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#199 Das “wundermittel”

Willkommen bei Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime.
Hier geht es um wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser und normalerweise sitzt hier mit mir meine Kollegin und Freundin
Laura Wohlers, mit der ich immer einen bedeutsamen, wahren Kriminalfall nacherzähle.
Gemeinsam ordnen wir denen ein, erörtern und diskutieren die juristischen, psychologischen
oder gesellschaftlichen Aspekte und sprechen mit Menschen mit Expertise.
Heute aber führe ich euch allein durch diese Folge.
Hier geht es um True Crime, also auch um die Schicksale von echten Menschen.
Bitte behaltet das immer im Hinterkopf, das machen wir auch, selbst dann, wenn wir zwischendurch
mal etwas abschweifen.
Das ist für uns eine Art Comic Relief, aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
Bevor ich mit der heutigen Folge starte, in der wir über Menschen sprechen, die nicht
weiter wollten, als zur Ruhe zu kommen und dafür zu Hilfsmittel griffen, die ihnen
etwas ganz anderes bescherten, will ich mit euch nochmal über die vorletzte Folge sprechen.
Da ging es ja um die chirurgischen Kastrationen von straffällig gewordenen Männern und darum,
welche Hürden es in Deutschland für diese Art der Operationen gibt und warum viele Menschenrechte
da innen das für problematisch halten, weil der Eingriff ja dauerhaft nicht reversibel
und medizinethisch auch ein bisschen fragwürdig ist.
Jedenfalls haben wir daraufhin einen Fall zugeschickt bekommen, der zeigt, dass man sich
auch anders kastrieren, also die Hoden entfernen lassen kann.
Und da scheint die Hürde erschreckend niedrig gewesen zu sein.
Der Fall spielt in Thüringen genauer in einem Wohnzimmer eines 75-jährigen Rentners namens
Gerhard T., der sich offenbar ein bisschen seine Rente aufbessern wollte.
Der gab sich nämlich als erfahrener Amateurchirurg aus im Internet und führte zwischen 2015 und
2019 ohne jede medizinische Ausbildung acht Kastrationen in seinem Wohnzimmer durch und
kassierte dafür bis zu 2200 Euro pro Eingriff.
Die Männer, die das über sich ergehen ließen, die stimmten dem freiwillig zu.
Einigen ging es darum, ihre Sexualität einzudämmen, andere ihre Pornosucht zu bekämpfen und
bei anderen ging es auch um Identitätsfragen.
Als die Ämterinnen die Wohnung des Rentners durchsuchten, fanden sie da blutverschmierte
Werkzeuge und Müllberge noch und nöcher.
Das war also alles andere als ein sicherer Eingriff und deswegen musste sich Gerhard T.
dann auch wegen gefährlicher Körperverletzung in mehreren Fällen verantworten.
Auch weil mindestens einer der Männer nach dem Eingriff fast verblutet wäre.
Im Oktober wurde der Rentner dann vom Landgericht Erfurt zu einer Freiheitsstrafe von drei
Jahren und zehn Monaten verurteilt.
Falls ihr euch jetzt fragt, wie diese Menschen überhaupt zusammengefunden haben, das war über
ein Kastrations- und SM-Forum im Internet.
Naja, den Fall wollte ich euch nicht vorenthalten und wenn ihr übrigens auf absurde oder spannende
Geschichten stoßt, so wie diese, dann schickt uns die immer gern auf Instagram bei Mordlust
der Podcast.
Und jetzt geht's aber los mit dem heutigen Fall, der mich schon lange beschäftigt.
Es geht um ein Medikament, das etliche in einen beruhigten Schlaf wiegte, bis das Böse
erwachen kann.
Paulina, wir fliegen ja schon ganz bald mit unserer Redaktion nach Mallorca für ein
Arbeitsbootcamp, aber ja auch für ein bisschen Spaß.
Pool-Meisterschaft, sag ich da.
Ja, unter anderem.
Und ich hab mir gedacht, es wäre ja cool, eine Drohne mitzunehmen.
Ich hab immer so ein bisschen Angst.
Also ich würde die auf jeden Fall im Pool versenken.
Hast du schon mal mit einer Drohne gedreht?
Naja, nee, das waren ja immer nur die Kameramänner oder die Kamerafrauen, die das bedient haben.
Aber ich fand's immer so cool und ich fand auch, es sah nicht so schwer aus.
Ich hab früher auf jeden Fall gerne diese Elektroautos gehabt mit der Fernbedienung, weißt du?
Ja.
Aber das Ding ist bei Drohnen natürlich, anders als bei den Autos, die man fernsteuern kann,
dass die schon eher teuer sind.
Also zu teuer dafür, dass ich da auf Mallorca jetzt einmal zum Spaß ein Drohnenvideo von
der Natur oder von uns machen will.
Aber da ist mir unser heutiger Werbepartner eingefallen, bei Grover kann ich ja einfach
eine Drohne ausleihen.
Ich hätte noch einen Wunsch, wenn du eh eine Drohne ausleihst, kannst du dann einen Beamer
ausleihen, weil ich hab so ein paar Filme auf meiner Liste, die wir da abends zusammen gucken
können.
Das finde ich gut.
Bei Grover kann man ja ganz viele verschiedene technische Geräte ausleihen, also ob es jetzt
Beamer, Drohne, Laptop, Kamera oder sonst was ist und zwar ganz ohne Anzahlung oder
Kaution und zwar so lang, wie man die eben benötigt.
Falls wir euch jetzt damit auf Ideen bringen und ihr ganz dringend, so wie wir eine Kamera
oder einen Beamer braucht, keine Panik, Grover liefert innerhalb von drei Werktagen direkt
bis zu euch nach Hause.
Und falls mir das Drohnenfliegen dann entgegen aller Erwartungen so richtig, richtig viel
Spaß macht und ich das dann irgendwie zu Hause weiterführen möchte, dann kann ich die Drohne
auch behalten.
Denn wenn die Mietdauer vorbei ist, kann man die Sachen ganz einfach weitermieten, wenn
man die nicht zurückschicken will oder gegen was Neues tauschen oder wenn man will eben
auch kaufen.
Und ihr müsst euch keine Gedanken machen, wenn mal was kaputt geht, weil Grover Care
ist da immer inklusive.
Grover reduziert übrigens gerade seine Preise.
Viele Produkte sind da aktuell mehr als 20 Prozent günstiger.
Also falls ihr Grover jetzt auch mal testen wollt, schaut einfach mal rein auf grover.com
Und mit dem Code Mordlust40, also M-O-R-D-L-U-S-T und dann 40, die 4 und die 0, spart ihr 40
Euro auf den ersten Mietmonat ab einer Mietdauer von mindestens sechs Monaten.
Das ist gültig für alle Produkte.
Und alle Infos findet ihr auch nochmal wie immer in unserer Folgenbeschreibung.
Die Triggerwarnung zu dem Fall findet ihr wie immer in der Folgenbeschreibung.
Wir befinden uns in einem Krankenhaus in Berlin-Steglitz.
Am 15.
September 1961 liegt dort die 24-jährige Bärbel Queller.
An ihrer Seite ihr Mann Peter.
Bärbel hat starke Schmerzen.
Neun Monate Schwangerschaft liegen hinter ihr.
Neun Monate und drei Wochen, um genau zu sein.
Denn ihr Kind scheint einfach nicht auf die Welt zu wollen.
Die Geburt hätte eigentlich schon im August sein sollen, aber weil jetzt Mitte September
Bärbels Bauch noch immer kugelrund ist, soll die Geburt heute eingeleitet werden.
Bärbel kommt das gerade recht, denn sie will einfach nur, dass es endlich vorbei ist.
Die Schwangerschaft hat sie nur schwer verkraftet.
Immer wieder litt sie unter starker Übelkeit.
Etliche schlaflose Nächte liegen hinter ihr.
Diese Zeit wird Bärbel sicherlich nicht vermissen.
Doch die Geburt ist auch nicht ohne.
Bärbel wurde von GeburtshelferInnen schon in ein warmes Bad gesteckt, damit es endlich losgeht.
Und es hat funktioniert.
Mittlerweile haben die Wehen eingesetzt.
Bärbel und Peter können kaum erwarten, dass ihr Familienzuwachs das Licht der Welt erblickt
und ihre zweieinhalbjährige Tochter endlich ein Geschwisterchen bekommt.
Was es wird, wissen die beiden noch nicht.
Bärbel weiß aber, dass Peter sich so sehr einen Sohn wünscht.
Als Bärbel es nach etlichen Pressen endlich geschafft hat, ist klar, es ist wieder ein Mädchen.
Bärbel ist das aber egal.
Sie will ihr Kind endlich in den Arm halten.
Doch irgendwas ist anders als bei der letzten Geburt.
Als das Neugeborene schreit, sind die GeburtshelferInnen erst ganz still und dann beginnen sie zu tuscheln.
Was denn los sei, will Bärbel wissen.
Sie wird nervös.
Mit ihrem Kind stimmt etwas nicht, traut sich eine der Frauen schließlich vorsichtig zu antworten.
Ihr Kind sei anders.
Bärbel verlangt nach ihrem Baby.
Zögerlich reicht ihr die Pflegerin das eingewickelte Bündel.
Nun sieht Bärbel, warum das Krankenhauspersonal so aufgewühlt ist.
Ihrer kleinen Tochter fehlen die Arme.
Lediglich zwei fehlgebildete Hände mit insgesamt sieben Fingern ragen aus den Schultern.
Während Bärbels Mann Peter vom Anblick des Babys bleich wird, empfindet Bärbel mit ihrer Tochter in den Armen vor allem eins.
Glück.
Endlich ist ihr Baby da.
Es mag eine Behinderung haben, aber es lebt und das ist ja wohl die Hauptsache.
Das Kleine eng an sich geschmiegt, gibt sie ihrer Tochter den Namen Sigrid.
So eine Art der Behinderung haben sie noch nie gesehen, sagt das Krankenhauspersonal und wirkt dabei ratlos.
Bärbel kann sich darauf keinen Reim machen.
Sie fragt sich, was sie falsch gemacht hat in der Schwangerschaft.
Aber sie hat eh andere Sorgen.
Die kleine Sigrid ist schwach.
Sie nimmt auch in den Tagen nach der Entlassung kaum Muttermilch auf.
Bärbel bestellt sogar einen Priester für den Fall, dass Sigrid es nicht schafft.
Wenn sie schon sterben muss, dann soll sie wenigstens in den Himmel kommen.
Vater Peter treibt sich währenddessen Tage und Nächte lang in Bars rum und versucht seinen Kummer in Alkohol zu ertränken.
Dass seine Tochter eine Behinderung hat, damit kommt er nicht klar.
Statt seiner Frau zur Seite zu stehen, kippt er also einen nach dem anderen den Rachen runter.
Und während Peter säuft und Birgit bangt, rätseln die Ärztinnen im Krankenhaus noch immer darüber,
was es mit Sigrids Behinderung auf sich haben könnte.
Etwa zur selben Zeit hat der Hamburger Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz das Gefühl, etwas auf der Spur zu sein.
Widukind Lenz ist ein schlanker, zurückhaltend wirkender Mann mit markanten Gesichtszügen und Hornbrille.
Auf Fotos sieht man ihn meist ernst mit einer gewissen Nachdenklichkeit im Blick und einem freundlich wirkenden Wesen.
Lenz ist ein ruhiger, bescheidener Mann, der in seinem Umfeld als ehrlich und wissbegierig gilt.
Er schreibt Gedichte und malt gerne.
Mit seiner Frau, die ebenfalls Medizinerin ist, hat er zwei Kinder.
Und kürzlich hatte Widukind Lenz einen Rechtsanwalt kontaktiert.
Karl Hermann Schulte-Hillen war erst vor kurzem Onkel geworden.
Seine Schwester brachte eine Tochter zur Welt, ohne Arme und ohne Daumen und Zeigefinger.
Erklären konnte sich die Fehlbildung niemand.
Als Schulte-Hillens Frau dann sechs Wochen später ihrem Sohn gebar, wies der sehr ähnliche Fehlbildung auf.
Er wurde ohne Schultergelenke geboren, seine Arme sind nur etwa ein Drittel so lang wie üblich und er hat jeweils nur drei Finger an den Händen.
Vielleicht ein genetischer Defekt hatte man vermutet.
Auch deswegen hat er Widukind Lenz kontaktiert.
Der angehende Professor hat sich auf Fehlbildungen bei Kindern spezialisiert.
Auch der drahtige Humangenetiker Widukind Lenz hatte einen Gendefekt zunächst für möglich gehalten.
Aber als der Anwalt dann berichtete, dass in seiner Heimatstadt Menten in letzter Zeit weitere Neugeborene ohne Arme, Beine oder Ohren auf die Welt kamen, wurde auch der 42-jährige Mediziner stutzig.
Widukind Lenz treibt seine Neugier und seinen Berufsethos.
Er will jetzt unbedingt wissen, ob hier etwas nicht stimmt.
Eine lange und fast schon detektivische Spurensuche beginnt.
Während Lenz recherchiert, ob es tatsächlich einen Anstieg von Neugeborenen mit Fehlbildungen gibt, ahnt er noch nicht, welche gesellschaftlichen Ausmaße die Lösung des Rätsels annehmen wird.
Zunächst erweist sich die Suche auch als schwierig.
Denn eine Meldepflicht dafür, dass Kinder mit Behinderung geboren wurden, gibt es nicht mehr, seit sie im Nationalsozialismus dazu benutzt wurde, genau solche ausfindig zu machen und zu töten.
In Hamburg allerdings gibt es eine Besonderheit.
In einer karitativen Einrichtung wurden seit 1850 alle Fälle von Kindern mit Fehlbildungen dokumentiert.
Und anhand der Unterlagen kann Lenz feststellen, dass alleine im letzten Jahr in der Hansestadt 50 Kinder mit angeborenen Dismelin, also Fehlbildungen von Gliedmaßen, zur Welt gekommen sind.
Und dass diese Zahl ein signifikanter Anstieg im Vergleich zu den vorherigen Jahren ist.
Die Tage verbringen Lenz und Schulte-Hillen nun damit, sich mit anderen MedizinerInnen und WissenschaftlerInnen auszutauschen.
Für jeden gefundenen Fall setzen Mediziner Lenz und Anwaltsschulte-Hillen Stecknadeln auf einer Deutschlandkarte und stellen schon bald fest,
das Problem betrifft nicht nur das Sauerland und die Hansestadt, sondern die ganze BRD.
Und das bereits seit zwei Jahren.
Wirkliche Erklärung dafür konnte bisher jedoch niemand liefern.
Manche KollegInnen gehen weiterhin von genetischen Faktoren aus, andere von Umweltgiften, die man über das Essen zu sich nimmt.
Die bis dato aber gängigste These ist, dass radioaktive Strahlung zu den Fehlbildungen bei Neugeborenen führt,
und zwar hervorgerufen durch internationale Atomwaffentests.
Lenz stößt auf einen Bericht des Chefs des Bayreuther Kinderklinikums,
der 1958 in der schwäbischen Landeszeitung eine These der Öffentlichkeit präsentiert hatte.
Zitat,
Einmal kurz zu dieser These.
In den 50er Jahren wurden weltweit hunderte Atomwaffentests durchgeführt.
Die USA und die Sowjetunion steigerten in dieser Zeit massiv ihr Atomwaffenarsenal
und testeten regelmäßig überirdisch und ohne Rücksicht auf grenzüberschreitende Strahlenfolgen.
Auch Frankreich hat 1960 mit Nukleartests angefangen, unter anderem in der algerischen Sahara.
Ja, und diese Versuche führten zu einem deutlichen Anstieg der radioaktiven Belastung in der Atmosphäre,
die durch Wind und Wetter überall verteilt wurde.
Und weil es in der Zeit eben diese Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen gab,
rückte damals die Vermutung in den Fokus, dass überirdische Atomtests mit ihren globalen Strahlenfolgen dafür mitverantwortlich sein könnten.
Wie du könnt Lenz und Karl Hermann Schulte-Hillen kommt eine Sache aber seltsam vor.
Wenn Sie so auf Ihre mit Nadeln durchstochene Deutschlandkarte schauen,
dann sehen Sie hinter der gezeichneten Grenze zur DDR fast gar keine Fälle von Dismilien.
Zwar hat Lenz keinen direkten Zugang zu Daten aus der DDR.
Durch den Austausch mit KollegInnen und öffentlich zugänglichen Dokumenten findet er aber heraus,
dass die Fehlbildungen von Neugeborenen fast ausschließlich in der BRD angestiegen sind.
Radioaktive Strahlung aber hätte nicht vor menschengemachten ideologischen Mauern Halt gemacht.
Also verwerfen Lenz und Schulte-Hillen die gängige These und beginnen damit, betroffene Eltern zu Hause zu besuchen.
Sie stellen ihnen etliche Fragen und suchen nach Dingen, die sie einen.
Sie brauchen diesen einen entscheidenden Hinweis, der ihnen eine logische Antwort auf das liefert,
was sie in den letzten Wochen in akribischer Arbeit Stück für Stück zusammengesetzt haben.
Und schließlich finden sie ihn.
Es gibt eine auffällige Gemeinsamkeit bei den Antworten rund um die Hausapotheke.
Immer wenn Lenz oder Schulte-Hillen danach oder nach Medikamenteneinnahme in der Schwangerschaft fragen,
ploppt ein Mittel auf.
Und schon bald sind sich die beiden Männer sicher.
Die Ursachen für die Fehlbildung liegen nicht an Gendefekten, Umweltgiften oder Atomwaffentests.
Lenz notiert in seinem Bericht, Zitat,
Eine sehr intensive Fahndung nach allen möglichen Faktoren hat nur einen einzigen Faktor erkennen lassen,
der regelmäßig in der Anamnese vorhanden war.
In jedem einzelnen Fall wurde in den ersten Schwangerschaftsmonaten Kontergan genommen.
Ich frage mich jetzt, wenn ich mir die Statistiken unseres Podcasts so anschaue,
dann sehe ich, dass über 60 Prozent zwischen Anfang 20 und Mitte 30 sind.
Heißt, da können schon einige drunter sein, die noch nie was davon gehört haben,
weil es natürlich auch mittlerweile schon sehr lang her ist.
Kontergan ist damals seit vier Jahren auf dem Markt und wird erst mal als Wunderwaffe zur Beruhigung eingesetzt.
Es ist damals super beliebt, denn als es 1957 auf den Markt kommt,
ist der Krieg bei vielen Deutschen noch präsent und raubt ihnen den Schlaf.
Und dabei wollen viele in Deutschland der Nachkriegsjahre vor allem eines,
nämlich vergessen und wenn es nur für ein paar Stunden im Schlaf ist.
Deswegen sind Schlaf und Beruhigungsmittel richtig hoch im Kurs.
Kontergan, ein Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid, kommt damals wie gerufen,
denn es macht im Gegensatz zu Barbituraten nicht abhängig.
Ruhe ohne Reue, heißt es damals in der Werbung.
Zitat, dieses gefahrenlose Medikament belastet den Leberstoffwechsel nicht,
beeinflusst weder den Blutdruck noch den Kreislauf und wird auch von empfindlichen Patienten gut vertragen.
Schlaf und Ruhe, Kontergan.
So sicher wie Zuckerplätzchen, sagt der Hersteller Chemie Grünenthal.
Und die Menschen verschlingen die Tabletten auch wie solche.
Innerhalb weniger Monate sichert sich Grünenthal mit Kontergan einen großen Marktanteil in Westdeutschland.
Bis Ende 1960 werden rund 300 Millionen Tabletten verkauft.
Irgendwann liegt das Zeug bei fast jeder Familie in der Schublade.
Neben Kontergan vertreibt Grünenthal noch weitere Thalidomid-haltige Medikamente in Deutschland.
Einige werden wie Kontergan als Schlaf- und Beruhigungsmittel beworben.
Dann gibt es noch Kombinationspräparate, die unter anderem zur Behandlung von grippalen Infekten eingesetzt werden.
Und dann gibt es auch noch ein Hustenmittel, in dem ebenfalls Thalidomid enthalten ist.
Eigentlich war das Familienunternehmen Grünenthal auf Kosmetik- und Zahnpflegeprodukte spezialisiert
und hatte kaum medizinische Erfahrungen.
Man kann sich also vorstellen, dass die Firma ihr Glück damals kaum fassen kann,
als Kontergan zum Verkaufsschlager wird und damit zur wahren Gelddruckmaschine.
Das ist nicht nur für Grünenthal ein Erfolg,
sondern auch für Deutschland.
Made in Germany exportiert in über 70 Länder.
Grünenthal vertreibt den Wirkstoff Thalidomid nicht nur in Deutschland selbst,
sondern liefert auch an zahlreiche Lizenznehmer im Ausland.
Und diese Lizenznehmer bringen dann Thalidomid-haltige Medikamente unter eigenen Markennamen
in den jeweiligen Ländern auf den Markt.
Also heißt Grünenthal liefert den Wirkstoff und überwacht anfangs teilweise sogar die Qualitätskontrolle
der produzierten Chargen.
Es gibt Lizenzvereinbarungen mit Großbritannien, Australien und Schweden,
die das Medikament aber eigenverantwortlich unter verschiedenen Handelsnamen verkaufen.
Also wir sehen, Thalidomid ist eine wahnsinnige Erfolgsgeschichte für Grünenthal.
Und genau das entspricht damals den wirtschaftspolitischen Zielen der jungen Bundesrepublik.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der deutsche Pharmasektor schwer angeschlagen.
Und nun erlebte er durch Kontergan und ähnliche Produkte eine Renaissance.
Und das will man damals auch beibehalten, und zwar durch möglichst wenig staatliche Einmischung.
Die Nachkriegswirtschaft folgt dem Prinzip der Selbstregulierung.
Also Kontrolle gilt als Wachstumsbremse.
Damals gibt es kein einheitliches Arzneimittelgesetz,
also kein zentrales staatliches Zulassungsverfahren für Arzneimittel,
keine klaren gesetzlichen Vorgaben für klinische Prüfungen,
kein Gesundheitsministerium und kaum Regularien.
Alles ist dem Wirtschaftswachstum untergeordnet.
Und das wird zum Problem.
Denn Grünenthal führte vor der Markteinführung
keine systematischen klinischen Studien am Menschen durch,
so wie wir sie heute kennen.
Wir haben mit Bettina Erd darüber gesprochen.
Sie ist Medizinerin und selbst Kontergan-Betroffene und sagt,
es gab schon Tests für Schwangere.
Die waren halt nur für die Katz.
Es wurde an schwangeren Mäusen getestet.
Und man dachte damals, wenn das bei einem Tier toxisch ist,
dann ist es bei allen Tieren so.
Aber diese fehlbildungsfördernde Wirkung von Thalidomid ist artspezifisch.
Das heißt, manche Tierarten reagieren empfindlich darauf
und andere hingegen gar nicht.
Und deshalb waren die damals durchgeführten Tierversuche
nicht geeignet, das Risiko für Menschen zuverlässig auszuschließen.
Und weil Kontergan auch gegen Übelkeit half,
wurde Kontergan von ÄrztInnen auch Schwangeren empfohlen,
wo es vor allem in der ersten Zeit enorme Schäden verursachte,
wie Bettina Erd uns erklärt hat.
Ab dem 34. bis zum 52. Tag nach Ausbleiben der Regel
sind die jetzt registrierten Schäden entstanden.
Wenn Thalidomid vorher von den Schwangeren genommen wurde,
waren die Schäden in der Regel so gravierend,
dass es eine Fehlgeburt gab.
Bei späterer Einnahme wird das Wachstum der Gefäße
negativ beeinflusst, aber die Organe sind dann angelegt.
Diese Zeit in der Schwangerschaft nennt man auch das kritische Zeitfenster.
Da bilden sich alle lebenswichtigen Organe und Körperstrukturen.
Und nimmt man in dieser Zeit den Wirkstoff Thalidomid zu sich,
hat das verheerende Auswirkungen auf die Embryonalentwicklung, so Erd.
Auf der einen Seite wurde die Blutgefäßneubildung behindert.
Das ist auch bei Erwachsenen so.
Dann wirkt es in jeder Zelle auch noch giftig
und auch in Verbindung mit anderen Zellsubstanzen
und auch die Abbauprodukte von Thalidomid sind in der Zelle auch zum Teil giftig.
Insbesondere wirkt es auf einen Eiweißstoff im Zellen, der Cereplon heißt.
Wird also die Bildung neuer Blutgefäße gehemmt,
das Zellwachstum gestört und eben dieser bestimmte Eiweißstoff blockiert,
stoppt das Wachstum von Arm und Bein, was diese Verkürzung verursacht.
Teilweise kommt es auch gar nicht erst zur Bildung
und das entstehende Amelien,
also dass ein Körperteil von Geburt an überhaupt nicht angelegt wird.
Es kommt aber auch zur Fehlbildung an Ohren, Augen und inneren Organen.
Diese ganzen Erkenntnisse, was im Körper gerade bei Schwangeren,
die das Medikament einnehmen, passiert,
die haben MedizinerInnen zur damaligen Zeit noch nicht.
Aber der Humangenetiker Widukind Lenz und der Anwalt Karl Hermann Schulte-Hillen
haben bereits eine Ahnung, was Kontergan alles anrichten kann.
Schulte-Hillens Frau hatte in der Schwangerschaft
nur eine einzige Tablette Kontergan genommen,
und zwar in der Nacht, als ihr Vater starb.
Zu dem Zeitpunkt wusste sie nicht einmal, dass sie schwanger war.
Eine Tablette hatte ausgereicht, um das Wachstum der Arme ihres Kindes zu hemmen.
Wie groß mag der Schaden sein?
Wie viele Kinder kamen durch Kontergan und ähnliche Medikamente
mit einer Behinderung oder Tod auf die Welt?
Das alles können Lenz und Schulte-Hillen im Herbst 1961 noch nicht abschätzen.
Aber sie wissen, dass sie keine Zeit zu verlieren haben.
Jeder Tag, an dem sie nicht handeln,
werden weitere Schwangere das Medikament zu sich nehmen.
Das Mittel muss so schnell wie möglich vom Markt genommen werden.
Es ist der 15. November 1961,
einige Wochen später, als Videokind Lenz den Hörer in die Hand nimmt,
um einen bedeutsamen Anruf zu tätigen.
Er will die Firma Grünental anrufen.
Lenz weiß, dass er ein Problem hat.
Er hat keinen Beweis dafür,
dass die Fehlbildungen durch Kontergan verursacht werden.
Nur Indizien, die aber allesamt in eine Richtung zeigen,
zur Firma Grünental und dem Wirkstoff Thalidomid.
Die Zuständigen dort müssen ihm einfach zuhören und seinen Verdacht ernst nehmen.
Immerhin geht es hier um Leben und Tod.
Lenz wählt jetzt also die Nummer von Heinrich Mück da,
dem Forschungsleiter von Grünental.
Und dass diese zwei Männer jetzt hier in Kontakt treten, ist interessant.
Das muss ich kurz zum Hintergrund erklären.
Der Vater von Videokind Lenz war Fritz Lenz.
Ebenfalls Humangenetiker,
aber eben auch einer der führenden Rassenhygieniker und Eugeniker im Dritten Reich.
Mitglied der NSDAP und damals auch an den Beratungen zu einem Euthanasie-Programm beteiligt.
Darüber haben wir ja im Podcast auch schon öfter gesprochen.
Das sogenannte Euthanasie-Programm des NS-Regimes führte zur systematischen Ermordung von Menschen
mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen und anderen als lebensunwert geltenden Merkmalen.
Vorher hatte das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 bereits die Zwangssterilisation von Menschen erlaubt,
die nach nationalsozialistischer Ideologie als erbkrank galten.
Zwischen 1939 und 1945 wurden im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten rund 300.000 Menschen mit Behinderungen ermordet.
Und Mück da wiederum, der Forschungsleiter von Grünental, hat selbst eine NS-Vergangenheit.
Die Zeit liegt damals ja noch gar nicht so lange zurück, ist ein bisschen mehr als 15 Jahre her.
Und Heinrich Mück da war ebenfalls in der NSDAP und während des NS-Regimes Chemiker, Arzt und Pharmakologe.
Und im besetzten Polen war er an medizinischen Experimenten beteiligt, bei dem KZ-InsassInnen als Versuchspersonen für Impfstoffe gegen Fleckfieber benutzt wurden.
Einige starben dabei, deswegen wurde er nach dem Krieg in Polen als Kriegsverbrecher gesucht, konnte sich aber nach Westdeutschland absetzen.
Eine Anklage wegen seiner Taten erfolgte nie und nur ein paar Jahre nach Kriegsende wurde er dann Forschungsleiter bei der damals neu gegründeten Chemie Grünental GmbH.
Und unter seiner Leitung wurde damals Thalidomid entwickelt.
Lenz konfrontiert jetzt also Mück da mit seinen Untersuchungen und sagt, dass er den dringenden Verdacht hegt,
dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Fehlbildungen bei Neugeborenen und dem Einnehmen von Kontergan gibt.
Er halte es für seine Pflicht, ihm, seinem Kollegen, seine Beobachtungen und Befürchtungen mitzuteilen.
Lenz fordert Mück da auf, das Medikament Kontergan unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen.
Der Humangenetiker rechnet vermutlich mit vielem, aber nicht mit dem, was jetzt passiert.
Denn Mück da zeigt keine Einsicht.
Im Gegenteil.
Er versucht Lenz einzuschüchtern.
Er müsse mit schwerwiegenden juristischen Konsequenzen rechnen, wenn er damit an die Öffentlichkeit gehen würde.
Das ist ein herber Rückschlag, weiß Lenz.
Jeden Tag nehmen Menschen weltweit Kontergan zu sich.
Jeden Tag gefährdet die Firma damit das Leben ungeborener Kinder.
Am nächsten Tag versucht Lenz, die Firma noch einmal schriftlich zur Umstimmung zu bewegen und pocht darauf, dass Grüntal jetzt dringend handeln muss.
Doch auch dieser Versuch bleibt erfolglos.
Lenz steckt in einer moralischen Klemme.
Dass das Unternehmen kooperiert, wäre in dieser Phase so entscheidend, wo noch die eindeutigen Beweise für seine These fehlen.
Einfach so an die Öffentlichkeit gehen kann er damit nicht.
Aber es verstreicht wichtige Zeit.
Drei Tage nach dem Telefonat startet die Tagung der rheinisch-westfälischen Kinderärzte in Düsseldorf.
Und Lenz muss jetzt entscheiden, ob er das Forum für seinen Verdacht nutzt oder nicht.
Eigentlich wollte er gar nicht teilnehmen.
Doch dann weiß er sich nicht mehr anders zu helfen.
Im Rahmen eines Vortrags schildert er, dass nach seinen Recherchen mehrere Mütter, die Kinder mit schweren Fehlbildungen der Gliedmaßen geboren hätten,
in der Frühschwangerschaft eine bestimmte Substanz genommen hätten.
Zitat Lenz.
Als Mensch und Staatsbürger kann ich es nicht verantworten, meine Beobachtungen zu verschweigen.
Lenz nennt hier den Namen des Medikaments zwar nicht.
Die meisten wissen aber sofort, um welches Mittel es sich handelt.
Denn er beschreibt ziemlich gut, was das Medikament angeblich kann.
Und wie gesagt, Kontergan ist damals ein Verkaufsschlager.
Und auch wenn einige ZuhörerInnen die Ausführungen von Lenz noch mit Häme verfolgen,
wird es später doch dieser Vortrag sein, der den entscheidenden Stein ins Rollen bringen wird.
Weitere fünf Tage vergehen, in denen Grüntal untätig bleibt und weitere werdende Mütter wegen ihrer Schwangerschaftsbeschwerden zur schädlichen Medizin greifen.
In der Zwischenzeit haben Widukind Lenz und Karl Hermann Schulte-Hillen dem Innenministerium von NRW wie gesagt, damals gab es ja noch kein Gesundheitsministerium eine formale Mitteilung übergeben, in der sie ihren Verdacht formulierten.
Daraufhin kommt es am 24. November zu einer Besprechung im Düsseldorfer Innenministerium.
Mit dabei sind VertreterInnen von Grüntal.
Auch bei diesem Treffen lehnt die Firma ab, das Medikament sofort vom Markt zu nehmen und droht sogar mit Schadensersatzforderungen, sollten die Anschuldigungen haltlos sein.
Das Einzige, worauf sich die Firma einlässt, ist, die Verpackung mit einer Aufschrift nicht in der Schwangerschaft zu nehmen, zu kennzeichnen.
Erst zwei Tage später erfährt die Öffentlichkeit von der Gefahr, die von Kontergan ausgeht.
Auch weil die Presse bei der Tagung der KinderärztInnen anwesend war, auf der Lenz den Vortrag hielt, erscheint am 26. November elf Tage, nachdem Lenz Mütter darum bat, das Medikament vom Markt zu nehmen, ein Artikel in der Welt am Sonntag.
Dort wird die These von Lenz aufgegriffen und dieser Artikel schlägt hohe Wellen.
Doch mit den neuen Recherchen kommt noch etwas ans Licht.
Mediziner Lenz und Anwalt Schulte Hillen waren nicht die Ersten, die Grüntal damit konfrontierten, dass ihr absatzstarkes Medikament nicht so ungefährlich ist, wie es immer beworben wurde.
Bereits Ende 1959 gingen die ersten Hinweise bei der Firma ein, dass Kontergan schwerwiegende Nebenwirkungen verursachen könnte.
Der Neurologe Dr. Horst Frenkel hatte dann im Jahr 1960 einen alarmierenden Bericht verfasst, in dem er von massiven Nervenschäden bei PatientInnen sprach, die Thalidomid eingenommen hatten.
Dieser Artikel lag im Herbst desselben Jahres druckfertig bei der Fachzeitschrift Medizinische Welt.
Doch veröffentlicht wurde er erst im Mai 1961.
Der Grund für die Verzögerung ist bis heute nicht offiziell geklärt, aber es gibt Hinweise darauf, dass die Veröffentlichung wegen der zahlreichen Werbeanzeigen, die Grüntal in der Zeitschrift schaltete, verhindert wurde.
Frenkels Warnung jedenfalls versandete.
Erst im August 1961 wurde Kontergan in einigen Bundesländern rezeptpflichtig, nachdem man nach etlichen Meldungen von Nervenschäden nicht mehr hatte behaupten können,
dass Kontergan so ungiftig sei, wie Grüntal immer behauptet hatte.
Hätte Grüntal damals genauer zugehört, hätte die Firma damals schon die Gesundheit der Menschen über ihren finanziellen Profit gestellt,
dann wären nicht zwei Jahre ins Land gegangen, in denen etliche ahnungslose und noch ungeborene Menschen massive gesundheitliche Schäden davon getragen hätten.
Menschen wie Sigrid Queller, die, ihr erinnert euch, am 5. September 1961 in Berlin-Steglitz geboren wird.
Von den Enthüllungen bekommt Bärbel Queller in Berlin zunächst nichts mit.
Sie ist zu sehr damit beschäftigt, um das Leben ihrer kleinen Sigrid zu bangen.
Aber ihr kleines Mädchen scheint eine Kämpfernatur zu sein und überlebt.
Erst im Dezember 1961 erfährt Bärbel vom Kontergan-Skandal im Radio
und hat jetzt endlich eine Antwort auf die Frage, was in der Schwangerschaft schiefgelaufen ist.
Es waren die kleinen weißen Kontergan-Pillen, die sie gegen ihre Schwangerschaftsbeschwerden vom Arzt empfohlen bekommen hatte,
die ihr Kind fast töteten und die dafür sorgten, dass ihr ganzes Leben jetzt auf dem Kopf steht.
Denn Bärbel ist mit der Pflege von Sigrid heillos überfordert,
fragt sich, wie ihre Kleine jemals ein eigenständiges Leben leben soll.
Zu den Sorgen um ihre Tochter kommt auch noch hinzu, dass ihr Mann noch immer nicht akzeptieren kann, dass Sigrid eine Behinderung hat.
Außerdem treffen sie die abwertenden Blicke und Sprüche anderer Mütter,
die erschrocken zurückzucken, wenn sie sich über den Kinderwagen beugen und dann die verkürzten Arme sehen.
Als Sigrid ein Jahr alt ist, raten ÄrztInnen Bärbel schließlich dazu, Sigrid in eine Kinderklinik abzugeben.
Das ist damals tatsächlich keine Seltenheit,
weil viele Eltern wegen fehlender Unterstützung mit der Versorgung ihrer Kinder überfordert sind,
geben sie sie dann in Wohneinrichtungen ab, oft nur für die ersten Jahre, um sie auf das Leben vorzubereiten, so heißt es damals.
Und auch Sigrid ist eine von denen, die jetzt also mit ca. einem Jahr in so eine Einrichtung soll.
Und zwar in das orthopädische Krankenhaus Oskar-Heleneheim in der Kinderstation 1.
Zusammen mit 20 anderen kontergangeschädigten Kindern soll sie hier lernen, mit ihrer Beeinträchtigung umzugehen.
So zumindest die Idee.
Doch wenn man Sigrid Queller heute nach ihrer Zeit im Oskar-Heleneheim fragt,
vergeht ihr das Lächeln, das sie sonst trägt.
Wir haben mit ihr gesprochen.
Aus heutiger Sicht ganz sicherlich, das ist das Schlimmste, was man hätte tun können für uns.
Sigrid weiß heute nicht mehr viel von der Zeit damals.
Sie ist zu der Zeit ja auch noch sehr klein.
Aber was sich bei ihr ins Gedächtnis gebrannt hat, sind die regelmäßigen Visiten der sogenannten Fachleute.
Sigrid und die anderen kontergangeschädigten Kinder werden damals in einen Hörsaal gebracht,
wo sie von Ärztinnen und angehenden Ärztinnen analysiert werden.
Wie Ausstellungsstücke, sagt Sigrid Queller.
Wir wurden eben als Beispiel dahingestellt und zum Teil eben auch nur mit Unterhose bekleidet.
Und alle Orthopäden stürzten sich auf uns wie blöde.
Weil nämlich plötzlich wieder irgendwelche neuen Prothesen, neuen Erfindungen möglich wären.
Weil es vor dem Konterganskandal wenig vergleichbare Fälle gab und dann plötzlich so viele,
sieht sich die Medizintechnik damals in Handlungsnot schnell auf den hohen Bedarf zu reagieren.
Deswegen werden in Einrichtungen wie dem Oskar-Heleneheim verschiedene Prothesenmodelle an Kindern getestet.
Die entsprechen zu der Zeit noch gar nicht den heutigen Standards.
Viele Kinder wissen auch nicht, was da mit ihnen geschieht.
Die Ärztinnen befestigen die Prothesen mit Riemen und Ledergurten ganz eng am Körper, was den Kindern oft wehtut.
Außerdem sind die Geräte unhandlich und meist auch eher eine zusätzliche Belastung.
So sie kräht.
Als ich auch aus dem Krankenhaus raus war, hatte ich auch so eine Prothese mit zwei langen Armen,
die unglaublich schwer waren aus meiner Perspektive,
mit Pressluftflaschen auf dem Rücken, damit die funktionieren.
Einmal umgekippt, ich kann nie wieder hoch.
Das war eine Quälerei ohne Ende für uns alle.
Aber die Ärzte haben halt den Eltern das alles eingeredet,
dass das super gut ist und dass wir das alles machen müssen.
Einem von uns haben sie auch, damit die Prothese besser fasst, die Füße amputiert.
Das wurde der Mutter dann so angeraten, das zu tun, damit die Prothese passt.
Die Prothesen und das fremdbestimmt sein ist für Sigrid damals aber noch nicht das Schlimmste.
Der Alltag im Heim ist geprägt von einem strikten Zeitplan.
Es gibt sogar streng geregelte Töpfchenzeiten.
Was dabei aber viel zu kurz kommt, sind Nähe und Geborgenheit.
Im ersten Jahr, da ist Sigrid gerade mal ein Jahr alt,
darf sie ihre Mutter nur einmal am Tag für eine Stunde sehen.
Berührungen sind dabei aber verboten.
Die beiden werden von einer Glasscheibe getrennt.
Aus sicherheitshygienischen Gründen, heißt es damals.
Keine Umarmung, kein Übersköpfchen streicheln, keine Nähe.
Jahre lang. Sigrid hat damals das Gefühl, jeden Tag, wenn ihre Mutter wieder gehen muss, aufs Neue verlassen zu werden.
Aus meiner Perspektive haben mich ja meine Mutter und meinen Vater verlassen.
Die waren für meine Schwester da, aber nicht für mich.
Ich hatte keine Familie.
So fühlte sich das zumindest an.
Und das ist etwas, was uns angetan wurde.
Ein Familienbruch.
Das Vertrauen, dass jemand da bleibt, wenn man eine Bindung hat.
Vielen Kindern, die damals in Heimen aufwachsen, wird das Gefühl vermittelt, eine Last für ihre Eltern und das System zu sein.
Bei Sigrid kommt auch noch hinzu, dass sie mit ansehen muss, wie andere Kinder jeden Tag von Mama und Papa besucht werden.
Doch zu ihr kommt immer nur Mutter Bärbel, manchmal begleitet von ihrer großen Schwester.
Ihr Vater bleibt fern.
Sigrid spürt früh, dass er sie nicht annehmen kann, dass er ihr lieber aus dem Weg geht.
Das gibt ihr das Gefühl, nicht gewollt zu sein.
Ganze vier Jahre bleibt Sigrid in dem Heim.
Dann holt ihre Mutter sie zurück nach Hause, weil sie bald in die Schule gehen muss.
Das Verhältnis zu ihrem Vater bleibt weiterhin unterkühlt.
Auch jetzt kann er seine Tochter noch immer nicht annehmen.
Zu Hause dann setzte sich das ja dann fort, wo mir dann auch erzählt wurde von meiner Patentante,
dass mein Vater mit meiner Schwester gespielt hat und ich da gestanden habe, warum spielt mein Papa nicht mit mir.
Für Sigrid ist das nach den Erfahrungen im Heim wie ein zweites Verstoßenwerden.
Dabei bräuchte sie gerade jetzt die Unterstützung beider Eltern.
Jetzt, wo sie in einer Umgebung lebt, in der nicht alles auf ihre Behinderung angepasst ist.
Sigrid hat das Gefühl, sich anpassen zu müssen und nicht auffallen zu dürfen, hat sie uns erzählt.
Früher haben ja viele von uns Poncho getragen, damit niemand sieht, dass da keine Arme sind.
Ein großes Versteckspiel.
Ein Versteckspiel, das nicht immer funktioniert.
Ich war ja auch viel mit den Bussen unterwegs und da sind schon auch Sprüche gekommen von anderen Jugendlichen.
Da kamen schon so Schimpfwörter und so weiter rüber.
Tochter von Dracula zum Beispiel.
Das war so das ganz, das Schlimmste, was ich gehört hatte.
Ich habe mich zu tief verletzt.
Ich habe mich total hässlich und blöd gefühlt.
Also vor allen Dingen aber hässlich.
Was Sigrid in diesen Jahren erlebt, steht exemplarisch für das, was viele Talidomid-geschädigte Kinder durchmachen.
Sie müssen nicht nur mit den Folgen der Schädigung leben, sondern auch mit Unverständnis und mit Ausgrenzung.
Andere machen sie wegen ihrer sichtbaren Fehlbildungen zur Zielscheibe von Spott und Ablehnung.
Und da will ich mal ganz kurz drüber sprechen, denn die Reaktionen auf die kontergangeschädigten Kinder haben natürlich auch was mit der Zeit zu tun, in der wir uns da gerade befinden.
Also das Ende des dritten Reichs war, ich habe es vorhin schon gesagt, da gerade erst ein bisschen mehr als 15 Jahre her.
Und eine richtige Aufarbeitung hatte zu dem Zeitpunkt noch lange nicht stattgefunden.
Wir sehen das ja auch an der Chefetage von Grünental.
Da sitzt immer noch jemand, der Experimente mit Menschen gemacht hat.
Ein paar Jahre später in einer entscheidenden Rolle in einem riesigen Pharmaunternehmen.
Ich habe für diese Folge mit der Sensitivity-Readerin Katharina Seck gesprochen.
Damit wir hier nicht ungewollt diskriminierend erzählen, obwohl diese Zeit für die Betroffenen damals natürlich von Diskriminierung geprägt ist.
Und das war jetzt auch so ein bisschen ein Balanceakt, das darzustellen und gleichzeitig nicht selbst die Sprache von damals zu reproduzieren.
Denn auch die war damals natürlich unfassbar verachtend und diskriminierend.
Und Katharina Seck hat uns erzählt, dass auch dieser Umgang mit den Betroffenen damals halt noch sehr von dem tief verwurzelten Ableismus zeugt,
die die Nationalsozialisten gesät haben und der natürlich eh auch vorher schon in der Gesellschaft verankert war.
Und das sieht man selbst an einigen Reaktionen der Eltern der Kinder.
Also ihr erinnert euch, ich habe es anfangs erzählt, dass Bärbel sich bei der Geburt fragt, was sie falsch gemacht hat,
dass sie ein behindertes Kind bekommen hat, als wäre das eine Strafe für Fehlverhalten.
Oder die Ablehnung von Sigrids Vater, der sich für die Behinderung seiner Tochter schämt und sich daraufhin jeden Abend einen rein stellt.
Und auch das Abschieben ins Heim, das kam ja hier in dem Fall noch nicht mal von Bärbel selbst, sondern vom medizinischen Umfeld.
Also man hat die Kinder damals auch strukturell isoliert, weil man das Abweichen von normativen Körperbildern als negativ bewertet hat.
Und man wollte diese Kinder nicht sehen und nichts von ihnen mitbekommen.
Und klar hat man gesagt, die Kinder kommen hierhin und wir bereiten sie auf das Leben vor.
Aber man wollte sie einfach auch nicht in der Mitte der Gesellschaft haben.
Katharina Seck sagt, das zieht sich bis heute durch.
Also die Isolation von behinderten Menschen in Förderschulen, Werkstätten, Wohneinrichtungen etc.
Und damit wird es Betroffenen noch schwerer gemacht.
Und das ist genau das Gegenteil von geliebter Inklusion, nämlich Abschottung.
Und das schürt dann wieder Berührungsängste und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung.
Und das raffen zur damaligen Zeit natürlich auch irgendwann viele Eltern und holen ihre Kinder zurück.
Und dann regt sich auch Widerstand.
Denn natürlich sind die mit Herausforderungen konfrontiert.
Aber wirklich Unterstützung vom Staat bekommen die Familien nicht.
Und deswegen fühlen sie sich ohnmächtig.
Und sie wollen was gegen diese Ungerechtigkeit unternehmen.
Deswegen nehmen sie ihr Schicksal nun selbst in die Hand.
Sie gründen lokale Selbsthilfegruppen, um Erfahrungen auszutauschen,
Informationen weiterzugeben und gegenseitige Unterstützung zu organisieren.
Viele stehen allein da, ohne finanzielle Hilfe.
Und viele, die ihre Kinder nicht in Heime abgeben wollen,
bekommen keine spezialisierte medizinische Versorgung.
In Rundbriefen suchen sie dann deutschlandweit nach Therapieplätzen für ihre Kinder.
Gerade auf dem Land ist das damals besonders schwierig.
Die Eltern fordern kostenlose Prothesen und Rollstühle.
Auch Schulbildung ist damals ein großes Thema.
Denn man ist zu der Zeit noch größtenteils der Auffassung,
dass Kinder mit einer Behinderung nicht unterrichtsfähig seien.
Und schickt sie dann eben auf Förderschulen.
Wenn überhaupt.
Manche werden nämlich gar nicht erst eingeschult.
Behörden erkennen ihr Recht auf Bildung nicht selbstverständlich an.
Auch dafür müssen die Eltern kämpfen.
Zwischen Wut und Unverständnis schließen sie sich zusammen,
um eine gesellschaftliche Teilhabe der Kinder zu ermöglichen.
Schließlich entsteht der Bundesverband Kontergangeschädigter.
Das Ziel ist klar.
Mit Protestaktionen, offenen Briefen und einer Flut von Medienberichten
wollen sie Aufmerksamkeit schaffen.
Sie wollen Menschen mit Behinderungen sichtbarer machen.
Deutschland hat jetzt sehr viel mehr Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft.
Es soll die Aufgabe aller werden, sie mit einzubeziehen.
Zu enttabuisieren.
Doch das ist nicht der einzige Grund, wieso sich die Eltern Gehör verschaffen.
Sie wollen auch Druck aufbauen.
Auf die Politik und auf diejenigen, die all das verursacht haben.
Grünental soll zur Verantwortung gezogen werden.
Bereits am 18. Dezember 1961
leitet die Staatsanwaltschaft Aachen offiziell Ermittlungen gegen das Pharmaunternehmen Grünental ein.
Erste Anzeigen hatten unter anderem der Kinderarzt Widukind Lenz und der Anwalt Karl Hermann Schulte-Hillen gestellt,
der ja selbst Vater eines betroffenen Kindes ist.
Ihr Vorwurf?
Grünental habe trotz ernster Hinweise auf mögliche Schäden zu lange gezögert,
das Medikament vom Markt zu nehmen.
Doch das Ermittlungsverfahren zieht sich über Jahre hin.
Die Beweislage ist schwierig.
Es gibt kein offizielles Zulassungsverfahren für Medikamente
und deswegen auch keine Vorgaben, auf die sich die Justiz stützen könnte.
Außerdem ist Grünental selbst keine Hilfe bei der Aufklärung.
Im Gegenteil.
Die Firma geht nach dem Verkaufsstopp sofort in eine Abwehrhaltung
und verweigert den Zugriff zu internen Dokumenten.
Außerdem veröffentlicht das Unternehmen Anzeigen,
in denen es die Sicherheit von Kontergan verteidigt,
spielt seine Rolle herunter und verweist auf viele andere mögliche Ursachen
für die Fehlbildungen.
Auch die Staatsanwaltschaft Aachen ist mit dem Fall überfordert.
Immerhin ist das der erste große Arzneimittelskandal der Bundesrepublik.
Eine gesetzliche Grundlage für den Umgang mit solchen Fällen fehlt.
Besonders schwierig ist auch das Thema der Strafbarkeit vorgeburtlicher Schäden.
Das ist zu diesem Zeitpunkt juristisches Neuland.
Es stellt sich die grundsätzliche Frage,
wie ahndet man überhaupt einen Schaden, der noch im Mutterleib entstanden ist?
Im Juni 1962 übernimmt schließlich ein neuer Staatsanwalt die Ermittlungen
und treibt sie voran.
Es kommt zur Durchsuchung des Werks von Grünthal.
Interne Unterlagen werden beschlagnahmt,
darunter Berichte über Nebenwirkungen des Medikaments.
Der Staatsanwalt arbeitet dabei eng mit Videokind Lenz zusammen,
der seine Recherchen übergibt und erklärt.
Nun wird auch immer mehr das Ausmaß des Skandals deutlich.
Über 10.000 kontergangeschädigte Kinder werden weltweit identifiziert.
Davon etwa 5.000 allein in Westdeutschland.
Wie viele Fehlgeburten mit Kontergan in Verbindung zu bringen sind,
lässt sich nie abschließend klären.
Die Dunkelziffer scheint riesig.
Die Staatsanwaltschaft bereitet die Anklage vor.
Ein Kraftakt angesichts der enormen Aktenberge und der Vielzahl an Betroffenen.
Schon jetzt ist absehbar, dieser Fall wird die Justiz der jungen Bundesrepublik
vor eine nie dagewesene Herausforderung stellen
und mündet schließlich in den größten Strafprozess,
den das Land bis dahin erlebt hat.
Am 27. Mai 1968, also 6,5 Jahre nach Bekanntwerden des Skandals,
beginnt vor dem Landgericht Aachen der Mammutprozess
gegen neun leitende Mitarbeiter von Grünthal.
Darunter der Geschäftsführer Hermann Wirz und der Forschungsleiter,
unter dessen Führung Kontergan damals entstanden ist, Heinrich Mückter.
Die über 600 Seiten lange Anklageschrift haben drei Staatsanwälte vor sich liegen,
als einer von ihnen vorträgt, was den Angeklagten vorgeworfen wird.
Nach gründlichen Abwägungen bin ich zu der Überzeugung gekommen,
dass die beschuldigten Kaufleute, Mediziner und Chemiker
ihrer Sorgfaltspflicht nicht genüge geleistet haben.
Die Vorwürfe lauten Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz,
fahrlässige und vorsätzliche Körperverletzungen sowie fahrlässige Tötung.
Die Staatsanwaltschaft wirft den Männern vor,
trotz früher Hinweise auf mögliche Nebenwirkungen Kontergan weiter vertrieben
und Warnhinweise unterlassen zu haben
und damit das Leben und die Gesundheit tausender Kinder aufs Spiel gesetzt zu haben.
Konkret in diesem Prozess geht es um 497 Fälle,
um Neugeborene, die schwere Fehlbildung erlitten oder an den Folgen starben.
Eine bewusste Auswahl der Staatsanwaltschaft, denn eine vollständige Aufarbeitung aller Fälle
hätte den Rahmen des Verfahrens gesprengt.
352 ZeugInnen sind geladen 29 Sachverständige,
darunter der Kinderarzt Widukind Lenz als medizinischer Hauptgutachter.
Durch die ZeugInnen soll die Frage geklärt werden,
ob es eine Kausalität zwischen den Fehlbildungen und Thalidomid gibt.
Denn auch wenn die Öffentlichkeit in den letzten Jahren davon ausging,
final ist diese Frage noch nicht geklärt.
Sollte sich dies während des Prozesses bewahrheiten,
muss außerdem geklärt werden, ob die Mitarbeiter von Grüntal von den Risiken hätten wissen müssen.
Immerhin gab es schon in den 50er Jahren Hinweise darauf,
dass Medikamente auch das ungeborene Kind schädigen können.
Und hätten die Verantwortlichen Kontergan nicht spätestens dann vom Markt nehmen müssen,
als die ersten Nervenschäden publik wurden?
Denn spätestens da hätte man ja auch mit anderen Nebenwirkungen rechnen müssen.
Sollten die neuen Angeklagten des Unternehmens schuldig gesprochen werden,
müssten sie und ihr Pharmaunternehmen auch mit zivilrechtlichen Schadensersatzforderungen
in Milliardenhöhe rechnen.
Die Angeklagten von Grüntal kommen deshalb mit einer ganzen Armada an Anwälten zum Prozessauftakt.
Wirts, Mücker und Co. werden durch insgesamt 20 Verteidiger vertreten.
Währenddessen verlassen sich die meisten der 312 NebenklägerInnen vor allem auf einen Mann,
Anwalt Schulte Hilden.
Er vertritt mehr als 200 Eltern im Prozess.
Da er ja selbst Vater eines Betroffenen ist, sind sich seine MandantInnen sicher,
dass er ihre Interessen am besten vertreten kann.
Doch die Beweiswürdigung gestaltet sich als extrem schwierig,
denn es muss bewiesen werden, dass die Personen der Führungsebene
persönlich von der schädigenden Wirkung von Thalidomid wussten
oder es zumindest hätten wissen müssen.
Und das ist in einer Zeit, in der es kein Mailverkehr,
keine digitalen Dokumente und deswegen auch keine Aufzeichnung darüber gibt,
wer von welchen Warnungen wusste, schwer nachzuweisen.
Und es gibt noch ein weiteres Problem.
Viele Mütter haben in der Zeit der Schwangerschaft noch andere Medikamente eingenommen.
Es ist also schwer nachzuweisen, ob es wirklich nur am Kontergan lag,
einem anderen Medikament oder vielleicht auch an einer Kombination mehrerer Substanzen.
Die größte Herausforderung aber ist die Verjährung.
Denn die absolute Verjährungsfrist bei Körperverletzungsdelikten und fahrlässiger Tötung
beträgt zehn Jahre.
1961 wurde der Skandal aufgedeckt und wenig später der Verkauf des Medikaments beendet.
Das Verfahren muss also spätestens bis 1971 rechtskräftig abgeschlossen sein.
Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Und die Verteidigung nutzt jede Möglichkeit, den Prozess weiter in die Länge zu ziehen.
Immer wieder werden Krankmeldungen eingereicht, von denen Bösezungen behaupten würden, sie seien
taktisch gewesen.
Ich zum Beispiel.
Aber die Verteidiger nutzen noch weitere Mittel.
Dienstaufsichtsbeschwerden gegen die RichterInnen und Staatsanwälte, weil sie parteiisch oder
befangen seien.
Alles Anträge, die das ohnehin schon komplexe Verfahren weiter ausbremsen.
Außerdem fechten sie Gutachten an.
Vor allem das des wichtigsten Mediziners, Wiedokind Lenz.
Die Verteidigung argumentiert, dass Lenz als einer der Entdecker des Konterganskandals
voreingenommen sei, da er sich öffentlich kritisch über Grüntal geäußert habe.
Sie fordert seinen Ausschluss als Sachverständigen und hat damit Erfolg.
Das Gericht erklärt Lenz für Befangen und schließt ihn vom Verfahren aus.
Ein schwerer Schlag für die Nebenklage.
Denn wir wissen ja, Lenz hat von Anfang an alle Fälle dokumentiert und analysiert.
Bis zum Verfahren waren es über 100.
So verliert die Anklage die wichtigste Stimme im Prozess und damit auch einen Großteil ihrer
wissenschaftlichen Durchschlagskraft.
Wird es Grüntal womöglich noch schaffen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen?
Nachdem der Arzt Wiedokind Lenz aus dem Verfahren ausgeschlossen wird, scheint der Ausgang
des Prozesses so offen wie nie.
Die Lage wirkt verzwickt.
Erst die Verjährungsfrist, die immer näher rückt.
Nun der Rückschlag mit Wiedokind Lenz, dem wichtigsten Gutachter des Falls.
Doch Anfang 1970 kommt Bewegung in den Prozess, als Grüntal den betroffenen Familien einen
außergerichtlichen Vergleich anbietet.
Ziel ist es, die zivilrechtlichen Ansprüche der Familien zu klären und gleichzeitig das Strafverfahren
zu beenden.
Da die Verjährungsfrist immer näher rückt, rechnet die Verteidigung damit, dass der Vergleich
angenommen werden muss, sodass sie dadurch die Einstellung des Verfahrens erreichen.
Am 10.
April 1970 treffen sich die Staatsanwaltschaft und VertreterInnen der Opfer mit den Verteidigern
der Angeklagten.
Vermittelt werden die Gespräche durch VertreterInnen der nordrhein-westfälischen Landesregierung.
Es geht um die Höhe der Entschädigung.
Die Verhandlungen ziehen sich bis tief in die Nacht.
Grüntal bietet zunächst 10 Millionen D-Mark an.
Eine Summe, die auf knapp 5000 betroffene Familien verteilt gerade einmal etwa 2000 D-Mark
pro Familie bedeutet hätte.
Empört lehnen die OpfervertreterInnen das Angebot ab.
Sie machen Grüntal klar, dass dem Unternehmen Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe drohen.
Nach zähren Verhandlungen einigt man sich schließlich auf eine Summe von 100 Millionen D-Mark.
Das Geld soll in eine Stiftung fließen, die den Betroffenen lebenslange Renten- und Einmalzahlungen
sichern soll.
Im Gegenzug sollen die Opferfamilien schriftlich erklären, dass sie auf weitere Schadensersatzansprüche
verzichten.
Nicht alle Kontergangeschädigten bzw. deren Eltern unterschreiben die sogenannte Verzichtserklärung.
Die Zahlung der 100 Millionen D-Mark von Grüntal ist aber eigentlich daran geknüpft, dass
nur diejenigen Familien Entschädigungsleistungen bekommen, die zuvor schriftlich auf weitere
Schadensersatzansprüche gegen das Unternehmen verzichten.
Wer diese Erklärung also nicht unterschreibt, könnte theoretisch weiterhin zivilrechtlich
gegen Grüntal klagen.
Also für Grüntal bleibt das Prozessrisiko weiterhin bestehen.
Wie viele Betroffene dem Vergleich am Ende zustimmen und wie viele von ihnen ihn ablehnen, ist
öffentlich nicht bekannt.
Aber zu denjenigen, die zustimmen, gehört unter anderem auch die Familie Queller.
Der Strafprozess wird daraufhin eingestellt.
Formal wegen geringer Schuld der Angeklagten.
Ein Umstand, der für viele Betroffene schwer zu ertragen ist.
Kein offizielles Urteil, keine juristische Bestätigung einer Schuld.
Aus Sicht von Grüntal ist der Vergleich ein Befreiungsschlag.
Für viele Eltern dagegen fühlt er sich an wie Blutgeld.
Als habe sich der Pharmakonzern freigekauft, ohne Verantwortung dafür zu übernehmen, dass tausende
Kinder mit schwersten Fehlbildungen zur Welt kamen.
Mit verkürzten oder fehlenden Arm und Beinen, fehlgebildeten Händen, Füßen oder Ohren, mit
Fehlbildungen an Herz, Nieren und anderen inneren Organen.
Verursacht durch ein Medikament, das als harmloses Beruhigungsmittel verkauft worden war und mit
dem das Unternehmen über vier Jahre richtig Kasse gemacht hat.
Auch die Familie Queller nimmt die Einigung mit Grüntal mit gemischten Gefühlen auf.
Zwar bringt der Vergleich auch für sie erstmals eine gewisse finanzielle Absicherung, um die
Nachteile, die durch die verursachten Folgen der Behinderungen einhergehen, zumindest materiell
auszugleichen.
Andererseits bleibt für Sigrid und ihre Mutter das Gefühl, dass sich Grüntal und seine Mitarbeiter
mit dem Vergleich aus der Verantwortung gezogen haben.
Für Sigrid und Bärbel Queller bleibt die Einigung damals ohnehin eher ein Hintergrundrauschen.
Sie sind zu sehr mit dem Alltag und dem persönlichen Überleben beschäftigt.
Erst später engagiert sich Sigrid selbst für Rechte von Menschen mit Behinderung.
Wer sich dagegen schon früh politisch organisiert, ist die Familie Löwenhauser.
Wie Sigrid ist auch Georg Löwenhauser Jahrgang 1961 und Kontergan geschädigt.
Doch anders als Sigrid wächst Georg Löwenhauser in eine Familie hinein, die sich von Anfang an
für die Belange der Geschädigten einsetzt.
Seine Eltern sind Teil der ersten Selbsthilfegruppen, die sich schon früh zusammenschließen, um
für die Rechte ihrer Kinder zu kämpfen.
Georg Löwenhauser führt später dieses Engagement fort, wird sogar Vorsitzender des Bundesverbands
und kämpft bis heute für Verbesserungen für alle Betroffenen.
Seine Eltern leben nicht mehr, er hat mit ihnen aber immer wieder über die Zeit damals gesprochen.
Im Interview hat er uns erzählt, wieso damals so viele dem Vergleich zugestimmt haben.
Es gab einfach zu viele auch, die Geld gebraucht haben.
Und dann mein Vater hat mal zu mir gesagt, es war halt dann doch, es war die Entscheidung,
nimmt man den Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach.
Es war ein Angebot da, das für viele hilfreich war, für viele zumindest Sachen ermöglicht hat.
Und es gab ja auch eine große Unsicherheit bei unseren Eltern.
Erreicht man noch was?
Wie geht der Prozess?
Das war ja ein Strafprozess.
Da ging es ja noch gar nicht um eine Entschädigung,
sondern da ging es ja nur um die Strafbarkeit von Taviodomie.
Und eine Entschädigung wäre dann erst hinterhergekommen, eine Zivilverhandlung.
Und da war überhaupt nicht klar unseren Eltern, wie lange dauert es, hat man Erfolg.
Und dann hätte man auch erst am Ende auf irgendwelche Leistungen hoffen können oder erwarten können.
Und deshalb war es dann einfach die Entscheidung, diesen Schritt zu gehen und diesen Vergleich zu schließen.
Dass der Vergleich eine klare Schwäche hat, wird allerdings schon damals sichtbar.
Die zugesagten 100 Millionen D-Mark reichen nicht aus, um die lebenslangen Renten der Betroffenen zu finanzieren.
Die Bundesregierung muss einspringen und stellt weitere 100 Millionen D-Mark aus Steuermitteln bereit.
Dass die Allgemeinheit am Ende zahlen muss, während Grüntal juristisch ungeschoren davonkommt,
empfinden viele bis heute als bittere Ungerechtigkeit.
Zumal später, zwar erst viele Jahre später, aber immerhin, auch in Studien wissenschaftlich belegt wird,
dass das Thalidomid eben bestimmte Entwicklungsfahde blockiert.
Das hatte unsere Expertin Dr. Erd ja vorhin erklärt.
Aber seit 2004 gilt das auch als wissenschaftlich gesichert.
Doch mit dem wissenschaftlichen Beweis ist längst nicht alles geklärt.
Vor allem nicht für die Betroffenen.
Denn auch nach dem Vergleich geht ihr Kampf weiter.
Mit zunehmendem Alter werden die gesundheitlichen Probleme immer gravierender, erzählt Löwenhauser.
Denn der Alltag vieler Kontergan-Geschädigter ist geprägt von enormen körperlichen Belastungen,
hat er uns erzählt.
Wir haben ja auch an vielen Stellen ganz andere Belastungen,
wo der Körper nicht dazu eigentlich vorgesehen ist in der Evolution mittlerweile.
Wir haben kaputte Zähne, weil wir viel das mit den Zähnen festhalten, aufmachen, mal zupacken.
Wir müssen uns viel weiter runterrücken, viel belastender durch die Wirbelsäule, ganz, ganz anders, viel, viel stärker.
Bandscheiben-Vorfälle und große Probleme auch, wo einfach viel weniger Reserve da ist, die der Körper noch irgendwo mobilisieren kann.
Auch die bürokratischen Hürden frustrieren.
Die Kontergan-Stiftung ist ja eigentlich geschaffen worden, um Unterstützung für die Betroffenen anzubieten.
Aber die wird von vielen als schwerfällig und unkooperativ erlebt.
Anträge auf Unterstützung werden abgelehnt.
Jahrelange Rechtsstreitigkeiten sind auch keine Seltenheit.
Doch ein medizinisches Gutachten bringt schließlich neue Entwicklungen mit sich.
Die sogenannte Heidelberger Kontergan-Studie von 2012 zeigt schwarz auf weiß,
dass die Betroffenen massive gesundheitliche Einbußen erleiden.
2013 reagiert die Politik.
Der Bundestag beschließt eine deutliche Rentenerhöhung und stellt jährlich 90 Millionen Euro bereit.
Für viele ist das zu spät, für manche aber immerhin ein Zeichen der späten Anerkennung.
Den Pharmakonzern Grünental leitet mittlerweile eine neue Generation.
Firmenchef ist Michael Wirz, Sohn des ehemaligen Unternehmenschefs und damaligen Angeklagten Hermann Wirz.
Knapp 50 Jahre nach Aufkommen des Skandals will das Unternehmen endlich Verantwortung übernehmen.
2012 wird die Grünental Stiftung zur Unterstützung von Thalidomid-Betroffenen gegründet.
Sie unterstützt Projekte und Maßnahmen, die Betroffenen ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen.
Etwa durch unbürokratische Hilfe beim Umbau von Autos oder der Anschaffung von Hilfsmitteln.
Georg Löwenhauser ist dabei eine wichtige Schnittstelle zwischen Betroffenen und Grünental.
2021 geschieht etwas, worauf er und andere Jahrzehnte gewartet haben.
Löwenhauser erhält einen Anruf aus der Firmenzentrale.
Eine Einladung zu einem Treffen mit Michael Wirz.
Plötzlich sitzt er dem Mann gegenüber, dessen Vater viele Betroffene für das Leid zehntausender Menschen für mitverantwortlich halten.
Es ist ein Moment voller Anspannung.
Doch dann bittet Michael Wirz ihn, nicht im Namen seiner Firma, sondern persönlich, um Verzeihung, hat uns Georg Löwenhauser erzählt.
Dann fand ich das sehr beeindruckend.
Er hat mich angeschaut und hat drei Minuten lang sehr, sehr intensiv und frei sich entschuldigt.
Das hat uns alle sehr überrascht.
Er hat gesagt, ich entschuldige mich persönlich für das Leid, das wir Ihnen angetan haben.
Und genau darauf haben viele gewartet.
Es gab ja mal eine Entschuldigung von dem Geschäftsführer von Grünental.
Und da hat er sich entschuldigt dafür, dass man nicht früher auf uns zugegangen ist.
Das ist aber was anderes, wie wenn man sagt, man entschuldigt sich dafür, was man angetan hat, was man verursacht hat.
Der angerichtete Schaden kann nicht rückgängig gemacht werden.
Nichts kann ungeschehen machen, dass damals nicht ausreichend getestet wurde, dass das Medikament weiter exportiert wurde,
dass die Verantwortlichen sich jahrzehntelang hinter Paragraphen und Firmenstrukturen versteckt haben.
Das muss man hier nämlich auch dazu sagen, juristisch gesehen kann man ja weder sagen,
dass die damals angeklagten Mitarbeiter für die Kontergarn-Schäden verantwortlich waren, noch der Konzern an sich.
Aber naja, ich denke, alleine die Zahlung des Konzerns zeigt schon, dass die auch wissen, dass die verantwortlich dafür sind.
Für Georg Löwenhauser und viele andere Kontergarn-Geschädigte bedeutet diese späte persönliche Entschuldigung mehr als nur Worte.
Sie ist ein Moment der Anerkennung, auf den sie 60 Jahre lang gewartet haben.
Und für manche ist es der erste Schritt zur Versöhnung.
Auch Sigrid Queller erkennt die Entschuldigung von Grüntal an.
Doch auch die kann nicht vergessen machen, was Sigrid nie hatte.
Eine unbeschwerte Kindheit, das Urvertrauen in die Welt, die Nähe zu ihrer Familie, als sie die so sehr brauchte.
Doch was sie nie aufgegeben hat, ist der Wille einzustehen für ihren Platz im Leben.
Sie hat sich damals aus der Förderschule gekämpft, ihr Abitur nachgeholt und später Sozialpädagogik studiert, hat sie uns erzählt.
Ich bin ja nicht doof, das hat ja dann irgendwann die Gesellschaft auch gemerkt, dass wir nur körperlich behindert sind und nicht was am Kopf haben.
Und meine Mutter hat immer gesagt, du musst den Kopf benutzen, wenn du keine Arme hast.
Sigrid ist heute 63 Jahre alt. Sie ist Mutter geworden und auch Großmutter.
Mit ihrer mittlerweile 88-jährigen Mutter Bärbel unternimmt sie gerne Reisen.
Erst eine Woche vor unserem Interview sind die beiden gemeinsam von einem Städtetrip nach Goslar wiedergekommen.
Sigrid hegt ihr gegenüber keinen Groll, obwohl sie sie als Kind in das Heim gegeben hat.
Und auch ihrem Vater hat Sigrid verziehen.
Mit dem Alter plagen ihn Schuldgefühle, hat sie uns erzählt.
Da haben wir nochmal ausführlich dann über die Situation, über die Lebenssituation gesprochen, als ich geboren war und die ersten Jahre, wie das für ihn war.
Und das war für ihn einfach ganz, ganz furchtbar, mich so zu sehen und mit Sicherheit auch Schuldgefühle.
Ich habe ihm das auch angenommen und abgenommen und für mich war das dann auch erstmal erledigt.
Ich habe aber auch gesagt, dass ich das nicht vergessen kann, aber ich kann das nachvollziehen und ich kann das verstehen.
Ich habe dann nach dem Tod erst mitbekommen, dass er wirklich zeitlebens extreme Schuldgefühle immer noch hatte, dass er mich damals so im Stich gelassen hat.
Auch heute ist die Kontergan-Community, zu der natürlich alle Thalidomid-Betroffenen zählen, eine eng verbundene Gruppe.
Viele der Betroffenen stehen seit Jahrzehnten in Kontakt, organisieren regelmäßige Treffen, unternehmen gemeinsame Reisen oder Sportveranstaltungen und unterstützen sich gegenseitig im Alltag.
Der Austausch und das gemeinsame Engagement haben aus den Einzelnen eine Gemeinschaft gemacht, die bis heute zusammenhält und für ihre Belange einsteht.
Was eine ganze Gesellschaft ihnen damals verwehrt hat und ehrlicherweise unsere Gesellschaft Menschen mit Behinderungen teils auch noch heute verwehrt, finden sie in der Gemeinschaft.
Akzeptanz, unbürokratische Unterstützung, Barrierefreiheit und echte Teilhabe.
Nach seinem Ausstoß als Sachverständiger aus dem Prozess setzt Vido Kindlenz seine Karriere als Wissenschaftler und Arzt fort.
Er wird Direktor des Instituts für Humangenetik in Münster und hinterlässt ein bedeutsames Vermächtnis in der medizinischen Genetik.
Vido Kindlenz fühlt sich sein Leben lang verbunden mit den Opfern des Kontergan-Skandals und engagiert sich weit über seine wissenschaftliche Entdeckung hinaus für ihre Belange.
Lenz reist sogar nach Japan, um dort in Waisenhäusern nach Kontergan-geschädigten Kindern zu suchen, die von ihren Eltern verstoßen worden sind, um ihnen zu helfen.
Für seinen Einsatz im Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit erhält er 1972 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.
Bis zu seinem Tod bleibt er den Betroffenen verbunden.
Als er 1995 stirbt, steht in der Todesanzeige, wir bitten von Blumenspenden abzusehen.
Eine Spende zugunsten Talidumit-Geschädigter in Brasilien wäre im Sinne des Verstorbenen.
Anders als sein Vater, der als Rassenhygieniker im Dritten Reich traurige Berühmtheit erlangt hatte, hat Vido Kindlenz seine medizinische Arbeit in den Dienst der Menschheit gestellt.
Während sein Vater Fritzlenz mit seiner Forschung Leid und Hass legitimiert hatte, kämpfte Lenz für Aufklärung, Mitgefühl und konkrete Hilfe für die Kontergan-Betroffenen.
Und auch wenn er sich öffentlich nie explizit von der Ideologie seines Vaters distanziert hat, wirkt sein Lebenswerk wie ein stiller Gegenentwurf.
Fast so, als wollte er mit seinem Engagement für die Kontergan-Opfer ein Stück weit Wiedergutmachung leisten.
Der Fall Kontergan ist bis heute der folgenreichste Arzneimittelskandal in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Er ist eine Mahnung daran, was passiert, wenn wirtschaftliche Interessen über die Sicherheit von Menschen gestellt werden und wie steinig der Kampf um Gerechtigkeit sein kann.
Er ist aber auch ein Zeugnis der Stärke der Betroffenen, die nie aufgegeben haben.
Menschen wie Vido Kindlenz, die trotz massiver Widerstände für die Wahrheit kämpften.
Oder Georg Löwenhauser, der sich stets für die Interessen der Betroffenen einsetzte.
Und Sigrid Queller, die es trotz massiver Traumata geschafft hat, eine glückliche und selbstbestimmte Frau zu werden.
Das fühlt sich komisch an, wenn man alleine jetzt so gerührt ist von seinem eigenen Skript und ohne jemanden, der einen tröstet.
Aber mich berührt einfach so sehr, wie die Betroffenen damit umgehen und wie zumindest die, mit denen wir gesprochen haben, nie aufgegeben haben.
Obwohl wirklich, wie im Fall von Sigrid Queller, ihr niemand das Leben leicht gemacht hat.
Und deswegen wollte ich auch schon lange über Kontergan sprechen, weil ich hatte das Gefühl,
dass dieser riesige Skandal immer mehr und mehr in Vergessenheit rückt und aus dem allgemeinen Gedächtnis verschwindet.
Was mich betroffen macht und mich auch ein bisschen wundert, weil die Auswirkungen vom Kontergan-Skandal bis heute Einfluss auf unser Leben haben.
Damals war das ja so, dass Talidomid in Deutschland voll schnell zugelassen wurde.
In anderen Ländern war das aber nicht Solari-Fari wie hier, unter anderem in den USA.
Da hatte die Firma Richardson-Morrell auch ein Talidomid-Medikament zur Zulassung eingereicht.
Und das wurde dann im Jahr 1960 von Frances Oldham Kelsey geprüft.
Das war eine Pharmakologin und die hat kurz zuvor bei der FDA angefangen, also bei der Food and Drug Administration.
Das ist da diese Behörde, die für die Zulassung und Überwachung von Lebensmitteln und Medikamenten und Kosmetika etc. verantwortlich ist.
Frances Oldham Kelsey hat sich das angesehen und dachte sich, nope, die eingereichten Daten, die sind ja alle unzureichend und es gibt auch gar keine belastbaren Studien zur Sicherheit.
Und die wollte halt mehr Infos und die hat sie dann aber damals nicht bekommen.
Stattdessen hat Richardson-Morrell sie massiv unter Druck gesetzt, das Medikament zuzulassen.
Die Firma reichte sogar Beschwerde ein, aber sie blieb standhaft und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wo dann auch publik wurde, was für Schäden Talidomid auslöst.
Und so blieben die USA von einer Katastrophe wie in Europa verschont.
Und das fand ich interessant, denn man weiß ja, dass die USA mittlerweile nicht mehr so streng sind, was die Zulassung von neuen Arzneimitteln anbelangt.
Also allein, was du da ohne Rezept kaufen kannst in Drugstores und dann geht aber eben diese Zulassung auch viel schneller.
Und das aus demselben Grund, den es damals in Deutschland gegeben hat, nämlich neue Mittel und Innovationen sollen schnell auf den Markt.
Die haben auch viel weniger bürokratische Hürden und auch da macht man mit Medikamenten natürlich eine Menge Geld.
Übrigens auch ein Grund für die Opioid-Krise da.
Das ist natürlich nicht nur negativ, also es bringt auch voll viele Chancen.
Zum Beispiel bei Krebsmedikamenten kann eine schnelle Zulassung auch lebensrettend für Erkrankte sein, wenn ein neues Medikament in Studien nachweislich wirkt.
Jedenfalls fand ich es interessant, dass es in den USA eher zu einer lockereren Zulassungspolitik entwickelt hat, wohingegen wir uns in Deutschland seit dem Kontergan-Skandal in die entgegengesetzte Richtung entwickelt haben.
Ich habe es ja im Fall erzählt, es gab damals halt keine einheitlichen Regularien.
Es gab ein Arzneimittelgesetz, das kurz vor Bekanntwerden des Skandals in Kraft getreten ist, aber auch das hat kaum Regelungen zur Prüfung von Wirksamkeit und Sicherheit enthalten.
Dieses Gesetz wurde dann auch in den Jahren nach dem Skandal mehrfach geändert, insgesamt 17 Mal bis 1971.
Aber erst 1978 gab es dann wirklich eine grundlegende Reform und das neue Arzneimittelgesetz trat in Kraft, das dann auch erstmals eine staatliche Zulassungspflicht für Medikamente einführte.
Das heißt, seitdem müssen Hersteller die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ihrer Produkte nachweisen, bevor sie auf den Markt gebracht werden dürfen.
Und dieses Gesetz verpflichtete Hersteller auch zur Durchführung von Tests auf Teratogenität, also das ist eben diese Fähigkeit eines Stoffes Fehlbildung beim Embryo zu verursachen.
Jetzt könnte man ja meinen, wenn man die Geschichte so hört, okay, es gab diesen Skandal, es gab einen Vergleich, dem haben die meisten Betroffenen zugestimmt.
In Deutschland gab es eine Änderung des Arzneimittelgesetzes.
Die Betroffenen, die jetzt hier in unserem Fall vorkamen, die führen ein selbstbestimmtes Leben.
Damit ist jetzt diese Erzählung vorbei.
Aber dem ist nicht so.
Auch heute kämpfen noch sehr viele Menschen um die Anerkennung als Kontergan-Betroffene und damit um die Rente, die ihnen gesetzlich zusteht.
Es ist nämlich so, dass manche Menschen erst Jahrzehnte später erfahren, dass sie auch selbst betroffen sind.
Das sind dann halt eben nicht die Menschen, die diese typischen Fehlbildungen aufweisen von Beinen oder Händen,
Sondern halt Hörprobleme haben, Nierenschäden oder halt Unfruchtbarkeit.
Das alles kann auch mit dem Medikament zusammenhängen.
Seit 2009 wurden rund 1.000 neue Anträge bei der Kontergan-Stiftung gestellt.
Bewilligt wurde nur ein Bruchteil.
Und das, obwohl die Stiftung über 4.300 Gutachten beauftragte und dafür mehr als 1,3 Millionen Euro ausgab.
Und diese 1,3 Millionen Euro bewirkten am Ende, dass in den meisten dieser Gutachten stand,
nee, da sind wir uns nicht sicher, dass das mit Kontergan zusammenhängt.
Und eigentlich müsste über die Zustimmung der Anträge eine medizinische Kommission entscheiden.
Aber in vielen Fällen, das kam jetzt raus, übernahm das offenbar nur ein einziger Jurist.
Das heißt, die medizinische Kommission hat nicht so verfahren, wie sie eigentlich musste.
Und wenn Betroffene abgelehnt wurden, dann mussten die klagen.
Und jetzt kann man sich vorstellen, als betroffene Person kann das für viele eh schon schwierig sein,
überhaupt nach Hilfe zu fragen.
Und dann werden einem noch solche Steine in den Weg gelegt.
Und das ist nicht nur ein Problem in Deutschland, sondern das haben auch Betroffene in den Ländern,
in denen die Lizenznehmer von Grünental talidumithaltige Medikamente vertrieben haben.
Die Kontergan-Stiftung des Bundes, die leistet nur Hilfe für Menschen,
deren Schädigung auf ein Produkt der Firma Grünental zurückzuführen ist.
Aber wer jetzt durch ein Lizenzprodukt eines ausländischen Herstellers geschädigt wurde,
der ist natürlich von deutschen Leistungen ausgeschlossen.
In einigen Ländern gibt es eigene Entschädigungsregelungen, in vielen aber auch nicht.
Und internationale Anerkennung und Unterstützung der Betroffenen ist bis heute lückenhaft
und von Land zu Land ganz unterschiedlich.
Und von den Menschen, die nicht durch talidumith im Mutterleib geschädigt wurden,
sondern die beispielsweise Kontergan als Kinder oder Erwachsene eingenommen haben
und dann dadurch eben Nervenschäden erlitten haben,
von denen fange ich gar nicht erst an,
denn die haben definitiv keinen Anspruch auf Leistungen der Kontergan-Stiftung
und mir sind auch keine Fälle bekannt, bei denen in Deutschland eine Klage von denen erfolgreich war.
So, und nachdem wir das jetzt alles wissen und wissen, welche Schwierigkeiten betroffen wir bis heute haben
und wir erfahren haben, wie schädlich talidumith sein kann und was das alles angerichtet hat,
war ich dann doch sehr überrascht zu hören, dass es, nachdem es jahrzehntelang nicht verwendet wurde,
seit 2008 in Deutschland wieder zugelassen ist.
Allerdings nur unter ganz strengen Sicherheitsauflagen und nur bei einer Form von Knochenmarkkrebs.
Deswegen gibt es ja jetzt keinen Grund zur Empörung.
Zumindest in Deutschland, in Brasilien beispielsweise,
wird Talidumit seit den 60er Jahren zur Behandlung von einer bestimmten Lepra-Komplikation eingesetzt.
Und trotz gesetzlicher Regelungen seit 2003 kommt es weiterhin zur Fehlbildung bei Neugeborenen,
weil die Aufklärung und die Kontrolle gerade in abgelegenen Regionen unzureichend ist.
Zwischen 2005 und 2010 wurden fast 5,9 Millionen Talidumit-Tabletten verteilt
und im selben Zeitraum traten bei 192 Neugeborenen die typischen Talidumit-Fehlbildungen auf.
Das hat auch damit zu tun, dass es in dem Land eine hohe Analphabetenrate in bestimmten Bevölkerungsschichten gibt
und viele Menschen die Warnhinweise auf den Verpackungen nicht richtig lesen können
oder die Symbole missverstehen und dann eben die Tabletten in der Schwangerschaft nehmen.
So, das war es für heute.
Vielen, vielen Dank an die drei Betroffenen, die wir für diese Folge interviewen durften
und an Katharina Seck, die uns hier zum Thema Ableismusberaten zur Seite stand.
Nächste Woche hören wir uns mit Laura wieder und zwar zur Folge 200.
Da erzählen wir von einem besonderen und aktuellen Fall.
Bis dahin.
Das war ein Podcast der Partner in Crime.
Posts und Produktionen Paulina Kraser und Laura Wohlers.
Redaktion Simon Garschhammer und wir.
Schnitt Pauline Korb.
Rechtliche Abnahme und Beratung Abel und Kollegen.