil es für sie halt wie Anna ganz selbstverständlich
ist, zu helfen.
Ja, und natürlich müssen nicht alle von ihnen so viel leisten wie Anna.
Also ich war ja im Prinzip auch ein Young Carer, als meine Mutter krank geworden ist, aber
ich hatte immer Hilfe von anderen Familienangehörigen.
Ja, das war bei meiner Mutter und später, als ich da mit meinen Großeltern alleine war, auch
so.
In unseren Fällen kann man vielleicht aber nicht so wirklich von Young Carern sprechen.
Ich würde es fast eher so verbuchen als selbstverständliche Verpflichtung, weißt du?
Also wenngleich ich so was anderen Leuten auch nicht aufdrücken wollen würde, ein ähnliches
Pflichtbewusstsein zu haben.
Manche können sich ja auch gar nicht kümmern, obwohl sie gerne wollten.
Ja, für mich war das ja auch irgendwie total wichtig, helfen zu können, weil man dann
irgendwie so ein bisschen dieses Gefühl hat, aus dieser Ohnmacht rauszukommen.
Aber ich hatte trotzdem, egal wie viel ich gemacht habe, an welchem Zeitpunkt auch immer,
ich hatte immer das Gefühl, zu wenig zu machen.
Ja, macht man ja auch.
Also sowohl du als auch ich hatten ja auch noch ein anderes Leben, aber anders geht es
ja auch nicht.
Du kannst das ja nicht bis zur totalen Selbstaufgabe machen, auch wenn die erkrankte Person meist viel
mehr Pflege und Nähe brauchen würde.
Wir haben für diese Folge mit Dr. Ines Brokk-Hader gesprochen.
Sie ist Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.
Und sie hat uns im Interview erzählt, dass manche auch wirklich etwas Positives daraus ziehen
können, einem kranken Familienmitglied zu helfen.
Wenn das Ganze überstanden ist, entweder im positiven Sinne oder auch im negativen Sinne,
wenn der Vater, die Mutter verstorben ist, dann ist natürlich der Trauerprozess erst mal
noch sehr bitter und sehr schmerzhaft.
Aber dann kann im Nachhinein das tatsächlich auch zu so einem posttraumatischen Wachstum oder
zu so einer Reifeentwicklung führen, die dann das ganze Leben auch eher wertschätzend
betrachtet werden kann.
Also dazu muss ich sagen, in meinem Fall würde ich jetzt gar nicht unbedingt sagen, dass ich
mein Leben deshalb jetzt mehr wertschätze.
Aber was ich auf jeden Fall sagen würde, ist, dass diese Erfahrung mich resilienter gemacht
hat, was vielleicht ja auch was Positives ist.
Ja, ich habe das nicht, also bei meiner Mutter noch eher, aber das mit meinen Großeltern,
also diese ganze Situation.
Die Zeit war aber eh super belastend, weil innerhalb von den drei Jahren da meine komplette Familie
plötzlich nicht mehr da war.
Und ich merke das auch jetzt gerade, wenn ich darüber spreche, gerade diese letzte Zeit,
wo nur noch meine Oma da war, dass das emotional einfach so fordernd war.
Und diese komplette Hilflosigkeit und das Gefühl damit, ganz allein zu sein, das verfolgt
mich bis heute und hat mich ganz fest im Griff immer, wenn ich da gedanklich hingehe.
Und deswegen gehen wir zurück zu Anna, die ja nun zu der Zeit auch noch mal eine Ecke
jünger ist, als wir das damals waren und bei der wirklich alles allein hängen bleibt.
Und da wird's problematisch, hat uns die Expertin erzählt.
Was auf jeden Fall schwer zu verarbeiten ist, wenn die Kinder und insbesondere die Jugendlichen
ihre normalen Entwicklungsaufgaben nicht mehr verfolgen können.
Also wenn tatsächlich rund um die Uhrversorgung notwendig ist oder wenn die nicht ihrer eigenen
Autonomieentwicklungen nachgehen können, wenn Schuleausbildung vernachlässigt wird,
wenn Freundeskontakte geringer werden oder eben auch tatsächlich das, was auch zum Jugendlichsein
dazugehört, eben zu feiern, fröhlich zu sein, abzuhängen mit anderen, vielleicht die ersten
romantischen Liebesbeziehungen einzugehen.
Und dieser Verzicht und das Gefühl, ständig funktionieren zu müssen, das wird sich natürlich
auch psychisch auf die Betroffenen aus.
Ines Brock-Harder hat uns erzählt, dass Young Carer wie Anna, die komplett auf sich allein
gestellt sind, sich nonstop in einem Überforderungsmodus befinden, weil die Rolle, die sie einnehmen,
überhaupt nicht für ein Kind bzw. eine Jugendliche oder einen Jugendlichen geeignet ist.
Und Konsequenzen daraus können dann depressive Verstimmungen sein, Angstzustände, sozialer Rückzug
oder auch Wut und Aggression.
Jetzt könnte man ja sagen, wie kann es überhaupt angehen, dass Kinder bzw. Jugendliche die
alleinige Verantwortung für ein krankes Familienmitglied tragen?
Antwort ist einfach, eigentlich gar nicht.
In Annas Fall ist es so, dass sie mittlerweile volljährig ist und von daher ist das blöd gesagt
zumindest aus rechtlicher Sicht mittlerweile okay, dass sie sich alleine kümmert.
Bei Minderjährigen geht das aber eigentlich gar nicht, weil dann unter anderem im Hinblick auf
die UN-Kinderrechtskonvention eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.
Betonung liegt hier ganz klar auf eigentlich, denn Fakt ist, dass solche Konstellationen
oft unentdeckt bleiben.
Einmal, weil die erkrankten Familienmitglieder Sorge haben, dass das Jugendamt das Kind aus
der Familie nimmt und zum anderen, weil das ganze Thema für Young Carer laut unserer Expertin
teilweise auch super schambehaftet ist und es deswegen für viele auch nicht in Frage kommt,
sich Hilfe zu holen oder irgendwie auf ihre Situation aufmerksam zu machen, beispielsweise
jetzt bei entsprechenden Stellen oder in der Schule.
Und das finde ich auch total nachvollziehbar, also dass man darüber dann als Kind oder
jugendliche Person nicht reden möchte.
Also mir war das auch immer unangenehm.
Aber das ist ja ein Problem.
Und zwar nicht nur, weil zu der ganzen Verantwortung dann mitunter noch der Druck kommt, das alles
verstecken zu müssen, sondern auch, weil sich Betroffene dann vielleicht Bewältigungsstrategien
suchen, die ebenfalls problematisch sind.
So wie Anna es jetzt auch macht.
Ab Herbst 2020, Anna ist mittlerweile 21 Jahre alt, findet sie nämlich ein Ventil, um dem
anstrengenden Alltag mit ihrer Mutter immer wieder kurzfristig zu entfliehen.
Anna beginnt Drogen zu konsumieren.
Immer wieder klaut sie heimlich die verschriebenen Fentanylpflaster ihrer Mutter, um daran zu lutschen.
Und jedes Mal, wenn der Wirkstoff daraufhin durch Annas Blutbahn rast, genießt sie es.
Im Rausch kann sie ihren Sorgen entfliehen und abschalten von dem kräftezehrenden Leben mit
ihrer Mutter.
Hin und wieder greift Anna auch zum Joint oder schmeißt Ecstasy.
Wobei sie Letzteres eigentlich immer nur zusammen mit ihrer neuen Freundin Betty macht, die sie
auf den Geschmack der Partydroge gebracht hat.
Erst vor wenigen Wochen haben Anna und Betty sich über eine gemeinsame Bekannte kennengelernt.
Und obwohl sie einander noch nicht lange kennen, sind sie bereits jetzt unzertrennlich und verbringen
sehr viel Zeit zusammen.
Meistens bei Anna zu Hause, da Betty in einer betreuten Jugendeinrichtung wohnt, in der sie sich
alles andere als wohl fühlt.
Obwohl Betty mit ihren gerade einmal 15 Jahren deutlich jünger ist als sie, blickt Anna zu
ihr auf.
Betty wirkt so selbstbewusst, so stark, so furchtlos.
Außerdem findet Anna es cool, dass ihre Freundin trotz ihres jungen Alters schon so viele
Erfahrungen mit Drogen gemacht hat.
Jedes Mal, wenn Anna mit Betty zusammen ist, hat sie Spaß, kann lachen, herumalbern und unbeschwert
sein.
Sei es auch nur für wenige Stunden, bis ihre Mutter sie wieder in Beschlag nimmt.
Anna ist glücklich und dankbar, endlich einen Menschen an der Seite zu haben, der etwas Freude
und Leichtigkeit in ihren Alltag bringt.
Die Freundschaft zu Betty bedeutet ihr daher die Welt, wenn gleich ihrer Mutter Kerstin die
Verbindung ein Dorn im Auge ist.
Anfangs versteht sich die mittlerweile 48-Jährige noch gut mit der neuen Freundin ihrer Tochter.
Doch bereits nach wenigen Wochen werden ihr die ständigen Besuche zu viel.
Kerstin möchte nicht mehr, dass Betty zu ihnen nach Hause kommt.
Eine Entscheidung, die Anna dazu bringt, Betty fortan heimlich in die Wohnung einzuschleusen.
Anna sitzt an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag gemeinsam mit Betty in ihrem Zimmer, wo sie
einen Film schauen.
Bisher waren die Feiertage für Anna trostlos.
Der Heiligabend war ein Tag wie jeder andere gewesen, so wie jedes Jahr.
Anna hatte sich um ihre Mutter gekümmert, während die noch nicht einmal ein nettes Wort
für sie übrig hatte.
Anna ist deswegen froh, dass Betty heute bei ihr ist, ein bisschen Wärme und Freundlichkeit
in die Wohnung bringt und sogar über Nacht bleiben will.
Doch diese Rechnung hat Anna ohne ihre Mutter gemacht.
Denn obwohl die 48-Jährige nebenan im Schlafzimmer liegt, bekommt sie mit, dass Betty da ist und
beginnt zu protestieren.
Kerstin möchte, dass Betty geht.
Jetzt sofort.
Ihr ist das alles viel zu viel, zu laut, zu anstrengend.
Das kann ihre Mutter nicht ernst meinen.
Verlangt sie wirklich von ihr, dass sie ihre 15-jährige Freundin so spät am Abend vor die
Tür setzt, das muss Anna irgendwie verhindern.
Also tritt sie ans Krankenbett ihrer Mutter heran und versucht sie zu besänftigen.
Die 21-Jährige möchte, dass Betty bleibt.
Schließlich ist es ihr einziger Lichtblick an dunklen Tagen wie diesen.
Bitte Mama, fleht Anna, lass sie bei uns schlafen.
Doch für Kerstin kommt das nicht in Frage.
Sie verneint wieder und wieder.
Anna weiß nicht, was sie tun soll.
Sie ist es nicht gewohnt, ihrer Mutter verbal die Stirn zu bieten.
Doch zugleich ist da ihre neue beste Freundin, für die sie sich einsetzen will und die sich
auf sie verlässt.
Denn Anna weiß, wenn Betty nicht hierbleiben darf, dann wird sie vermutlich irgendwo draußen
schlafen.
So sehr, wie sie die Jugendeinrichtung, in der sie lebt, hasst.
So weit darf es nicht kommen.
Und so legt sich Anna in den kommenden zwei Stunden voll ins Zeug, ihre Mutter zu überzeugen,
obwohl sie ihre Anweisungen einfach ignorieren könnte, mit gleichgültigem Schulterzucken
den Raum verlassen und sich wieder mit Betty in ihr Zimmer zurückziehen.
Was soll Kerstin in ihrer bettlägerigen Verfassung schon dagegen unternehmen?
Doch bei Kerstins Sturheit ist das keine Option.
Also versucht Anna, ihre Mutter mit Worten umzustimmen.
Sie weinend fleht und bettelt ihre Mutter an, eine Ausnahme zu machen und Betty bei ihnen
schlafen zu lassen.
Zwar zeigt sich Kerstin, die mittlerweile nur noch 36 Kilo wiegt, körperlich von der langen
Diskussion geschwächt, doch die Tränen und Verzweiflung ihrer Tochter lassen sie vollkommen
unbeeindruckt.
Sie bleibt stur und bockig wie ein Kind.
Anna schaut in das ausgemergelte Gesicht ihrer Mutter, ein Gesicht, das von Krankheit
und Elend zeugt und in dem die 21-Jährige kein Fünktchen Wohlwollen oder Liebe erkennt.
Das ist der Moment, in dem sich in Anna gewissermaßen ein Schalter umlegt und ihr klar wird, diese
Situation beschreibt ihr ganzes Leben.
Ihrer Mutter geht es immer nur um sich selbst, sie ist blind für Annas Bedürfnisse.
Im Alltag für Pflege und Haushalt kann Kerstin sie gut gebrauchen, doch für den Menschen
hinter der Pflegekraft, für ihre eigene Tochter interessiert sie sich nicht.
Mehr noch, sie gönnt ihr kein Glück, keine Lebensfreude, nicht mal ein paar schöne Stunden mit
ihrer besten Freundin.
Anna kann das alles nicht mehr, sie will das alles nicht mehr.
All die Jahre war sie für ihre Mutter da, hat ihr ganzes Leben auf sie ausgerichtet und
ihr gewissermaßen ihre Jugend geopfert.
Anna hat gegeben und gegeben, doch etwas zurückbekommen hat sie nie.
Wie eine Lawine stürzen nun all die angestauten Gefühle, die Wut und die Verzweiflung plötzlich
auf Anna herab.
Und die 21-Jährige weiß sich in diesem Augenblick nur auf eine Art und Weise zu helfen.
Sie muss aus dem emotionalen Gefängnis ausbrechen.
Hier und jetzt.
Und so greift Anna zu einem schwarzen Kissen, das neben ihrer Mutter liegt und drückt es
ihr aufs Gesicht.
Sie weiß, dass sie ihr auf diese Weise die Luft abschnürt.
Doch genau das will sie.
Kerstins Abwehrreaktion hält sich in Grenzen.
Ein hektisches Zappeln mit den Armen und leichtes Drücken gegen Annas Schultern sind das einzige
an Gegenwehr, zu dem sie noch in der Lage ist.
Entschlossen hält Anna in dieser Position inne und drückt und drückt.
Als die Anwesenden im Bonner Landgericht Anna über die finalen Minuten im Leben ihrer Mutter
sprechen hören, sind sie sprachlos.
Im Vernehmungsvideo, das noch immer auf dem Bildschirm vor ihnen flimmert und von dem die Angeklagte
ihnen entgegenblickt, geht es jetzt als nächstes um die Tatbeteiligung von Betty.
Anna erzählt, dass Betty, die den stundenlangen Streit von Mutter und Tochter verfolgt hat,
in dem Moment, in dem Anna Kerstin das Kissen auf Mund und Nase drückt, ebenfalls ans Krankenbett tritt.
Betty habe geholfen und auch Druck auf das Kissen ausgeübt.
Und sie habe weiter gedrückt, als Anna schließlich von ihrer Mutter abgelassen und
»Ich schaff das nicht« gesagt habe.
Dann, nach einigen Minuten, sei auch Betty einen Schritt zurückgetreten und habe Anna das verkündet,
was Kerstins lebloser Körper bereits vermuten ließ.
Deine Mutter ist tot.
Im Schwurgerichtssaal herrscht betretende Stille.
Die ProzesseilnehmerInnen brauchen einen Augenblick, um all das, was sie soeben durch
Andersvernehmungsvideo erfahren haben, zu reflektieren.
Kann das alles so stimmen?
Kann eine Mutter ihre Tochter wie ihre Leibeigene behandeln und immer nur genommen haben, ohne ein Wort der Dankbarkeit?
Ja, sagen die ZeugInnen, die in den nächsten Verhandlungstagen geladen werden.
Darunter Kerstins Halbbruder, der erzählt, dass seine Schwester immer sehr viel von Anna verlangt habe und Anna komplett unter der Pantoffel ihrer Mutter stand.
Auch NachbarInnen können bestätigen, dass Kerstin gegenüber Anna oft sehr laut wurde und dass man Anna ihre Erschöpfung deutlich angesehen habe.
Doch eine Person möchte Annas Schilderungen nicht so stehen lassen.
Zumindest die, die den Tatabend betreffen.
Betty.
Die mittlerweile 16-Jährige will sich zwar nicht persönlich äußern, doch über ihre Anwältin lässt sie ihre Version des Geschehens erzählen,
die sich von Annas Schilderungen in einem Detail unterscheidet.
Ein Detail, das zwar klein, jedoch von großer Bedeutung für den Ausgang des Prozesses ist.
Am Abend des 26. Dezember vergangenen Jahres sei es zwischen Anna und Mutter Kerstin zu einem mehrstündigen Streit bezüglich einer Übernachtung von ihr gekommen.
Insoweit bestätigt Betty also Annas Geschichte.
Ihre Freundin sei deswegen verzweifelt und aufgelöst gewesen und habe irgendwann gerufen, jetzt bringe ich sie um.
Dann habe Anna angefangen, ihrer Mutter ein Kissen aufs Gesicht zu drücken.
Sie, Betty, habe noch versucht, die 21-Jährige davon abzubringen, doch ihre Freundin sei fest entschlossen gewesen und habe sie weggeschubst.
Die nächsten Minuten habe Betty entsetzt und völlig überfordert mit der Situation im Türrahmen gestanden und die Szene beobachtet.
Und irgendwann, als Anna schließlich von ihrer Mutter abgelassen habe, habe Betty Kerstin das Kissen vom Gesicht genommen und festgestellt, dass sie tot sei.
Zwar habe sie anschließend mit ihrem Freund Nils beim Versuch geholfen, den Leichnam zu beseitigen,
doch mit der Tötung selbst habe sie absolut nichts zu tun gehabt.
Mit diesen Worten weist Betty eine Mitschuld an Kerstins Tod von sich
und macht zugleich deutlich, die einst so enge Freundschaft zwischen Anna und Betty gehört der Vergangenheit an.
Nun, wo es um eine mögliche Zukunft hinter Gittern geht, stärken sie einander nicht mehr den Rücken.
Für das Gericht stellt sich daher die Frage, wem es zu glauben gilt, der 22-jährigen Anna oder doch Betty?
Um darauf eine Antwort zu finden, widmet sich die Staatsanwaltschaft nun einem Dokument,
das zwar ein Blatt Papier, eigentlich jedoch ein digitales Indiz ist.
Es ist der Ausschnitt eines Gesprächs, das Betty und ihr zwei Jahre älterer Freund Nils am Tatabend über Instagram geführt haben
und das nun von der Anklage von einem Zettel abgelesen wird.
Zitat, wir haben Scheiße gebaut und die Mutter von Anna getötet.
Ein Satz, der nach einem eindeutigen Geständnis klingt.
Warum sollte Betty sonst das Wort wir benutzen?
Du verarscht mich doch jetzt, zitiert die Staatsanwaltschaft die Antwort, die Nils daraufhin geschrieben hat.
Doch Betty bleibt im Gespräch mit Nils dabei.
Sie und Anna haben Kerstin umgebracht.
Die 16-jährige Betty sitzt ruhig und gefasst auf der Anklagebank.
Obwohl ihre Behauptung, unschuldig zu sein, nun angesichts der Textnachrichten in einem fragwürdigen Licht erscheint,
kommt von ihr keine Regung.
Von ihrer Verteidigung dagegen schon.
Bettys Anwältin macht klar, dass es für diese Nachricht eine Erklärung gebe.
Ihre Mandantin habe aus gutem Grund gegenüber ihrem Freund behauptet,
an der Tötung von Kerstin mitgewirkt zu haben und das Wort wir strategisch eingesetzt.
So habe Anna ihrer Mandantin darum gebeten, Nils zu kontaktieren, von der Tat zu erzählen
und zu behaupten, sie habe Kerstin zusammen mit ihrer Freundin umgebracht,
damit er ihnen hilft, die Leiche verschwinden zu lassen.
Schließlich, so habe Anna es Betty deutlich gemacht, würde Nils sich niemals darauf einlassen,
wenn es nur um Anna ginge.
Wenn er Angst haben müsse, seine Freundin könne ins Gefängnis kommen, dagegen schon.
Ein falsches Geständnis als Freundschaftsdienst?
Hat Betty tatsächlich trotz allem zu ihrer Freundin gehalten
oder versucht sie hier gerade nur ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen?
Es sind Fragen, auf die die Kammer letztendlich im eigenen Ermessen eine Antwort finden muss.
Bei einem anderen Thema bekommt sie Unterstützung.
Ein psychologischer Sachverständiger soll sein fachmännisches Urteil abgeben,
inwieweit Anna und Betty schuldfähig sind.
Eine Frage, die sich insbesondere in Annas Fall angesichts ihrer jahrelangen Belastung
und der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter stellt.
Der Experte erklärt im Zeugenstand, wie schwer es die 22-Jährige bisher im Leben gehabt habe.
Sie habe zweifelsfrei eine schwierige Kindheit gehabt und blicke auf Jahre zurück,
in denen ihre Mutter viel von ihr gefordert habe und zugleich ihre einzige Bezugsperson gewesen sei.
Eine auslaugende, kräftezehrende Dynamik, wenn auch ohne Konsequenzen für ihre Schuldfähigkeit.
Der Sachverständige führt aus, dass es Anna nämlich trotz aller Schwierigkeiten gelungen sei,
ihr Leben über Jahre hinweg ohne große Verhaltensauffälligkeiten zu meistern.
Sie leide an keiner Persönlichkeitsstörung und es gebe weder Hinweise auf eine psychotische Realitätsverkennung zum Tatzeitpunkt,
noch auf eine klassische Affekthandlung.
Anna sei daher am 26. Dezember 2020 sowohl steuerungsfähig als auch in der Lage gewesen,
das Unrecht ihrer Tat zu erkennen.
Genauso wie ihre damals noch beste Freundin Betty.
Eine Einschätzung, die die Kammer dankend zur Kenntnis nimmt und die sich auf das Urteil auswirkt,
das schließlich nach acht Verhandlungstagen verkündet wird.
Sowohl Anna als auch Betty sind schuldig.
Die Kammer hält es für erwiesen, dass die beiden, Annas Mutter Kerstin,
gemeinsam in ihrem Bett mit einem Kissen erstickten.
Gemeinschaftlicher Totschlag lautet daher das Delikt, für das sie verurteilt werden
und mit dem das Gericht seine Auffassung unterstreicht.
Schuld an Kerstins Tod sind Anna und Betty gleichermaßen.
In den Augen der Kammer gibt es nämlich viele Dinge, die dafür sprechen,
dass Bettys Aussage eine reine Schutzbehauptung ist.
So sei sie zum Tatzeitpunkt in der Wohnung gewesen und habe,
obwohl sie angeblich keine Täterin sei, darauf verzichtet,
einen Rettungswagen zu rufen oder anderweitig Hilfe zu holen.
Außerdem sei ihre Beteiligung an der versuchten Leichenbeseitigung
nicht mit freundschaftlicher Solidarität zu erklären,
da sie und Anna sich zu diesem Zeitpunkt gerade einmal ein paar Monate kannten.
Vielmehr liege ihre Beteiligung am Nachtatgeschehen nahe,
dass sie Mittäterin sei und Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen gehabt habe.
Obwohl Betty und Anna laut Auffassung des Gerichts für den Tod eines Menschen verantwortlich sind,
fällt das Urteil für beide ungewöhnlich mild aus.
Betty wird zu einer zweijährigen Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt,
die das Gericht als erzieherisch angemessen erachtet, um ihr das Unrecht ihres Handelns bewusst zu machen.
Bei Anna, die zum Tatzeitpunkt bereits 21 Jahre alt war,
greift zwar das Erwachsenenstrafrecht jedoch nicht in voller Härte.
Sie wird zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt,
die deutlich unterhalb der 5 bis 15 Jahren liegt,
die normalerweise für ein solch schweres Delikt verhängt werden.
Das Gericht geht bei Anna von einem minderschweren Fall aus
und macht deutlich, dass man sie nicht nur für eine Täterin,
sondern auch für ein Opfer hält, ein Opfer ihrer Lebensumstände.
So gibt es laut Urteilsbegründung zahlreiche strafmildernde Gesichtspunkte,
die ihren Ursprung allesamt in Annas Zusammenleben mit ihrer Mutter Kerstin haben.
Die Beziehung sei toxisch gewesen,
habe Anna über Jahre hinweg belastet, ausgelaugt und zugleich gefangen gehalten.
Denn obwohl die heute 22-Jährige festgestellt habe,
dass ihr die Situation an die Substanz geht,
sei es ihr nicht möglich gewesen,
sich aus eigener Kraft zu befreien und davon loszureißen.
Anders formuliert,
Loyalität und Verantwortungsbewusstsein fesselten sie an ihr Zuhause,
das für sie kein Ort des Wohlfühlens war,
sondern immer mehr zum Albtraum wurde.
Darüber hinaus erkennt das Gericht den großen Konflikt an,
dem sich Anna ihrer gesamten Jugend über ausgesetzt sah.
Jedes Mal, wenn sie sich für ihre Wünsche und Bedürfnisse entschied,
ging sie das Risiko ein,
dass sich daraus ein Konflikt mit ihrer Mutter entwickeln würde,
die ihr tagtäglich vor Augen führte,
dass sie von Anna verlangte, sich voll und ganz für sie aufzuopfern.
Voll und ganz die Mutterrolle in ihrer Mutter-Tochter-Beziehung einzunehmen.
Insofern habe Anna verzichtet, auf Spaß, auf Leichtigkeit und auf ein eigenes selbstbestimmtes Leben.
Und das nur, um dem Menschen ihre Liebe und Zuneigung zu zeigen,
der fast ausschließlich Verachtung und Demütigung für sie übrig hatte.
Hinzu kommt, dass Annas Tat laut Ansicht des Gerichts ein Akt der Verzweiflung und Hilflosigkeit war
und ihr Ärger über Kerstins Verweigerung des Übernachtungsbesuchs nachvollziehbar gewesen sei.
Außerdem habe Anna Reue und Bedauern gezeigt.
Drei Jahre Freiheitsentzug seien daher sowohl Tat- als auch Schuld angemessen.
Genauso wie die zweijährige Jugendstrafe für Nils,
der Anna und Betty beim fehlgeschlagenen Versuch unterstützte,
den Leichnam zu beseitigen und den das Gericht wegen versuchter Strafvereitelung schuldig spricht.
Sowohl Anna als auch Nils nehmen das Urteil, das gegen sie gesprochen wurde, an.
Für Betty hingegen gilt das nicht.
Sie hält weiterhin daran fest, dass sie an der Tötung von Annas Mutter Kerstin nicht beteiligt war.
Gemeinsam mit ihrer Verteidigerin geht die 16-Jährige daher in Revision.
Und tatsächlich erhält sie dafür vom Bundesgerichtshof grünes Licht.
Die RichterInnen in Karlsruhe sind der Ansicht,
dass die KollegInnen in Bonn es versäumt hätten,
Annas Geständnis auf Glaubhaftigkeit zu überprüfen.
Ein gravierender Fehler, wenn man bedenkt, dass diese Angaben die Grundlage für Bettys Schuldspruch gewesen seien.
Der BGH kassiert daher das Urteil gegen Betty,
sodass sich im Frühjahr 2024 erneut eine Kammer des Bonner Landgerichts mit dem Fall befassen muss.
Und dieses Mal fällt das Urteil zu Bettys Gunsten aus.
Da die Kammer der zweiten Instanz Annas Version nicht überzeugend genug findet,
um damit eine Verurteilung wegen Totschlags zu rechtfertigen,
wird Betty nun lediglich wegen ihrer Mithilfe beim Versuch der Leichenbeseitigung
zu vier Wochen Jugendarrest verurteilt.
Eine Entscheidung, die für die mittlerweile 19-Jährige zugleich Freiheit bedeutet.
Schließlich ist der Arrest angesichts der achtmonatigen Untersuchungshaft,
in der sie sich 2021 befunden hat, hinfällig.
Betty hat nun das bekommen, was sie wollte.
Einen juristischen Schlussstrich nach ihren Vorstellungen.
Ein Urteil, das ihren Status als Mittäterin aufhebt und anerkennt,
Ihr Übernachtungsbesuch bei Anna war zwar der Anlass für den Streit,
der in Kerstins Tod resultierte,
verantwortlich ist sie für den dramatischen Ausgang jedes Dezemberabends 2020 jedoch nicht.
Also nochmal zur Erklärung.
Das heißt ja, also die zweite Kammer stufte Annas Version im Gegensatz zur ersten als nicht glaubhaft genug ein.
Und natürlich fragt man sich dann ja, okay, was ist, wenn Anna wirklich gelogen hat
und was würde das dann eigentlich für die gesamte Aussage bedeuten.
Am Ende wissen nur Anna und Betty, was genau passiert ist in der Nacht.
Aber was ja sicher ist, auch auf Grundlage anderer ZeugInnen,
dass es diese toxische Mutter-Tochter-Beziehung gegeben hat
und diese letztendlich dazu geführt hat, dass Kerstin Schulz sterben musste.
Oder anders ausgedrückt, früher sterben musste als notwendig.
Denn lange hätte Kerstin vermutlich ohnehin nicht mehr durchgehalten.
Zum einen, weil sie in einem körperlich super schlechten Zustand war
und zum anderen, weil eine der Krankheiten, an der sie litt, nie diagnostiziert wurde
und erst im Zuge der Obduktion rausgekommen ist.
Kerstin hatte tatsächlich Krebs, so wie Anna es all die Jahre angenommen hat.
Allerdings zum Zeitpunkt der Tat wohl noch nicht sehr lange.
Der bösartige Tumor, der bei ihr gefunden wurde, ein sogenanntes Gebärmutterhalskarzinom,
war laut Rechtsmedizin wohl noch im Anfangsstadium und nicht sehr ausgeprägt.
Und da niemand von Kerstins behandelnden ÄrztInnen den Krebs diagnostiziert hatte,
wusste sie vermutlich nicht einmal selbst etwas davon.
Obwohl Stacheldrahtzaun und Gitterstäbe Anna nach der Verurteilung bis auf Weiteres von der Außenwelt abschirmen,
ist sie so frei wie lange nicht.
Hier im Gefängnis hat sie nicht nur Zeit, ihre Vergangenheit zu reflektieren,
sondern auch die Möglichkeit, Pläne zu schmieden.
So besucht Anna etwa in der JVA wieder die Schule und möchte im Anschluss eine Ausbildung im Bereich Metall absolvieren.
Außerdem nimmt sie therapeutische Hilfe in Anspruch, um die vergangenen Jahre aufzuarbeiten.
Das erste Mal in ihrem Leben ist es Anna möglich, an eine Zukunft zu denken, die sie selbst gestalten kann,
in der es um ihre Wünsche und Träume geht und in der sie sich nach niemand anderem richten muss.
Doch der Preis für diese Autonomie war hoch.
Zu hoch.
Die Tat schien für Anna inmitten ihrer Verzweiflung die einzige Möglichkeit,
die unsichtbaren Ketten, die sie an ihr toxisches Zuhause banden, zu sprengen.
Dabei hätte Anna ein eigenes Leben beginnen können, ohne ein Menschenleben auszulöschen.
Sie hätte um Hilfe bitten können, ihre Überforderungen bei Behörden oder Ärztinnen transparent machen
und sagen können, ich schaffe das nicht.
Doch das hat sie nicht.
Sie hat ausgehalten, gegeben, ertragen, bis sie es irgendwann dann doch nicht mehr aushielt.
Und auch wenn der Ballast aus Verantwortungsbewusstsein und Loyalität,
den sie jahrelang mit sich herumgetragen hat, nun verschwunden ist,
lastet nun etwas anderes auf ihren jungen Schultern.
Anna muss damit leben, dass der Mensch, den sie getötet hat,
nicht nur die Person war, die ihr Leben zur Hölle gemacht hat,
sondern auch diejenige, die sie selbst trotz allem von ganzem Herzen geliebt hat.
Also das ist jetzt wieder so ein Fall, den ich halt so super interessant finde,
weil es nicht irgendwie ein Serienmörder ist,
der eine Frau nach der anderen umbringt oder der Mann, der seine Ex-Frau umbringt,
weil sie sich getrennt hat, sondern weil das irgendwie eine Tat ist,
wo man ja nicht sagen will, dass man das irgendwie verstehen kann oder sowas,
aber wo man zumindest nachvollziehen kann,
wie eine Täterin am Ende zu der Verzweiflung gekommen ist
und dann am Ende tatsächlich so eine schreckliche Tat vollbracht hat,
die, wie du ja gerade gesagt hast, ihr eigentlich ja auch das Liebste,
was sie im Leben hatte, genommen hat.
Also mich erinnert dieser Fall auch so ein bisschen an Gypsy Rose,
weil sie so die Opfer vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ihrer Mutter wurde
und die auch keinen anderen Weg gesehen hatte, sich zu befreien,
als dass sie dann mit ihrem Freund ausgemacht hatte, dass der die Mutter umbringt.
Weil es ist schon so ein bisschen hier, wenn so junge Leute über so einen Zeitraum
so eingenommen werden, dass die natürlich irgendwie auch so ein bisschen diesen Realitätsbezug verlieren.
Ich meine, nun hat das Gericht gesagt, sie hätte theoretisch gehen können.
Aber wenn man schon im so jungen Alter darauf trainiert wird, sich zu kümmern
und dass seine Identität daraus besteht, sich zu kümmern und nicht zu gehen,
dann ist es natürlich ungemein schwerer als bei einer erwachsenen Person.
Und das hat das Gericht ja nachher auch berücksichtigt.
Und ich finde, was man hier vielleicht auch beachten muss,
ist, dass es dann am Ende doch auch aus der Situation herauskam.
Also es war jetzt nicht so, dass sie das von langer Hand geplant hat oder so.
Ja, der Fall ist ja auch irgendwie relativ klar, außer halt bei dieser Involvierung von Betty.
Das finde ich halt so interessant, weil die beiden sagen was Gegensätzliches
und diese beiden Kammern vom Bonner Landgericht sagen ja auch quasi was Gegensätzliches.
Also die erste Instanz fand Annas Aussage glaubhaft genug, um dieses Urteil zu fällen
und die andere Kammer am gleichen Landgericht, aber eben nicht.
Und so ist Betty am Ende freigekommen.
Hast du da irgendeine Tendenz, was du glaubst?
Also es gab ja keine Beweismittel, außer die Nachricht.
Und ich finde es dann irgendwie auch schwer, jemandem was zu unterstellen oder was zu muten,
wenn die Person jetzt freigesprochen wurde und wir auch nicht wirklich sehr viel mehr haben
als diese Nachricht.
Und die Aussage von Anna, obwohl man sich natürlich auch so ein bisschen fragen kann,
wieso sollte sie das erfinden?
Aber auch dafür kann es verschiedene Gründe geben.
Also von daher habe ich nicht wirklich eine Meinung zu.
Du?
Also ich würde eher davon ausgehen, dass sie involviert ist.
Aber ich finde es einfach spannend, dass man hier so ganz klar sieht,
wie unterschiedlich RichterInnen entscheiden können.
Es ist dasselbe Landgericht gewesen und sie haben ganz unterschiedliche Urteile gefällt.
Ja, und auch ein bisschen interessant, weil man sagt ja auch manchmal,
die Kammern wollen sich nicht gegenseitig auf den Schlips treten da, ne?
Ja.
Haben sie diesmal aber.
Nächste Woche beschäftigen wir uns mit einem riesigen Skandal,
der schon fast wieder so ein bisschen in Vergessenheit geraten ist.
Bis dahin.
Bis dann.
Das war ein Podcast der Partner in Crime.
Hosts und Produktion Paulina Kraser und Laura Wohlers.
Redaktion Jennifer Fahrenholz und wir.
Schnitt Pauline Korb.
Rechtliche Abnahme und Beratung Abel und Kollegen.