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#72 Meurtre à la belge

Wir haben doch letztens darüber gesprochen, dass man momentan halt in so einer weltweiten
Pandemie jetzt nicht so viel Gelegenheit hat, so krasse Gefühle zu haben, weil halt nicht
so viel passiert im Leben.
War bei mir gestern anders, da habe ich mal wieder was gespürt.
Was denn?
Ja, als ich gestern nach Hause gekommen bin, habe ich den Briefkasten geöffnet und da
war ein großer Brief drin und da stand drauf, Steuer, nee, Amtsgericht, also Amtsgericht
und dann eine Stadt, nicht Berlin.
Da war ich natürlich erst mal geschockt, weil ich dann direkt gedacht habe, scheiße, was
ist rausgekommen?
Solche Briefe werden natürlich direkt im Hausflur aufgemacht.
Ja.
Und dann stand aber ganz oben auf diesem Brief, Erbsache.
Oh.
Oh, ach nee, oh.
Genau, da war ich quasi doppelt geschockt.
Auch, weil ich von gar keinem Todesfall in letzter Zeit gehört hatte.
Das ist ja auch fies, wenn man so denn davon erfährt, ne?
Genau.
Und als ich dann aber den Namen gelesen habe, wusste ich schon, um wen es geht.
Also, das ist ein alter Freund meines Vaters gewesen, aber mit dem hatte ich jetzt auch
nicht, also den hatte ich nicht mehr gesehen, seit, seitdem ich ein Kind war und hatte auch
nicht gewusst, dass ich irgendwie in seinem Testament berücksichtigt werden soll oder so.
Ja.
Ich liebe diese Geschichte.
Nee, weiß ich nicht, also, ja.
Also, es ging also sozusagen über geschockt oder ja, ängstlich über eine mögliche Strafe,
die mir blüht, hin zu geschockt und traurig wegen halt des Todes von dem Freund meines Vaters.
Und dann aber ja auch irgendwie geschockt und freu dich darüber, dass ich offenbar irgendwas
erben werde.
Was ist das bitte für eine Achterbahn, der gefällt?
Ja, das ist schon sehr aufregend.
Ja, an einem Tag.
Ja, und ich habe dann natürlich geblättert und geblättert.
Ich wollte dann ja relativ schnell zu dem Punkt kommen, wo denn der Wert dieses, um was geht
das hier?
Ja, genau.
Geht es jetzt um Schulden oder kriege ich jetzt was?
Wie viele Täschchen?
Ja, und dann, ja, stand da 220.000 Euro.
Oha.
Und ich dachte, ich kippe gleich um, ne?
Und dann bin ich erst mal tief durchatmen, Treppe hoch in meine Wohnung, habe alles auf
den Boden geschmissen und mich an den Tisch gesetzt, weil ich das halt einmal in Ruhe durchlesen
wollte, ne?
Ja, und da war also dieses Testament von 2003, in dem mein Bruder und ich zu den Schlusserben
ernannt wurden.
Also nur wir beide.
Aber danach ging es noch weiter.
Da war dann noch ein neues Testament.
Nein.
Von 2017.
Tja, und da wurden wir dann explizit rausgestrichen, halt komplett.
Ja.
Und so kam dann noch ein Gefühl dazu, so ein komisches Wut.
pure Wut und daraufhin Verzweiflung und Träne.
Ja, das war mir dann alles ein bisschen zu viel für einen Tag und dann bin ich erst mal ins Bett gegangen.
Aber warte mal, also wie fies ist das?
Du hast erst die ganzen Seiten, wo das erste Testament drin steht.
Ich meine, ich weiß, die sind ja auch länger, das sind ja ein paar Seiten, da hast du ja bestimmt
weiter dran gesessen, das zu lesen.
Ja.
Und dann hinten so, ach so, doch nicht.
Ja.
Also das glaube ich ja nicht.
Können die nicht vorne hin so eine Seite machen, von wegen Achtung, sie erben nicht.
Ja.
Ja, weil ich dachte auch schon, oh oh, ich muss meinem Bruder das sofort sagen, ne, weil
der liest nicht weiter und dann freut der sich richtig.
Oh nein, und was hattest du dir innerlich gedacht, was du damit kaufen kannst?
Eine Wohnung.
Anzahlen zumindest.
Ja, Anzahlen.
Naja.
Also sowas Gemeines habe ich wirklich schon lange nicht mehr gehört.
Ja, ich werde mich beschweren beim Amtsgericht.
Und damit herzlich willkommen zu Mordlust, einem True Crime Podcast von Funk, von ARD und ZDF.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
In jeder Folge gibt es ein bestimmtes Oberthema, zu dem wir zwei wahre Fälle nacherzählen,
darüber diskutieren und auch mit Experten und Expertinnen sprechen.
Wir reden hier auch mal ein bisschen lockerer miteinander.
Das hat aber nichts damit zu tun, dass uns die Ernsthaftigkeit dem Thema gegenüber fehlt,
sondern das ist für uns so eine Art Comic Relief, damit wir zwischendurch auch mal aufatmen können.
Das ist aber natürlich nie despektierlich gemeint.
Heute gibt es unser Belgien-Spezial.
Und da habe ich gleich mal eine Frage an dich.
An was denkst du denn, wenn du an Belgien denkst?
Oh.
Also es gibt zwei Dinge, die mich an diesem Land wahnsinnig aufregen.
Oh.
Das geht ja schon gut los.
Ja.
Zuerstens ihre verblödeten Pommes, die sie wie fast alles andere auch in Rinderfett frittieren.
Oh, das wusste ich gar nicht.
Weshalb ich sie nicht essen kann, ja.
Ah.
Warte mal, das macht man sonst nicht?
Ne, wir frittieren das hier in anderem Fett, soweit ich weiß.
Okay.
Ja, pflanzlichem Fett, ja.
Ja.
Und die machen das sogar zweimal, damit die besonders knusprig sind.
Okay.
Und das Zweite, was mich aufregt, sind ihre Tanksäulen.
Warum?
Also in Deutschland ist es ja so, wenn du an eine Tanksäule ranfährst und da steht noch
ein Betrag, dann heißt das, ja, die Person, die vorher dran war, die ist wohl schon von
der Säule weggefahren, aber hat noch nicht bezahlt.
So, kommt ja vor.
Mhm.
Dann muss man ja warten, bis das frei ist.
Mhm.
Und ich bin da natürlich in Belgien, die dämliche Touristin, die die ganze Zeit neben dieser
Säule stehen bleibt, an einer vollen Tankstelle, wo jeder wartet, dass er dran ist.
Und ich warte da, bis das freigeschalten wird und alle zeigen mir hier schon irgendwie den
Vogel und gucken genervt, weil in Belgien steht der Betrag vom Vorgänger einfach immer
da dran.
Ach so.
Weiß auch keiner, wofür das gut sein soll.
Und man zahlt dann, bevor man tankt.
Bevor man tankt.
Ja.
Aber man weiß doch gar nicht, für wie viel man...
Ja, ja, ja, ja.
Auch da denke ich mir wirklich, warum denn eigentlich?
Warum seid ihr so?
Wieso?
Aber hört das dann auf, automatisch bei dem Betrag?
Nein, weil, und jetzt kommt's, du gibst gar nicht ein, für wie viel du tanken möchtest,
sondern die haben irgendein cleveres Hackersystem.
Du machst da deine Karte rein, dann gibst du deinen Code ein und dann kannst du so viel tanken,
wie du willst und der bucht das dann nachträglich von deiner Karte ab, obwohl die schon gar nicht
mehr in dem Automaten drin steckt.
Ah.
Also es ist immer so, du fährst dran, der Betrag von der Person vorher steht dran, du gehst quasi
einmal um die Tanksäule rum, du musst auch gar nicht reingehen zum Bezahlen.
Das finde ich aber gut.
Dann steckst du deine normale Bankkarte rein und dann passiert das Hexenwerk.
Und das sollen die armen, unwissenden Deutschen dann begreifen.
Und man vergisst das natürlich gerne, wenn man dann wieder eine Zeit lang nicht da war und
dann ist man wieder die Doofe.
Und hast du auch positive Gefühle mit diesem Land?
Wenig.
Okay.
Also bei mir ist das anders.
Ja.
Also es ist auch nicht repräsentativ, was ich hier sage.
Ja, weil für mich ist Belgien Brüssel und Brüssel ist für mich die EU.
Ja.
Und viel mehr gibt es auch.
Ich war halt auch nur einmal da und ich war auch nur in diesem Europaviertel.
Aber ich habe es geliebt.
Wir haben uns dann halt diese ganzen Gebäude da angeguckt, das war auch interessant, aber
an dem Donnerstag, Nachmittag oder Abend waren wir dann halt auf diesem Platz und da
war dann eine Bar neben der anderen und es war komplett voll und jeder hat gefeiert und
also wirklich mitten so, keine Ahnung, so um sieben oder acht Uhr abends waren da die
Leute auf den Tanzflächen jeweils und draußen und alle haben getrunken und es waren, ja, es
waren gefühlt halt irgendwie alle Nationalitäten da, weil natürlich viele Leute, die halt für
die EU arbeiten und halt aus den verschiedenen Ländern kommen und das hört sich vielleicht voll
cheesy an, aber ich habe mich da zum ersten Mal richtig wie eine Europäerin gefühlt.
Ja, ja.
Und genau und ich hatte so das Gefühl, vielleicht stimmt das auch überhaupt gar nicht, aber
ich hatte das Gefühl, dass da alle Leute so dieses Gefühl hatten und irgendwie, ja, fand
ich das richtig schön.
Weißt du, was ich an Belgien auch scheiße finde?
Es gibt ja, also es gibt ja nicht nur eine Stadt, sondern eigentlich zwei und die zweite
ist Brügge und keine deutsche Person kann den Namen dieser Stadt sagen, ohne anschließend
sehen und sterben zu sagen.
Auch das nervt mich sehr.
Ja, aber da war ich noch nicht, aber das soll ja wirklich schön sein.
Das ist toll, aber sterben will man da auch nicht.
Okay.
Also davon jetzt mal abgesehen von unseren Eindrücken hat Belgien ja auch ein paar spannende Kriminalfälle
Die Triggerwarnung zu meinem Fall findet ihr in der folgenden Beschreibung und er erzählt
von einem Mädchen, das sich nicht hat brechen lassen und damit ihr Überleben sicherte.
Es ist ein schönes, grünes Fahrrad und Sabine hat sich riesig gefreut, als ihr Patenonkel
zur Feier ihrer Kommunion damit ankam.
Auf dem Gepäckträger klemmt ihr roter Beutel mit dem Badeanzug drin.
Für die Schwimmstunde heute.
Die Zwölfjährige fährt jeden Morgen die zwei Kilometer mit dem Rad zur Schule.
Sabine ist heute ziemlich früh dran.
Sie mag das, weil sie dann in Ruhe ihr Rad abstellen und ins Klassenzimmer gehen kann.
Es ist erst halb acht und die Straße liegt noch im dunklen Morgendämmer.
In der Schule denkt man manchmal, Sabine hätte sich dahin verlaufen.
Sie ist zwölf, sieht mit ihren 33 Kilo aber gerade mal aus wie zehn.
Ihre blonden, gelockten Haare, ihre blauen Augen und das verschmitzte Lächeln lassen sie
ein bisschen wie einen Engel aussehen, der es faustdick hinter den Ohren hat.
Plötzlich merkt Sabine, wie sich hinter ihr ein Auto nähert.
Ein weißer Kastenwagen.
Die Fenster sind mit vielen Aufklebern zugekleistert.
Als der Kastenwagen mit ihr auf gleicher Höhe fährt, schiebt sich plötzlich die Seitentür auf.
Darin steht ein Mann, während ein anderer den Wagen fährt.
Ehe sie sich versehen kann, liegt eine Hand auf ihrem Mund und sie wird in den Wagen gezerrt.
Danach geht alles ganz schnell.
Der Mann packt sich noch ihr Fahrrad und der andere drückt aufs Gaspedal.
Das ist so einer, einer von diesen Momenten, in denen ein Kind plötzlich spurlos verschwindet.
Für die da draußen ist Sabine ab diesem Moment wie vom Erdboden verschluckt.
Aber Sabine befindet sich jetzt im Inneren des Kastenwagens, in einer stinkenden Decke, eingerollt.
Der Mann, der sie runtergezerrt hat, steht über ihr.
Er ist groß, hat einen Schnauzbart und sieht irgendwie ungepflegt aus.
Sabine versteht überhaupt nicht, was hier passiert.
Ich gehe zur Schule, was wollen Sie? Lassen Sie mich los?
Das missfällt dem großen Mann mit dem Schnauzer.
Ihr Blick wandert zum Fahrer.
Dem sieht man schon an, dass er der Gehilfe vom großen Schnauzbärtigen ist.
Ein schmächtiges Kerlchen mit Käppi.
Sabine stellt tausend Fragen.
Die beiden beantworten ihr keine.
Dafür merkt sie, wie das Auto auf einer holprigen Straße fährt und danach vermutet sie eine Autobahn.
Ihr Atmen wird unregelmäßig.
Sie bekommt plötzlich schlecht Luft und fühlt sich wie aus Glas.
Sie schwitzt unter den vielen Klamotten-Schichten, die sie auf dem Schulweg am frühen Morgen im Mai warm halten sollten.
Auf einmal bremst der Wagen.
Die Männer bringen Sabine in ein Haus.
Sabine findet, dass es darin seltsam aussieht.
Was danach passiert, liegt im Nebel.
Das Erste, was sie wieder normal wahrnehmen kann, ist, dass sie auf einem Bett in einem Zimmer am ersten Stock liegt.
Durch die Vorhänge der Fenster dringt kaum Licht und in ihrem Blickfeld befindet sich ein Dinosaurierposter.
Irgendwas sagt ihr, dass das hier kein normales Haus ist.
Keines von denen, was sie kennt, wo Familien zusammen drin leben oder Kinder in diesem Zimmer mit dem Poster spielen würden.
Die ersten Stunden nimmt Sabine nur, wie durch diesen Nebel war.
Nichts ist so richtig greifbar.
Als es klarer wird, gesellt sich der Mann zu ihr.
Er beginnt zu erklären, was das hier alles soll.
Er sagt, dass ihr Papa, der früher bei der Gendarmerie war, Feinde hat und der Boss einer kriminellen Organisation jetzt Lösegeld von ihm will.
Sabines Papa war wirklich Gendarm, deswegen erscheint ihr das nicht abwegig.
Am Ende weiß sie aber gar nicht mehr, ob sie dem Mann diese Information vielleicht sogar selbst gegeben hat, als sie im Nebel war.
Auf jeden Fall behauptet der Mann kurze Zeit später, dass Sabines Eltern kein Lösegeld zahlen wollen und dass sie jetzt in großen Schwierigkeiten steckt.
Er würde sich aber dazu bereit erklären, sie zu retten.
Dafür müsse er sie aber vor dem großen Boss verstecken.
Und sie dürfe keinen Lärm machen und müsse artig sein.
Sabine glaubt ihm und folgt ihm deswegen ohne große Widerstände in das Zimmer nebenan mit dem großen Doppelbett.
Dort fasst er sie zum ersten Mal an.
Weil sie das in dem Alter noch gar nicht richtig einordnen kann, bezeichnet sie das, was er mit ihr macht, innerlich als Zirkus.
Sabine will wissen, wie der Mann heißt.
Du kannst mich Alain oder Marc nennen, sagt er.
Sabine bleibt dabei, ihn zu siezen.
Das schafft Distanz.
Nach drei Tagen soll sie dann ins Versteck, wo sie vom angeblichen Boss sicher ist.
Gemeinsam mit dem Mann steigt sie eine Treppe zum Keller hinab.
Dort räumt er ein Regal leer.
Dann zieht er die Metallstäbe zu sich ran und plötzlich rückt ein Teil der Wand inklusive Regal nach vorn.
Er schiebt die hervorgetretene Tür nach oben, sodass sich eine Luke auftut.
Das Versteck, von dem der Mann gesprochen hat, soll der Ort sein, an dem sie ab jetzt die meiste Zeit des Tages verbringt.
Im Keller, ohne Fenster.
Es sei denn, er holt sie für gewisse Dinge nach oben.
Dass oberhalb der Erde, wie verrückt nach Sabine Dardenne und ihrem grünen Fahrrad gesucht wird, dass 116 SoldatInnen, Hubschrauber und SchülerInnen nach dem kleinen Mädchen Ausschau halten, Wände und Autos mit ihrem Foto beklebt werden, davon ahnt Sabine natürlich nichts.
Dabei suchen ihre Eltern die ganze Zeit nach ihr, haben keine ruhige Nacht mehr.
Der Mann tischt ihr die Lügengeschichte vom Boss und dem Lösegeld absichtlich auf, um zu verhindern, dass Sabine zu sehr rebelliert.
Denn Sabine ist ein rebellisches Kind mit faszinierender Willensstärke.
Und das wird ihr noch zugutekommen.
Sie muss hier lernen, sich nicht aufzugeben, weiterzumachen.
Und trotz allem ausgeliefert sein, lässt sie sich eine Sache nicht nehmen.
Nein, zu gewissen Dingen zu sagen, die er mit ihr machen will.
Auch wenn es nichts bringt und sie es dann doch tun muss.
Sie ist wütend auf den Mann, der vorgibt, ihr Retter zu sein.
Und trotzdem ist er ihre einzige Chance hier drin, denkt sie.
Sie mag sein besserwisserisches Getue nicht.
Ständig gibt er vor, alles zu wissen.
Seinen flämischen Akzent kann sie auch nicht ausstehen.
Und wenn sie gemeinsam im Erdgeschoss essen, dann fantasiert sie davon, ihm eine Gabel ins Fleisch zu rammen.
Doch was dann? Wohin soll sie gehen?
Das bringt sie ja nicht weiter.
Sabine sucht sich Möglichkeiten, sich zu beschäftigen.
Macht beispielsweise Hausaufgaben oder schreibt Briefe an ihre Eltern, die das Haus natürlich nicht verlassen.
Versucht sich, mit schönen Gedanken in eine bessere Welt zu beamen.
Dann denkt sie an frisch gewaschene Bettwäsche, an Duschen, an Frottee-Handtücher und den Hund.
Für jeden überstandenen Tag malt Sabine ein Kreuz in ihren Kalender.
Noch immer denkt sie nicht daran, dass jemand nach ihr sucht.
Dass ihre Gedanken durch den Mann manipuliert wurden, wird sie erst später erfahren.
An einem Tag malt Sabine einen roten Stern in ihren Kalender.
Roter Stern heißt besonders schlimm.
Jetzt sind schon zweieinhalb Monate vergangen, nachdem der Mann sie von der Straße weggeschnappt hat.
Und deshalb sagt Sabine zu ihm, ich will eine Freundin.
Sie sagt, es wäre ein aufmüpfiges Gör, aber sie meint es bitter ernst.
Sie will Gesellschaft.
Natürlich lehnt der Mann ab, bis er wenige Tage später plötzlich verkündet, ich bringe dir eine Freundin mit.
Sabine glaubt gar nicht, was sie da hört.
Und sie wird es auch erst gewahr, als sie zwei Tage später nach oben geholt wird, damit sie ihre neue Freundin begrüßen kann.
Sabine ist aufgeregt.
Doch als sie das Mädchen das erste Mal sieht, wird ihr bewusst, dass sie sich etwas ganz anderes unter einer Freundin vorgestellt hatte.
Sie dachte, er würde die Tochter eines Freundes oder so vorbeischicken.
Doch sie sieht, dass das Mädchen nicht freiwillig hier ist.
Aber wieso, versteht sie nicht ganz.
Warum teilt das Mädchen jetzt ihr Schicksal?
Und doch kann sie sich nicht so ganz davon frei machen, auch ein wenig Erleichterung zu spüren, weil sie jetzt nicht mehr allein ist.
Der Name ihrer Freundin ist Letizia.
Und die beiden Männer hatten sie auf ähnliche Weise gekidnappt, als sie gerade vom Schwimmen allein nach Hause gehen wollte.
Die Neue beäugt Sabine.
Ich hab dich schon mal gesehen, sagt sie.
Sabine ist sich sicher, dass sie Letizia nicht kennt.
Doch, doch, ich hab dich schon gesehen.
Überall in Belgien hängen Plakate.
Deine Eltern suchen dich wie verrückt.
Sabine glaubt ihr nicht.
Sie wissen doch, wo sie ist.
Warum sollten sie nach ihr suchen?
Die ersten Tage hat Letizia Mühe, wach zu bleiben.
Sie ist auch im Nebel.
Sabine ist enttäuscht.
Sie hatte sich jemanden zum Reden gewünscht.
Aber sie fühlt sich immer noch allein.
Noch dazu muss sie sich das Versteck jetzt mit jemandem teilen.
Als Letizia endlich wirklich wach wird, erzählt sie Sabine,
dass der Mann ihr Retter ist, weil ein Boss einer Gang ihre Familie bedroht.
Dieselbe Geschichte also, denkt Sabine.
Die Neue ist noch nicht so lange da, als sich die beiden eines Abends auf der Matratze zum Schlafen legen.
Plötzlich hören sie ein Geräusch und Stimmen.
Verschiedene.
Und keiner sagt, ich bin's, so wie er sonst immer, bevor er die Luke öffnet.
Das ist sicherlich die Gang, denken die beiden und verkriechen sich unter der Decke, klammern sich aneinander.
Und dann hören sie doch die Stimme des Mannes, der sagt, ich bin's.
Doch er ist nicht allein.
Die beiden wollen nicht rauskommen.
Die anderen Männer sagen, sie sollen trotzdem kommen.
Die beiden Kinder schauen durch den Türspalt.
Da steht er.
An der Treppe, die aus dem Keller führt.
Und um ihn herum Männer der Gendarmerie.
In Sabine rattert es.
Vielleicht war er mutig und hat der Polizei vom Boss erzählt, um die beiden zu befreien.
Muss er sich jetzt vom Boss fürchten?
Sabine fragt den Mann, ob sie die Buntstifte mitnehmen darf, die er ihr geschenkt hat, um sich zu beschäftigen.
Ja, sagt er.
Sie freut sich.
Merci, Monsieur.
Und gibt ihrem Entführer, von dem sie bisher nicht weiß, dass er sie entführt hat, einen Kuss als Dankeschön.
Letizia macht das Gleiche.
Oh Gott.
An ihm vorbei rennt Sabine in die Arme des ersten Polizisten und lässt ihn ab da nicht mehr los.
Die ganze Situation ist unwirklich für sie.
Sie zittert vor Erleichterung und Aufregung.
Die Männer bringen sie auf ein Polizeirevier.
Dort schaut man sie unglaublich an.
Der Grund dafür ist, dass man eigentlich Spuren verfolgt hat, die auf Letizias Entführer hindeuten.
Eine Nonne und ein junger Mann hatten der Polizei unabhängig voneinander einen weißen Kastenwagen mit vielen Aufklebern gemeldet.
Dass dieser Mann auch Sabine in seiner Gewalt hat, hatte man gar nicht in Betracht gezogen.
Eigentlich hatte man schon gar nicht mehr geglaubt, sie lebend zu finden.
Für einige mag es jetzt so aussehen, als hätte das Grauen ein Ende.
Doch was die ErmittlerInnen in den nächsten Tagen finden werden, ist an Grausamkeit nicht zu überbieten.
Sabine schlürft gerade einen Kakao aus dem Automaten, als der Polizist ihr gegenüber erklärt,
dass der Mann mit dem Schnauzer gar kein Lebensretter ist, sondern ein Kinderfänger und ihre Eltern nach ihr gesucht haben.
Erst jetzt beginnt Sabine zu verstehen.
Sie hatte zwar immer gewusst, dass der Mann ein Schwein ist, aber geglaubt hatte sie ihm trotzdem.
Sie ist wütend, will ihn unbedingt sprechen, ihn anschreien.
Doch man lässt sie nicht.
Aber schon bald weicht ihrer Wut Freude, als sie endlich ihrem Vater in die Arme fallen darf.
Tränen aus Glück laufen ihr über die Wangen.
Aber alle reden durcheinander und stellen ganz viele Fragen, die Sabine nicht beantworten will oder kann.
Sabines Mutter ist zu Hause geblieben.
Als das Telefon bei den Dardens geklingelt hat, war man sich nicht sicher, in welchem Zustand Sabine ist.
Das wollte der Vater seiner Frau ersparen.
Wieder zu Hause zu sein, ist seltsam nach all der Zeit.
Als Sabine mit ihrem Vater im Wagen der Gendarmerie saß, hatte sie gesehen, dass die BewohnerInnen ihres Viertels auf der Brücke zum Viertel ein Willkommensschild angebracht haben.
Sehr hat er erst gar nicht verstanden, für wen das sein soll.
Als sie dann fast zu Hause waren, kamen sie mit dem Wagen fast gar nicht mehr durch die Menge an Menschen und Übertragungswagen.
So viele waren gekommen, um Sabines Rückkehr zu feiern.
Doch das Gefühl da draußen passt nicht so richtig zu Sabines Inneren.
Da ist keine Freude oder Jubel.
Sie will einfach nur vergessen und zurück in ihr normales Leben.
Doch das endete mit dem Tag, als der Mann sie ins Auto gezerrt hat.
Zwei Tage, nachdem Sabine und Letizia befreit wurden, bringen sie in den Abendnachrichten einen Beitrag zu dem Mann, der ganz Belgien in eine Art Schockstarre versetzt hat.
Mittlerweile weiß man seinen Namen.
Marc Dutroux.
Ein Mann Ende 30, der seine Opfer betäubte und Aufnahmen von seinen Missbräuchen machte.
Deswegen hatte Letizia die ersten Tage offenbar so viel geschlafen.
Die Bilder im Fernsehen zeigen, wie Bagger im Garten von Dutroux stehen.
Es ist ein anderes Haus, das ihm gehört.
Nicht das, in dem Sabine war.
Dort hat man die Leichen von zwei achtjährigen Mädchen gefunden.
Es sind Melissa Rousseau und Julie Lejeune.
Die beiden Freundinnen waren ein Jahr vor Sabine während eines Spaziergangs verschwunden.
Auch die beiden hatte Dutroux über Monate sexuell missbraucht.
Und es gab eine Person, die das alles wusste und hätte beenden können.
Dutroux' Ehefrau, Michel Martin.
Seine engste Komplizin.
Die beiden haben drei gemeinsame Kinder.
Oh Gott.
Sie wusste genau, was er tat und half ihm auch.
Sie strich zum Beispiel die Wand im Versteck auf Dutroux' Wunsch hingelb, weil die Farbe die
Kinder aufmuntern sollte.
Sabine hatte die Farbe gehasst.
Michel selbst lebte mit ihren Kindern übrigens nicht in dem Haus, sondern in einem anderen.
Sie hat alles gewusst.
Von Melissa und Julie, von Sabine und Letizia und von Ann und Ehefie.
Die 17- und 19-Jährige verschwanden während eines Urlaubs mit ihrer Theatergruppe, als sie
nach einer Veranstaltung abends zurück ins Camp trampen wollten.
Das war zwei Monate, nachdem Melissa und Julie entführt wurden.
Bei den Suchaktionen hatte man Ann und Ehefie schon allein wegen des Alters nicht in Verbindung
mit Melissa und Julie gebracht.
Und so wurden in dem Haus, in dem auch Sabine später eingesperrt war, zeitweise Melissa
und Julie unten im Versteck im Keller gefangen gehalten und oben im ersten Stock die beiden
älteren Ann und Ehefie.
Doch weil Dutroux die vier Opfer schnell über den Kopf wuchsen, brachte er sie zu einem
weiteren Komplizen.
Bernard Weinstein.
Auch er hatte die jungen Frauen vergewaltigt.
Die Polizei findet die Leichen von Ann und Ehefie am 3.
September verbuddelt im Garten auf einem Grundstück von Dutroux.
Auch Weinsteins Leiche finden sie dort.
Wie die Ermittlungen ergeben haben, hatte Dutroux ihn offenbar ebenfalls aus dem Weg geräumt,
nachdem er ihm wegen seines Wissens zu gefährlich wurde.
Fünf Tote und erst die Entführung von Letizia ließ ihn aufliegen.
Dabei gab es genügend Hinweise auf ihn.
Beispielsweise verpfiff ein Komplize ihn bei der Polizei.
Er berichtete, dass Dutroux ihm Geld anbot, damit er junge Mädchen bringe.
Außerdem meldete selbst Dutroux eigene Mutter ihn bei der Polizei.
Nachdem Ann und Ehefie verschwanden, erzählte sie der Polizei, dass zwei junge, unbekannte Frauen in das Haus ihres Sohnes gebracht wurden
und verwies speziell auf den vermissten Fall der Freundinnen.
Erst Monate später ließ man das Haus durchsuchen.
Durch das Regal fiel das Versteck aber nicht auf.
Genauso wenig, wie dass der verdächtige Dutroux weit über seine Standards lebte.
In dem armen Viertel, in dem er wohnte, stach das eigentlich heraus.
Obwohl er eigentlich nur Invalidenrente bezog, besaß er Autos, mehrere Grundstücke mit Häusern und Garagen.
Allerdings machte er nicht nur durch seine pädophilen Geschäfte Geld.
Er verdiente noch zusätzliches mit Autohählerei.
Auch sein Vorstrafenregister vor der Entführung von Julie und Melissa rief förmlich, hier bin ich.
Verurteilung im Jahr 86 für Entführung, Verschleppung und Vergewaltigung von Minderjährigen unter 16 Jahren, zusammen mit seiner Frau.
Der Vorwurf von Minderjährigen auf einer Eisbahn von ihm begrapscht worden zu sein
und eine Verurteilung zu 13 Jahren Haft, nachdem er mehrere Mädchen unter Drogen setzte und sie in einem Lieferwagen vergewaltigte.
Quatsch.
Allerdings wurde er vom damaligen Justizminister schon nach weniger als der Hälfte seiner Haftstrafe entlassen.
Allerdings unter der Bedingung, eine Therapie zu machen und das Schlafmittel Rohhypnol zu nehmen.
Doch offenbar nahm er das nicht selbst.
Sabine bekommt von den ganzen Ermittlungen kaum etwas mit.
Zumindest versucht sie es.
Sie will sich absondern, wenn nicht dauernd zu ihm befragt werden.
Zum Glück gehen in der Schule alle normal mit ihr um.
Aber Sabine gehen die Blicke auf die Nerven.
Entweder sind sie bemitleidend oder sie sieht, dass sich ihr Gegenüber vorstellt, was sie durchleiden musste.
Manchmal wird sie dann von fremden Menschen einfach so in den Arm genommen.
Auch mit ihrer Mutter kommt sie nicht gut zurecht.
Sabine war 80 Tage eingesperrt, in einem Keller.
Und jetzt wird sie jetzt zu Hause, weil sie nicht mehr allein Fahrrad fahren oder raus darf.
Aus Vorsicht natürlich.
Aber Sabine kann nach dem, was sie durchmachte, Autorität kaum mehr ertragen.
Und andere ertragen nicht, wie sie damit umgeht.
Sie ist kein gefälliges Opfer.
Sie bricht noch immer nicht zusammen.
Sie will nicht zur Therapie.
Eignet sich einen schwarzen Humor an, den andere als geschmacklos empfinden.
Sie geht anders mit den Dingen um.
Im Keller hat ihr das das Leben gerettet.
Am 20. Oktober beginnt in Brüssel ein riesiger Protestmarsch zum Gedenken der getöteten Kinder.
Was passiert ist, steckt nicht nur Sabine tief in den Knochen, sondern dem ganzen Land.
Über 300.000 Menschen laufen an dem Tag langsam und friedlich durch die Straßen von Brüssel.
Doch in ihnen herrscht eine unfassbare Wut.
Die meisten haben einen weißen Luftballon oder eine weiße Blume in der Hand.
Ein weißes Heer kämpft an dem Tag für die Sicherheit der belgischen Kinder.
Auch Sabine quetscht sich durch die weiße Masse.
Sie wollte unbedingt kommen.
Doch jetzt bereut sie es.
So viele Augenpaare sind auf sie gerichtet.
Und wieder fremde Arme, die sie umschlingen wollen.
Sie fühlt sich wie ein Zootier.
Als wäre sie Mittelpunkt der Bewegung, was sie nie sein wollte.
Und dabei ist der Marsch auch nicht nur für die Opfer von Dutroux.
Er ist eigentlich für alle verschwundenen Kinder des Landes.
Und gegen ein Justizsystem, auf das sich die Menschen nicht mehr verlassen wollen.
Das Vertrauen in die Gerechtigkeit ist in den letzten Wochen massiv beschädigt worden.
Viele glauben, dass Dutroux lange Zeit Deckung von Hinterleuten in der Polizei bekam.
Als dann noch der Untersuchungsrichter, der das Vertrauen der Öffentlichkeit genoss, wegen Befangenheit abgesetzt wurde,
weil er an einer Gedenkveranstaltung, auf der auch Sabine war, teilnahm und dort eine Portion Spaghetti aß, ist es um die Ruhe im Land getan.
Wie? Was? Wieso? Ist das jetzt schlimm, dass er Spaghetti gegessen hat?
Ja, weil ihm Parteilichkeit vorgeworfen wird.
Weil das ja eine Veranstaltung für die Opfer war.
Ach so, es ging nicht jetzt speziell um die Spaghetti, sondern einfach nur, dass der da war.
Ja, aber auch darum, dass er da, also es ging auch um einen Kugelschreiber, der hat auch eine wichtige Rolle, er hat quasi was genommen von dieser Seite auch.
Ah ja, okay. Verstehe.
Und die Unruhe im Land wird eine Weile so bleiben.
Denn nachdem die Kritik an der Justiz so laut ist, dass man sie nicht mehr überhören kann, wird ein Untersuchungsausschuss gebildet.
Dann eine Sonderkommission gegründet, die herausfinden soll, ob Dutroux gedeckt wurde.
Kurz darauf werden Untersuchungsakten gestohlen.
Ein Jahr später müssen der Justiz und der Innenminister zurücktreten, weil es Dutroux während seiner Akteneinsicht gelingt, aus einem Gefängnisgebäude zu fliehen.
Quatsch.
Allerdings ist er nur für vier Stunden auf freiem Fuß, bis er wieder eingefangen werden kann.
Immer passiert irgendwas.
Und so dauert es acht Jahre, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind.
Acht Jahre, in denen niemand so wirklich mit dem Fall Dutroux abschließen kann.
Als endlich verhandelt werden soll, ist Sabine also nicht mehr das kleine Mädchen, das damals eingesperrt wurde.
Sie ist eine junge Frau, von zu Hause ausgezogen, hat ihren ersten Freund.
Sabine sagt, jetzt wo der Fall so riesig geworden ist, fühlt sie sich winzig.
Ihre Rolle ist nur noch einer der vielen Bausteine.
Angeklagt ist im Jahr 2004 nicht nur Dutroux, sondern auch drei weitere Personen, die alle Michelle heißen.
Michel Martin, seine mittlerweile Ex-Ehefrau, Jean-Michel Le Lievre, der Schmächtige mit der Käppi, der bei Sabines Entführung half, und der Stämmige Michel Niuul.
Der war mindestens Mitwisser, wenn nicht sogar mehr.
Letizia, also das Mädchen, das er nach Sabine entführt, hörte damals Dutroux mit einem Jean-Michel telefonieren, als er diesem davon berichtete, dass es geklappt hätte.
Offenbar war damit ihre Entführung gemeint.
Dutroux selbst sagt, er sei eine Art Zwischenstation gewesen, bevor die Mädchen zu Niuul gehen sollten.
Niuul wiederum gibt an, ebenfalls eine ausführende Person in einem großen Netzwerk gewesen zu sein,
die andere große Tiere in der Politik mit jungen Mädchen beliefern sollte.
Auch, dass nach der Entführung Ann und Ehefier und von Sabine größere Geldbeträge auf Dutroux Konten eingingen, spricht gegen eine Einzeltäterschaft.
Außerdem wurde in Weinsteins Haus, also dem toten Komplizen, ein Umschlag mit einer Art Bestellliste für Mädchen gefunden.
Dazu sterben im Laufe der Jahre mindestens 27 Zeugen und Zeuginnen, die mehr oder weniger an dem Fall beteiligt waren, auf sehr seltsame Weise.
Die Fälle sind so brisant, dass das ZDF eine ganze Doku darüber gemacht hat.
Auffällig oft sterben sie kurz vor ihren Aussagen, wie zum Beispiel ein Mann, dem ein Kontakt zu Dutroux nachgewiesen wird.
Er selbst handelt mit pornografischem Material.
Mehrfach wird er vernommen, redet aber nicht.
Bis er sich anders entschließt.
Er macht also erneut einen Termin für eine Aussage bei der Polizei.
Doch auf dem Weg zu der Aussage verunglückt er tödlich bei einem Unfall.
Nee, war bestimmt ein Zufall.
Ja, genau offenbar wie bei einer Sozialarbeiterin, die hatte sich um Opfer eines Rings gekümmert, der Kinder missbrauchte.
Und sie gibt an, auf einem der Videos einen Bekannten von Michelle Newell gesehen zu haben.
Und kurz vor ihrem Tod erzählt sie ihrem Umfeld, dass man sie bedrohen würde und dass sie bald bei einem Unfall sterben würde.
Und auch der zuständige Staatsanwalt stirbt.
Öffentlich wird bekannt, dass er sich selbst suizidierte.
Eine Obduktion hatte man allerdings nicht durchgeführt und einen Abschiedsbrief für seine Frau und Kinder hinterlässt er auch nicht.
Hinter dem Sicherheitsglas im Gericht sitzt neben den drei Michels Marc Dutroux.
Ein Mann, der den Richter in seiner Abscheulichkeit damit erklärt, von seinem Vater nie beachtet worden zu sein und von seiner Mutter nicht gebändigt werden konnte.
Der seine Mutter schlug, nachdem der Vater auszog und ihr vorwarf, Affären mit jungen Männern seines Alters zu haben.
Nie war er schuld, immer die anderen.
Sabine ist vor ihrer Aussage aufgeregt.
Sie will ihm endlich in die Augen schauen, ihm sagen, was sie von ihm hält.
Dass sie sich bei der Befreiung noch für die Stifte bedankte, das macht ihr immer noch zu schaffen.
Sie hatte ihn schon oft vorher in den Nachrichten gesehen und findet, er sieht ein bisschen aus wie ein penibler, ungepflegter Gerichtsschreiber im Anzug.
Kurz bevor sie den Gerichtssaal betritt, hat sie das Gefühl, ohnmächtig zu werden.
Doch mit jedem Schritt Richtung Zeuginnenbank und damit auch Richtung Dutroux gewinnt sie an Kraft.
Und dann schaut sie ihn direkt an.
Er zwingt Blickkontakt.
Und er schaut nach unten.
Sabines Aussage ist in zwei Teile gegliedert.
Im ersten werden am 15. April 2004 die Briefe von einem Ermittler vorgelesen, die sie an ihre Eltern geschrieben hat.
Sie hatte ihren Entführer darum gebeten, aber Dutroux hatte sie natürlich nie abgeschickt.
Man hatte einige, nicht alle, unter einer Fußmatte bei den Ermittlungen gefunden.
Darin hatte sie ihrer Mutter geschildert, was er alles mit ihr angestellt hat.
Als Veranschaulichung, um ihren Eltern, von denen sie ja dachte, sie würden das angebliche Lösegeld nicht zahlen, davon zu überzeugen, das Geld doch noch irgendwie zusammenzukratzen.
Am Ende dann hatte sie ihnen die Briefe aber nicht zumuten wollen.
Sie hatte sie ja damals aus einem anderen Grund geschrieben.
Wenigstens muss sie dadurch jetzt nicht nochmal selbst alles erzählen, was passiert ist.
Trotzdem haben sie und ihr Anwalt beschlossen, die Öffentlichkeit an diesem Prozestag nicht ausschließen zu lassen.
Aus Sorge, man könne ihr unterstellen, sie habe etwas zu verbergen.
Im zweiten Teil wird sie zu ihrer Entführung befragt.
Dabei konzentriert sie sich auf den Vorsitzenden und blendet alles um sich herum aus.
Sabine ist wichtig, klarzumachen, dass sie außer Dutroux und Le Lievre niemanden gesehen hat.
Deswegen gehört sie auch dem Lager an, das eine Beteiligung an einem großen Netzwerk für eine Verschwörungstheorie hält.
Sie ist sich sicher, dass Dutroux seine eigene Verantwortung durch solche Geschichten versucht zu schmälern.
Daher bittet sie das Gericht Dutroux, eine Frage stellen zu dürfen.
Sie darf, muss sie allerdings an den Vorsitzenden Richter stellen.
Warum sei sie denn nicht dem Netzwerk von Newell zugeführt worden, wenn das doch der eigentliche Plan gewesen sei?
Dutroux antwortet, ebenfalls zum Richter gewandt.
Dann erklärt er, er habe Sabine irgendwie lieb gewonnen und wollte sie beschützen.
Sabine fragt zum Richterpult, kurzum, muss ich mich bei ihm bedanken?
Er hat mir ja das Leben gerettet.
Der Richter fragt Dutroux, warum er Laetitia entführt habe.
Er antwortet, es ist Sabine, die mir ständig auf den Geist gegangen ist, weil sie unbedingt eine Freundin haben wollte.
Denn obwohl Sabine im Inneren weiß, dass sie nicht verantwortlich für Laetizas Schicksal ist, hat sie auch acht Jahre später noch mit Schuldgefühlen wegen ihrer Bitte zu kämpfen.
Als Sabine mit ihrer Aussage fertig ist, sieht sie aus dem Augenwinkel, dass sich im Glaskasten etwas bewegt.
Es ist Michelle Matin.
Sie ist aufgestanden.
Fräulein Dardenne, ich möchte um Entschuldigung bitten.
Sabine antwortet, sie wussten, wo ich war, wer bei mir war und was ich ertrug.
Dieses Verhalten seitens einer Mutter schmerzt mich.
Ihre Entschuldigung nehme ich nicht an.
Ich bitte sie nicht um Verzeihung, weil es unverzeihlich ist.
Ich kann nicht verstehen, was sie ertragen haben, weil ich es mir nicht vorstellen kann, dass meine eigenen Kinder in einem Käfig eingesperrt werden könnten.
Ich sehe mein Unrecht ein.
Tut mir leid, ich verzeihe nicht.
Der Staatsanwalt kommentiert Sabines Aussage damit, dass sie unverzichtbar gewesen ist.
Das tut gut zu hören.
Sabine hatte gedacht, dass man sie weniger ernst nimmt, weil sie die Netzwerktheorie nicht unterstützt hat.
Dutroux wird zur lebenslangen Haft mit zehnjähriger Sicherungsverwahrung verurteilt.
Michelle Matin, seine Ex-Frau, zu 30 Jahren Haft.
Sein Komplize mit der Cappy Le Lievre zu 25 Jahren.
Und Newell zu 5, weil man ihm nur eine Beteiligung an der Autoschüberei nachweisen konnte.
Das Gericht stellt ausdrücklich fest, dass hier ein Einzeltäter und seine KomplizInnen nicht aber ein pädophilen Netzwerk überführt wurde.
Für Sabine soll das Thema damit jetzt abgeschlossen sein.
Sie will einfach wieder normal leben.
Sie gefällt sich in der Opferrolle nicht, die man ihr zuschreiben will.
Schon als sie zwölf war, hat sie sich dagegen gewehrt, von ihm gebrochen zu werden.
Und so ist es auch noch heute.
In ihrem Buch ihm in die Augen sehen, schreibt sie nach dem Prozess, dass sie immer das Gefühl hatte, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass sie noch lebt.
Vor allem leider auch bei den Eltern der getöteten Kinder.
Sie sagt, es ist auch nicht einfach, die Überlebende eines Massakers zu sein.
Aber das ist Sabine.
Im Nachhinein denkt sie, dass Dutroux sie nicht umgebracht hat, weil sie so willensstark war.
Dass sie ihm nicht überdrüssig wurde, weil er sie nie hat brechen können.
Was ich richtig schlimm finde an diesem Fall ist, dass er Sabine so manipuliert hat.
Nicht nur vergewaltigt, missbraucht, eingesperrt und alles, sondern auch in ihren Kopf gekommen ist sozusagen.
Und ihr diese Sachen erzählt hat und sie damit hat glauben lassen, dass ihre Eltern sie nicht haben wollen oder nicht genug um sie kämpfen wollen.
Und ihr ja auch eingeredet hat, er wäre der Retter.
Und ich glaube, wenn du da zweieinhalb Monate diese Gedanken hast, das ist sauschwer, die wieder umzudrehen natürlich.
Und auch wenn er sie nicht gebrochen hat, hat er ihr bestimmt ganz viel genommen, was Beziehungen zu anderen Menschen angeht oder Vertrauen oder was ist richtig, was ich glaube und was ist falsch.
Und das finde ich so schrecklich.
Also sie schreibt in ihrem Buch auch von ihrer ersten Beziehung und das hat ihr Anwalt auch vor Gericht gesagt, dass sie sich halt danach in ihrem Leben entschuldigen musste, dass sie gewisse Dinge nicht einfach so machen kann wie andere.
Und dazu gehört natürlich auch Sex.
Ja, und gut, das Gericht hat jetzt festgestellt, dass es ein Einzeltäter war.
Ich habe mich ja jetzt nicht so viel damit beschäftigt, aber wenn du mir erzählst, was da alles passiert ist und wie, was für mysteriöse Umstände da Gewalten haben und 27 Zeugen und Zeuginnen gestorben sind,
frage ich mich, also ist das jetzt wirklich Zufall gewesen oder wurde da vielleicht nachgeholfen und wenn da jemand nachgeholfen hat, dann waren wohl nicht alle Komplizen und Komplizen hinter Gittern.
Ja, also Sabine ist ja ganz doll davon überzeugt, dass er ein Einzeltäter war.
Ich glaube aber auch, weil sie, also sie dachte die ganze Zeit, es gibt ein Netz, eine Gang.
Dann sagt man ihr, das ist Quatsch, das ist ein Einzeltäter, dann sortiert sie ihre Realität komplett neu wieder und dann kommen Monate, Jahre später, Theorien, es wäre ein Netzwerk gewesen.
Ich kann mir auch vorstellen, dass, ne, du kannst ja auch irgendwann nicht mehr.
Ja.
Es gibt aber natürlich auch noch viele andere, die sagen, es war ein Einzeltäter und sein Komplize oder seine Komplizin, aber es wurden halt schon ziemlich viele Hinweise darauf gefunden, dass es, zumindest wenn es kein riesiges Netzwerk gab, aber dass natürlich auch Leute, denen dieses Material, was sie aufgenommen haben und so, natürlich gab es dafür auch Abnehmer.
Genau, sonst hätte er ja auch nicht das Geld überwiesen bekommen und was ich mich halt auch gefragt habe, ist, als du gesagt hast, was für Vorstrafen der hatte, wenn da dann in der Nähe Kinder verschwinden, dann ist dann doch eigentlich bei dem als erstes ein Klopf da und guckt.
Und dass er dann auch noch verschwinden kann, während er in den Akten blättert.
Also, das kann ja nicht, also das wären ja echt schon sehr viele Zufälle, würde ich mal sagen.
Also, sie haben ja auch bei ihm geguckt, aber es ist ja, dieses Versteck ist ja nicht aufgefallen.
Man sagt auch, ja, der Polizist hätte damals dann Kinderschreie gehört, aber es wäre von draußen gekommen und so, vielleicht kam es von drinnen, man weiß es nicht, ne.
Ich weiß auch nicht, ob der jetzt da Hilfe bei der Flucht hatte oder so, aber ich finde es einfach krass, dass er das über einen so langen Zeitraum gemacht hat.
Und, also, warum sollte der Justizminister den begnadigen nach nicht mal der Hälfte der Haftzeit?
Das ist so bescheuert.
Ja, und das Ganze hat ja jetzt auch nicht 1960 stattgefunden.
Das war 1990, Mitte der 90er Jahre und da hatte man schon Ahnung und wusste, wie SexualstraftäterInnen ticken und das ist schon ein bisschen merkwürdig.
Und die wurden ja 1996 verurteilt oder wann war das?
Nee, 2004.
Ach ja, stimmt.
Das hat ja acht Jahre gedauert, das ist ja auch.
Ja, ja, genau.
Acht Jahre.
Stimmt.
Acht, okay.
Jahre.
2004.
Ja, aber gut, das ist ja dann auch jetzt schon ein bisschen her, wenn die jetzt nicht alle bis zum Ende gesessen haben.
Was ist denn jetzt mit den TäterInnen?
Sind die noch in Haft?
Ja, also der Niul, der war ja eh nicht lange und der ist mittlerweile verstorben.
Der mit der Käppi, der das Auto gefahren hat, weiß ich nicht.
Die Frau ist mittlerweile wieder frei und hat danach in einem Kloster gelebt.
Hatte sie auch Probleme irgendwie einen Platz zu finden, weil die natürlich keiner wollte und die ist natürlich auch hart gehasst in Belgien.
Und Dutroux sitzt immer noch in Haft, aber der hatte schon 2019 durch seinen Anwalt verlauten lassen, dass sie eine Haftentlassung in diesem Jahr anstreben, also 2021.
Und dann hätte er 25 Jahre in Haft gesessen.
Dagegen gab es dann aber natürlich ganz viele Proteste.
Und es wurde auch ein psychiatrisches Gutachten erstellt.
Und das fiel extrem schlecht aus.
Also da hieß es weiterhin hochgradig gefährlich für die Gesellschaft.
Und dann haben sie den Antrag nicht gestellt.
Also das heißt jetzt erstmal keine Aussicht auf vorzeitige Haftentlassung.
Und darüber rede ich jetzt auch in meinem Aha.
Die kann man nämlich in Belgien, wenn man lebenslänglich bekommen hat, erst nach 15 Jahren Haft erstmals stellen.
Zumindest wenn man vorher keine Vorstrafen hatte oder nur solche, die mit unter drei Jahren Haft verurteilt wurden.
Und wenn man allerdings sicherungsverwahrt wird, also wie Dutroux, dann geht das erst nach 23 Jahren.
Und entlassen wird man auch nur mit einer guten Sozialprognose.
Und bei so einem Urteil, wie das Dutroux bekommen hat und was jetzt auch der Gutachter gesagt hat, sieht das übel aus.
In der Regel, das finde ich ganz interessant, sitzen Mörder in Belgien übrigens 30 Jahre.
Und das ist ja viel mehr als in Deutschland, also fast zehn Jahre mehr.
Wir haben ja hier schon mal erzählt, in Deutschland denken ja viele, es ist so, Mord ist geplant, Totschlag ist im Affekt.
Wer oft Mordlust hört, weiß, das ist Käse.
Hier unterscheidet ein Mord sich vom Totschlag durch die Mordmerkmale.
Und nach einem dieser Merkmale ist dieser Podcast hier benannt.
Und in Belgien ist es aber tatsächlich so, dass diese vorherige Überlegung einen Unterschied macht.
Und ich hatte noch einen ganz tollen Paragrafen gefunden, über den ich mich schon sehr aufgeregt hatte, den 395er.
Und da heißt es, wenn man Verwandte in aufsteigender Linie tötet, dass man dann härter bestraft wird.
Da wollte ich jetzt schon mit dir darüber ablästern.
Ich habe jetzt aber erfahren, dass Belgien's Gesetze teilweise noch aus der Napoleon-Zeit stammen.
Und man die dann da auch nicht aus dem Gesetzbuch streicht und nicht anwendet.
Das finde ich irgendwie schade.
Denn das hätte diesem Land, was ich doch als recht langweilig empfinde, irgendwie so einen edgigen Touch gegeben.
Also, dass man quasi, wenn man jetzt seine Mutter tötet, ist es schlimmer, als wenn man sein Kind tötet?
Es sagt nichts von schlimmer, aber dass deine Tat dann als Mord charakterisiert wird.
Okay.
Ja.
Da hätte ich gedacht, ist zwar scheiße, aber bleibt im Gedächtnis.
Ja.
Nee.
Auch das nicht.
Bei mir geht's heute um einen Fall, der Belgien ungefähr genauso erschüttert hat, wie die Geschichte, die du gerade erzählt hast.
Es ist 7.40 Uhr an diesem Dienstagmorgen, als Nidi und ihre Crew vor dem Holiday Inn abgeholt werden.
Auf dem Weg zum Brüsseler Flughafen ist die 40-Jährige voller Vorfreude.
Vorfreude auf den zweiten Stopover in New York.
Es ist das letzte Mal, dass sie die Route Mumbai-Brüssel-New York-Brüssel-Mumbai fliegt, denn die Strecke wird noch diesen Monat eingestellt.
Nidi hat ihren Vorgesetzten förmlich angebettelt, auf diesem Flug arbeiten zu dürfen, denn seit die Inneren vor 19 Jahren als Stewardess bei Jet Airways angefangen hat, liebt sie die Langstreckenflüge, die es ihr erlauben, die Welt zu entdecken.
Ihr Mann Rupesh freut sich insgeheim aber darüber, dass die langen Aufenthalte in den USA ein Ende haben.
Denn er und die zwei gemeinsamen Kinder vermissen Nidi doch schon immer sehr, wenn sie für mehrere Tage nicht zu Hause ist.
Da muss die Familie aber nun noch einmal durch, denkt sie sich.
Und als sie dann um 7.55 Uhr am Flughafen ankommt, betritt sie freudestrahlend die große Abflughalle, in der bereits geschäftiges Treiben herrscht.
Rund 5.000 PassagierInnen warten hier gerade beim Check-in oder vor den Sicherheitskontrollen, um in den langersehnten Urlaub zu fliegen,
für einen Geschäftstermin die Hauptstadt zu verlassen oder Familie auf der ganzen Welt zu besuchen.
Nidi dagegen begibt sich zum Gate und dafür direkt in den zweiten Stock.
Doch als sie die Rolltreppe gerade verlässt, wird sie plötzlich von einem lauten Knall aus ihren Gedanken gerissen.
Rauch und Staub wirbeln durch die Luft und Nidi glaubt, ein Teil der Decke wäre heruntergekracht.
Dann kommt ihr eine Traube an Menschen entgegengerannt.
Panisch laufen alle Richtung Ausgang.
Außer Flex schließt sich Nidi an.
Doch sie schafft nur ein paar Schritte, bis ein zweiter, viel lauterer Knall die Abflughalle durchdringt.
Auf das ohrenbetäubende Geräusch folgen ein heller Blitz und eine Druckwelle.
Die Nidi die Beine unter den Füßen wegreißt und ihr gleichzeitig das Gefühl gibt, zu verbrennen.
Die 40-Jährige fliegt durch die Luft und als sie wieder am Boden auftrifft, wird alles um sie herum schwarz.
Explosionen am Brüsseler Flughafen.
Flackert es wenige Minuten später über die Bildschirme der Nachrichtenagenturen.
Umgehend machen sich Rettungskräfte auf den Weg dorthin, Krankenhäuser werden in Alarmbereitschaft versetzt,
mögliche Verletzte aufzunehmen und die Armee hinzugezogen.
Als die HelferInnen vor dem Flughafengebäude ankommen, wird ihnen das Ausmaß der Explosion deutlich.
Die komplette Glasfront ist zerstört und dunkler, dichter Rauch schlängelt sich aus den kaputten Fenstern nach draußen.
Auch innen bietet sich ihnen ein Bild der Zerstörung.
Überall Scherben, Schutt und Gepäckstücke.
Dazwischen vereinzelt Menschen, die sich nicht mehr bewegen oder nach Hilfe schreien.
Mitten unter ihnen liegt Nidi, die noch immer bewusstlos ist.
Zu der nach und nach aber eine Stimme durchdringt.
Ihre eigene, die anfängt, sie anzuschreien.
Sie solle aufwachen und aufstehen.
Sie müsse ihrer Familie Bescheid geben, dass sie noch lebt.
Daraufhin öffnet Nidi ihre Augen und sieht nichts.
Nur schwarzen, dichten Rauch.
Sie will aufstehen, doch merkt, dass sie ihre Beine gar nicht spürt.
Panik steigt in ihr auf.
Sie blickt sich hektisch um, kann neben ihr einen Mann erkennen, der heftig blutet
und auf der anderen Seite eine Frau, die mit ihrem Gesicht nach unten liegt.
Nidi ruft um Hilfe.
Doch es dauert eine ganze Weile, bis jemand kommt.
Ein Mann in Militäruniform, der sie hochhebt und auf eine Bank setzt.
Die Sanitäter kommen gleich, heißt es.
Ohne es zu wissen, wird in diesem Moment ein Foto von Nidi gemacht, das in den nächsten Stunden um die Welt gehen und wie kein anderes für den Terror des 22. März 2016 stehen wird.
Es zeigt Nidi in ihrer gelb-schwarzen Uniform.
Ihr Bläser ist vorne komplett verbrannt, wodurch ihr BH frei liegt.
Einer ihrer Schuhe fehlt.
Der andere hängt noch halb am Fuß, hat sich aufgrund der Hitze in ihr Fleisch gebrannt.
Ah.
Von ihrem Gesicht tropft Blut.
Ihre Haare sind verbrannt und grau durch den Staub.
Sie schaut genau in die Kamera.
Und in ihrem Blick liegt unendliche Hilflosigkeit und vollkommenes Unverständnis.
Während Nidi kurz davor ist, wieder ohnmächtig zu werden, erreicht der Terror die Brüsseler Innenstadt.
Um 9.11 Uhr explodiert eine weitere Bombe, diesmal in der U-Bahn-Station Malbeck, direkt im Europaviertel nahe der EU-Kommission.
Sie trifft die Menschen, die mit der Linie 5 an diesem Dienstag in die Innenstadt wollen.
Eine Strecke, die das Umland mit dem Zentrum verbindet und jeden Morgen voller Fahrgäste ist.
Durch den hohen Druck der Explosion fällt der Strom aus und die Überlebenden müssen sich durch den dunklen U-Bahn-Tunnel zu den Notausgängen durchschlagen.
Der dunkle Rauch ist bis auf die Straße zu sehen und in der Innenstadt breitet sich Panik aus.
Genauso bei Nidi, die ihre Beine immer noch nicht spürt.
Sie bittet eine Frau, ihr wieder zu Boden zu helfen, damit sie die Beine hochlegen kann.
Und als sie in dieser Position verharrt, schließt sie ihre Augen, um nicht mit ansehen zu müssen, was um sie herum passiert.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen endlich zwei Menschen mit einer Trage auf Nidi zu.
Sie wird nach draußen gebracht und dort erstmal abgestellt.
Um sie herum herrscht großes Gewusel.
Menschen rennen durch die Gegend auf der Suche nach Hilfe oder nach ihren Liebsten.
Auch Nidi ruft wieder nach Hilfe.
Da kommt ein Polizist auf sie zu.
Als er sie fragt, wie es ihr geht, fängt Nidi unkontrolliert an zu zittern und zu weinen.
Sie erklärt dem Fremden, dass sie ihre Beine nicht spüren kann und dass sie unbedingt ihrer Familie Bescheid sagen muss, dass sie noch lebt.
Der Mann versucht sie zu beruhigen und für die nächste halbe Stunde wird er an Nidis Seite sein und ihr helfen, nicht durchzudrehen.
Zur gleichen Zeit wird einige Kilometer entfernt eine Eilsitzung des Nationalen Sicherheitsrats einberufen
und kurze Zeit später gibt der die höchste Terrorstufe bekannt.
Es kommt zu einem Großeinsatz, wie Belgien ihn noch nicht erlebt hat.
Aus umliegenden Städten werden Hilfskräfte und medizinisches Personal hinzugerufen, denn niemand weiß, ob noch mehr passiert.
Wichtige Gebäude wie die EU-Kommission werden abgesperrt, Flüge werden umgeleitet und der gesamte Verkehr eingestellt.
Belgien hält den Atem an.
Mittlerweile weiß auch die ganze Welt von den Bombenanschlägen auf Brüssel.
Ein Foto, das sich mit der Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, ist das von Nidi.
Es geht viral in den sozialen Netzwerken und wird von etlichen Nachrichtenseiten aufgegriffen.
Und so erfährt auch Nidis Mann Rupesh in Mumbai von dem Anschlag und davon, dass seine Frau noch lebt.
Drei Stunden nach der Explosion wird Nidi endlich ins Krankenhaus gebracht.
Dort angekommen, fragt sie die Krankenschwester, ob ihre Beine amputiert werden müssen.
Keine Antwort.
Ist mein Gesicht verbrannt, ist Nidis zweite Frage.
Ja, heißt es diesmal.
Und das ist das letzte, an das sie sich erinnern kann.
Danach ist wieder alles schwarz.
Wenig später ist klar, wer für Nidis Leid verantwortlich ist.
Der sogenannte Islamische Staat bekennt sich zu den Anschlägen.
Der islamistische Terror hat das Herz Europas tief getroffen.
32 Menschen aus 22 Ländern sind bei dem tödlichsten Attentat der belgischen Geschichte getötet worden.
Mehr als 300 verletzt.
Um die Toten zu trauern und für die Verletzten zu beten, pilgern nach und nach hunderte Menschen in die Innenstadt,
legen Blumen nieder und stellen Teelichter zu einem Kerzenmeer zusammen.
Auf ihren Plakaten liest man Vereint gegen den Hass und Je suis Brüssel.
Und die Welt weint mit Belgien.
Staatsoberhäupter erklären ihr Mitgefühl und ihre Solidarität.
Und am Abend erstrahlen der Eiffelturm, das Brandenburger Tor, der Trevi-Brunnen, das One World Trade Center
und viele andere Wahrzeichen der Welt in den Farben der belgischen Tricolore.
Nidi bekommt von all dem nichts mit.
Sie wurde in ein künstliches Koma versetzt und an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen.
Und so weiß sie auch nicht, dass Rupesh schon am nächsten Tag in Brüssel ankommt.
Da Nidis Zustand so labil ist, darf er aus Angst vor einer Infektion ihr Krankenzimmer jedoch nicht betreten.
Es ist ihm nur erlaubt, seine Frau durch ein Glasfenster zu beobachten.
Oh Gott, wie schlimm!
Und bei ihrem Anblick fängt Rupesh laut an zu weinen.
Denn er erkennt sie gar nicht wieder.
Nidi ist komplett von oben bis unten einbandagiert.
Nur kleine Schlitze für ihre Augen und ihren Mund wurden freigelassen.
Rupesh ist geschockt.
Als seine Kinder ihn anrufen und ihn bitten, Mama per Video zu zeigen, erklärt er ihnen, dass man hier keine Fotos oder Videos machen dürfe.
Er bringt es nicht übers Herz seiner Familie zu sagen, wie schlecht es seiner Frau wirklich geht.
Von nun an kommt Rupesh jeden Tag ins Krankenhaus und steht vor dem Fenster.
Durch einen kleinen Lautsprecher versucht er sein Bestes, Nidi Mut zu machen und Kraft zu geben, um die nächsten Tage zu überstehen.
Um die Verantwortlichen für den Terror zu finden, veröffentlicht die Polizei wenig später ein Foto von drei jungen Männern, die den Anschlag am Flughafen verübt haben sollen.
Es zeigt sie kurz vor den Explosionen in der Abflughalle mit vollgepackten Gepäckwegen.
Und es dauert nicht lange, da bekommen die ErmittlerInnen einen Tipp von einem Taxifahrer.
Er hatte die drei Männer an dem Morgen zum Flughafen gebracht.
Dabei seien sie ihm gleich aufgefallen, weil sie ihr Gepäck nicht aus den Händen geben wollten.
Sofort drückt die Polizei also vor dem Haus an, dessen Adresse der Taxifahrer durchgegeben hatte.
In einer der Wohnungen findet sie Sprengsätze, eine Anleitung zum Bombenbau und eine Fahne des IS.
Schnell ist auch klar, um wen es sich bei den Männern handelt.
Um die Brüder Ibrahim und Khalid El-Bakrawi und ihren Freunden Najim Lashrawi.
Alle drei haben sich in die Luft gesprengt.
Zwei ihrer mutmaßlichen Komplizen, Mohamed Abrini und Osama Krajem, sind aber auf der Flucht.
Während nach den beiden Flüchtigen gefahndet wird, liegt Nidhi noch immer im Koma.
Erst am 30. März wird ihr Sedativum reduziert, damit sie aufwachen kann.
An diesem Tag darf Rupesh zum ersten Mal an ihr Krankenbett treten.
Gekleidet in einen Spezialanzug hält er ihre Hand und spricht ihr gut zu.
Doch von Nidhi gibt es keine Reaktion.
Daher soll Rupesh die Familie anrufen.
Jede bekannte Stimme kann helfen, so die Ärztinnen.
Also sind auch ihre Kinder zu hören.
Ihr 14-jähriger Sohn erzählt ihr,
Mama, ich bin richtig gut in der Schule.
Ich habe mein Bestes gegeben für den Test, also keine Sorge.
Dir geht es bald besser.
Papa ist da und mach dir keine Sorgen wegen uns.
Wir warten hier, bis du zurückkommst.
Doch keines seiner Worte dringt zu Nidhi durch.
Rupesh wird unruhig und fängt an zu weinen.
Die Ärztinnen erklären ihm, dass er seiner Frau Zeit geben soll.
Doch in den nächsten Tagen verschlechtert sich Nidhis Zustand wieder.
Sie hat hohe Entzündungswerte und Fieber.
Keines der Antibiotika schlägt an, weshalb schließlich ein 3D-Scan durchgeführt wird.
Dabei wird deutlich, was für Nidhis Situation verantwortlich ist.
Überall in ihrem Körper stecken kleine Metallstücke.
Ah, diese hatte die Bombe durch ihre Haut gebohrt.
Sofort wird Nidhi noch einmal operiert.
Und dabei werden insgesamt 47 Metallteile entfernt.
Das größte davon ist mehr als 6 cm lang.
Wo hat das vorher gesteckt?
Das war in ihrem Bein.
Und das hat man nicht gesehen?
Nee.
Als es Nidhi durch die Operation langsam besser geht, gibt es auch für die ErmittlerInnen Fortschritte.
Am 8. April, dreieinhalb Wochen nach dem Attentat, nehmen sie die beiden flüchtigen mutmaßlichen Terroristen
Krayem und Abrini fest.
Doch trotz dieses schnellen Erfolgs schlägt der belgischen Regierung Kritik entgegen.
Denn die Verdächtigen sind keine Unbekannten für die belgischen Behörden.
Sie werden seit Monaten im Zusammenhang mit den Pariser Attentaten von November 2015 gesucht,
bei denen 130 Menschen getötet wurden.
Wie war solch ein Anschlag überhaupt so kurz nach Paris möglich?
In Brüssel galt seitdem eine erhöhte Terrorwarnstufe,
denn die Behörden vermuteten die Pariser Terrorzelle in Brüssel.
Wie also konnten die Männer vier Monate ungestört mitten in der Stadt ihre nächste Tat planen?
Indem einige Versäumnisse gemacht wurden, die nach und nach bekannt werden.
Schon im Sommer 2015 warnt die Türkei die belgischen Behörden vor Ibrahim el-Bakrawi,
einem der Männer, der eine Bombe am Flughafen zünden wird.
Der wird damals in der Türkei an der Grenze zu Syrien verhaftet
und daraufhin zurück in die EU geschickt und dort auf freien Fuß gesetzt.
Und nicht nur die Türkei hat ihn als ausländischen terroristischen Kämpfer auf dem Schirm,
auch in den USA steht El-Bakrawi zu dem Zeitpunkt auf einer Terrorliste.
Sein Bruder, der sich später in der Brüsseler U-Bahn in die Luft sprengen wird,
hat in Brüssel gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen,
weshalb Interpol gerade nach ihm sucht.
Im September 2015 wird dann Najim Lashraoui, der zweite Selbstmordattentäter vom Flughafen,
auf dem Rückweg von Syrien in Budapest abgeholt.
Und zwar von Salah Abdeslam, einem Mann, der später als Logistiker des IS bezeichnet wird
und der die Terror-Teams, die nach ihrer Ausbildung in Syrien wieder zurück nach Europa kommen,
empfängt und an die Tatorte bringt.
Als er also seinen Komplizen in Budapest abholt, um ihn nach Belgien zu fahren,
werden sie auf dem Weg dorthin von den österreichischen Behörden kontrolliert.
Zu dem Zeitpunkt kennt man in Europa Lashraoui noch nicht,
aber Abdeslam ist zur verdeckten Fahndung ausgeschrieben.
Doch das heißt für die Behörden nur, dass seine Einreise registriert wird.
Also gute Fahrt.
Ein paar Wochen später holt Abdeslam dann den nächsten ab, und zwar Osama Krayim in Ulm.
Einen Monat später wird der IS-Logistiker dann offiziell von den belgischen Behörden als Gefährder eingestuft.
Von Belgien aus fährt Abdeslam trotzdem unbehelligt im November 2015 mit seinem Freund Mohamed Abrini nach Paris.
Dort sterben am 13. November die 130 Menschen bei koordinierten Attentaten.
Abdeslam flüchtet danach zusammen mit Abrini nach Belgien
und wird dabei sogar im Zuge der verschärften Grenzkontrollen von französischen Behörden überprüft.
Sein Name fällt nicht auf.
Und so können Abdeslam und die anderen ungestört in Brüssel an neuen Anschlägen arbeiten.
Erst fünf Monate später, im März 2019, wird Salah Abdeslam festgenommen.
Bei der Razzia können die anderen entkommen.
Trotzdem wird Abdeslam in den nächsten Tagen nicht zu weiteren geplanten Anschlägen vernommen,
nur zu den Pariser Taten.
Und dann dauert es nur vier Tage, bis drei Bomben Brüssel erschüttern und 32 Menschenleben kosten.
Alle Beteiligten waren auf dem Radar der Behörden.
Ob die Anschläge hätten verhindert werden können, wenn die Geheimdienste besser zusammengearbeitet hätten,
ist im Nachhinein natürlich unmöglich zu beantworten.
Für die Überlebenden und Angehörigen der Opfer bringt dieses Gedankenspiel aber auch nichts.
Sie müssen schauen, wie sie weiterleben können.
Für Nidis Familie heißt es in diesen Tagen hoffen und beten, dass sie wieder aufwacht.
Am 13. April ist es endlich soweit.
Nidi macht nach 22 Tagen zum ersten Mal wieder die Augen auf.
Doch die ersten Tage in ihrem neuen Leben sind furchteinflößend.
Denn Nidi kann sich an vieles nicht erinnern und wird von schrecklichen Albträumen geplagt.
Als sie sich das erste Mal wieder im Spiegel sieht, ist sie erschrocken.
Sie erkennt sich nicht wieder.
Ihr ganzes Gesicht voller Narben und Verbrennungen.
Ihr Haar kurzgeschoren und grau.
Nidi sieht nicht mehr aus wie eine 40-Jährige, sondern wie eine alte Frau.
In dem Moment wird sie überflutet von negativen Gedanken.
Wie werden meine Kinder reagieren?
Was werden die Leute von mir denken?
Wie soll ich so jemals wieder arbeiten?
Doch als Rupesh kurz danach zu ihr ins Zimmer kommt und die ganze Familie in Indien per Videocall dazuschaltet,
erinnert sich Nidi daran, wofür es sich zu leben lohnt.
Alle freuen sich so sehr, sie endlich wiederzusehen.
Und von dem Zeitpunkt an ist sie bereit, alles dafür zu geben,
so schnell wie möglich nach Hause zu kommen und ihr altes Leben zurückzugewinnen.
Tatsächlich kann sie dann schon im Mai zurück nach Indien fliegen.
Mit Rollstuhl und medizinischer Begleitung.
Kurz vor Take-off, als alle PassagierInnen schon auf ihren Plätzen sitzen, ertönt eine Durchsage.
Es ist ein sehr besonderer Flug heute für uns, denn wir bringen einen Crewmitglied zurück nach Hause.
Eine Überlebende, eine Kämpferin.
Frau Nidi Ciapeka.
Sie wurde bei dem Bombenanschlag am Brüsseler Flughafen vom 22. März 2016 verletzt.
Wir sind sehr glücklich, sie jetzt zurückzubringen.
Wir verneigen uns vor ihrer Stärke und ihrer Resilienz.
Im Namen der ganzen Jet Airways-Familie wünschen wir ihr eine gute und schnelle Besserung.
Nidi ist überwältigt von all der Liebe und der Aufmerksamkeit.
Sie zeigt allen ein Lächeln und bedankt sich überschwänglich trotz starker Schmerzen.
Und nicht nur diese Flugreise ist lang und schwer, auch die Reise in ihr altes Leben.
Aufgrund ihrer Verletzung wird Nidi insgesamt 22 Mal operiert.
Sie muss wieder neu lernen, ihre Hände zu benutzen und wieder ohne Hilfe zu gehen.
Aber sie gibt nicht auf.
Während in Brüssel im Februar 2017 die Vorbereitungen zum ersten Jahrestag des Terroranschlags im vollen Gange sind,
macht sich auch Nidi bereit zur Rückkehr.
Sie will zurück und die Menschen treffen, die ihr geholfen haben und Danke sagen.
Und so steigen sie und Rupesh schließlich am 19. März 2017 in den Flieger nach Paris,
um von dort weiter mit dem Zug nach Brüssel zu kommen.
Dort angekommen trifft Nidi die Frau, die das Foto von ihr geschossen hat, das um die Welt ging.
Sie trifft den Polizisten, der ihr vor dem Flughafengebäude eine halbe Stunde lang Mut zugesprochen hat.
Und sie trifft die Ärzte und Ärztinnen, die im Krankenhaus um ihr Leben gekämpft haben
und denen sie versprochen hatte, wieder zurückzukommen, und zwar ohne Rollstuhl.
Für Nidi geht es aber auch zurück an den Brüsseler Flughafen,
an den Ort, der ihr Leben vor genau einem Jahr für immer verändert hat.
Als sie dem Abflugterminal näher kommt, fängt ihr Herz an, schneller zu schlagen.
Sie nimmt Rupesh Sand und hält sie ganz fest.
Doch als sie das Gebäude betritt, kann sie es nicht länger zurückhalten.
Nidi bricht in Tränen aus.
Auch andere Überlebende und Angehörige weinen mit ihr, in Gedenken an die Toten.
Um 7.58 Uhr wird eine Schweigeminute gehalten.
Danach gibt es einige Beiträge von Hinterbliebenen.
Darunter auch eine Rede von dem Deutschen Lars Wetzmann,
der am 22. März 2016 mit seiner Frau Jennifer eine verspätete Hochzeitsreise nach New York antreten wollte,
als die Bombe die Liebe seines Lebens für immer von ihm riss.
Oder der Belgier Eddie van Calster, der ein selbstkomponiertes Lied für seine verstorbene Frau Fabienne singt.
Nidi bricht es das Herz.
Um für immer an die Opfer zu erinnern, errichtet man in Brüssel gleich mehrere Gedenkstätten.
So finden sich heute im Europaviertel zwei 20 Meter lange horizontale Platten,
die aufeinander zulaufen und kurz vor dem Zusammentreffen nach oben gen Himmel abbiegen.
Mit der Aufschrift
Wounded, but still standing in front of the inconceivable.
Auf Deutsch
sowas wie
Wir sind verwundet, stehen aber immer noch vor dem Unbegreiflichen.
In der U-Bahn-Station Malbec hängt eine Gedenktafel, auf die die Menschen ihre Gebete und Wünsche schreiben können
und eine Liste der Namen der Todesopfer.
Ein weiterer Gedenkort am Rande der Stadt ist ein mit 32 Birken im Kreis bepflanzter Platz,
der sogenannte Platz der Stille und Meditation.
Am dritten Jahrestag kündigt die belgische Justiz schließlich an,
dass der Prozess gegen die mutmaßlichen Terroristen im Jahr 2020 beginnen soll.
Da etwa 600 NebenklägerInnen beteiligt sein werden und mehr als 1000 Zuschauerplätze benötigt werden,
soll er nicht im Brüsseler Justizpalast, sondern im alten NATO-Hauptquartier stattfinden.
Doch die Anklage wird erst 2021 gegen zehn Personen erhoben.
Darunter Osama Krayim, Mohammed Abrini und Salah Abdeslam.
Bis heute steht die Verhandlung noch aus.
Voraussichtlich soll sie erst im September 2022 beginnen.
Für Nidi ist dieser Gerichtsprozess gar nicht so wichtig, zumindest nicht für ihre Heilung.
Sie hat zurückgefunden ins Leben.
Heute arbeitet sie wieder als Stewardess und hat ein Buch über ihre Erlebnisse geschrieben.
Sie verspürt keinen Hass gegenüber den Terroristen.
Sie glaubt an den Spruch von Mahatma Gandhi,
Auge um Auge und die ganze Welt wird blind sein.
Nidi versteht, dass Menschen, die frustriert sind, sich nicht integriert fühlen und niemanden haben,
dass diese Menschen leichter Opfer von Manipulation und Gehirnwäsche werden.
Für sie ist daher der einzige Weg im Kampf gegen Terrorismus, Toleranz und Verständnis für sein Gegenüber.
Ich finde an Terrorattentaten so fies, dass sie während so banalen Dingen passieren und dich so wirklich mitten aus dem Leben reißen, aus dem Alltag.
Also, weil man sich ja auch oft seines Lebens gar nicht bewusst ist, während man es lebt.
Ja.
Also ich finde, das hat man hier total gemerkt bei Nidi.
Und das schadet ja auch im Nachgang dem Sicherheitsgefühl von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen von uns.
Ja.
Also es kann sonst wo passieren und man fühlt sich auf einmal selbst unsicher.
Ja.
Für mich war das auch, ich habe ja vorher noch keinen Terroranschlag erzählt.
Und ich habe eigentlich nicht gedacht, dass mich das so berührt.
Aber ich habe bei der Recherche auch immer wieder richtig schlucken müssen und Tränen in den Augen gehabt.
Und das war jetzt nicht nur bei dem Buch von Nidi, sondern bei jeder Doku, weil ich dann auch so diese Solidarität gesehen habe.
Und das berührt mich dann so krass, dass da so viele Leute sind, die mittrauern und helfen wollen.
Und das hat Nidi halt auch in ihrem Buch geschrieben.
Und das haben auch viele Angehörige und Überlebende erzählt, dass sie an diesem Tag auch sozusagen nicht nur das Schlimmste gesehen haben, was Menschen machen können,
sondern auch die menschlichste Seite irgendwie gesehen haben, weil Leute, egal wie schlimm es denen ging oder so, geholfen haben.
Und ja, keine Ahnung, das hat mich dann so doll berührt irgendwie bei dem Fall.
Und ich stelle mir das so surreal vor, wie er vom Fernseher sitzt und da seine Frau sieht.
Ja.
Und deswegen, also die Nidi hat auch so ein ganz ambivalentes Gefühl zu diesem Foto.
Weil auf der einen Seite wurde das ja ohne ihre Zustimmung erstens mal gemacht und auch verbreitet.
Und sie findet das auch nicht gut, dass sie da halt so im BH zu sehen ist.
Also sie hätte sich das gewünscht, dass man das blurrt wenigstens.
Aber auf der anderen Seite sagt sie halt eben, dass das der einzige Weg war, ihre Familie die ersten 24 Stunden sozusagen ruhig zu halten.
Ja, also zu dem Foto an sich natürlich überwiegt in dem Moment das öffentliche Interesse, diese Bilder zu sehen.
Aber klar, wenn sie da im BH sitzt, das ist natürlich auch ganz furchtbar im Nachhinein, weil es sich ja eh schon so überlaufen mit diesem Anschlag, der da gerade passiert ist.
Und dann passiert ja auch noch sowas, wo vor, also wenn ich so ein Bild von jemandem sehen würde aus meinem Familienkreis, du weißt ja nicht, was danach passiert ist.
Also es gibt ja auch eigentlich gar nicht diese Sicherheit.
Ja.
Kommen wir mal zu den Tätern in meinem Fall.
Diese Terroristen, die kommen fast ausschließlich aus Belgien, genauer gesagt aus dem Brüsseler Stadtteil Molenbeek.
Auch andere Terroristen der Pariser Anschläge haben da gewohnt und oder sich halt davor irgendwie da aufgehalten.
Und genauso führen die Anschläge auf das Jüdische Museum in Brüssel im Jahr 2014 und auf den Taleszug im Jahr 2015 nach Molenbeek.
Selbst einer der Terroristen der Zuganschläge in Madrid von 2004 kam aus dem Viertel.
Wie Molenbeek zur Brutstätte des Terrorismus wurde, wie halt die Presse gerne nennt, darum geht es jetzt in meinem Aha.
Molenbeek liegt im Herzen von Brüssel, nur so zehn Minuten zu Fuß entfernt vom Europaviertel und es ist ein typisches Einwandererviertel.
Die meisten BewohnerInnen dort haben nordafrikanische Wurzeln und circa die Hälfte aller sind Muslime.
Und es gibt viele MolenbekerInnen.
Die Bevölkerungsdichte ist mit 20.000 Menschen pro Quadratkilometer in Niedermolenbeek beispielsweise zweieinhalb Mal so hoch wie im Rest von Brüssel.
Und als ich in einer ZDF-Doku Bilder aus diesem Viertel gesehen habe, dachte ich erst, es würde sich um Marokko handeln, also und nicht um Belgien, weil da tatsächlich kein einziger weißer Mensch zu sehen war.
Ja, also du siehst tatsächlich kaum Weiße.
Ich war jetzt ein paar Mal da.
Kommt natürlich auch darauf an, wo in Molenbeek man ist.
Also auch da gibt es ja so typische Teile, wo so Familienviertel sind.
Aber auch da ist der Anteil von weißen Menschen natürlich minimal.
Aber das Stadtbild an sich ist da halt auch nochmal ein bisschen anders als im Zentrum von Molenbeek.
Und das zeichnet sich halt so krass aus durch lauten Verkehr.
Das kann man sich manchmal fast gar nicht vorstellen.
Da wird durch die Fenster geschrien.
Aber sich auch mit Bruder angeredet und so.
Also ich habe jedes Mal Leute schreien gehört, aber halt nie brenzlig.
Einfach nur passionierte AutofahrerInnen und ziemlich viele Läden, wo hauptsächlich mit Polyester und Glitzer gearbeitet wird.
Also beeindruckend lebendig eigentlich.
Also viel spielende Kinder und so ziemlich frei habe ich das so wahrgenommen.
Und ich habe mal eine Fahrradtour durch Brüssel gemacht.
Und da sind wir auch an dem Haus vorbeigefahren, wo Salah Abdeslam gewohnt hat.
Und das hat mich mitgenommen, aber aus einem ganz anderen Grund.
Das war Anfang Mai.
Und jeweils links und rechts vom Haus im ersten Stock standen, also es ist einfach so absurd, wenn du weißt, was da passiert ist.
Und dann stehen da draußen auf der Fensterbank am jeweiligen Ende des Hauses zwei winzige Vogelkäfige mit jeweils einem Kanarienvogel drin.
Ich weiß nicht, irgendwie war es so absurd, also die waren so weit weg, dass sie auch nicht miteinander hätten irgendwie kommunizieren können.
Und ich habe mir die ganze Zeit irgendwie gedacht, das ist eine sehr traurige Liebesgeschichte und alles ist dann hier irgendwie traurig.
Ich habe auch ein Foto davon gemacht, aber halt sehr unauffällig, als niemand da war.
Weil das darf man, glaube ich, auch nicht vergessen, die Menschen dort haben ja eine unfassbare Stigmatisierung erfahren.
Durch diese Medienberichterstattung und dadurch, dass da halt einfach ein paar der Attentäter gewohnt haben.
Ja, die sind ja auch selber komplett schockiert, denn auch wenn durch die Berichterstattung vielleicht da irgendwie der Anschein gemacht wurde nach den Attentaten,
sind die BewohnerInnen natürlich fast nie Extremisten oder Extremistinnen.
Die allermeisten Menschen dort leben den friedliebenden, moderaten Islam und leiden halt richtig unter diesem schlechten Image.
Was ja ein wütender US-Präsident auch noch total befeuert hat, als er von einem Höllenloch gesprochen hat.
Ja, und Schuld an der Entwicklung der radikalen Szene soll laut den belgischen Journalisten Christophe Lamphalussi und Jean-Pierre Martin die Politik sein.
Die beiden haben sich nämlich die Frage gestellt, wie Molenbeek so viele Terroristen hervorbringen konnte und dazu auch ein Buch geschrieben.
Und angefangen hat alles mit der völlig verfehlten Einwanderungspolitik der 60er Jahre, sagen die.
Damals holt man sich nämlich günstige sogenannte GastarbeiterInnen aus Nordafrika ins Land, kümmert sich aber nicht um die,
also schafft auch kein kulturelles oder spirituelles Umfeld für die.
Stattdessen geht der belgische König 1967 einen Deal mit dem saudischen König ein, um billig an Öl zu kommen.
Und im Gegenzug erlaubt er dem König, die große Moschee von Brüssel zu eröffnen
und so ein regelrechtes, ja, so ein Missionszentrum für radikal-islamische Prediger zu errichten.
Mit dem Einfluss Saudi-Arabiens entwickelt sich dann halt langsam, aber sicher eine immer größer werdende salafistische Szene.
Und als dann ab 1992 der sozialistische Bürgermeister Philipp Moreau in Molenbeek das Sagen hat, lässt er die IslamistInnen 20 Jahre lang machen, was sie wollen.
Um Wählerstimmen zu bekommen, überlässt er die Fürsorge für schwierige Jugendliche den Imamen und unterstützt deren Projekte, ohne die vorher zu prüfen.
So kann der islamistische Extremist Fuad Belkarjim 2010 zum Beispiel die salafistische Bewegung Scharia vor Belgien gründen.
Danach schließen sich fast 500 junge Männer und Frauen wegen diesen Typen dem IS in Syrien an.
Und das ist die höchste Zahl an IS-KämpferInnen aus einem europäischen Staat, gemessen an der Einwohnerzahl.
Und solche radikalen Islamisten treffen halt bei einigen Jugendlichen in Molenbeek den richtigen Nerv, weil viele nicht wissen, wohin mit sich.
Das Viertel hat nämlich eine hohe Arbeitslosigkeit, also so zwischen 30 und 40 Prozent.
Und bei den unter 25-Jährigen ist sie sogar noch höher.
Und wenn man einen arabischen Namen hat und dann die Postleitzahl von Molenbeek, dann hat man auch auf dem Arbeitsmarkt so gut wie keine Chance.
Und halt genau da setzt dann halt sowas wie diese Scharia vor Belgien Bewegung an.
Und ja, die predigen dann halt von Erniedrigung und Verfolgung der Muslime und erschaffen dadurch so eine Art Wir-gegen-die-Gefühl.
Und jahrelang können extremistische Prediger halt so ungestört diese instabilen Jugendlichen bearbeiten und den Einreden, dass Europa sie halt nicht will und dass sie sich auch dagegen wehren sollten.
Und als die belgischen Behörden dann irgendwann merken, wie weit der Fundamentalismus schon ist, ist es zu spät.
Wir haben die Lage in Molenbeek nicht mehr unter Kontrolle, gibt der Innenminister dann halt auch nach den Anschlägen im März 2016 zu.
Seitdem versucht man natürlich in dem Viertel gegen den radikalen Islamismus anzukämpfen.
Also da gibt es regelmäßig jetzt Razzien, da gibt es mehr Polizisten auf der Straße, Sozialprogramme und auch mehr Geld für Bildung.
Aber es gibt immer noch soziale Probleme und immer noch Schwierigkeiten mit religiösen FanatikerInnen.
Und bis zu so einem wirklichen Wandel ist es halt noch ein langer Weg.
Und das sagen nicht nur diese zwei Journalisten, sondern das sagt auch die aktuelle Bürgermeisterin von Molenbeek.
Der Fall, den Laura jetzt erzählt hat, also der Terroranschlag in Brüssel und Marc Dutroux sind eigentlich die zwei Crimefälle, die die bekanntesten aus Belgien sind.
Ansonsten gilt Belgien jetzt als ziemlich sicheres Land, auch wenn die Mordrate recht hoch ist.
Also wenn man auf 100.000 EinwohnerInnen rechnet, dann hatte Belgien in den letzten Jahren einen Schnitt von 1,83 Morden.
Und in Deutschland lag diese Rate letztes Jahr bei 0,86, also deutlich niedriger.
Jetzt kann man ja meinen, 2020 war vielleicht auch einfach ein schlechtes Jahr für MörderInnen, wie für jeden anderen hier.
Aber auch der Durchschnitt vorher in den Jahren war halt echt nicht viel höher.
Und wir wissen aber, diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, denn deren Mordqualifikation ist eine andere als in Deutschland.
Und ansonsten ist auch die Drogen, Vergewaltigung und Suizidrate viel höher als hier.
Also doch nicht so langweilig.
Doch, vielleicht deprimierend, weil langweilig.
Ach so, ja.
Es gibt nichts anderes zu tun.
Vielleicht fühlen sich die BelgierInnen auch nicht so wahrgenommen.
Weil man ja nicht so viel mit Belgien verbindet, außer Pommes und EU.
Stimmt.
Und die haben ja auch Royals.
Ja, das habe ich, das vergesse ich immer.
Ja, weil sie halt auch keine Skandale haben.
Also sogar sie sind langweilig durchschnittlich.
Ja, und eigentlich denkt man ja auch, die ganze Zeit, das Land hat nicht selbst gemacht.
Also sie haben keine eigene Sprache, sondern gleich drei andere.
Ja, und die haben auch nicht so ein richtiges eigenes Recht.
Ach, auch das ist geklaut.
Mhm.
Seit der Stadt 1830 gegründet wurde, stand nämlich alles unter französischem Einfluss.
Und es gab zwar Versuche, belgische Gesetze zu entwickeln, doch so richtig hat das nicht geklappt.
Stattdessen wurde das Recht aber dann halt mit der Zeit in den flämischen Landesteilen immer stärker von der Niederlande und Deutschland beeinflusst.
Und das hat dann dazu geführt, dass seit 1898 alle Gesetze in französischer und niederländischer Sprache verkündet werden müssen.
Deutsch fiel dann irgendwie leider unter den Tisch.
Das haben wir auch bei der Recherche gemerkt.
Ja.
Und dadurch, dass diese drei großen Regionen, also Flandern, Wallonien und Brüssel, sehr föderal unterwegs sind, wird das halt dann auch mit dem Recht überall so ein bisschen anders gehandhabt.
Es gibt natürlich geschriebene Gesetze, die dann halt auch von den RichterInnen angewandt werden.
Aber die Auslegung der Gesetze und auch die Organisation der Gerichte ist halt so Regionsache.
Und da sieht man immer deutlicher, dass es halt eine Tendenz gibt zu zwei eigenständigen Rechtskulturen.
Also da kann man halt schlecht von einem belgischen Recht sprechen.
Und was das Strafrecht angeht, da hat jetzt aber zum Beispiel Frankreich gewonnen, wenn man das so sagen kann.
Zumindest was das Geschworenengericht angeht.
Da gibt es nämlich eine Jury an den sogenannten Assistenhöfen.
Und die entscheiden dann über schuldig oder unschuldig.
Und erst bei dem Strafrahmen dürfen dann drei RichterInnen mitentscheiden.
Aber diese geschworenen Gerichte, die sind schon lange umstritten.
Und jetzt gerade ist diese Diskussion wieder so ein bisschen aufgeflammt, weil eben im nächsten Jahr der Prozess zu den Anschlägen anfangen soll.
Und das heißt dann, dass zwölf normale BürgerInnen über insgesamt 30.000 Anklagepunkte entscheiden sollen.
Und das mindestens neun Monate lang.
Und 24 weitere BürgerInnen müssen sich sozusagen als Ersatz bereithalten.
Und das Ganze kostet den Staat 20 Millionen Euro.
Und der Justizminister fragt sich halt zu Recht, wer neun Monate lang zur Verfügung stehen kann und ob dieses System halt noch so zeitgemäß ist.
Und deshalb versucht er jetzt mit seiner Partei das Geschworenengericht abzuschaffen.
Aber dass er das halt noch vor dem Terrorprozess hinkriegt, ist eher zweifelhaft.
Weil für so eine Abschaffung bräuchte man eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, weil dafür die Verfassung geändert werden müsste.
Was ich ganz interessant finde an deren Strafrecht ist, dass man da, bis man 18 ist, also da kann man sich eigentlich austoben, würde ich mal sagen.
Also besser als hier.
Die haben nämlich so eine Art Jugendschutzrecht statt Jugendstrafrecht.
Und in Belgien ist man auch erst mit 18 Jahren strafmündig.
Und vorher kann das belgische Strafrecht grundsätzlich nicht angewendet werden.
Grundsätzlich heißt es jetzt natürlich, da gibt es ein paar Ausnahmen.
Also bei Straßenverkehrsdelikten und bei einigen besonders schweren Gewaltdelikten ist man dann schon ab 16 strafmündig.
Und dann können diese Fälle nur an ein normales Strafgericht kommen, wenn jetzt das Jugendschutzgesetz als unzureichend betrachtet wird, aber sonst nicht.
Das heißt jetzt natürlich aber nicht, dass alles davor komplett ungesünd bleibt.
Also es gibt schon vorher Maßnahmen, aber Strafe soll halt vermieden werden, weil in Belgien der Erziehungsgedanke noch mehr im Vordergrund steht, als es in Deutschland zum Beispiel.
Hier in Deutschland hat man ja schon ab 14 Jahren eine strafrechtliche Verantwortung.
Auch wenn man mit dem Jugendstrafrecht hier natürlich Jugendliche nicht als Erwachsene behandeln will.
Also ist man dann halt ab 14 bedingt strafmündig.
Und da frage ich mich doch, sind wir in Deutschland zu streng mit den Jugendlichen?
Ich weiß nicht, aber was ich mich immer frage ist, was bringt einem Kind oder eben einem Jugendlichen einen Gefängnisaufenthalt?
Ja, und das ist natürlich gruselig, also Kinder ins Gefängnis.
Deswegen wollte man das ja damals nicht, weil es war ja ab 12 und dann hat man aber damals gesagt, also wir wollen keine Kinder im Gefängnis.
Und in der Zeit ging man halt so ab 14 schon eine Ausbildung oder so nach.
Ja, für mich ist halt 14 noch ein Kind.
Also hätte man das der 14-jährigen Paulina gesagt, hätte ich dann da wahrscheinlich widersprochen.
Aber ja, also jugendlich würde ich halt sagen.
Ja, aber auf jeden Fall entwickelt sich da ja noch einiges, hoffentlich im Gehirn.
Und deshalb glaube ich, dass so erzieherische Maßnahmen wie in Belgien besser sind, als die einfach in den Jugendknast zu stecken.
Wo es in Belgien eine tatsächliche Straffreiheit gibt, also gar keine Strafe, ist beim sogenannten strafrechtlichen Vergleich.
Und der ist zu finden in Artikel 216 bis des Strafprozessgesetzbuches, der 2011 nochmal reformiert wurde.
Und da steht übersetzt ungefähr das, wenn der Prokurator, also sowas wie der Oberstaatsanwalt des Königs,
der Ansicht ist, dass die Tat nicht derartig zu sein scheint, dass sie mit einer Hauptkorrektional-Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren
oder mit einer schwereren Strafe, gegebenenfalls einschließlich einer Konfiskation, also Enteignung, bestraft werden muss
und dass sie die körperliche Unversehrtheit nicht ernsthaft beeinträchtigt, kann er den Täter dazu auffordern,
dem föderalen öffentlichen Dienst Finanzen eine bestimmte Geldsumme zu zahlen.
Der Text hört sich auf jeden Fall nicht überarbeitet an.
Nee, schreibt doch einfach, gebt uns Geld, dann lassen wir euch in Ruhe.
Genau, darum geht's. Also, dass man einer Strafe aus dem Weg gehen kann, wenn man halt einen Vergleich mit der Staatsanwaltschaft schließt
und dem Staat eine Summe zahlt.
Und das ist dann aber nicht so wie in den USA beim Guilty Plea, dass dann deine Strafe nur gemildert wird
und du deine Schuld aber eingestehen musst und danach auch vorbestraft bist.
In Belgien wird die Strafverfolgung dann komplett ausgesetzt, also quasi Ermittlungen eingestellt, Anklage fallen gelassen.
Also man muss nur eine bestimmte Summe zahlen und danach, als wäre nix gewesen.
Ja, das ist die, du kommst aus dem Gefängnisfrei-Kreditkarte, wie wir Monopoly-Spielenden sagen.
Wir Monopoly-Süchtigen.
Ja, eigentlich, also der Hintergedanke dieser Reform war die Überforderung der Staatsanwaltschaften.
Weil die haben es halt oft nicht geschafft, Finanz- oder Steuerstraftaten rechtzeitig vor Verjährung zu bearbeiten.
Das hat natürlich viele BürgerInnen sauer gemacht, weil es dann ja so eine gewisse Straffreiheit für diese Taten gab.
Also es geht halt vor allem um so Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Bestechung, wenn halt diese Deals gemacht werden.
Und in dem Zusammenhang wird natürlich jetzt immer wieder von der Justiz der Reichen gesprochen, weil nur die können natürlich diese großen Summen bezahlen und sind dann fein raus.
Und kritisiert wird der Paragraf auch, weil es halt irgendwie so den Eindruck macht, dass eine Bestrafung verhandelt werden kann.
Auf der anderen Seite werden aber Geschädigte dadurch halt auch schnell und unkompliziert entschädigt.
Sie müssen nicht so einen langen Prozess irgendwie auf sich nehmen.
Die Staatsanwaltschaften werden entlastet.
Und Verfahren, die manchmal wegen Verjährung einfach hätten eingestellt werden müssen, werden dann doch irgendwie noch gesühnt.
Also es gibt da auch Vorteile.
Was sagst du denn zu solchen Vergleichen?
Ich finde es auch doof, dass man als Opfer dann eventuell, wenn es Vorteile bringt, darauf hoffen muss, hoffentlich hat mein Täter oder meine Täterin genug Asche.
Ich finde, das muss man in die Hand von Ermittlungsbehörden legen und dann ist Ruhe im Karton.
Und ich finde, das ist tatsächlich eine Privilegierung von eh schon privilegierten Menschen.
Ja, voll.
Und weil sich dann so Leute halt dann auch vor der Steuerhinterziehung denken, ach, wenn das rauskommt, dann kaufe ich mich halt frei.
Ja.
Also da muss es doch eine andere Lösung geben, die Staatsanwaltschaften zu entlasten.
Ja.
Übrigens wird vermutet, dass dieser Paragraf, so wie der ja heute ist, durch das Zutun des Diamantensektors entstanden ist.
Und zwar, um der Industrie mit Betrugsvorwürfen zu helfen.
Im Mai 2013 ist der Diamantenhersteller Omega Diamonds dann auch gleich so einen Vergleich eingegangen.
Die Firma stimmte zu, 160 Millionen Euro zu zahlen.
Um nicht wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche vor Gericht gestellt zu werden.
Und das war ein richtig guter Deal für Omega, weil die Betrugsumme wird auf ungefähr 2 Milliarden Euro geschätzt.
Also das gibt es ja nicht.
Und obwohl sie diese Summe bezahlt haben, steht diese Firma weiterhin dazu, hier keine Straftaten begangen zu haben und eine weiße Weste zu haben.
Ist klar.
Aber wie man sich denken kann, der belgische Staat, der hat sich darüber natürlich gefreut, über das Geld.
Und die haben in den letzten Jahren durch diesen neuen Paragrafen oder den reformierten Paragrafen mehr als 500 Millionen Euro gemacht.
Tsching, tsching.
Ich möchte nochmal auf Mark Dutroux zurückkommen.
Stell dir vor, du wirst 80 Tage von jemandem auf engem Raum eingesperrt und hast da halt eine zerfressene Matratze, aber sonst auch nicht viel mehr.
Und der Typ, der dich dort eingesperrt hat, beschwert sich dann später über seine eigenen Haftbedingungen im Gefängnis, wo er ja nur sitzt, weil er dir das angetan hat.
Und noch anderen Menschen, ganz viel Schlimmer ist.
Und der Typ, der lebt aber im Gefängnis, also ziemlich gut im Vergleich zu dem, wie du gelebt hast.
Was würdest du da denken?
Ich würde ausrasten und ich würde ihn gerne fragen, wer er denkt, wer er ist oder warum er es verdient hätte, anders behandelt zu werden als ich.
Oder besser, ja.
Das würde ich, wenn ich die Person wäre, die er eingesperrt hätte.
Wenn ich jetzt ich bin, dann verstehe ich, wenn er sich beschwert, wenn es irgendwie Menschen unwürdige, ich weiß ja nicht, was da bei ihm geherrscht hat, aber wenn es da irgendwie Menschen unwürdige Zustände gibt im Gefängnis, das geht natürlich auch nicht.
Das geht rechtlich nicht und es ist ja auch, es ist ja auch nicht Auge um Auge.
Das haben wir ja in unserer Selbstjustizfolge gelernt.
Ja, also der Marc Dutroux, der hat aufgelistet, was ihn alles so stört in Haft.
Okay.
Unter anderem möchte er gerne, dass ihm ein Friseur wieder die Haare und den Bart schneidet.
Und nicht er selber oder was?
Ja, also es ist ja so, wie du sagst, sein gutes Recht, aber es ist schon sehr zynisch.
Also normalerweise ist es da so, dass sich die Inhaftierten gegenseitig die Haare schneiden.
Ja.
Aber das geht bei Dutroux nicht, weil sie glauben, dass das für ihn lebensgefährlich sein kann.
Weil einfach dann die anderen Inhaftierten zu dicht an seinem Gesicht mit der Schere sind.
Und er selbst darf das aber auch nicht wegen Suizidgefahr bei sich machen.
Also hat er jetzt seit 30 Jahren keine Haare geschnitten bekommen?
Da wäre ich auch sauer.
Nee, also seit 30 Jahren nicht.
Eine Zeit lang war das eher schwieriger bei ihm.
Und da hat sein Anwalt gesagt, Zitat, mein Mandant sieht ganz verludert aus.
Das geht nicht.
Der kann nicht verludert da rumlaufen im Gefängnis.
Ja, also ich glaube, wir können alle nachempfinden, wie Sabine sich in dem Moment gefühlt hat.
Allerdings hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, Belgien, schon öfter wegen der Haftbedingungen verurteilt.
Also ist es nicht ganz aus der Luft gegriffen und Dutroux macht da vielleicht auch nicht die Prinzessin auf der Erbse.
Eigentlich heißt es ja, Gefangene dürfen nicht gefoltert, erniedrigt oder gedemütigt werden.
Aber im Juli 2017 veröffentlichte die Anti-Folter-Kommission des Europarats einen Bericht, der Belgien ziemlich düster hat dastehen lassen.
Dem Land werden darin unmenschliche und degradierende Haftbedingungen vorgeworfen.
Beispielsweise steht da im Fokus die Haftanstalt Lantin.
Das ist in der Nähe von Lüttich.
Und dort hatte 2016 das Gefängnispersonal zwei Monate gestreikt.
Und das hat dazu geführt, dass die Inhaftierten ohne Unterbrechung in der Zelle eingesperrt waren und sich nicht mal duschen konnten.
Und die Zellen wurden auch nicht geputzt und der Abfall auch nicht entsorgt.
Das Gefängnis ist aber eh dafür bekannt, dass es da mies zugeht.
Das ist nämlich zum Beispiel total überbelegt.
Also eigentlich passen da 600 Leute rein.
Und teilweise sind es dann aber 960.
Und auf 80 Gefangene kommen da dann nur zwei Angestellte des Gefängnisses.
Und 2019 wurde Belgien erneut vom EGMR wegen eines Gefängnisses verurteilt, weil ein psychisch kranker Sexualstraftäter 13 Jahre lang nur von französischsprachigen SicherheitsbeamtInnen betreut wurde, obwohl er selbst nur Deutsch spricht und versteht.
Es ist schon Folter. Es ist schon auch Folter, ja.
Ja.
Also auch wenn Deutsch da eine Amtssprache ist, ich fühle mich da mit der Sprache nicht so ernst genommen.
Es spricht da eigentlich keiner, außer in so einem Minimalstreifen im Osten.
Ja.
Und auf Deutsch ist da auch nichts geschrieben.
Im Internet haben wir nichts gefunden.
Ja, Belgien ist bei uns jetzt nicht so gut weggekommen.
Ich hätte aber noch was zum Thema Gefängnis, aber in Deutschland.
Ja, bitte.
Bei meiner Recherche bin ich nämlich auf gutefrage.net bzw. finanzfrage.net gestoßen.
Oh, das sind Seiten, da findet man Antworten zu allem.
Und da sollte man auch unbedingt alles erfragen und die Antworten ernst nehmen.
Genau. Und so, weil ich mich auch zum Thema Gefängnis so ein bisschen damit beschäftigt habe, kamen dann halt Fragen dazu.
Und ich will dir mal ein paar Perlen vorlesen.
Und den ersten Eintrag, den ich gesehen habe, der lautet so so.
Hallo, erstmal zu mir.
Ich bin 22 Jahre alt, habe circa 7000 Euro Schulden.
Vodafone, Krankenversicherung, Mietschulden etc.
Insolvenz kommt nicht in Frage.
Abbezahlen kann ich es nicht.
Kredit kriege ich nicht.
Meine Frage ist, kann ich die Schulden im Gefängnis absitzen?
Wenn ja, wie viel würde man täglich absitzen?
Und andere Frage.
Ich wollte in zwei Jahren nach USA ziehen.
Könnte ich ein Problem kriegen mit dem Auswandern, wenn ich im Knast war vorher?
Warte, ich antworte.
Ja.
Hallo.
Klar kannst du.
Vodafone verdient ja in dem Moment, in dem du dein Handy nicht benutzt.
Und das kannst du im Gefängnis ja auch nicht benutzen.
Und dein Vermietertauschgeld sicherlich auch gern gegen drei Monate Ruhe vor dir.
Und das mit USA ist eine Knalleridee und wird sicherlich klappen.
Und wenn du da mal knapp bist, dann kannst du dir dein Konto da auch durch absitzen in so einem ganz tollen Gefängnis auf einer Insel nicht weit weg von Miami aufbessern.
Ja.
Folgende Frage war auch noch schön.
Kann ich bei einer Geldstrafe jedes Wochenende ins Gefängnis gehen, um zwei Tagessätze die Woche nicht zahlen zu müssen?
Mhm.
Aber warum denn dann die Wochenendtagen?
Da würde ich doch eher den Montag und den Dienstag abgeben.
Ja.
Verstehe ich auch nicht.
Das ist nicht sehr schlau.
Nee.
Antwort war dann auch, wieso nicht einfach mit dem Richter verhandeln, dass du nur nachts hin musst und vielleicht auch nur jeden zweiten Monat im Schaltjahr?
Vielleicht kann man auch aushandeln, dass du etwas mehr drin bleibst und Geld bekommst.
Das ist aber mein Humor.
Das ist nie super.
So eine dumme Frage hat halt auch eine dumme Antwort verdient.
Aber wer schreibt denn da überhaupt Sachen rein und wer antwortet da drauf?
Das frage ich mich.
Äh, Wissenshungrige?
Mhm.
Also mal ernsthaft, ich würde da auch eins schreiben.
Mich würde zum Beispiel furchtbar interessieren, wie ist das da mit dem Essen?
Im Fernsehen kriegt man da ja dann immer so ein Tablett.
Was ist, wenn man kein Fleisch isst?
Gibt's da eine Auswahl?
Kann man Wasser mit oder ohne sprudeln?
Okay.
Aber anstatt, dass du das jetzt bei gute Frage.net reinstellst, können wir das ja so machen, dass wir in den nächsten Tagen mal einen Post bei uns bei Instagram,
Mordlust, der Podcast, posten und vielleicht kann ja jemand von euch das beantworten.
Oder darf man da Mordlust hören?
Ist auch wichtig.
Tschüss.
Das war ein Podcast von FUNK.