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#38 Mord in der heimat

Was vermisst du am meisten an Mönchengladbach?
Das ist schwierig, weil eigentlich bin ich sehr froh, nicht mehr in Mönchengladbach zu
wohnen. Das Einzige, was ich wohl vermisse, ist das Leben mit meiner Familie und das hat
nicht so richtig was mit der Stadt zu tun. Ansonsten gibt es tatsächlich eher Sachen,
die ich nicht vermisse an Mönchengladbach, wie zum Beispiel den hässlichsten Bahnhof
aller Zeiten, schlechte Restaurants und dass ich auch häufig einfach nur die Schwester
davon war. Also wenn ich feiern war zum Beispiel, kam immer die Frage, bist du nicht die Schwester
von Julian Wohlers? Und warum? Weil dein Bruder so ein Stadtbekannter Draufgänger war oder was?
Ja, das könnte man schon so sagen. Immerhin warst du nicht als die Sklavin von Julian Wohlers
bekannt. Da kommt sie wieder, die kleine Dienerin. Das bin ich dann jetzt. Aber lustig ist, dass
mein Bruder mir jetzt letztens erzählt hat, dass ihn jemand bei einem seiner Jobs angesprochen hat und
gefragt hat, ob er der Bruder von Laura Wohlers wäre.
Ach, jetzt ist es also andersrum. Sieh mal einer an, Julian.
Richtig, jetzt stehst du im Schatten deiner kleinen Bediensteten. Hm? Wie fühlt sich das an?
Ja, aber um auf deine Frage zurückzukommen, viel vermisse ich nicht an Mönchengladbach. Aber das ist bei dir
wahrscheinlich ganz ähnlich, oder? Oder was vermisst du an Uetersen?
Also Uetersen und generell Kreis Pinneberg, die haben schon viel Hässliches. Ja. Ich vermisse am meisten
Kroc-Essen. Also nicht dieses französische überbackene Toastbrot, sondern dieses lange,
heiße, knusprige Baguette mit Knoblauchsoße, was man außerhalb von Schleswig-Holstein gefühlt
nirgends findet. In Berlin gibt es keinen einzigen Kroc-Laden, was ich eine Frechheit finde.
Hast du schon mal gegessen, Kroc?
Nee, noch nie.
Oh Gott, das will.
Was ich aber auch nicht so vermisse, ist das Dörfliche.
Wenn ich nach Uetersen komme, dann sehe ich halt auch meistens an einem Tag mindestens einen Ex-Freund.
Und dabei habe ich gar nicht so viele. Und dann ist mir neulich auch aufgefallen, so, ich
habe so einige Freundinnen, die da halt nie weggegangen sind. Und die haben selbst natürlich
einen Freundeskreis. Und in diesem Freundeskreis sind meistens irgendwelche Personen, die sie
nicht richtig leiden können. Also die regen sich dann ständig über eine bestimmte Person
auf. Und ich bin dann immer so, aber warum macht ihr denn was miteinander, wenn dich schon
nervt, wie diese Person die Pommes ist? Und das sage ich dann aber so in meiner Großstadt-Großkotzigkeit
natürlich, weil in Uetersen und generell in Kleinstädten mangelt es natürlich voll an Alternativen.
Also das sind eher so Zwangsgemeinschaften.
Richtig. Und Berlin ist ja so unverbindlich. Hier kannst du ja jeden sofort aus deinem Leben
jagen. Dann wirst du die Person nie wiedersehen. Und das finde ich auch richtig so.
Wie kann ich mir denn Mönchengladbach so vorstellen? Wie sieht das aus? Ich war noch nie da.
Du kannst dir das vorstellen wie eine typische Stadt in Nordrhein-Westfalen, die, weil sie so
nah an anderen Großstädten ist, nicht so wirklich was aus sich macht. Also wenn du
dann da zum Beispiel mal gut essen gehen willst oder feiern gehen willst oder auch ins
Theater, dann würdest du halt eher die 20 Minuten nach Düsseldorf fahren oder die Stunde
nach Köln, je nachdem auf welcher Seite du dann stehen würdest, als irgendwas in Mönchengladbach
zu machen oder selbst da etwas aufzubauen. Aber ich habe mir ja schon gedacht, dass du mich
nach meiner Heimatstadt fragst. Und deshalb habe ich mir auch etwas Kurzes aufgeschrieben.
Das ist jetzt kein Gedicht oder so. In Gladbach kennt gefühlt jeder jeden. Gegrüßt wird
trotzdem nicht. In Gladbach geht man nicht zu Fuß. Auch 200 Meter werden mit dem Auto zurückgelegt.
In Gladbach sitzt man in der Kneipe, trinkt Bier und guckt Fußball. Auch wenn man nicht mal
abseits erklären kann, ist man als Gladbacher natürlich Borussen-Fan. In Gladbach kauft man sich
morgens am Kiosk-Brötchen, ruft an Karneval statt Alarv, halt Pol. Und wenn ich irgendwo Gladbacher
platt höre, dann fühle ich mich doch irgendwie zu Hause.
Was ruft man da?
Halt Pol.
Frag mich nicht, was das heißt.
Also wenn ich mir Uetersen jetzt vorstelle, dann ist es so optisch sehr klein und graurötlich.
Also da sind mir definitiv zu viele Backsteinhäuser. Es gab da nämlich nur eine Baufirma in der
Zeit, wo viele Häuser hochgezogen wurden. Und die hatten gefühlt nur eine Bauingenieurin.
Und das war meine Mutter. Und die hatte eine Vorliebe für roten Backstein. Deswegen sehen
jetzt alle Häuser in Uetersen gleich aus. Und ich merke, dass ich in Uetersen bin, wenn sich
meine Autofahrweise verändert. Weil in Uetersen ist man während der Fahrt ständig damit beschäftigt,
auf die Kennzeichen von den anderen Autos zu gucken oder in die Windschutzscheibe zu glotzen.
Weil man jeden Dritten kennt hinter dem Steuer. Und deswegen fährst du langsam.
Wie man fährt normal, das lernt man schon bei der Fahrschule. So Autofahren und die
anderen Menschen in den Autos auschecken. Das fällt einem ja in der Großstadt nicht
ein. Da ist es ja egal. Aber das ist für mich auch so typisch Uetersen.
Also man kann festhalten, wir sind beide nicht so die Heimatfans.
Und damit herzlich willkommen zu Mordlust, einem Podcast von Funk, gemacht von zwei Dorfpomeranzen
offenbar. Wir beide reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe. Mein Name ist Paulina
Kraser. Und ich bin Laura Wohlers. In jeder Folge beleuchten wir ein spezielles Thema. Dazu
erzählen wir zwei wahre Kriminalfälle nach, diskutieren diese und sprechen mit ExpertInnen.
Wenn wir hier mal etwas lockerer reden, dann hat das nichts mit fehlender Ernsthaftigkeit zu tun. Das ist
unser Comic Relief, damit wir alle mal durchatmen können. Das ist aber natürlich nie despektierlich
gemeint. Heute geht es bei uns wie versprochen um Heimatfälle, also wahre Verbrechen aus unserer Stadt,
unserem Viertel oder der direkten Nachbarschaft.
Wir hatten euch ja auch aufgefordert, uns Heimatfälle zu schicken. Die kommen auch später. Aber weil wir das
ganze Thema trotzdem etwas analytisch angehen wollten, möchten wir uns einmal noch mal damit auseinandersetzen,
warum uns die Heimatfälle eigentlich so nahe gehen. Denn viele von euch haben uns schon im Laufe
unserer Podcast Monate immer mal wieder Fälle geschickt, von denen sie gesagt haben, die berühren
uns ganz besonders, weil sie eben hier gleich nebenan passiert sind. Und wir wollten wissen, warum ist das
eigentlich so? Also warum berühren uns diese Fälle meist mehr als andere? Hast du da eine Überlegung zu, Laura?
Also wenn ich jetzt an meinen Heimatfall denke, den ich jetzt gleich erzählen werde, dann hatte ich sofort
Gedanken wie, sowas kann da nicht passieren. Also da, wo ich aufgewachsen bin, da, wo ich meine schöne
Kindheit hatte und wo ich mich auch sicher gefühlt habe. Man möchte ja nicht wahrhaben, dass man in einer
Blase gelebt hat und man möchte nicht, dass diese zerplatzt. Und wenn das dann doch so ist, dann denke ich, ist man
umso mehr geschockt und umso mehr berührt. Und deswegen gehen einem solche Fälle so nah.
Weil Heimat so ein Gefühl von Geborgenheit hat und das eben noch gegensätzlicher zu den Verbrechen ist.
Ich hatte ja auch die Mitglieder unserer Facebook-Gruppe Mordlust Stammtisch gefragt, warum sie denken, warum das
so ist. Und ein Punkt war zum Beispiel die ausführliche und permanente Berichterstattung in den lokalen Medien.
Also je öfter etwas berichtet wird, jetzt generell beispielsweise über Jugendkriminalität, desto eher gehen wir ja
davon aus, dass es häufiger passiert, als es vielleicht eigentlich der Fall ist. Und wenn nun aber dauernd so präsent über
ein Fall berichtet wird in meiner Heimatstadt von den Medien, die natürlich daran ein gesteigertes Interesse
haben, darüber zu berichten, als jetzt andere Medien, dann hat man das natürlich auch präsenter und immer im
Kopf. Und noch dazu kommt natürlich, dass man nicht nur von den Medien den Input bekommen, sondern von
Freunden, Bekannten, von Familie, weil die natürlich auch alle irgendwas gehört haben. Also dieser Klatsch und
Tratsch. Bei meinem Heimatfall zum Beispiel habe ich auch ziemlich viele Sachen im Hinterkopf, die ich
natürlich jetzt gar nicht mit reinnehmen konnte, weil das alles Hörensagen ist. Dann ist es auch
natürlich so, dass man alle Orte selbst kennt. Man kann sich die Tat vielleicht dann auch besser
vorstellen, weil man ja selbst den Einkaufsmarkt, wo das vielleicht passiert ist, kennt. Man weiß, wo was
steht. Du weißt, wie die Umgebung aussieht, wie es sich anfühlt, da langzugehen. Also man hat ein viel
konkreteres Bild vor Augen.
Und es ist doch auch so, dass man dann eher das Gefühl hat, also noch eher das Gefühl hat, das könnte mir
passieren, weil man eben in dieser Stadt wohnt.
Na eben auch besonders dann, wenn es sich um ein Zufallsopfer gehandelt hat. Manche haben auch
geschrieben, dass sie von den Auswirkungen der Tat unmittelbar betroffen waren. Also sie haben
miterlebt beispielsweise, wie die Schulen für einen Tag geschlossen wurden, man die Straße nicht mehr
befahren konnte oder erst mal nicht mehr rausgehen sollte, weil der Täter oder die Täterin noch nicht
geschnappt wurde. Und eine Zuhörerin hat auch geschrieben, dass sie erlebt hat, wie viele Männer aus
ihrem Ort zum DNA-Test gebeten wurden.
Und es ist ja auch so, wenn es jetzt in deiner Heimatstadt und vielleicht in deinem Umkreis sogar
passiert, nicht unbedingt die Leute wirklich kennst, aber so in dem Umkreis, in dem du dich auch
aufhältst, passiert, dann hast du vielleicht auch mehr Empathie, weil es deiner Lebenswelt gleicht.
Und es ist jetzt nicht irgendein Drogenmord in Italien oder ein Mafiamord oder halt irgendwie
sowas, sondern was viel näher gefühlt dran ist.
Genau, weißt du, was das ist? Das ist der Similar-to-me-Effekt. Also es ist im Prinzip der
gleiche Reflex, wie wenn man in den Nachrichten hört, dass bei einem Flugzeugabsturz drei Deutsche
dabei waren. Je mehr Gemeinsamkeiten man hat, desto mehr Empathie empfindet man. Uns hat
ein Zuhörer dazu geschrieben, das ist natürlich etwas überspitzt, aber er meinte, ist eigentlich
echt heuchlerisch. Darum interessieren sich so wenig für leidende Menschen in weit entfernten
Teilen der Welt. Sowas trifft einen hier eh nicht und ist daher abstrakt und keine Sorge wert. Aber
es ist nicht ungewöhnlich, dass wir mehr Empathie mit Leuten empfinden, mit denen wir viele
Gemeinsamkeiten haben und die Heimat ist natürlich eine große Gemeinsamkeit, die verbindet. Dann hat
uns jemand geschrieben, das Böse ist nur faszinierend, solange man sich aus der Ferne damit beschäftigt.
Und wenn es so nah ist, ist es halt einfach nur erschreckend und deswegen für die Menschen dort eben ja auch noch schlimmer. Und das sollten wir hier natürlich auch immer in unserem Hinterkopf behalten. Wir analysieren das hier alles, ordnen das ein aus der Ferne. Aber für die Betroffenen ist es halt ganz was anderes. Es ist einfach nur was Schlimmes, was von heute auf morgen ihr Leben verändert hat.
Bevor wir jetzt mit den Fällen anfangen, wollten wir noch auf die Fotos in den Kapitelmarken hinweisen. Vielleicht ist das ja schon einigen von euch in der letzten Folge aufgefallen, dass während des Podcasts Fotos auf euren Bildschirmen eingeblendet wurden. Das haben wir jetzt neu eingeführt, um euch womöglich die Geschichten durch Bilder noch ein bisschen näher zu bringen.
Beispielsweise, wenn wir uns auf Bücher beziehen, dann könnten wir das Cover davon reinstellen, dann könnt ihr euch ein Screenshot machen für die Leute, die nicht so lange warten möchten, bis wir das auf unserer Instagram-Seite mordlos der Podcast posten. In der heutigen Folge wird es auch einige Bilder geben, vielleicht auch ein, zwei witzigere.
Das Anzeigen von Fotos kann aber nicht jeder Player. Spotify zum Beispiel unterstützt das noch nicht. Also falls ihr jetzt nichts seht, dann Player wechseln oder Fantasie einschalten.
Meine Geschichte, diese Folge, ist kein Kriminalfall, wie wir ihn sonst erzählen.
Dennoch geht es um ein Verbrechen und es zeigt, was passieren kann, wenn sich niemand wirklich für einen Menschen verantwortlich fühlt.
Es ist der 29. April 2017 in München-Gladbach. Einer Stadt, die fast jeder in Deutschland kennt. Nicht, weil sie besonders groß oder besonders schön ist, eher das Gegenteil ist der Fall, sondern weil sie einen Fußballverein hat, der in der Bundesliga bei Zeiten ziemlich weit oben mitgespielt hat und derzeit wieder spielt.
Das ist nicht nur der Grund für Gladbachs Bekanntheit, sondern auch der Grund, weshalb ich in dieser Stadt aufgewachsen bin, weil mein Vater lange Zeit für die Borussia tätig war.
Als Heimat sucht man sich diese Stadt meiner Meinung nach nämlich nicht unbedingt aus, wenn man dort nicht geboren wurde.
Aber das wurde, glaube ich, schon deutlich.
Wenn man aber nun doch aus irgendwelchen Gründen, sei es der Liebe wegen oder eben des Jobs wegen, nach München-Gladbach zieht, dann sieht man vielleicht eher in einer der schöneren Gegenden, wie den Bunten Garten im Norden der Stadt,
der seinen Namen dank des anliegenden großen blumenbepflanzten Park hat, oder den daran anschließenden Stadtteil Windberg, in dem ich aufgewachsen bin und in dem die heutige Geschichte spielt.
Ein Stadtteil, der zentral und dennoch ruhig liegt, in dem es einen Fußball-, Tennis- und einen Turnverein gibt und viele Eltern ihre Kinder auf das katholische Gymnasium um die Ecke schicken.
In dem sich die Nachbarn untereinander kennen und Kinder draußen auf der Straße bis spätabends spielen können.
In Windberg fühlen sich die Menschen sicher, eigentlich in ganz Gladbach, denn obwohl sie fast 260.000 Einwohner zählt, ist sie einer der sichersten Großstädte in ganz Deutschland.
Und trotzdem wird hier an diesem Samstag ein furchtbar tragisches Verbrechen offenbart.
Es ist kurz vor zwölf, als Herr Schmidt mit seinem Hund Polly den Steinberg entlang spaziert.
Eine Straße in Windberg, die direkt auf den großen Wasserturm der Stadt zuführt.
Versunken schaut er in den Himmel und hoch zu einer großen Eibe, die von einem Grundstück bis auf den Gehweg ragt.
Trotz des kalten Winters ist die Krone grün und dicht bewachsen.
Doch zwischen den Ästen und Nadeln meint Herr Schmidt etwas zu erkennen.
Etwas Großes.
Eine Puppe vielleicht? Oder ein Mensch?
Um sicher zu gehen, ruft der 59-Jährige die Polizei und nur kurze Zeit später steht Herr Schmidt umringt von Feuerwehrleuten,
PolizistInnen und Rettungskräften auf dem Gehweg am Steinberg.
Schnell ist klar, es handelt sich nicht um eine Puppe, die dort oben im Baum sitzt, sondern um eine Leiche.
Mit einer großen Säge werden die Äste der Eibe zerschnitten, um den Körper zu bergen.
Der Leichnam wird zum Hauptfriedhof gefahren, der direkt mit dem bunten Garten verbunden ist
und neben dem ich mit meiner Familie 18 Jahre meines Lebens gewohnt habe.
Dort wird der Körper eingefroren, damit er untersucht werden kann.
Die Ermittlungen der Polizei ergeben, dass es sich bei der Leiche um einen männlichen Jugendlichen handelt.
Tim war sein Name und Tim ist nur 17 Jahre alt geworden.
Aus den Untersuchungen der Gerichtsmedizin geht hervor, dass Tim irgendwann Ende Januar gestorben sein musste.
Der Junge saß also drei Monate lang in der Eibe, bis ihn Herr Schmidt entdeckte.
Nur knapp einen Meter über den Köpfen der Menschen, die hier täglich am Steinberg entlang gingen,
nichts bemerkten und Tim auch nicht zu vermissen schien.
Um zu verstehen, wie Tim in diesem Baum enden konnte, müssen wir drei Jahre zurück in der Zeit,
in das Jahr 2014, genauer zum 24. Januar.
Damals wohnt Tim noch mit seiner Familie in Rheindalen, einem Stadtteil im Westen von Mönchengladbach.
Zusammen mit seinen Eltern Holger und Edith und seiner zwölfjährigen Schwester Nina
lebt er in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus.
In dieser Zeit interessiert sich der 14-Jährige für amerikanische Autos und Sneakers,
schaut im Fernsehen Spongebob und Spider-Man an.
Außerdem liebt Tim es, auf Bäume zu klettern.
Selbst als er noch viel kleiner war und die anderen Kinder auf dem Spielplatz miteinander spielten,
saß er lieber alleine hoch oben auf den Ästen und beobachtete das Treiben aus sicherer Entfernung.
An diesem Freitagmorgen will Tim seine Mutter ins Krankenhaus begleiten, weil es ihr nicht gut geht.
Seine Schwester ist an diesem Tag nicht zu Hause und sein Vater hat die letzte Nacht,
wie so oft, in seiner Hollywood-Schaukel im Keller geschlafen.
Dorthin wird Holger ausquartiert, wenn er mal wieder zu viel getrunken hat und unerträglich wird.
Dann muss auch öfter die Polizei vorbeikommen.
Manchmal, weil Holger besonders laut ist, durchs Haus läuft und Heil Hitler oder Ich bin Adolf Hitler schreit.
Manchmal aber auch, weil er seiner Frau Gewalt antut.
Bis zu diesem Freitag war Holger seiner Frau gegenüber jedoch nie vor den Augen der Kinder handgreiflich geworden.
Heute kommt es anders.
Als er an diesem Morgen nach oben kommt und sich versöhnen will, kann Edith nicht mehr.
Sie sagt zu ihm, dass er sie in Ruhe lassen und abhauen soll.
Tim kommt dazu und versucht zu schlichten.
Er sagt, lass doch, der tut doch nichts.
Holger, der die ganze Zeit über im Flur stand, verschafft sich Zugang zur Wohnung, geht auf seine Frau zu und hält sie fest.
Edith versucht, sich aus seinem Griff zu befreien.
Er erklärt ihr, dass er sie noch liebt und fragt, ob sie ihn denn nicht auch noch liebe.
Nein, antwortet Edith bestimmt.
Ich hasse dich.
Dann schlägt sie ihrem Mann mit ihrem Schlüssel gegen die Lippe und schafft es so, sich aus seinem Griff zu befreien.
Edith geht ins Elternschlafzimmer und lässt Ehemann und Sohn stehen.
Tim versucht, seinen Vater zu beruhigen.
Was soll ich denn jetzt tun, flüstert Holger.
Dann geht er in die Küche und greift sich ein Messer.
Tim versucht, ihn aufzuhalten, doch sein Vater bahnt sich einen Weg ins Schlafzimmer und stürzt sich auf seine Frau.
Tim will seiner Mutter helfen und springt Holger von hinten an.
Der Vater schleudert ihn ab und sticht auch auf ihn ein.
Holger trifft Tim am Arm und durchstößt seine Lunge.
Der 14-Jährige begreift, dass er und seine Mutter dringend Hilfe brauchen.
Er rennt über die Straße zum gegenüberliegenden Versicherungsbüro, wo ihm ein Mitarbeiter die Tür öffnet.
Der ist total geschockt, als er den Jungen mit blutverschmiertem T-Shirt und angstverzerrtem Gesicht vor sich sieht.
Tim schreit, mein Vater will mich umbringen.
Der Versicherungsbeamte bringt Tim in die Bürotoilette und drückt ihm ein Handtuch auf die Brust,
um die Blutung zu stoppen.
Dann ruft er die Polizei.
Tim sackt zusammen.
Wie ein Säugling hält er Hände und Füße ganz eng an seinen Körper.
Währenddessen fährt auf der Straße vor dem Büro die Polizei vor.
Tims Vater läuft den Beamtinnen entgegen.
Dabei hält er in der einen Hand das Messer, in der anderen ein Beil.
Die PolizistInnen rufen Holger zu, er solle die Waffen fallen lassen und stehen bleiben.
Doch der reagiert nicht.
Als auch der Einsatz von Pfefferspray nicht hilft,
wird Holger durch drei Schüsse in den Unterkörper gestoppt.
Tims Mutter hat den Angriff ihres Mannes nicht überlebt.
Ihr Sohn nur knapp und mit ganz viel Glück.
Hätte das Messer seines Vaters ihn nur ein Zentimeter weiter rechts und zwei Zentimeter tiefer getroffen,
wäre Tim seiner Mutter gefolgt.
So bleibt er zurück und kommt ins Krankenhaus.
Dort wird Tim zwei Wochen lang behandelt.
In dieser Zeit trägt er seine Mutter zu Grabe.
Betreut wird der Junge dabei von ÄrztInnen, Pflegekräften und einem Krankenhausfahrer.
Außerdem kümmert sich das Jugendamt jetzt um ihn, das unter anderem dafür zuständig ist, ihm ein neues Zuhause zu finden.
Tim hat noch zwei erwachsene Geschwister und auch Verwandte,
doch niemand von denen sieht sich in der Verantwortung oder ist in der Lage, ihn und seine Schwester aufzunehmen.
Und so kommen beide in ein Heim.
In das Jugendhaus am Steinberg.
Keine 200 Meter von der Eibe entfernt, in der Tim drei Jahre später tot aufgefunden wird.
Acht Monate nach der Tat beginnt der Prozess gegen Tims Vater.
Es ist nicht Holgers erstes Verfahren.
Schon einmal hatte er zum Messer gegriffen.
Mit Anfang 20 stach er auf seine damalige Freundin ein, bei die sich von ihm trennen wollte.
Damals war es nicht so weit gekommen wie bei Edith.
Trotzdem wanderte Holger ins Gefängnis.
Doch weil dies mittlerweile 30 Jahre her ist, wird es vor Gericht nicht mehr erwähnt.
Die Parallelen sind dennoch nicht zu leugnen.
Auch in diesem Fall soll Holger aus Angst vor dem Verlassenwerden gehandelt haben.
Tim wird in den Prozess als Zeuge geladen.
Es ist das erste Mal, dass er seinen Vater seit dem 24. Januar wieder sieht.
Doch nur über einen Bildschirm.
In einem Raum muss er nicht mehr mit dem Mann sein, der seine Mutter getötet und ihm das Zuhause genommen hat.
Tim sagt gegen seinen Vater aus, erzählt detailliert,
was an dem Morgen passiert ist.
Holger selbst sagt nichts.
Am Ende der kurzen Verhandlungen steht das Urteil.
Ein Mann, der 33 Mal auf seine Frau einsticht, weil diese ihn verlassen will, wird in Deutschland meist nicht wegen Mordes verurteilt.
Auf diese Thematik gehen wir aber in einer anderen Folge nochmal genauer ein.
Tims Vater muss für zwölf Jahre in Haft.
Zwölf Jahre dafür, dass er seine Frau getötet, seinen Kindern die Mutter geraubt und die ganze Familie jahrelang tyrannisiert hat.
Dass Holger ein Haustyrann war, wussten die Nachbarn schon lange vor dem Prozess.
Kurz vor der Tat hatten sie sogar Unterschriften gesammelt, um Holger zum Ausziehen aufzufordern.
Und obwohl die Polizei oft genug wegen Ruhestörung und häuslicher Gewalt in die Straße nach Rheindalen kam,
hat das Jugendamt sich bis kurz vor der Tat nicht um Tim gekümmert.
Normalerweise gibt die Polizei nach solchen Einsätzen beim Jugendamt Bescheid,
auch wenn die Kinder im Hause schon Teenager sind.
In Mönchengladbach ist es in diesem Fall anders.
Erst als Edith elf Tage vor der Tat beim Familiengericht erwirkt, dass Holger die Wohnung verlassen muss, wird reagiert.
Und obwohl Edith den Antrag zwei Tage später wieder zurückzieht, lässt das Jugendamt die Eheleute vorladen.
Als sie vor der Sachbearbeiterin sitzen, erklären sie, dass solche Streitereien nun mal vorkommen würden,
wenn man viele Jahre verheiratet sei.
Auf die Beamtin wirken die beiden harmonisch.
Zwei Tage später ist Edith tot.
Jetzt ist das Jugendamt für Tim und seine Schwester zuständig.
Die Behörden kriegen quasi eine zweite Chance, sich richtig um diese Kinder zu kümmern
und entscheiden, dass das Jugendhaus am Steinberg die richtige Unterkunft sei.
Doch für Tim wird der Aufenthalt dort zur Hölle.
Er hat Albträume, ist schnell gereizt und hat Angst, die Kontrolle zu verlieren.
Ihm fällt es schwer, über das Geschehene zu sprechen
und immer wieder muss er es in seinen Gedanken erneut durchleben.
Außerdem macht er sich große Vorwürfe, seine Mutter nicht habe retten zu können.
Erst Monate nach der Tat wird bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
Um Tim zu helfen, wird eine Therapeutin herangezogen.
Diese sagt später, dass Tim noch nicht therapiebereit war,
dass er nicht in der Lage war, das Ausmaß seines Leids zu ertragen.
Manchmal habe er ihr schon eine Frage gestellt, das Gespräch dann aber kurz darauf wieder abgebrochen.
Bei Jugendlichen ist diese psychische Erkrankung oft noch stärker ausgeprägt als bei Erwachsenen.
Das liegt daran, dass sich die Probleme der Pubertät mit denen des Traumas mischen.
Und so geht Tim bald schon nicht mehr zur Therapie und seine Situation im Heim wird noch schlechter.
Tim findet keinen Anschluss, eckt an und provoziert.
Als er sich einmal bedroht fühlt, greift er sogar zum Messer.
Tim muss immer wieder die Gruppe im Kinderheim wechseln, weil er überall für Unruhe sorgt.
So wird er irgendwann auch von seiner Schwester getrennt.
Der Alltag ist für ihn anstrengend.
In die Schule geht er so gut wie nicht mehr.
Er schafft es nicht.
Die Schulleitung und seine BetreuerInnen haben ausgemacht,
dass Tim jeden Tag nur kurz in den Unterricht muss
und ihm, auch wenn er selbst das nicht packt,
kein Verfahren wegen Verletzung der Schulpflicht droht.
So geht es mit Tim weiter, bis sein Vater im Februar 2015 stirbt.
Holger hat sich im Gefängnis suizidiert und seine Kinder damit zu Vollweisen gemacht.
Für Tim geht es weiter bergab.
Er erklärt seinen BetreuerInnen, dass er Menschen nicht mehr aushält
und auch keine geschlossenen Räume.
Niemand lässt er mehr an sich heran.
Es wird so schlimm, dass er im April 2015 zum ersten Mal in eine Psychiatrie eingeliefert wird.
Für ihn ist die Enge der Einrichtung und das Isoliertsein von der Außenwelt der absolute Albtraum.
Man pumpt ihn voll mit Beruhigungsmitteln und entlässt ihn nach zwei Tagen wieder.
Danach kommt Tims Ausraster in immer kürzeren Abständen,
sodass das Jugendhaus im Mai 2015 feststellt,
Tim ist nicht mehr tragbar.
Er soll längerfristig in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Der richterliche Beschluss zur Zwangsunterbringung liegt bereits vor.
Doch als Tim dort untersucht wird, lehnen die ÄrztInnen ihn ab.
Es bestehe keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung, heißt es.
Außerdem spricht ein unabhängiges Gutachten von extremem Freiheitsentzug,
den eine stationäre Aufnahme für Tim mit sich bringen würde.
Dies wäre keine echte Hilfestellung und ungeeignet für einen therapeutischen Fortschritt.
Also kommt Tim in die pädagogische Ambulanz.
Das ist eine Einrichtung, die darauf spezialisiert ist,
Jugendlichen in akuten Krisen zu helfen.
Tim könnte hier auch eine gewisse Zeit wohnen, vorübergehend.
Doch das möchte er nicht.
Und so verlässt er die Ambulanz noch am selben Tag.
Ohne einen Ort, an den er gehen kann,
und ohne ein wirkliches Zuhause bleibt ihm nur die Straße.
Und so ist Tim mit 15 Jahren obdachlos.
Weit weg treibt es ihn aber nicht.
Tim bleibt in Windberg, in der Nähe des Heims, wo seine kleine Schwester noch immer wohnt.
Mit der Zeit lernt Tim auf der Straße zu überleben.
Immer trägt er mehrere Schichten Klamotten übereinander.
Meistens als oberste Schicht ein Pullover, dessen Kapuze er tief ins Gesicht zieht.
Alles, was Tim besitzt, hat er entweder an oder in seinem Rucksack.
Und wenn er unterwegs ist, ist er meistens allein.
Das berichten Nachbarn und AnwohnerInnen später.
Sie sehen Tim auf dem Spielplatz, bei den Schrebergärten
oder vor der Bäckerei um die Ecke, vor der eine kleine weiße Bank steht.
Wie er auf der Treppe des Gesundheitsamts oder auf dessen Flachdach sitzt,
wie er auf dem Dach der Aral-Tankstelle schläft
oder auf die große Albe am Steinweg klettert.
Der alte Baum wird zu Tims Lieblingsort.
Immer häufiger schläft er auch in dessen Krone, bindet sich dafür mit Seilen fest,
damit er nachts nicht herunterfällt.
Die Albe steht zwar auf einem Privatgrundstück,
aber über einen Stromkasten kann man gut hinaufklettern.
Auch heute steht der Baum noch.
Als ich vor kurzem da war, um Fotos zu machen,
war er grün und dicht bewachsen, was ihn zu einem so guten Versteck macht.
In Tims Zeit auf der Straße schauen seine BetreuerInnen und StreetworkerInnen nach ihm,
geben ihm Geld, Essen und bieten Hilfe an.
Es gibt feste Uhrzeiten und Tage, an denen er sie treffen kann.
Und wenn er denn mal zu einem von diesen Treffen kommt,
gibt es manchmal Momente, an denen einer seiner Betreuer das Gefühl hat, zu ihm durchzudringen.
Doch dann blockt Tim wieder ab.
Wer es schon von ihm kennt, seitdem er 2014 in das Heim am Steinberg gekommen war.
Im Juli 2016 wird Tim dann noch einmal in die Psychiatrie eingeliefert,
nachdem er in einem sehr schlechten Zustand aufgelesen wurde.
Doch nach nur wenigen Stunden wird er wieder entlassen.
Wieder bestehe keine akute Selbst- und Fremdgefährdung.
Irgendwann kommt Tim dann gar nicht mehr zu den Treffen mit den SozialarbeiterInnen
und sucht andere Wege, um zu überleben.
Tim bricht in Garagen und Geschäfte ein,
klaut für seine kleine Schwester eine Tasche und für sich selbst ein Handy.
Im September 2016 wird ein Haftbefehl wegen verschiedener Delikte gegen ihn erlassen
und Tim muss in Untersuchungshaft.
Für ihn ist die Zeit dort unerträglich.
Die Enge und Ausweglosigkeit machen ihn fast verrückt.
Im November gibt es dann endlich den Prozess.
Das Urteil lautet, ein Jahr und sechs Monate Jugendstrafe auf Bewährung.
Tim darf also wieder raus.
Doch er hat Auflagen.
Er soll in die pädagogische Ambulanz ziehen,
sich um einen Therapieplatz kümmern und Kontakt zur Bewährungshilfe halten.
Doch Tim möchte oder kann nicht.
Er geht wieder zurück auf die Straße, klettert auf Dächer und in die Albe.
Er fängt an Drogen zu nehmen und sieht bald immer mehr aus wie jemand,
der schon lange Zeit auf der Straße lebt.
Die angesetzten 17 Termine in der Psychiatrie nimmt er nicht wahr.
Als man ihn deshalb sucht, ist er nicht aufzufinden.
Tim wird als vermisst gemeldet.
Erst Mitte Januar 2017 sieht ihn ein Betreuer wieder.
Er will ihn überreden, drinnen zu schlafen.
Sei doch viel zu kalt draußen.
Tim stimmt zu.
Als das Auto vorfährt, das ihn in eine Unterkunft bringen soll,
geht Tim auf den Wagen zu, doch dann einfach daran vorbei.
Seine BetreuerInnen sehen ihn nach diesem Abend nicht wieder.
Ende Januar wird dann erneut Haftbefehl erlassen,
diesmal wegen des Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen.
Doch der Befehl wird nicht vollstreckt,
weil Tim wieder nicht zu finden ist.
Ein paar Tage später klettert er ein letztes Mal in sein Versteck in die Albe.
Als Tim drei Monate später aus dem Baum geborgen wird,
kann die Todeszeit durch die Obduktion noch bestimmt werden,
die Todesursache hingegen nicht.
Tim könnte erfroren sein,
was in Anbetracht der Außentemperaturen im Januar nahe liegt.
Okay.
Er könnte aber auch an einer Vergiftung durch Alkohol, Drogen
oder im Gift der Albe gestorben sein
oder einem Zusammenspiel dessen.
Gift der Albe, weil ...
Die ist super giftig.
Das war ja ganz tragisch,
wenn das, was für ihn offenbar zumindest zu dem Moment Heimat,
irgendetwas Heimatliches und Schutz dargestellt hat,
ihn dann nachher tötet.
Ich habe dann auch darüber gelesen,
weil mich das so gewundert hat.
Aber dieser Baum ist hochgiftig,
aber eher, wenn du jetzt die Nadeln irgendwie in den Mund bekommst zum Beispiel.
Aber was ja sein kann, wenn du da so viel Zeit verbringst und da schläfst.
Was die finale Ursache für seinen Tod war,
ist für die meisten Menschen, die diese Geschichte hören, aber nebensächlich.
Die Frage, die sie und auch die Presse nach dem Tod stellen,
ist die nach den Schuldigen.
Ist Tim nicht eher daran gestorben,
dass niemand wirklich Verantwortung für ihn übernommen hat?
Niemand aus seiner Familie, der Psychiatrie oder den Behörden?
Die Journalistin Elisa Britzelmeier von der Süddeutschen Zeitung
hat bei der Stadt nachgefragt,
Tim nicht hätte zwangseingewiesen werden müssen.
Der Leiter der Sozialarbeiter, der für Tim zuständig war,
gibt der Reporterin gegenüber an,
dass er so ein Vorgehen für fragwürdig hält.
Auch die MedizinerInnen und ÄrztInnen,
die ihn damals beraten haben,
seien der Meinung gewesen,
dass es Tim nicht geholfen hätte,
weil ihm das Eingesperrtsein
so große Qualen bereitet hatte.
Weiter sagt er,
dass Tim in seiner eigenen Welt gefangen war,
dass ihm niemand helfen konnte,
weil er sich nicht helfen lassen wollte.
Der Münchengladbacher Jugendamtsleiter
schiebt die Verantwortung im Interview mit der SZ hingegen auf Tims Umfeld.
Das Jugendamt könne am Ende nur versuchen zu korrigieren,
was davor durch die Eltern schiefgelaufen sei.
Ja, super, aber es muss doch trotzdem irgendwie möglich sein,
ein Kind aufzufangen,
wenn die Eltern es fallen lassen
oder nicht können,
weil ein Teil tot ist
und das andere im Gefängnis sitzt.
Ja, in vielen Fällen hat er wahrscheinlich auch recht.
In Folge 32 haben wir schon mal darüber gesprochen,
wie wichtig quasi diese Bezugspersonen am Anfang sind,
deren Aufmerksamkeit und Liebe,
um selbst mal ein normales Leben
und eine stabile Identität zu entwickeln.
Und sowas haben eben viele StraftäterInnen nicht erlebt,
wie wir aus vielen unseren Geschichten
aus diesem Podcast wissen.
Und natürlich,
und das haben wir auch schon oft betont,
werden nicht alle Menschen mit furchtbarer Kindheit
oder die solche Traumata erleben,
straffällig.
Sie können ja auch ein ganz normales
und glückliches Leben führen.
Aber manche können sich auch wie Tim entwickeln,
wenn man sich nicht richtig um sie kümmert.
Ja, dann kann man aber ja nachher nicht sagen,
ja, da wurde vorher zu viel verpatzt,
dann ist es halt so.
Nee.
Und heute liegt Tim auf einem Friedhof in München-Gladbach
direkt neben seiner Mutter.
Auf seinem Stein steht nur sein Vorname,
sonst nichts.
Ich finde es so tragisch,
weil dieses ganze Leid
die ganze Zeit direkt vor ihren Augen
und später direkt über ihren Köpfen zu sehen war.
Ja, absolut.
Also als ich von diesem Fall zum ersten Mal gehört habe,
hat er mich so berührt,
obwohl ich da ja auch schon sieben Jahre nicht mehr wohne.
Aber es ging einfach nicht in meinen Kopf,
wie ein Junge drei Monate in einem Baum hängen kann
und eben, wie du sagst,
es überhaupt dazu kommen konnte.
Und während ich jetzt diese Recherche gemacht habe,
habe ich auch über diese Fragen wieder nachgedacht
und habe mich auch dabei ertappt,
zu meinen,
und vielleicht ist das bei dir gerade auch so,
dass solch ein Ende bei Tims Lebenslauf
ja fast vorhersehbar war.
Also niemand hatte sich um ihn gekümmert,
er war immer allein,
psychisch krank
und keiner fühlte sich wirklich verantwortlich.
Aber wieso eigentlich?
Man wusste doch,
dass er Probleme hat
und wieso hat man ihn eigentlich
nicht in der Psychiatrie aufgenommen?
Man hätte doch vorhersehen können,
dass er sonst verloren war.
Und solche Gedanken
sind nach einer Tragödie wie diese ganz normal.
Sie beruhen aber auf einem Fehler,
den wir Menschen machen.
Und damit komme ich zu meinem Aha,
dem sogenannten Rückschaufehler
und warum der gefährlich sein kann.
Der Rückschaufehler ist ein Phänomen
aus der Gedächtnisforschung,
bei dem man dazu neigt,
nachdem ein Ereignis eingetreten ist,
die Vorhersehbarkeit dieses Ereignis zu überschätzen.
Das kennt gerade die Frau Wohlers mit mir,
weil ich habe nämlich alles am Ende
immer schon vorher gewusst.
Das stimmt.
Weshalb Laura mittlerweile auch schon zugegeben hat,
dass sie der Meinung ist,
dass ich hellseherische Fähigkeiten habe.
Da gab es aber wirklich einige Situationen.
Mhm.
Also man überschätzt die Vorhersehbarkeit,
unterschätzt die Zufälligkeit
und passt selbst getroffene Vorhersagen
an das tatsächliche Ereignis an.
Es handelt sich also quasi um eine Art
kognitive Verzerrung.
Und die Menschen erinnern sich dann
systematisch falsch an ihre früheren Aussagen
und an ihre früheren Gedanken
mit dem Ziel,
die halt passen,
zu dem tatsächlich eingetroffenen Ereignis
umzudeuten.
Und so etwas geschieht zum Beispiel
häufig bei Fällen von Kindesmissbrauch
oder Kindesvernachlässigung
in Familien,
die vom Jugendamt betreut wurden.
Familie X stand seit Jahren
unter Beobachtung,
alle Dienstvorschriften
wurden eingehalten und so weiter.
Trotzdem stirbt dort ein Kind.
Und dann kommt sofort die Frage,
wie konnte so etwas
trotz Beobachtung des Amts passieren?
Und dann werden Informationen,
die man vor dem Tod des Kindes hatte,
plötzlich anders gedeutet
und Aussagen wie
»Das muss denen doch klar gewesen sein«
werden laut.
Im Fall von Tim
geht es einer Anwohnerin ähnlich.
Sie erzählt der Presse nach Tims Tod,
dass sie ihn einmal
auf dem Spielplatz beobachtete,
wie er Joghurt mit den Fingern
aus einem Becher aß
und den Becher dann einfach
auf den Boden geschmissen hat,
wo auch schon andere leere Becher lagen.
Und die Nachbarin ist dann zu ihm
und hat den Becher aufgehoben
und in den Müll geschmissen,
ohne ein Wort zu sagen.
Daraufhin fragte Tim sie
»Warum machen Sie das?«
»Sie, wenn ich dir sagen würde,
du sollst ihn aufheben,
würdest du es sowieso nicht tun.«
Tim sah die Frau daraufhin
verletzt an, stand auf
und warf die restlichen Becher
in den Mülleimer.
Dann fragte die Nachbarin ihn noch,
warum ein Junge
in seinem Alter auf der Straße lebt.
»Das wollen sie nicht wissen,
so etwas Schlimmes«,
antwortete Tim.
Als dieselbe Nachbarin
einige Tage später
in ihrer Küche
vor einem großen Fenster stand
und kochte,
warf Tim kleine Steinchen
an die Scheibe.
Ein paar Tage später
wiederholte sich das.
Heute ist sich die Anwohnerin sicher,
dass es Tims Art war,
Kontakt zu ihr aufzunehmen,
dass es ein Hilferuf von ihm war,
den sie damals falsch verstanden hatte.
Die Frau meint heute,
das hätte sie eigentlich wissen müssen.
Ist aber nicht so.
Aber warum begehen Menschen
den Rückschaufehler?
Eigentlich ist es ganz logisch,
denn das Wissen über das Ereignis
verändert die Deutung und Wertung
aller Informationen,
die wir vorher hatten.
und somit verschiebt sich
quasi die komplette Wahrnehmung.
Die später dazugekommenen
Informationen überlagern
die älteren Informationen.
Und besonders,
wenn es um Schuld
und Verantwortung geht,
spielt der Rückschaufehler
eine Rolle.
Der Mensch sucht nämlich
nach Antworten
und nach Schuldigen,
nach Bestätigung
und halt seiner eigenen Weltsicht.
So zeigen zum Beispiel zwei Studien
der US-amerikanischen
Sozialpsychologin Linda Carley,
dass Menschen einer Person,
die vergewaltigt wurde,
im Nachhinein häufiger vorwerfen,
selbst mit ihrem Verhalten
dazu beigetragen zu haben,
obwohl sie das Verhalten
vorher nicht so einschätzten.
Wie bitte?
Also das Verhalten des Opfers
soll daran schuld sein?
Das Opfer ist ja wohl bitte nie schuld
an so einer Tat.
Natürlich nicht.
Und besonders häufig
zeigt sich dieses Phänomen
übrigens bei Menschen
mit einem ausgeprägten Bedürfnis
nach Sicherheit,
also Menschen,
die irgendwie eine ganz
geordnete Weltsicht haben,
bei denen es quasi
gar nicht ins Bild passt,
wenn sie etwas nicht
kommen gesehen haben.
Ach ja, Fachkenntnis
hat keinen Einfluss
auf das Phänomen.
So wurden schon
bei vielen verschiedenen
Expertengruppen
Rückschaufehler festgestellt,
also auch bei ÄrztInnen
und RichterInnen zum Beispiel.
Und wir können uns ja vorstellen,
warum dieser Fehler
im Strafrecht
besonders problematisch ist,
zum Beispiel bei der Frage
nach der Fahrlässigkeit.
Denn da wird ja erst geurteilt,
wenn ein Ereignis
bereits eingetreten ist.
Es soll aber die Vorhersehbarkeit
vor dem Ereignis
beurteilt werden,
unabhängig von dessen Ausgang.
Beispiel.
Konnte der Raser
voraussehen,
dass eine Person
sterben wird,
wenn er mit 180 kmh
durch die Innenstadt fährt?
Besonders für JuristInnen
ist es also wichtig,
dieses Phänomen zu kennen,
um Aussagen
richtig beurteilen zu können.
Aber auch für uns alle
ist es gut,
das Bewusstsein
darüber zu haben,
denn es kann
für jeden gefährlich sein.
Wenn man sich nämlich
im Nachhinein
immer einredet,
dass man sowieso
alles schon vorher gewusst hat
beziehungsweise eigentlich
ja hätte wissen müssen,
wird es schwierig,
die Gründe,
die zu dem Ereignis
geführt haben,
richtig zu beurteilen
und aus ihnen zu lernen
und möglicherweise
dann eben
in Zukunft
zu verhindern.
in irgendeinem Kabarett
hieß das mal.
Das sind die Hellseher,
die die Zukunft
immer erst rückwirkend
vorhersagen können.
Bei mir geht es heute
unter anderem
um eine sexuell motivierte Tat,
auch wenn ich davon
jetzt keine Szenen
beschreiben werde.
Ihr findet im Übrigen
jetzt immer
in unseren Beschreibungen
zu den Folgen
eine Triggerwarnung,
wenn es um Sexualdelikte
oder um Gewalt
an Kindern geht.
Mein Fall zeigt,
wie solidarisch
und unermüdlich
eine Kleinstadt sein kann,
wenn ihr eines
ihrer Mitglieder
entrissen wird.
Einige Namen
habe ich geändert.
Am 20. März 2014
sehe ich
in meinem Facebook-Feed
den ersten geteilten Post
von meinen Freunden.
Es geht um eine junge Frau,
die von ihrer Familie
als vermisst gemeldet wurde.
Die junge Frau
stammt aus Thornisch,
das ist genau genommen
die Nachbarstadt
von meiner Heimatstadt Uetersen.
Aber wenn du jetzt
in Uetersen lebst,
dann fährst du auch
zwangsweise
immer mal durch Thornisch.
Wenig zuvor.
Lisa Marie ist
ein Bilderbuchkind,
sagt ihre Mutter
Ilona über sie.
Lisa Marie ist
schon fast 18
und wohnt mit ihrer
vier Jahre jüngeren
Schwester Lea
noch bei ihren Eltern.
Ihre Familie
nennt Lisa Marie
nur Lisa
und für Vater Nico
ist sie manchmal
auch die Kröte.
Und er ist
ihr Papi Li.
Lisa hat blond-rötliches Haar,
ist hilfsbereit
und hat
sauviele Hobbys.
Ein Hans-Dampf
in allen Gassen,
sagt Mutter Ilona.
Tanzen,
Cheerleading,
Reiten,
dann ihre Ausbildung
als medizinische
Fachangestellte,
aber allem voran
der Rettungsdienst
beim Arbeiter-Samariter-Bund
und ihre Arbeit
bei der Freiwilligen Feuerwehr.
Anderen helfen,
das macht sich Lisa
immer zur Aufgabe.
Sie sorgt sich um andere,
ist empathisch.
Überall,
wo sie sich bewegt,
findet sie Freunde.
Sie ist eine von den Personen,
die man schnell lieb gewinnt.
So ging es auch Simon,
einen ihrer Kameraden
beim Rettungsdienst.
Mittlerweile sind die beiden
beste Freunde.
Ein super Team,
das sich aufeinander
verlassen kann.
Sie verbringen auch
privat viel Zeit
miteinander.
Mit einem anderen Kollegen
vom Rettungsdienst
kommt Lisa weniger gut klar.
Ich nenne ihn Moritz.
Moritz ist unsterblich
in Lisa verliebt.
Das hat er ihr auch
schon gestanden.
Lisa aber hat kein Interesse
an Moritz,
hat ihm aber angeboten,
freundschaftlich mit ihm
umzugehen.
Mit der Abfuhr lebt Moritz
aber nicht gern.
Er kann nicht akzeptieren,
dass die Frau,
für die er so starke
Gefühle hegt,
diese nicht erwidert.
Er wird aufdringlich,
schreibt ihr ständig
Nachrichten bei WhatsApp,
wartet vor ihrem Zuhause
im Auto auf sie.
Sogar Lisas Familie
fühlt sich davon schon genervt,
so penetrant ist er.
Manchmal fährt er Lisa
auch im Auto hinterher.
Der Zustand ist irgendwann
nicht mehr zu ertragen.
Die Familie bewirkt
eine einstweilige
Verfügung gegen Moritz.
Jetzt darf er Lisa
nicht näher als 50 Meter
kommen,
sonst muss er eine
Geldstrafe bezahlen.
Trotzdem lässt es sich
nicht ganz vermeiden,
Moritz auch noch
manchmal zu sehen.
Er und Lisa arbeiten
ja immerhin gemeinsam
im Rettungsdienst.
Allerdings scheint es
irgendwann,
als hätte die Verfügung
Früchte getragen.
Moritz' Annäherungsversuche
nehmen ab.
Und dennoch,
ein mulmiges Gefühl
bleibt.
So einen Verehrer
will man nicht.
Lisa hat übrigens
einige Verehrer.
Aber einer,
der gefällt ihr
tatsächlich auch.
Das ist der Jan.
Die beiden kennen sich
von einer Feuerwehrübung.
Er ist in der
Nachbarsgemeinde tätig.
Die beiden lernen
sich kennen und lieben.
Jan ist Lisas
erster richtiger Freund.
Ihre Liebe ist so
intensiv und innig,
dass Jan schon nach
vier Wochen Beziehung
mit zu Lisa
ins Elternhaus zieht.
Ihre Eltern mögen Jan.
Er ist aufmerksam,
lieb und kümmert sich
um ihre Tochter.
auch Vater Niko sieht,
dass Jan alles
für seine Kröte
machen würde.
Die beiden kleben
nahezu aneinander.
Manchmal denkt Ilona,
dass die beiden
mittlerweile zu einer
Person verschmolzen sind.
Aber leider ist Jan
auch ziemlich eifersüchtig.
Ihm gefällt es nicht,
wenn Lisa alleine
loszieht oder er mitbekommt,
wenn andere Jungs
ihr Aufmerksamkeit schenken.
Das stört Ilona.
Jan gefällt es auch nicht,
wenn Lisa Kontakt
zu anderen aus der
Jugendfeuerwehr hat.
Aber Lisa ist nun mal
ein Gemeinschaftsmensch
und mag ihr Team.
So viele unterschiedliche
Menschen.
Da ist zum Beispiel
der Finn,
der ist 16 Jahre alt,
ein bisschen mopbelig
und eher der Außenseiter-Typ.
Bei einem Gruppenabend
hat sich Lisa mal länger
mit ihm unterhalten.
Oder Jogi zum Beispiel.
Er ist Anfang 50
und der Gerätewart
der Jugendfeuerwehr.
Alle lieben Jogi,
weil er sich so
um die angehenden
Feuerwehrmitglieder kümmert.
Für einige Mädchen
hat er sogar einen
Schminkspiegel
im Feuerwehrauto
angeschraubt.
Am 7. Februar 2014
wird Lisa endlich volljährig.
Darauf hat sie lange gewartet,
denn jetzt muss sie nicht mehr
nur bei der Jugendfeuerwehr
Übung machen,
sondern ist eine richtige
Feuerwehrfrau
und darf mit zu den
Löschzügen fahren.
Aber ihre Freude
über ihre neue Aufgabe
wird bald getrübt.
Am 19. März
ist es ein Mittwoch,
da kommt Lisa
total durcheinander
aus ihrem Zimmer
und erzählt ihrer Mutter,
was sie gerade erfahren hat.
Jogi ist gestorben.
Es war ein Herzinfarkt
mit 52 Jahren.
Lisa kann es nicht fassen.
Auch Finn aus der Feuerwehr
hat die Nachricht
völlig umgehauen.
Die beiden schreiben sich
bei WhatsApp darüber.
Finn hat gefragt,
ob Lisa mal vorbeikommen kann.
Ihm geht es nicht gut.
Sein Vater erzählt,
er sei den Rettungswagen
gefahren,
in dem Jogi lag.
Und natürlich will Lisa
ihrem Kameraden helfen.
So ist sie halt.
Sie packt ihre Sachen
und sagt ihrer Mutter,
dass sie in einer Stunde
sogar wieder zu Hause sein würde.
Nur mal schnell
bei Finn vorbeischauen.
Bei uns im Kreis Pinneberg,
da ist das so,
dass du zusiehst,
dass du mit 18
auf jeden Fall schon
deinen Führerschein hast,
weil man sich da ohne Auto
einfach kaum fortbewegen kann,
weil es so wenig Möglichkeiten gibt.
Und auch Lisa hat
zu diesem Zeitpunkt
ihren Führerschein schon.
Sie ist aber natürlich
noch Fahranfängerin.
Und deswegen lässt sie
das Auto ihrer Mutter
auf dem Parkplatz
der Feuerwehr stehen.
Finn wohnt dann nämlich
in der Nähe
und sie hat zu große Sorge,
dass sie,
wenn sie bei Fins Eltern
auf die Einfahrt fährt,
nachher wieder rückwärts
auf die Hauptstraße fahren muss.
Da sind nämlich
70 kmh erlaubt.
Um 13.30 Uhr
fängt die Überwachungskamera
der Feuerwehr Lisa ein,
wie sie über den Parkplatz geht.
Es ist kurz nach 16 Uhr,
als Ilona
ein ungutes Gefühl überkommt.
Lisa sagte doch,
sie wolle in einer Stunde
wieder da sein.
Als Jan von der Berufsschule
heimkommt,
ist er genauso besorgen.
Er hätte ihr schon mehrmals
bei WhatsApp geschrieben,
sie hätte aber nicht reagiert.
Ilona versucht es
nochmal über Facebook.
Da erreicht sie Lisa
eigentlich immer.
Aber nichts.
Auch telefonisch nicht,
ihr Handy ist aus.
Das ist total ungewöhnlich
für Lisa.
Sie ist immer erreichbar.
Jan sorgt sich,
Ilona merkt aber,
dass da auch ein bisschen
Eifersucht mitschwingt.
Er weiß,
dass sie vorher zu Finn wollte.
Die beiden fahren los,
um Lisa zu suchen
und finden das Auto
auf dem Parkplatz der Feuerwehr.
Also denken sie,
ist sie vielleicht
doch noch bei Finn.
Ilona will,
dass sie noch ein wenig warten.
Aber zu Hause
finden sie auch keine Ruhe
und es gibt weiterhin
keine Rückmeldung von Lisa.
Nachdem Ilona die Nummer
von Finn herausgefunden hat,
versucht sie es bei ihm.
Finn sagt,
dass Lisa sich schon um
circa drei Uhr
von ihm
auf dem Nachhauseweg gemacht hat,
weil sie Kopfweh hatte.
Ilona bittet Finn sich zu melden,
falls er was hört.
Jetzt sind Ilona und Jan
beunruhigt.
Ist dir vielleicht etwas
auf dem Weg passiert?
Ilona denkt aber auch wieder
an den Stalker.
Ist der Albtraum doch nicht vorbei?
Sie rufen bei der Polizei an
und melden Lisa als vermisst.
Die Polizei sagt ihnen aber,
dass sie erstmal noch
keine öffentliche Suche
starten können.
Immerhin ist Lisa ja jetzt 18
und erst ein paar Stunden weg.
Dann müssen sie eben
selbst aktiv werden,
denkt sich Lisas Familie.
Mittlerweile ist auch Vater Nico
von der Arbeit nach Hause gekommen.
Zusammen mit Simon
und Lisas Schwester
bildet er einen Suchtrupp.
Sie gehen die Gegend
von Fins zu Hause
bis zum Auto ab.
Vielleicht ist sie ja irgendwo
umgekippt und braucht Hilfe.
Auch der Arbeiter Samariter
bunt weiß inzwischen,
dass Lisa gesucht wird.
Weil die dort
eine Hundestaffel
zur Verfügung haben,
fordert ein Mitarbeiter
des ASB
einen Mantrailer-Hund an.
Mit einer Haarbürste
und einer Zahnbürste
von Lisa
soll der ihren Geruch verfolgen.
Aber der Hund
schnüffelt nur längere Zeit
an der Eingangstür
vor Fins Elternhaus.
Das ist ja auch kein Wunder,
immerhin war Lisa
dort ja auf jeden Fall.
Danach laufen sie
mit dem Hund einmal
um das Haus herum
und dann zur Straße.
Über drei Kilometer
legen sie zurück,
bis sie die Suche
abbrechen müssen.
Der Hund kann
keine Fährte aufnehmen.
Während das Team
mit dem Hund abbricht,
suchen mittlerweile über 50
Freunde und Bekannte
nach Lisa.
Bis in die frühen Morgenstunden
sind sie mit Taschenlampen
unterwegs.
Ohne Erfolg.
Donnerstag, 20. März 2014.
In meinem Facebook-Feed
sehe ich,
dass meine Freundin
und Kerstin, mit der ich in den USA war,
einen Post teilt.
Polizei sucht 18 Jahre alte
Tornischerin Lisa Marie B.
Die junge Frau kam gestern
nicht nach Hause
und heute nicht zur Arbeit.
Es ist der Morgen,
einen Tag nach Lisas Verschwinden.
Bisher fehlt immer noch
jede Spur von ihr.
Bekannte, Freunde und Familie
haben sich mittlerweile organisiert.
Mit der freiwilligen Feuerwehr
sind es ca. 200 Leute,
die nur ein Ziel haben,
Lisa Marie zu finden.
Es herrscht
eine unglaubliche Solidarität.
Jeder hilft, wo er kann.
Jens Vater war mal bei der Bundeswehr
und koordiniert die Sucher.
Er teilt die Gegend
in einzelne Abschnitte ein.
Ilona organisiert derweil
die Suche im Netz.
Sie starten einen Aufruf,
der tausende Male geteilt wird.
Auch viele meiner Freunde
beteiligen sich daran.
Bei YouTube stellen die Sucher
ein Video mit der Vermisstenmeldung
von Lisa Marie ein.
Sie drucken Flyer mit Fotos von Lisa
und verteilen sie in ganz tornisch.
Nicos Chef besorgt für seinen Mitarbeiter
extra einen Hubschrauber,
sodass sie das Gebiet
zusätzlich von oben absuchen können.
Ganz tornisch weiß mittlerweile
von Lisa Marie.
Alle halten die Augen offen.
Wieder suchen Bekannte,
Freunde und Familie
bis spät in die Nacht.
Was keiner weiß,
einer von ihnen
sucht nicht wirklich nach Lisa Marie.
Eine Person weiß, wo sie ist
und spielt die Sorge nur.
Freitag, 21. März 2014.
Meine Facebook-Freundin Emilia
teilt den Beitrag
der Feuerwehr tornisch.
Licht an für Lisa.
In Seemanns Familien ist es Brauch,
ein Licht im Fenster stehen zu haben,
bis die Seeleute wieder nach Hause kommen.
Wir möchten euch daher bitten,
abends im Raum tornisch
eine Lampe für Lisa
ins Fenster zu stellen.
Bitte keine Kerzen
neben Gardinen.
Dies soll ein Zeichen sein,
dass wir an sie denken
und auf ihre Heimkehr warten.
Helft bitte mit
und sorgt dafür,
dass tornisch nachts
für Lisa leuchtet,
bis sie wieder bei uns ist.
Als sich alle am Freitag,
zwei Tage nach
Lisas Verschwinden
zur Suche treffen,
ist die Polizei
auch schon auf den Beinen.
Mittlerweile suchen
die BeamtInnen auch offiziell.
Ein Hubschrauber
mit Wärmebildkamera
und mehrere
Man-Trailer-Staffeln
sind im Einsatz,
während tornisch
im Regen versinkt.
Die Polizei beginnt jetzt
außerdem damit,
Lisas Umfeld zu befragen.
Die Eltern,
Simon,
Jan,
die ErmittlerInnen fragen,
welche Probleme Lisa hatte,
ob sie kürzlich
mit jemandem gestritten hat.
Auch Moritz wird
von der Polizei befragt,
also der Stalker.
Eine verdächtige Person
kann aber nicht festgemacht werden.
Dennoch stößt die Polizei
auf eine interessante Information.
Finn erzählt ihnen,
dass Lisa ihm gegenüber
geäußert hat,
dass sie sich morgens
noch mit Jan gestritten hat.
Weshalb weiß er nicht,
aber vielleicht war es mal
wieder seine Eifersucht.
Die wurde immerhin immer schlimmer
im Laufe der Beziehung.
Lisa hat sich manchmal
richtig eingeengt gefühlt,
das ist ihrer Mutter
auch aufgefallen.
Auf Nachfrage behauptet Jan,
sich mit Lisa morgens
nicht gestritten zu haben.
Mittlerweile berichtet
auch die Presse von dem Fall.
Weil Finn offenbar
der Letzte war,
der Lisa Marie gesehen hat,
wird auch er interviewt.
Er erzählt der Hamburger
logenpost,
dass Lisa ihm gegenüber
Stress mit ihrem Freund
erwähnte.
Dann sagt er noch,
dass sie so eine Stunde
gequatscht haben,
bevor sie wieder gegangen ist
und dass er sich
große Vorwürfe macht,
sie nicht zum Auto
begleitet zu haben.
Während Finn das erzählt,
fängt er an zu weinen
und sagt,
Lisa, komm bitte zurück.
Es ist mein allergrößter Wunsch.
Am Samstag,
den 22. März,
findet sich in meinem
Facebook-Weed
kein Eintrag zur Suche
von Lisa,
der geteilt wird.
Und das liegt vor allem daran,
dass man einfach
nicht vorankommt.
Also die Polizei
hat immer noch
keine verdächtige Person
ins Auge fassen können
und die Suchaktion
bleibt auch ergebnislos.
Mittlerweile wird aber
in alle Richtungen ermittelt.
Lisas Eltern
haben jetzt fast drei Tage
durchgehend nach ihrer Tochter
gesucht.
Das heißt,
sie haben kaum gegessen,
keinen Schlaf finden können.
Alles, was sie wollen,
ist, ihre Tochter
wieder in die Arme zu schließen.
Auch diese Nacht
stellen die Tornischer
Kerzen aufs Fensterbrett,
um Lisa den Weg
nach Hause zu leuchten.
Sonntag, 23. März.
Ein Mitarbeiter
aus der Feuerwehr Tornisch
teilt über ihren Account
auf Facebook,
Ich soll euch von Lisas
Mama Grüße ausrichten
und ihren Dank an alle,
die an sie und ihre Familie denken
und Lisa Kraft geben,
das alles zu überstehen.
Schon morgens um sieben
an diesem Tag
meldet sich eine Frau
persönlich beim
Polizeirevier in Tornisch.
Sie hat eine beunruhigende
Entdeckung am Vorabend gemacht.
Nachdem ihr erst
eines der Flugblätter
in die Hand gefallen ist
und sie dann auch noch
den Bericht in der
Hamburger Morgenpost las,
surfte sie ein bisschen
im Internet.
Sie landete auf YouTube
und entdeckte dort
den Account einer Person,
deren Namen ihr
im Zusammenhang mit Lisa
schon bekannt war.
Diese Person hatte
zwei Videos hochgeladen.
Darin ging es um
selbstgedrehte Videos
von Einsatzfahrzeugen
in Tornisch.
Aber der Accountinhaber
hatte auch mehrere Videos
favorisiert.
Und diese Videos
zeigen nachgespielte Szenen
wie Frauen sterben.
Dort sind Männer zu sehen,
die Frauen beispielsweise
in der Badewanne erwürgen.
Alle Videos hatten gemeint,
dass man während des Todeskampfes
die Füße der Frauen zeigte.
Der Account mit den Videos
verbarg sich nicht
hinter einem Alias.
Es war der Name von Finn.
Montag, 24. März.
Mein Chef,
ich nenne ihn jetzt mal Farid,
aus dem persischen Restaurant,
in dem ich damals gearbeitet habe,
teilt auf Facebook
Leiche gefunden.
Lisa Marie vermutlich getötet.
Meine Freundin und Kollegin,
auch aus dem Restaurant,
teilt den gleichen Artikel
und schreibt darunter
so traurig.
Die Polizei hatte
einen Durchsuchungsbeschluss
erwirken können.
deswegen versammeln sich
an diesem Montagmorgen
einige Beamtinnen
vor Fins Elternhaus,
während zwar andere
ihn von der Schule abholen.
Finn zeigt darauf kaum Reaktionen.
Auf dem Weg zur Wache
fahren sie an seinem Zuhause vorbei.
Auch die vielen
Polizeiautos davor
scheinen nichts in ihm auszulösen.
Bei seiner Vernehmung
leugnet er weiterhin zu wissen,
was mit Lisa Marie passiert ist,
verstrickt sich aber zunehmend
in Widersprüche.
Gerade was die Zeit angeht,
wann sie gegangen ist
oder gekommen ist.
Nahezu zeitgleich
findet das Team in Tornisch
nur wenige Meter
hinter Fins Haus
Lisas entkleidete Leiche.
Sie wurde unter einem blühenden
Strauch abgelegt.
Den Moment,
als Lisas Familie
von der Nachricht erfährt,
beschreibt Vater Nico so.
Ich hätte gerne meine Frau
in den Arm genommen,
mit ihr zusammen geweint.
Aber bei mir
war es wie eine Starre gewesen.
Ich konnte mich nicht bewegen
im ersten Moment.
Es war alles weg.
Es war alles leer.
Schrecklich.
Mittlerweile konfrontieren
die ErmittlerInnen Finn
mit den Gewaltvideos
von seinem YouTube-Kanal.
Die Vernehmung zieht sich
und die BeamtInnen
machen nur langsame Fortschritte.
Dann aber gesteht er,
Lisa unter einem Vorwand
zu sich gelockt
und sie dann umgebracht zu haben.
Sein Vater hatte den Rettungswagen
von Jogi gar nicht gefahren.
Finn war an diesem Mittwoch erkältet,
ging also nicht zur Schule
und saß schon früh vorm PC,
um sich durch seine YouTube-Liste
zu klicken.
Als Lisa dann kam,
unterhielten sie sich kurz.
Aber Lisa wollte nicht lang bleiben.
Sie zog nicht mal ihre Jacke aus.
Er gab vor,
sie raus begleiten zu wollen.
Dann gingen sie durch den Flur,
sie vor ihm
und dann seien da plötzlich
wieder die Videos
in seinem Kopf gewesen,
sagt Finn.
Als er sie von hinten wirkte,
seien sie umgefallen.
Lisa hatte sich gewehrt,
aber er konnte einfach nicht aufhören.
Dann hat er sich auf sie raufgesetzt
und zugedrückt,
bis es vorbei war.
Er entkleidete ihre Leiche,
packte ihre Klamotten
in einen gelben Sack
und stellte sie auf den Dachboden.
Ihren Körper,
so sagt er,
hat er mit einem Bollerwagen
zur Ablegestelle transportiert.
7.10.2014.
Meine Freundin Katharina
teilt einen Artikel
des Hamburger Abendblatts.
Veröffentlicht
nach dem zweiten Prozestag.
Bevor der 16-Jährige
im März
Lisa Marie
in Thornisch erwürgte,
kam es zu drei ähnlichen Vorfällen.
Möglich ist,
dass die Jugendkammer
für den Angeklagten
Sicherheitsverwahrung anordnet.
Ein halbes Jahr nach der Tat,
die das Leben
für so viele Menschen
in Thornisch veränderte,
steht Finn vor Gericht.
Die Öffentlichkeit
ist aufgrund von Fins Alter
ausgeschlossen.
Die Klage lautet
Mord aus Heimtücke.
Dafür bekommt er
nach Jugendstrafrecht
maximal zehn Jahre.
Lisas Familie
tritt als Nebenkläger auf.
Ihnen geht es nicht darum,
dass Finn
möglichst hart bestraft wird.
Vielmehr möchten sie
endlich antworten
auf die Fragen,
die ihnen so lange
unbeantwortet blieben.
Vor allem möchten sie
endlich wissen,
warum ihre Tochter
sterben musste.
Gleich am ersten Prozestag
wiederholt Finn
sein Geständnis.
Während der Verhandlung
kommt heraus,
und das sage ich jetzt,
wo wir gerade
über den Rückschaufehler
gesprochen haben,
dass sich die Tat
irgendwie angedeutet hatte.
Zu Hause war Finn
zwar immer höflich,
immer zuvorkommend,
hat nie etwas ausgefressen,
aber dreimal
ist er schon auffällig geworden,
weil er andere Kinder wirkte.
Da war er gerade einmal 13.
Einmal traf es
einen Schulkameraden,
als sie Zusammenhausaufgaben
machten.
Ohne ersichtlichen Grund
ging Finn auf ihn los.
Ein anderes Mal
war es eine Mitschülerin,
von der sich Finn
vorher gedemütigt fühlte.
Er lockte sie
unter einem Vorwand,
in den Wald
und attackierte sie dort.
Nur weil eine Passantin
zufällig dazwischen kam,
konnte sich das Mädchen
befreien.
Als das rauskam,
schleppte seine Mutter
Finn zu einer Therapie.
Die war aber irgendwann
zu Ende,
weil die Frau,
mit der er sprach,
den Job wechselte.
Er schien aber
zu dem Zeitpunkt
auf einem guten Weg zu sein.
Finn musste nach den
Vorfällen auch die Schulklasse
wechseln.
Warum?
Das wurde unter den
LehrerkollegInnen
nicht kommuniziert.
Und so dachte sich
die neue Klassenlehrerin
auch wenig dabei,
als ihr zwei Schülerinnen
erzählten,
dass Finn sie anschrieb
und nach Fotos
von ihren Füßen fragte.
Hätten mehrere
von den Vorfällen gewusst,
wäre man vielleicht
alarmierter gewesen.
Auch Fins Mutter
bekam von der Fußsache
nichts mit.
Heute fragt sie sich,
was sie falsch gemacht hat.
Vielleicht hat sie ihn
zu sehr behütet.
Sie ist immer lang
auf Arbeit gewesen
und nachts haben sie
und Finn dann zusammen
in einem Bett geschlafen
und geredet.
So bekamen sie
wenigstens was
von seinem Leben mit.
Der Vater schlief
übrigens im Kinderzimmer.
Die Gutachter sagen,
Finn hätte nur
ein eingeschränktes
Empathieempfinden
und eine schwere
seelische Abartigkeit.
Er wäre zwar
schuldfähig,
aber zur Tatzeit
durch seinen Würgedrang
gesteuert gewesen.
Das Gericht verurteilt
Finn nach vier
Verhandlungstagen
zu neun Jahren
Haftstrafe
und vorheriger Unterbringung
in einer forensischen
Psychiatrie.
Nur vier Prozesstage
hat das Gericht gebraucht,
um den Fall aufzuarbeiten.
Für Lisas Eltern
ist das zu wenig.
Ihnen hatte man gesagt,
dass man hier
Antworten finden würde.
Aber sie wissen
immer noch nicht,
warum ihre Tochter
sterben musste.
Oder warum keiner
bei der Suche
die Leiche gefunden hat,
wenn Finn sie wirklich
gleich nach der Tat
am Fundort abgelegt hat.
Sie glauben ihm das nicht.
Vom Hubschrauber aus
konnte man selbst
einzelne Helfer erkennen
und da soll der tote
Körper unentdeckt
geblieben sein.
Außerdem hätten sich
sicherlich Tiere
daran zu schaffen
gemacht.
Der Gutachter wiederum
stützt Fins Aussage.
Die Leichenflecken
würden zu seiner
Aussage passen.
Dass die Tat
einen sexuellen
Hintergrund hatte,
das ist klar,
aber ob es auch
einen sexuellen
Übergriff gab,
auch das konnte
final nicht
geklärt werden.
Hinweise dafür gab es
offenbar nicht,
aber das Gericht
schließt es
ausdrücklich nicht aus.
Mit ihren offenen
Fragen werden die Eltern
von Lisa Marie
alleingelassen.
Der Schock
in Tornisch
sitzt noch lange tief.
Keiner kann fassen,
dass einer,
der vorgab,
ein Freund,
einer von ihnen zu sein,
zu so etwas fähig ist.
Als Lisa beerdigt wird,
kommen so viele Menschen
zur Trauerfeier,
dass sie nicht einmal
in die Kapelle passen.
Die Menschen tragen
keine typische
Trauerkleidung,
sondern normale Klamotten,
weil sich die Eltern
das so gewünscht haben.
Sie spielen Diamonds
von Rihanna
und lassen Ballons
für Lisa steigen.
Der Grabstein,
den sie für Lisa
ausgesucht haben,
der ist so zweigeteilt.
Eigentlich ergänzen
sich die beiden Teile,
sie würden zusammenpassen,
sie wären aber
durch so eine
S-förmige Kluft
gespalten.
Und mich erinnert das
irgendwie an Lisa
und ihre Familie.
Ilona und
Lisas bester Freund
Simon
pflegen eine
gemeinsame Gedenkseite
für Lisa
auf Facebook.
Und dort lassen sie
sie weiterleben
und andere
an Ereignissen teilhaben.
Sie erinnern zum Beispiel
an dieses Geburtstag
oder posten Bilder
vom Stein.
Und Simon lässt sich
zwei Jahre nach ihrem Tod
groß
Lisa Marie
und ihr Geburtsdatum
und ihr Sterbedatum
auf den Arm
tätowieren.
So wird er sie
immer bei sich tragen,
so wie ihre Familie
sie auch.
Ich kann nicht fassen,
dass der dann
auch noch mit der Presse
gesprochen hat.
Sowas ist ja öfter
schon mal vorgekommen,
also dass Täter
oder Täterinnen
Interviews gegeben haben
oder halt dabei
geholfen haben,
zumindest augenscheinlich
bei der Suche
zu helfen
oder bei der Aufklärung
zu helfen.
Und das finde ich
so gruselig.
Ich nehme mal an,
dass das auch
straffverschärfend
nachher gewirkt hat,
weil er ja auch noch
die Schuld versucht hat,
auf ihren Freund
zu schieben
oder zumindest
den Verdacht
auf ihn zu lenken.
Ja.
Und du
hast das sozusagen
so hinterm Bildschirm
miterlebt
oder auch
warst du bei der Beerdigung
oder hast du auch sonst
irgendwie das mitbekommen?
Nein.
Also ich kannte sie ja
gar nicht.
Deswegen,
ich habe da ja schon
in Berlin gewohnt
und habe gesehen,
dass meine Freunde
das teilen.
Ich kenne aber natürlich
über Ecken
ganz viele Menschen,
die irgendwie mal
mit Lisa zu tun hatten,
die in der Feuerwehr waren.
Meine eine Freundin
hat den und weißt du,
dann hat mal jemand
neben jemandem gesessen,
immer dieses Ganze.
Also ich habe heute
erst so eine Art
geschäftliches Gespräch
mit einer aus Uetersen gehabt.
Die hat mir dann auch erzählt,
dass mittlerweile
beide Elternpaare
weggezogen sind.
Der Stern Crime
hatte übrigens
ein Jahr nach der Tat
einen interessanten
Artikel gemacht
und zwar hat der
beide Mütter porträtiert
und hat das
aus ihrer Sicht erzählt,
weil zu dem Zeitpunkt
beide Familien
noch in Thornisch gewohnt haben,
vier Kilometer auseinander,
also direkt am anderen Ende
und hat quasi
diesen Fall erzählt
und was danach passiert ist,
wie die Familien
danach damit umgehen,
wenn beide noch
an diesem Ort wohnen.
Fand ich ganz spannend,
weil das mal
eine andere Seite beleuchtet hat auch.
Und wie sind die Familien
damit umgegangen?
Also es gab auch
Kontaktaufnahme
zur Täterfamilie
und natürlich gab es
auch Vorwürfe.
Am Ende kann man aber
eigentlich nur sagen,
dass diese Situation so,
also beide Familien
in einer Stadt
halt nicht lange
auszuhalten war.
Ich habe viele
meiner Informationen
übrigens
von der RTL-Serienreihe
Es war Mord
und da ging es
in einer Folge
auch um den Fall
von Lisa Marie.
Lisas Eltern
ging es ja nicht darum,
dass Finn
möglichst lange
weggesperrt wird.
Sie wollten vor allem,
dass sowas
nicht nochmal passiert.
Dass er sich nun
erst in der forensischen
Psychiatrie
behandeln lassen muss
und danach erst
seine Haftstrafe
absetzen kann,
finden sie
zufriedenstellend.
Einige
auf meiner
Facebook-Timeline
haben das etwas
anders gesehen.
Und dabei kratzt
das Urteil
ja eigentlich schon
an der Grenze,
weshalb ich jetzt
zu meinem Aha komme.
Wäre Finn erwachsen
gewesen,
wissen wir,
dass es für ihn
keinen Strafrahmen
gegeben hätte.
Also das Gericht
hätte nicht
die Freiheit gehabt
zu entscheiden,
welche Strafe
angemessen gewesen wäre,
sondern er hätte
auf jeden Fall
lebenslänglich bekommen.
Das ist im
Jugendstrafrecht
aber etwas anders.
Für Verbrechen,
für die man nach
allgemeinem Strafrecht
eine Höchststrafe
von über zehn Jahren
bekommt,
bekommt man nach
Jugendstrafrecht
maximal zehn Jahre.
Das gilt übrigens
nicht für Heranwachsende,
die rechtlich gesehen
18 bis einschließlich
20 Jahre alt sind.
Weil beim Jugendstrafrecht
noch mehr der
Resozialisierungsgedanke
im Vordergrund steht,
sind die Strafen
auch deswegen milder,
damit die Jugendlichen
quasi noch eine zweite
Chance bekommen können.
Es geht hier also
immer noch
um diesen
Erziehungsgedanken.
Weil sich die Boulevardpresse
ja aber so gern
auf sowas stürzt,
wie
nur neun Jahre
für heimtückischen Mörder,
gab es auch schon öfter
mal Bewegungen,
die das
Jugendstrafrecht
verschärfen wollten.
Viele JuristInnen,
die sich mit dem
Jugendstrafrecht
beschäftigen,
sprechen sich aber
dagegen aus.
Immerhin sitzt
ein 16-Jähriger,
der beispielsweise
zehn Jahre
ins Gefängnis geht,
mehr als die Hälfte
seines bisherigen Lebens.
Das Schlimmste,
was passieren kann,
dass man einen
Jugendlichen
in den Knast steckt,
denn Knast
macht Jugendliche
nicht besser,
er macht sie
nur schlimmer.
Das sagt Volker Ruhe
in einem Interview
mit Deutschland
und von Kultur.
Er saß selbst
mit 18 Jahren ein
und weiß daher,
wie schwer es ist,
nachher wieder Arbeit
oder generell
Anschluss zu finden.
Und jetzt stellen wir uns
mal einen 16-Jährigen vor,
der die Schule
nicht beendet hat,
der nie auf eigenen
Beinen stand
und als Teenie
noch bei seiner Mutter
im Bett schlief.
Und der kommt dann nach,
sagen wir jetzt mal,
drei Jahren forensischer
Psychiatrie
und eventuell
noch neun Jahren
Gefängnis
wieder raus.
Natürlich hat er es danach
trotz Hilfsangeboten
nicht leicht im Leben.
Und das ist ja auch
irgendwie okay so,
er hat ja noch eins,
Lisa Marie hat Iris
durch ihn verloren.
Ja, also wir jetzt hier
keine Position beziehen.
Aber bei uns geht es hier
ja auch oft
um die Rückfallgefahr.
Denn wenn jemand
keine Arbeit findet
und auch kaum Freunde
von früher hat,
dann fehlen ihm
wichtige
Stabilisierungsfaktoren.
Von TäterInnen,
die wegen Mordes
oder Totschlags
verurteilt wurden,
wird fast jeder Dritte
oder jede Dritte
wieder straffällig,
bezieht sich jetzt nicht
auf Mord und Totschlag,
sondern generell
werden sie wieder straffällig.
Und deswegen hat unsere Justiz
für weniger schwerwiegende
Delikte vorgesehen,
dass jugendliche
Erziehungsmaßregeln,
wie in einem Heim zu wohnen
oder eine Ausbildung zu machen,
auferlegt werden können
oder Zuchtmittel
angewendet werden.
Dazu könnte man die Zahlung
von Geld zählen
oder dass sie in den
Jugendarrest gehen.
Jugendarrest muss man
maximal vier Wochen absitzen
und bekommt dann eben
keinen Eintrag
ins Vorstrafenregister.
Das ist wichtig,
damit sie halt
bei einer Bewerbung
beispielsweise
die Chance bekommen,
alles noch machen zu können.
Für Jugendliche
ist die Jugendstrafe,
also die Freiheitsstrafe,
das heißt
im Jugendstrafrecht so,
die Jugendstrafe,
wirklich das allerletzte Mittel,
die sogenannte
Ultima Ratio.
Wir haben ja auch in Folge 7
schon mal über die Resozialisierung gesprochen
und ich finde es auch richtig,
dass es ein Jugendstrafrecht gibt.
Was ich aber irgendwie schwierig finde,
ist, dass man sagt,
bei Jugendlichen steht der
Resozialisierungsgedanke
noch mehr im Fokus
als bei Erwachsenen.
Also ich finde,
da schwingt doch so ein bisschen mit,
irgendwie,
bei den Erwachsenen
ist Hopfen und Mals eh verloren.
Weißt du, was ich meine?
Ja, ich weiß, was du meinst,
aber Jugendliche
sind ja halt nun mal
bedingt strafmündig.
Also sie können ihre Taten
ja einfach weniger einschätzen
als Erwachsene
das jetzt beispielsweise können.
Und insofern finde ich das
mehr als gerechtfertigt,
Menschen,
die jetzt in ihrer Entwicklung
noch nicht so weit sind
und noch nicht die Reife haben,
dass man denen dann später
eher nochmal eine zweite Chance gibt
als jetzt Erwachsenen,
die ihre Taten halt
aufgrund ihrer Entwicklung
und deren Folgen
schon einschätzen können sollten.
Aber ich finde halt,
jeder sollte eine echte
zweite Chance bekommen können
und das ist halt irgendwie
im Erwachsenenstrafrecht
und der Art und Weise
des Vollzugs hier
nicht so wirklich immer gegeben.
Ich glaube aber auch nicht,
dass das im Jugendstrafrecht
immer so ist.
Ich denke zum Beispiel jetzt auch nicht,
dass ein 16-Jähriger,
der noch bei Mutti
im Bett geschlafen hat,
das dann später leicht haben wird,
wenn er seine Strafe
abgesessen hat.
Andererseits ist es ja auch
irgendwie wieder verständlich,
immerhin hat er noch ein Leben
und das Opfer eben nicht.
Ja, ich glaube,
die Diskussion führt
hier jetzt an der Stelle
auch zu weit.
Wir machen bestimmt nochmal
eine Extrafolge
zu Gefängnis und Resozialisierung.
Resozialisierung.
Kommen wir also zum nächsten Heimatfall.
Wie wir euch ja versprochen haben,
werdet ihr diese Folge
zu Wort kommen
und zwar mit euren
Heimatfällen,
entweder durch uns,
weil wir sie halt vorlesen
oder weil ihr sie selbst
eingesprochen habt.
Und an der Stelle
wollen wir uns
ganz herzlich bei euch bedanken
für all die E-Mails
und die Riesenmühe,
die ihr euch gemacht habt.
Für die viele Arbeit für uns.
Wir haben wirklich
alles gelesen.
Also wir haben wirklich
alle Fälle gelesen.
Und im Journalismus-Jargon
sagt man ja so
kill your darlings.
Wenn du zu viel
gutes Material hast,
dann musst du dich
von deinen Babys trennen.
Ja, da waren ja teilweise
welche dabei,
die waren besser geschrieben
und besser eingesprochen
als das, was wir machen.
Zum Beispiel
haben Ulla,
Hanna und Zora,
das ist eine Mutter
und ihre zwei Töchter,
über Weihnachten
sich das zum Projekt gemacht
und haben ihren
Heimatfall aufgenommen.
Und das war
mit so viel Liebe
und so sorgfältig gemacht,
dass mir das total leidtut,
dass wir den nicht
mit reinnehmen konnten jetzt.
Aber es war leider
viel zu lang.
Aber vielleicht passt
die Aufnahme dann ja
nochmal in eine andere Folge
oder auf Social Media
oder so.
Übrigens haben Paulina
und ich das Lesen
der Fälle aufgeteilt.
Das heißt,
wir wissen jetzt auch nicht,
welche die jeweils
andere vorstellt.
Nein!
Der erste Heimatfall
kommt von einer Hörerin,
die sich Mala nennt.
Sie schreibt in ihrer E-Mail
Hallo Laura,
hallo Paulina.
Im Anhang
das PDF zu meinem
Heimatfall aus Lea,
aus Friesland.
Ich freue mich
auf eure Reaktionen
und alle Heimatfälle,
die euch so erreichen.
Zwar habe ich die Geschichte
einmal eingesprochen,
knapp vier Minuten.
Allerdings habe ich
einen schlimmen Fall
von
Oh Gott,
so klinge ich
und überlasse das Vorlesen.
Deshalb lieber euch.
Das glauben wir
zwar nicht Mala,
aber jetzt lese ich ihn eben vor.
Was glaubst du,
wie es uns geht?
Es ist Mittwoch,
sieben Uhr,
am 20. Februar 2008
und ich bin spät dran.
Die CND schreibt
in den ersten beiden Stunden
ihre letzte Chemie-Klasur
bei Frau H.
Ich bin wirklich
schlecht vorbereitet
und generell mies,
was Naturwissenschaften angeht.
Ich werfe einen letzten Blick
auf die Formelsammlung
und stopfe sie zusammen
mit Blog
und anderen Büchern
in meinen Rucksack.
Brotdose nicht vergessen.
Die Tür fällt ins Schloss
und ich zerre das klapprige Rad
aus dem Schuppen.
In zehn Minuten
geht die Schule los.
Ich brauche fünf
bis zum Schulhof.
Wie jeden Morgen
steige ich am Zebrastreifen
vor der Bäckerei nicht ab
und gehe steil in die Kurve,
um von der Pferdemarktstraße
in die Süderkreuzstraße
einzubiegen.
Mein Plan wird behindert,
die Straße ist gesperrt.
Krankenwagen,
Polizei und Feuerwehr
blockieren und erleuchten
die ganze Straße.
Ich zerre das Rad
rückwärts aus der Straße,
ärgere mich
und fahre die deutlich
längere Strecke zur Schule.
Ich komme natürlich zu spät,
in den Raum
und nuschel ein,
da war irgendwas
in der Süderkreuz,
sorry.
Und bekomme nur
ein mitleidiges
Ja, ja,
setz dich halt bitte einfach
entgegnet.
Am Donnerstag
wissen dann alle,
durch welchen Tatort
ich fast geradelt wäre.
Es werden sich
heimlich Bilder gezeigt,
jeder weiß natürlich
immer ein bisschen mehr
als der andere.
Der Onkel einer Freundin
auf der Nachbarschule
hat einen Freund
bei der Polizei
und der weiß,
was passiert ist.
Der Typ hatte Bomben,
das war ein Psychopath,
ganz sicher.
Was wirklich passiert ist,
der 32-jährige Matthias S.
hat in der Nacht
von Dienstag auf Mittwoch
seine 27-jährige Geliebte
in seiner Wohnung erwürgt
und die Leiche
anschließend zerteilt.
Während der Lebensgefährte
der jungen Frau
in der Nacht
noch eine Vermisstenanzeige
zu seiner Partnerin stellt,
dekoriert der Industriemechaniker
Matthias den leblosen Körper
der Frau
für skurrile Fotos,
die er bei MySpace
hochlädt.
Wie bitte?
Dort hinterlässt er
auch seinen Abschiedsbrief.
Die Leute,
die ich umgebracht habe,
er hat aber nur
eine Person umgebracht,
stellen für mich
die Gesellschaft dar.
Sie sind die Angehörigen
derjenigen,
die mich ungerecht behandelt haben.
Für mich gibt es keine Zukunft.
Ich möchte nicht
in einer Gesellschaft leben,
wie wir sie jetzt haben.
Ohne Computerspiele
wäre ich sicher
schon viel früher
amok gelaufen.
Weiterhin beschreibt er
sich selbst als
waffennah
und exzessiven Computerspieler.
Er hat wirre Theorien
zum Nationalsozialismus
und stellt dar,
dass ihm zu Unrecht
die Stütze gestrichen wurde.
Mit einem Benzinkanister,
den die Polizisten
im Anschluss finden,
steckt Matthias S.
am Mittwochmorgen
die Wohnung in Brand
und flüchtet
mit seinem roten Ford Escort.
Nachbarn bemerken
die Detonation
im Dachgeschoss
und den wegfahrenden Wagen.
Sie notieren sich
das Kennzeichen
und ermöglichen
der Autobahnpolizei
damit die Fahndung.
Während in der
Süderkreuzstraße
die Feuerwehr eintrifft,
verfolgen Polizisten
auf der Autobahn
den Flüchtigen.
Es ist etwa 7.30 Uhr,
als Matthias S.
auf der Bundesstraße
von Thal
in einen Lkw rast.
Als er tot
aus dem Wagen
geborgen wird,
finden die Polizisten
Teile der Leiche
im Auto.
Das Haus
in der Süderkreuzstraße
war durch den Brand
unbewohnbar
und erst nach fünf Jahren
hat sich ein neuer Käufer
gefunden,
der das gesamte Haus
renoviert hat.
Noch etwa drei Wochen
nach der Tat
war der gesamte Fußweg
vor dem Haus
mit Blumen
und Kerzen
übersät.
Nachdem ich diese
Geschichte gelesen hatte,
habe ich Mala
noch einmal geschrieben
und sie gefragt,
wie sie sich
nach der Tat
gefühlt hat.
Und da hat sie geantwortet,
zum Zeitpunkt der Tat
war ich 16 Jahre alt
und war in Sachen Crime
total grün hinter den Ohren.
Am Tattag selbst
war ich durch meine
anständige Chemieklausur
einfach nur genervt
von dem Umweg,
den ich fahren musste
und habe den restlichen Tag
keine Gedanken mehr
an den Morgen verloren.
Erst als wir nachmittags
bei ICQ
wieder schreiben konnten,
wurde meinen Klassenkameraden
und mir klar,
was dort passiert war.
Am nächsten Tag
haben wir auch in der Klasse
ganz kurz darüber gesprochen,
da überregionale Nachrichten
aus Ostfriesland
eben doch recht selten sind.
Durch die Tat
hat sich allerdings
nichts in meinem Alltag geändert,
da auf eine Art klar war,
dass der Täter
alleine aus Affekt
und Krankheit gehandelt hat.
Niemand aus meinem
Freundeskreis war
vorsichtiger oder ängstlicher
abends alleine
in der Stadt zu sein.
Im Nachhinein betrachtet,
muss ich sagen,
haben wir das als Teenager
alle überhaupt nicht so realisiert,
was da passiert ist.
Und ich finde,
es ergibt doch irgendwie Sinn,
dass sich das Leben
der Schüler und Schülerinnen
halt nach der Tat
nicht wirklich verändert hat,
weil es eben
eine Beziehungstat war.
Beziehungstat ja immer
eher in Anführungsstrichen,
aber da ja quasi
der Täter direkt bekannt war
und auch jemand getroffen wurde,
der viel älter war
als die jetzt.
Der Heimatfall,
der jetzt kommt,
den habe ich von Stephanie bekommen
und Stephanie darf uns
gerne vertreten,
wenn wir krank sind
oder so.
Ihr werdet gleich hören,
warum.
Sie hat es nämlich
ganz toll selbst eingesprochen.
und sie hat geschrieben,
liebe Paulina,
liebe Laura,
ich komme aus einer kleinen Stadt
in der Nähe von Regensburg
namens Schwandorf.
Bei uns in der Ecke
passiert nicht sehr viel
und wenn doch,
dann ist es sofort
in aller Munde.
Und so war es auch
bei Maria Baumer,
die hier im Landkreis
Schwandorf
aufgewachsen ist.
Es ist der 26. Mai 2012,
der Tag,
an dem sie ihre
Hochzeitseinladungen
verschicken wollten.
Als Christian in die gemeinsame
Wohnung in Regensburg zurückkehrt,
trifft er seine Verlobte
nicht an.
Ihr Verlobungsring
liegt auf dem Tisch.
Gegen neun Uhr morgens
erhält er einen Anruf
von Maria.
Sie brauche eine Auszeit
und sei auf dem Weg
nach Nürnberg.
Später wolle sie
für ein paar Tage weiter
zu ihren Verwandten
nach Hamburg.
Dass sie dort
nie ankommen wird,
weiß Christian noch nicht.
Maria ist eine bodenständige,
zuverlässige,
fröhliche und vor allem
gläubige junge Frau.
Erst vor einigen Tagen
wurde sie zur Landesvorsitzenden
des katholischen
Landesjugendverbandes
gewählt.
Sie hat vor kurzem
ihren Master in
Geoökologie abgeschlossen
und bereits eine Stelle
als Windkraftwerkinspektörin
in der Tasche.
Ihr Traumjob.
Denn die 26-Jährige
ist gerne in der Natur
unterwegs.
Auch die Ausritte
mit ihrem Pferd
genießt sie sehr.
Und dann ist da noch
Christian.
Die beiden sind
schon lange ein Paar
und wollen im September
endlich heiraten.
Als Maria drei Tage später
am Pfingstmontag
nicht nach Hause kommt
und Christian auch sonst
kein Lebenszeichen
von ihr hält,
gibt er eine
Vermisstenanzeige
bei der Polizei auf.
Eine groß angelegte
Suchaktion wird gestartet
und obwohl der Fall
durch alle Medien geht
und sowohl der Landkreis
Schwandorf,
in die Maria und ich
aufgewachsen sind,
als auch der Landkreis
Regensburg die Augen
nach der jungen Frau
offen hält,
bleibt die lebenslustige
Maria spurlos verschwunden.
Ein halbes Jahr später
entscheidet sich die Familie
für die Teilnahme am
Aktenzeichen XY-Spezial
Wo ist mein Kind?
Sie ist sich sicher,
dass ihre Maria
noch am Leben ist.
Nach der Sendung,
bei der Zwillingsschwester
Barbara und verlobter
Christian zu Gast sind,
gehen knapp 70 Hinweise ein.
Einige wollen die gläubige
Maria auf dem Jakobsweg
nach Santiago de Compostela
oder bei einer Wahlfahrt
nach Međugurje in
Bosnien-Herzegowina
gesehen haben.
Die Hinweise führen
durch halb Europa,
aber eine heiße Spur
ist nicht dabei.
Im Sommer des
darauffolgenden Jahres
durchkämmt die Polizei
ein Waldstück bei
Bernhardswald im
Landkreis Regensburg,
in dem Maria am Abend
vor ihrem Verschwinden
noch mit dem Pferd
unterwegs war.
Die Leichenspürhunde
schlagen bellend an,
aber gefunden wird nichts.
Warum genau die
Kripo Regensburg
Maria dort vermutet,
wird nicht öffentlich
bekannt gegeben.
Nur wenige Wochen
später, am 8.
September 2013,
entdecken Pilzsammler
in eben jenem Waldstück
ein Skelett.
Es sind die sterblichen
Überreste von Maria
Baumer.
Ein Jahr, drei Monate
und 13 Tage nach
ihrem Verschwinden
hat man sie endlich
gefunden.
Trotz aufwändiger
Spurenanalyse und
forensischer Untersuchungen
bleiben die Umstände
ihres Todes im Dunkeln.
Sicher ist nur,
dass es sich nicht um
einen natürlichen Tod
handelt und dass
jemand versucht hat,
die Leiche zu beseitigen.
Tagelang dringen
keine Informationen
an die Öffentlichkeit.
Plötzlich wird
Marias verlobter
Christian festgenommen.
Kurz zuvor
hatte die
forensische Abteilung
eine ungewöhnliche
Entdeckung gemacht.
Auf dem Skelett
finden sich
Reste von
Löschkalk.
Löschkalk
wird normalerweise
in der Brandbekämpfung
eingesetzt,
kann aber auch
den Verwesungsprozess
von körperlichen
Überresten beschleunigen.
Außerdem
entdeckt die Polizei
unweit vom Fundort
der Leiche
einen Spaten
und eine Getränkeflasche,
die sie mit
Christian in
Verbindung bringt.
Dieser holt sich
sofort Rechtsbeistand
und macht zu den
Tatverwürfen
keine Angaben.
Weil ihm eine
tatsächliche Verbindung
zum Verschwinden
seiner mittlerweile
verstorbenen Verlobten
nicht nachgewiesen
werden kann,
wird er nur
wenige Wochen später
aus der
Untersuchungshaft
entlassen.
Die Ermittlungen
geraten in Stocken
und im Januar
2018 wird der Fall
sogar ganz geschlossen.
Durch den Fall
Baumer ist
Christians Leben
jedoch intensiv
von der Polizei
untersucht worden.
Hinweise bezüglich
Marias Tod
konnte zwar
nicht gefunden werden,
dafür stießen
die Ermittler
im Oktober 2014
auf andere
Ungereimtheiten,
die mit Straftaten
in Verbindung
stehen könnten.
Es werden neue
Ermittlungen
gegen ihn eingeleitet.
So soll Christian,
der als ausgebildeter
Krankenpfleger tätig ist,
eine ehemalige
Patientin betäubt
und sich an ihr
vergangen haben.
Auch des
Kindesmissbrauchs
wird er verdächtigt.
Einige Jahre zuvor
soll der mittlerweile
30-Jährige
gegenüber zwei Jungen
des Domspatzen-Gymnasiums,
das er früher
selbst besuchte,
übergriffig geworden sein
und diese dabei
gefilmt haben.
Zwei ganze Jahre
dauert das Ermittlungsverfahren
an, bis Christian
schließlich im Dezember
2016 wegen
Kindesmissbrauch
und Körperverletzung
zu zwei Jahren Haft
auf Bewährung
verurteilt wird.
Die Milde des Urteils
verursacht einen
hellen Aufschrei
in der Öffentlichkeit.
Zu Ende ist die Geschichte
um Maria Baumer
damit aber nicht.
Erst jetzt,
im Dezember 2019,
also sieben Jahre
nach der Tat,
wird der Cold Case
wieder geöffnet.
Durch neue Möglichkeiten
in der chemisch-toxikologischen
Analyse
wurden weitere Erkenntnisse
zu den Haarbüscheln der Leiche
und den Überresten des Lips
gewonnen.
Es konnte
Lorazipan
nachgewiesen werden.
Ein Betäubungsmittel,
das im Krankenhausalltag
verwendet wird.
Und das gleiche
Betäubungsmittel,
das Christian verwendet hat,
um seine ehemalige Patientin
gefügig zu machen.
Damit hat sich
etwas Entscheidendes
verändert.
Durch die Tötung
und der Betäubung
wird die Arg- und
Wehrlosigkeit des Opfers
ausgenutzt.
Bei diesem Umstand
handelt es sich
um ein Mordmerkmal
und deshalb
wird gegen Christian
nun nicht mehr
wegen Totschlags ermittelt,
sondern wegen Mordes.
Neben diesem Betäubungsmittel,
zu dem Christian
als Krankenpfleger
natürlich leicht Zugriff hatte,
sprechen noch andere
Indizien gegen ihn.
Zum einen
hat er einige Zeit
vor Marias Verschwinden
nach den Begriffen
der perfekte Mord,
Lorazipam
und letale Dosis,
also tödliche Dosis,
gegoogelt.
Zum anderen
kaufte er drei Tage zuvor
im Baumarkt
einen Spaten,
identisch mit dem,
der bei der Leiche
gefunden wurde.
Dass dieser Spaten
in seinem Haushalt
nicht mehr aufzufinden ist,
macht die Polizei
ebenfalls stutzig.
Wie die ganze Sache ausgeht,
bleibt also zunächst ungewiss.
Christian sitzt
seit dem 16. Dezember
wieder in Untersuchungshaft.
Erst gegen Ende Februar 2020
ist mit einer Anklageschrift
der Staatsanwaltschaft
zu rechnen.
Warum musste Maria Baumer sterben?
Wann genau hat ihr Leben
ein Ende gefunden?
Wie ist sie zu Tode gekommen?
All das wissen wir nicht.
Denn es ist trotz
gefundener Leiche,
trotz jeder Menge Indizien
und trotz nur
einem einzigen Verdächtigen
noch niemandem gelungen zu klären,
was an Pfingsten 2012
wirklich geschah.
Erstmal zu der Stimme.
Das war ja wie ein Hörbuch.
Wie toll hat sie das eingesprochen?
Ich hatte ein bisschen
Tränen in den Augen auch,
als ich es gehört habe.
Super.
Und jetzt einmal
zu dem Tatverdächtigen.
Ist er ja noch.
Entschuldigung,
aber der perfekte Mord.
Also wenn er schon
nach dem perfekten Mord sucht
und sich den überlegt,
dann sucht er doch nicht
mit seinem eigenen PC
und googelt
nach dem perfekten Mord.
Ja, aber offen,
also das sind alles ja Sachen,
die die Polizei
auch schon vorher wusste.
Es hat aber offenbar tatsächlich
ja nicht gereicht,
um ihn festzuhalten.
Ja, willst du mal
meinen Suchverlauf sehen?
Da würde man auch denken,
ich habe irgendwas,
Giftmord
und so weiter.
Irgendwann stehen sie
vor eurer Wohnung
und sagen zu deinem Freund,
ja, bla bla bla,
sie sind in großer Gefahr.
Bitte kommen sie mit.
Oh man.
Dieser Heimatfall
kommt von einem Zuhörer,
der sich Mr. T nennt.
Er schreibt,
Hallo zusammen,
hier ein Fall
aus der sächsischen Provinz,
der meine Oma
und alle Mietparteien
in ihrem Wohnhaus
mehrere Jahre
erschaudern ließ.
Der Fall heißt
Die Oma
und der schlimme Enkel.
Ich war damals erst neun,
kann mich aber noch
ziemlich genau dran erinnern,
was da im Nachbardorf
im Wohnort meiner Oma
so abging.
1990,
kurz nach der Wende,
war es so,
dass über der Wohnung
meiner Oma
in dem kleinen Nest Taurer
in der Nähe von Chemnitz
eine Wohnung frei wurde.
Nach einer Weile
zog ein älteres Ehepaar
in die Wohnung
über meine Oma
und sie freundeten sich an.
Meine Oma
und die ältere Dame
wurden beste Quatschfreundinnen,
die über alles
und jeden tratschten.
Ganz klassisch.
Im Dezember 1991,
kurz nach Weihnachten,
am 28.12.
gab es dann
einen Riesenrummel.
Meine Mutter kam
vom Friseur nach Hause
und berichtete
von einem Aufgebot
am Polizei
und Rettungsdienst
vor einem herrschaftlichen
Haus im Nachbarort.
In der alten Fabrikantenvilla
neben dem Textilwerk
musste etwas passiert sein,
was in so einem Nest
nicht jeden Tag passiert.
Alle möglichen Nachbarn
raunten und mutmaßten
und spekulierten.
Es sei wohl jemand
umgebracht worden.
Unvorstellbar.
In der DDR
gab es ja keine Verbrechen.
Und jetzt ein Mord?
Wie sich ein paar Tage
später herausstellte,
waren die Gerüchte
nicht so weit hergeholt.
Die Polizei veröffentlichte
wenige Tage später
in der lokalen Presse
mehrere Berichte.
In den späten Abendstunden
hatte jemand
eine 84-Jährige
und eine 70-Jährige
Mieterin
in dem Haus umgebracht.
Die 84-Jährige
wurde erwürgt,
die 70-Jährige
war nach einem Sturz
an ihren Verletzungen
gestorben.
Der Täter
entwendete dann
nach dem ersten Mord
zielgerichtet
ein paar D-Mark
und flüchtete dann.
Besser,
er wollte flüchten.
Wie das aber so ist
bei neugierigen
älteren Damen.
Die 70-Jährige Mieterin,
die unter der Tatwohnung
wohnte,
hatte Geräusche gehört.
Diese ließen sie
aus der Tür spähen.
Dummerweise bekam
der Täter das mit,
als er durch das
Treppenhaus eilte.
Er versetzte der Dame
einen Schlag,
der sie blutend,
sehr unglücklich
auf den Boden beförderte.
Hä?
Durch die Tür?
Hä?
Wieso?
Die spähte doch...
Ach so,
gar nicht durch den Türspion.
Sie hat die Tür aufgemacht.
Ja.
Ach so,
Entschuldigung,
in meiner Welt
gucken Omas
immer durch diesen Spion.
Ach so.
Und zwar ja
mehrere Stunden am Tag.
Okay,
sie hat die Tür aufgemacht.
Die beiden Leichen
wurden erst am nächsten Vormittag entdeckt.
Da der Täter scheinbar
unbemerkt ins Haus kam,
war man sich sicher,
dass er die beiden Damen
irgendwie kennen musste.
Relativ schnell
ermittelte man dann
René Z.,
den Großneffen
der 84-Jährigen,
als dringend tatverdächtig.
Er brauchte wohl Geld
und zwar schnell.
Dafür musste dann
die Großtante weichen,
als sie sich der Zahlung verweigerte.
Die 70-jährige Frau R.
war dann eher
ein dummer Zufall.
René Z.
war seit der Tat
auf der Flucht
und wurde per Phantombild
gesucht.
Ziemlich absurd,
wenn man bedenkt,
wie bekannt man eigentlich
in so einem Nest ist.
So ziemlich jeder zweite
der Dorfbewohner
konnte den damals
21-Jährigen einordnen.
Gefühlt seien jeder
der Dorfbewohner
die nächsten zwei Wochen
mehrmals.
Am Bahnhof,
am Imbiss,
an der Tankstelle
und beim Spazierengehen.
Diese Bekanntheit
wurde ihm dann auch
zum Verhängnis.
Und nach mehreren Tipps
aus der Bevölkerung
wurde er in der Nähe
von Chemnitz festgenommen
und schließlich verurteilt.
Lebenslänglich
für die beiden Morde.
Was hat das nun alles
mit dem älteren Ehepaar
über meiner Oma zu tun?
Der Mörder hatte eine Oma
und die wohnte nun zusammen
mit ihrem Mann
über meiner Oma
im Mietshaus.
Als die Täteroma
meiner Oma erzählte,
dass es tatsächlich
ihr Enkel war,
egelte sich meine Oma ein
und das ganze Haus
verbarrikadierte sich.
Selbst ich als Neunjähriger
musste mir die Schlüssel
aus dem Fenster werfen lassen.
Alle hatten Angst,
dass der Großtantenmörder
auch die Oma noch umlegt.
Die Tratschfreundschaft
meiner Oma hielt dennoch
und es passierte
mehrere Jahre nichts.
Als René Zett
nach circa 10 Jahren
wieder auf freiem Fuß war
und nun seine Oma
mit seiner neuen Frau,
einer ehemaligen Wärterin,
besuchte,
traf auch meine Oma
im Treppenhaus auf ihn.
Irgendwie sah er aus
wie ein stinknormaler Kerl,
sagte sie.
Danach sagte mir meine Oma,
wenn du mal dringend
Geld brauchst,
dann sag bitte
einfach Bescheid.
Diese Formulierung,
ich liebe diesen Text,
wir sagen ja nicht Wärter
oder Wärterin,
ja,
aber Mr. T.
möchte es so ausdrücken,
das ist in Ordnung.
aber ich finde auch
die Begriffe
Täter, Oma
und Großtantenmörder
super.
Vielleicht solltest du
einmal eine Mitarbeit
bei der Bild anstreben.
Die würde dich
mit Kusshand nehmen.
Weil das zeitlich
sonst natürlich
den Rahmen
hier sprengen würde,
stellen wir euch
noch zwei Fälle
mindestens,
die ihr jetzt hier
nicht gehört habt,
auf Instagram.
Die könnt ihr dann
die Tage da hören.
Aber einen Fall
habe ich noch,
den ich dir unbedingt
erzählen möchte.
Und zwar
kommt er von Natascha.
Natascha hat uns geschrieben,
liebe Laura,
liebe Paulina,
erst einmal wollte ich euch
sagen, dass euer Podcast
definitiv mein Favorit ist.
Dankeschön.
Dankeschön.
Ich könnte euch
nonstop zuhören.
Macht weiter so.
Nun zu meinem Heimatfall.
Mein persönlicher Bezug
dazu ist sehr stark,
denn ich war das Opfer.
Passiert ist das Ganze
in Hirschtal
in der Schweiz
am 29. Juli 2012.
Ich war damals
18 Jahre alt.
Natascha und ich
sind sehr auf deine
Reaktion gespannt.
Nach einem schönen Abend
mit meiner Freundin
machten wir uns
auf den Heimweg.
Mein Heimatdorf
Holzicken
liegt ziemlich
am Arsch der Welt.
Kein Zug hält dort
und so musste ich,
um von der Stadt
nach Hause zu kommen,
mit der Bahn
ins Nachbardorf
Hirschtal fahren
und von dort aus laufen.
Eigentlich würde
mein Papa mich
von überall her abholen
und nach Hause fahren.
In dieser Nacht
entschied ich mich
aber dagegen,
ihn anzurufen.
Meine Freundin und ich
fuhren also nach Hirschtal.
Dort angekommen
trennten sich unsere Wege.
Ich hatte nun
einen etwa 15-minütigen
Fußweg der Hauptstraße
entlang vor mir,
welchen ich schon
tausendmal gegangen war.
Relativ schnell
bemerkte ich,
dass jemand hinter mir lief.
Nichts Besonderes,
viele Menschen
gehen hier lang,
auch wenn es um
ein Uhr nachts
an einem Sonntagmorgen
nicht so viele waren.
Trotzdem ging ich schneller,
einfach weil ich
meine Ruhe wollte.
Die Person hinter mir
hielt aber Schritt.
Nun wurde ich unruhig.
Ich drehte die Lautstärke
meiner Kopfhörer herunter
und ballte die Fäuste.
Ich schaute genug Krimis
und war schon damals
großer True-Crime-Fan,
also startete sofort
mein Kopfkino
und ich überlegte,
was ich denn nun tun würde,
wenn die Person hinter mir
mir etwas antun würde.
Zu diesem Zeitpunkt
glaubte ich daran aber kaum
und trotzdem wurde ich
immer unruhiger.
Nun sah ich den Schatten
der Person hinter mir,
direkt vor mir.
So nah war er.
Und plötzlich spürte ich
einen extrem heftigen Schlag
auf meinen Hinterkopf.
Ich taumelte,
blieb aber stehen
und dann kam die Wut
in mir auf.
Was fällt diesem Arschloch ein?
Ich drehte mich um,
schrie laut
und fing an,
ihn aufs Übelste
zu beleidigen.
Ich sprang mit meinen Händen
in sein Gesicht.
Zusammen fielen wir
zu Boden.
Er kniete auf mir,
legte seine Hände
um meinen Hals.
Er drückte zu.
Ich krallte meine Fingernägel
in seine Augen
und riss an seinem Ohr.
Ich wollte ihm einfach
nur seine Augen rausreißen.
Einen solchen Hass
hatte ich noch nie gespürt,
was fiel ihm ein,
mir wehtun zu wollen.
Langsam wurde mir
schwarz vor Augen.
Und dann,
ganz plötzlich,
hörte ich eine Stimme
in meinem Kopf.
Das hört sich jetzt
sehr esoterisch an
und das bin ich überhaupt nicht,
aber so war es halt.
Die Stimme sagte zu mir,
wenn du jetzt nicht wach wirst,
bist du tot.
Ich schlug meine Augen auf,
schrie nochmals,
so laut es eben ging
mit seinen Händen am Hals
und drückte meine Nägel
nochmals in seine Augen.
Er ließ von mir ab,
stand auf und rannte weg.
Ich stand auch ganz langsam auf,
sah ihm nach.
Ich war nur wenige Meter
von meinem Elternhaus weg.
Im ersten Moment dachte ich,
shit, wo ist mein Handy?
Gleich gefolgt von dem Gedanken,
scheiß auf dein Handy,
renn.
Und ich lief los,
Richtung Haus.
Ich schrie immer noch.
Überall waren hier Häuser.
Warum hörte mich denn niemand?
Ich überquerte die Straße
zu unserem Haus
und meine Mutter
öffnete schon die Tür.
Sie hatte mich gehört.
Die Polizei traf rasch ein
und fasste kurz darauf den Typen.
Er war an den Tatort zurückgekehrt,
weil er seine Pistole
bei unserem Kampf verloren hatte.
Nein.
Ja, seine Pistole.
Der Schlag auf meinen Hinterkopf,
den ich spürte,
war nämlich eigentlich
ein Projektil,
das auf meinen Schädel traf.
Was?
Er schoss auf mich.
Da die Pistole nicht richtig funktionierte,
wurde das Projektil nicht richtig abgefeuert
und blieb in meiner Kopfhaut stecken.
Was?
Nein.
Oh mein Gott.
Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Er sagte später aus,
sein Plan war es,
mich zu töten
und sich anschließend
an meiner Leiche zu vergehen.
Er hatte mich schon öfters beobachtet
und in dieser Nacht
hatte er nun endlich genug Mut,
es durchzuziehen.
Er wurde zu einer 20-jährigen Haftstrafe
mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.
Das kann ich auch nicht glauben.
Nee, ich erst auch nicht.
Aber in der Schweiz
war das zu der Zeit
auch in einigen Medien.
Und ich habe mit Natascha
auch viel hin und her geschrieben.
Sie hat mir auch das Urteil
zum Beispiel Auszüge davon geschickt.
Das liest sich auch noch mal gruselig,
wie die beschreiben,
was da so sein Gedankengang war.
Der wollte nämlich eigentlich schon,
hatte der schon gedacht,
das mache ich heute nicht.
Und dann lief die Natascha
da lang und dann dachte er sich,
ach doch.
Ich habe sie dann noch gefragt
wegen der Kugel.
Also es war so,
dass die das ja nicht wussten,
dass sie da eine Kugel drinstecken hatte.
Das haben sie erst im Krankenhaus gemerkt,
nachdem sie die ganzen Würgemale
untersucht hatten und so.
Und auch die Polizei
hatte schon Fotos von der Wunde gemacht
und da fiel das noch nicht auf.
Erst in diesem Krankenhauslicht
hat die Mutter gesehen,
dass da so was blitzte dazwischen.
Und dann hat der Arzt geguckt
und dachte sich,
und dann hat sie das halt beschrieben,
dieses Kratzen,
wie der Arzt mit der Pinzette
die Kugel aus dieser obersten Kopfhautschicht
rausgeholt hat.
Pass auf.
Dann schreibt sie noch dazu,
Ich kann mit dem Ganzen sehr offen umgehen
und habe, wie man sieht,
kein Problem darüber zu sprechen.
Ganz ehrlich,
mittlerweile bin ich froh,
dass es mir passiert ist.
Jemand anders hätte vielleicht anders reagiert
und nicht überlebt
oder hätte viel schwerer,
mit den Folgen zu kämpfen.
Wow.
Wie krass ist das?
Aber das kann ich verstehen,
was sie da sagt,
weil das am Anfang hat mich ja voll daran erinnert
an mich und diesen Typen,
der mir da gefolgt ist.
Aus dem Bus.
Genau, und als ich mich umgedreht habe
und ihn halt laut angeschrien hat,
dass er sich umgedreht hat
und da habe ich mir auch oft danach gedacht,
natürlich nicht gut,
dass ich das jetzt war,
aber ich habe gedacht,
jemand anderes hätte möglicherweise
sich nicht getraut
so oder nicht so reagiert
und dann wäre vielleicht
was Schlimmes passiert, ja.
Das ist die Reaktion dann darauf,
aber bei ihr ist halt die Verarbeitung damit
ja auch sehr besonders.
Man will nicht sagen,
dass sie stark ist,
weil man nicht sagen kann,
dass Leute,
die das nicht so verarbeiten,
nicht stark sind.
Das ist einfach eine andere Form,
wie Leute auf sowas reagieren.
Aber es ist schon sehr besonders
und ich finde es total cool,
dass sie das auch mit uns teilt,
dass man eben sieht,
dass es Leute gibt,
die sehr resilient sind.
Darüber haben wir ja auch schon mal gesprochen.
Und das ist eben bei all diesen Geschichten
auch toll zu sehen,
dass sowas gut ausgeht
und sie damit so klarkommt.
Übrigens,
es haben sich mittlerweile
auch einige bei uns gemeldet,
die selbst Opfer
oder Angehörige von Opfern sind.
Wenn ihr mal was erlebt habt,
worüber ihr gerne mit uns
im Podcast sprechen wollen würdet,
dann meldet euch gerne bei uns.
Wir haben ja auch so viele Heimatfesten,
viele zugeschickt bekommen,
von denen wir noch nie was gehört haben.
Richtig?
Genau.
Und da kam auch so ein bisschen
das Gefühl bei mir auf,
in was für einem Land lebe ich
und wie unsicher ist es hier eigentlich.
Jeder und jedem,
der oder dem es gerade genauso geht,
kein Grund zur Sorge.
Ich habe mir noch mal
die Statistik des BKA angeschaut.
Und ja,
wir haben es schon oft gesagt,
solche Statistiken sind
mit Vorsicht zu genießen.
aber hier die nackten Zahlen.
2018 zum Beispiel
gab es 901 Verurteilung
wegen Mordes nach Paragraph 211.
In Bezug auf unsere
Einwohnerzahl in Deutschland
stand 2018
82.790.000.
Bedeutet das,
dass jährlich
ca. jeder
91.887.
solch einer Tat
zum Opfer fällt.
Dass es einen selber
oder jemanden aus dem
Bekanntenkreis trifft,
ist also nicht sehr wahrscheinlich.
Außerdem nimmt die Wahrscheinlichkeit
in Deutschland Opfer
einer Gewalttat zu werden
auf lange Sicht auch ab.
Die Zahl der Menschen,
die durch Mord und Totschlag
ums Leben gekommen sind,
hat sich in den letzten 25 Jahren
nämlich nahezu halbiert.
Das vergisst man aber heute gerne mal,
weil Gewaltverbrechen
in den Medien
im Gegensatz zur Realität
in Deutschland
nicht abgenommen haben,
sondern präsenter sind denn je.
Dank uns.
Genau.
Ja, richtig.
Neulich in unserer Weihnachtspause,
als wir mal kurz aufgehört haben,
Angst und Schrecken
in der Gesellschaft zu schüren.
Da war ich einmal in Uetersen
und da sah ich
in einem der zwei Bekleidungsgeschäfte,
die wir da haben,
ein T-Shirt.
Und da stand drauf
New York,
Rio,
Tokio,
Uetersen.
Und da dachte ich mir,
das ist so geschmacklos
und überheblich.
Das passt zu mir.
Und dann bin ich da rein
und kam dann aus dem Kopfschütteln
bei diesem T-Shirt
gar nicht mehr raus, ja.
Und die Verkäuferin
hat das aber irgendwie
als Euphorie gedeutet
und meinte dann so,
ja, das ist fesch, ne.
Und ich so,
nur entsetzt gewesen
und ich hab das dann angezogen,
aber hab halt nur gelacht
und so.
Und dann meinte die Verkäuferin,
dass man das ja ganz toll
zu so einem schwarzen,
taillierten Blazer tragen könnte.
Und ich so,
junge Frau,
dann sieht das doch aus,
als würde ich das ernst machen.
Und sie hat's aber
überhaupt nicht verstanden.
Egal,
ich hab das T-Shirt jetzt natürlich.
Ich würd's aber ohne Blazer tragen.
Aber der Blazer,
den sie mir gezeigt hat,
da dachte ich,
den müsste sie eigentlich
dir andrehen.
Denn Laura ist momentan
nämlich akut
auf Blazersuche
für unsere Live-Auftritte.
wegen ihrer Oma.
Ja.
Meine Oma
hat mir
öfter
am Telefon
bereits mitgeteilt,
dass ich
an diesen Live-Shows
doch bitte
ordentlich aussehen soll.
Auf jeden Fall
ein Blazer,
einen schwarzen Bläser,
eine schwarze Hose
oder eine schöne Bluse.
Und die hat das so lange gemacht,
bis ich's wirklich geglaubt habe,
dass ich das jetzt muss.
Und jetzt
musste Paulina
schon einige Bläser
von mir
entgegennehmen
von der Pause.
Man muss ja dazu sagen,
dass deine Oma,
also deine Oma
kommt ja zu einem Auftritt,
aber nur zu einem.
Das heißt,
du musst den Blazer
auch nur einmal tragen.
Und das ist in Hamburg, ne?
Ja.
Also wenn ihr euch denkt,
wer ist diese
zugekniffene
Frau
in der Bluse
mit dem Blazer?
Das ist Laura,
die sich als
liebes Enkelkind
verkleidet
an dem Abend.
Richtig.
Wir hören uns
am fünften
wieder,
zumindest die meisten
von euch.
Manche von euch
hören uns
am sechstundzwanzigsten,
denn da sind wir
in Köln
bei unserer ersten
Live-Show.
Und für die,
die nicht dabei sein können,
für die
posten wir ein paar
Eindrücke
von der Live-Show
auf Instagram.
Genau.
dann
abschließen.
Das war ein Podcast
von Funk.