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#89 63454 - hanau

Mordlust
Herzlich Willkommen zu Mordlust, einem Podcast von der Partner in Crime.
Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe.
Mein Name ist Paulina Kraser.
Und ich bin Laura Wohlers.
In jeder Folge gibt es ein bestimmtes Oberthema,
zu dem wir zwei wahre Kriminalfälle nacherzählen.
Und auch mit Experten und Expertinnen sprechen.
Wir reden hier auch mal ein bisschen lockerer miteinander.
Das hat aber nichts damit zu tun, dass uns die Ernsthaftigkeit fehlt.
Sondern für uns ist das einfach immer so eine Art Comic-Relief,
damit wir zwischendurch auch mal wieder durchatmen können.
Das ist aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
Es ist jetzt fast zwei Jahre her,
dass in Hanau ein Mann neun Menschen aus rassistischen Motiven herausgetötet hat.
Und deswegen ist diese Folge, die ja jetzt kurz vor dem Jahrestag rauskommt,
ein Spezial, auch deshalb, weil bis heute noch sehr viele Fragen offen sind.
Obwohl eine lückenlose Aufarbeitung ja eigentlich so wichtig ist.
Das hat uns auch Edris Hashemi erzählt,
der an diesem Tag selbst Opfer des Anschlags wurde und mit uns gesprochen hat.
Er möchte aber aus verständlichen Gründen nicht mehr über die Tat an sich sprechen,
weshalb wir ihn erst später hören werden.
Und weil dieser Fall noch immer so viele Menschen beschäftigt und es noch so viel zu klären gibt,
werden wir uns in dieser Folge ausnahmsweise nur diesem Fall gemeinsam widmen.
Aus fast sieben Metern Höhe blicken Jakob und Wilhelm auf den großen Marktplatz im Zentrum hinab.
Noch heute bewahrt die hessische Stadt, in der sie geboren wurden, das Andenken an die berühmten Brüder Grimm.
Ihr Denkmal ist das Wahrzeichen von Hanau.
Für die knapp 100.000 EinwohnerInnen ein zentraler Versammlungsort,
Für TouristInnen aus aller Welt ein beliebtes Fotomotiv.
Doch wer die Statue am 19. Februar 2021 besucht,
blickt nicht auf die zwei Brüder, die uns Märchen wie Rapunzel und Hänsel und Gretel beschert haben,
sondern auf neun andere HanauerInnen.
Denn in der Mitte des Sockels prangt ein großes weißes Plakat,
das die Fotos von neun jungen Menschen zeigt,
die genau vor einem Jahr schlagartig aus dem Leben gerissen wurden.
Darüber ragt in präzisen schwarzen Buchstaben der Satz
Wir werden euch nicht vergessen.
Say their names.
Und diesem Wunsch von Angehörigen und Freundinnen wollen wir auch heute nachgehen.
Und deswegen bleiben die Namen der Opfer in dieser Folge unverändert,
die des Täters und seiner Familie aber nicht.
6-3-4-5-4
Das sind die Zahlen, die sich sein kleiner Bruder Nessa
für immer unter die Haut stechen lassen will.
Es ist die Postleitzahl ihres Wohnortes Hanau-Kesselstadt.
Und während eine Ziffer nach der anderen Nessers Haut schwarz werbt,
sitzt Edris direkt neben ihm.
Der große Bruder, der auch als Zwilling durchgehen könnte,
obwohl er zwei Jahre älter ist.
Denn beide haben die gleiche Statur, dicke, dunkelbraune Haare,
einen kurzen Vollbart und sanfte, mandelförmige Augen,
die von buschigen Brauen umrandet sind.
Auch Edris lässt sich heute hier in einem Frankfurter Studio tätowieren.
Auf seinem Oberarm landen ebenfalls Zahlen,
und zwar das Geburtsdatum der Mutter in römischen Ziffern.
Familie und Zuhause.
Für Edris und Nessa Hashemi das Wichtigste in ihrem Leben.
Für die zwei, die sich seit Kindheitstagen nicht nur ein Zimmer,
sondern auch Freunde, die Liebe zum Boxen und Klamotten teilen.
Auch wenn Letzteres heute noch immer zu Streitigkeiten führt,
wenn der eine dem anderen mal wieder seinen Lieblingspulli wegschnappt.
Nessa ist es dann, der schnell dafür sorgt,
dass sich die beiden wieder versöhnen.
Eine Eigenschaft, die Edris an seinem kleinen Bruder
neben seiner lustigen Art, seiner Bescheidenheit
und dem Vermögen, in jedem Menschen das Gute zu sehen,
am meisten schätzt und das Zusammenleben mit ihm einfach macht.
Obwohl beide schon 21 und 23 Jahre alt sind,
wohnen sie noch mit ihren Geschwistern und ihren Eltern in der Wohnung in Kesselstadt.
Ein Foto im Wohnzimmer zeigt den ganzen Stolz der Eltern.
Nebeneinander sind dort Edris, Nessa, ihre Schwester und die anderen beiden Brüder zu sehen.
Fünf Kinder plus die Eltern in einer Vierzimmerwohnung.
Doch auch wenn es eng ist, der Platzmangel trügt das Familienglück nicht.
Im Gegenteil, täglich kommen alle sieben am Tisch zusammen.
Dann wird gegessen, sich unterhalten und viel gelacht.
Die Hashemis genießen dieses Ritual, es schweißt sie zusammen.
Doch irgendwann wollen Edris und Nessa das Nest auch mal verlassen,
eine eigene Wohnung kaufen und eine Familie gründen, das ist klar.
Aber sie wissen, dafür müssen sie zielstrebig und fleißig sein
und erst mal ihre Ausbildung abschließen.
Edris, die zum Versicherungskaufmann und sein kleiner Bruder Nessa, die zum staatlich geprüften Techniker,
bei derselben Firma wie ihr Vater.
Deshalb nennt man Nessa dort auch nur den kleinen Hashemi.
So, wie es sich ihr Vater für sie gewünscht hat.
Eine sichere Zukunft in einem sicheren Land.
Genau dafür war er 1987 von Afghanistan nach Deutschland geflüchtet.
Für ein Leben ohne Krieg und Gewalt war er nach Hanau gekommen.
Nach 6, 3, 4, 5, 4 Hanau-Kesselstadt, die für die Hashemis zum Zuhause wurde.
In dem ehemaligen Bauern- und Fischerdorf ist der Migrationsanteil hoch.
Etwa jeder Zweite hat eine Zuwanderungsgeschichte.
Ungefähr ein Viertel keine deutsche Staatsangehörigkeit.
Menschen mit den verschiedensten Wurzeln treffen hier in der Kesselstädter Backstub,
dem kroatischen Restaurant oder dem Dönerimbiss aufeinander.
Man kennt sich, niemand ist wirklich fremd und die wenigsten fühlen sich so.
Doch mitten unter ihnen lebt einer, der gegen genau dieses friedliche, bunte Zusammenleben
ein Hassgefühl entwickelt hat.
Frisch tätowiert wollen Etris und Nessa an diesem Mittwochabend noch in ihre Stammkneipe,
der Arena Bar am Kurt-Schumacher-Platz.
Es ist Februar 2020 und das Coronavirus steht erst kurz davor, Deutschland in den Lockdown zu zwingen.
Deswegen ist die Arena Bar auch an diesem Abend wieder der zentrale Treffpunkt für Jugendliche.
Obwohl die Kneipe eher einem kalten Wohnzimmer gleicht und von manchen BesucherInnen Drecksloch genannt wird,
ist es der Ort, an welchen es die jungen HanauerInnen führt,
wenn das Jugendzentrum um die Ecke schon geschlossen hat.
Auf zwei Flat-Squeens, die an der Wand hängen, läuft Fußball.
Direkt davor steht ein blau-roter Tischkicker um die Ecke Spielautomaten.
Seit Neuestem wird in der Arena Bar auch Champions League gezeigt.
So wie heute, wo Atalanta Bergamo gegen den FC Valencia spielt.
Achtelfinale.
Das wollen sich Nessa und Etris nicht entgehen lassen.
Deswegen haben sich die beiden nach dem Tattoo-Termin in Frankfurt schnell auf den Weg nach Hause gemacht,
um noch etwas zu essen, damit sie rechtzeitig in der Bar ankommen.
An Pfiff ist um 21 Uhr, aber von der Wohnung sind es nicht mal zwei Minuten zu Fuß.
Etris geht schon mal vor, Nessa will gleich nachkommen.
Als Etris vor der Bar ankommt, ständert er erst einmal in den angrenzenden Kiosk.
Der Spätkauf und die Arena Bar teilen sich einen Eingangsbereich und sind über einen Vorraum verbunden.
Deshalb ist es für Etris irgendwie zum Ritual geworden, sich erst ein paar Naschereien im Kiosk zu besorgen
und erst danach hinten in die Bar zu gehen.
So macht er es also auch an diesem Abend.
Als er gegen halb neun dann in die Arena Bar geht, sind seine Kumpels Hamza und Mohamed,
den hier alle nur Momo nennen, schon da.
Beide kennt Etris schon seit Jahren.
Mit Nessa und Peter ist die Runde etwas später dann auch vollzählig.
Und so bestellen die Männer Pizza, quatschen und verfolgen, wie der Ball von links nach rechts
und von rechts nach links über das Spielfeld gekickt wird.
Zweieinhalb Kilometer entfernt von der Arena Bar sucht ein junger Mann gerade einen Parkplatz
für seinen silbernen Mercedes.
Seinen Lieferwagen, wie Willi Viorel Pown ihn nennt.
Der Mann mit den freundlichen, haselnussbraunen Augen, den lässig nach oben gestylten Haaren
und dem Drei-Tage-Bart fährt jeden Tag damit Pakete aus.
Eigentlich wollte Willi eine Ausbildung zum Fliesenleger machen, hat die aber erstmal auf Eis gelegt,
um seine Eltern finanziell zu unterstützen.
Bei denen wohnt der 22-Jährige nämlich noch.
Für eine bessere Zukunft waren die Powns damals von Rumänien nach Deutschland gekommen.
Ihr Herkunftsland hat ihnen nicht das geboten, was sie sich erhofft hatten.
Vor allem nicht für Willi.
Rumänien ist zwar ihr Land, doch nicht ihr System.
So sieht es vor allem Vater Niculescu, für den Korruption und andere Probleme ausschlaggebend waren, auszuwandern.
Hier in Deutschland hat Willi jetzt die Möglichkeit, etwas aus sich zu machen.
Und das ist auch sein Plan.
Später will er mal Lebensmitteltechniker werden und eine Familie gründen.
Und zumindest von Letzterem scheint er nicht mehr weit entfernt.
Seit kurzem hat Willi nämlich eine Freundin, von der er den ganzen Tag schwärmt.
Papa, ich mache für dich und für Mama nicht ein Kind, sondern mehrere, weil ich immer alleine war, hat Willi seinem Vater versprochen.
Tatsächlich hatten Vater Niculescu und Mutter Julia noch lange versucht, ein weiteres Kind zu bekommen.
Leider hatte es aber nicht geklappt.
Deshalb ist Niculescu jetzt begeistert von Willis Plänen und kann es kaum erwarten, Großvater zu werden.
Dann müsste Willi aber aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen, in deren Nähe er gerade parken will.
Doch plötzlich knallt es ohrenbetäumt laut.
Etwas hatte Willis Mercedes getroffen.
Dann nochmal und wieder.
Der 22-Jährige starrt erschrocken aus dem Fenster.
Vor ihm steht ein Mann mit einer Waffe in der Hand, der anfängt, die Straße runterzurennen.
Und da fasst Willi einen folgenschweren Entschluss.
Wenige Minuten zuvor, nur einige Meter entfernt.
Multikulti, gute Leute.
Viel Spaß, gute Musik, nette Bedienung, schreibt ein Besucher bei Google Reviews über die La Votre Bar am Hanauer Heumarkt,
in der man nach Feierabend zu Flaschenbier am Automaten sein Glück versuchen und auf mindestens drei richtige hoffen kann.
Doch dazu kommt es an diesem Abend nicht mehr.
Denn um 21.55 Uhr kommt ein Mann die vier Stufen zur Bar herauf, zieht seine Waffe und schießt ohne jede Vorwarnung auf den Mann mit rasiertem Kopf und braunen Augen, der hinter dem Tresen steht.
Das Opfer ist Karl-Jan Velkov, ein 33-jähriger LKW-Fahrer aus Bulgarien, der erst seit zwei Jahren in Deutschland lebt.
Um Geld für die teure Augen-OP seines achtjährigen Sohnes zu verdienen, jobbt er nebenbei im La Votre für 50 Euro am Tag.
Als die Kugeln im Sekundentakt durch die Luft jagen, versucht Karl-Jan in Deckung zu gehen.
Doch eine faire Chance bleibt ihm nicht.
Der fremde Mann trifft ihn viermal und Karl-Jan verblutet.
Danach rennt der Mann aus der Kneipe.
Draußen stößt er auf Fatish Saracul-Glu, der gerade auf dem Nachhauseweg ist und am Straßenrand eine Zigarette raucht.
Fatish wurde in der Türkei geboren.
Aufgewachsen ist er in Regensburg.
Nach Hanau kam er schließlich, um sich als Kammerjäger selbstständig zu machen.
Dunkle Haare, braune Augen, südländischer Teint, Vollbart.
Auch auf ihn zieht der Mann und trifft viermal.
Das nächste Ziel des Schützen ist die Shisha-Bar Midnight, die direkt neben dem La Votre liegt.
Als er die Türschwelle nur zwei Hausnummern weiter betritt, visiert er Sadat Gürbüs an.
Der 29-Jährige ist nur im Midnight, um sich von seinen ehemaligen KollegInnen zu verabschieden.
Sadat hatte die Bar nämlich erst kurz vorher verkauft.
Ein Kopfschuss trifft ihn tödlich.
Der Mann macht wie der Kehrt und als er auf der Straße steht, entdeckt er Willi in seinem silbernen Mercedes, schießt auch auf ihn und rennt zu seinem Auto.
Willi, der nicht getroffen wurde, legt den Rückwärtsgang ein und nimmt die Verfolgung auf.
Zweieinhalb Kilometer rast er nun hinter einem schwarzen Vierer-BMW her.
Es geht Richtung Hanau-Kesselstadt.
Während der Verfolgungsjagd wählt Willi die 110, um Hilfe zu rufen.
Doch am anderen Ende ertönt keine Gegenstimme.
21.57 Uhr.
Willi kommt nicht durch.
Er erreicht die Beamtinnen einfach nicht.
110 tippt er wieder in sein Handy und wieder hebt niemand ab.
21.58 Uhr.
21.59 Uhr.
In der Aufregung kommt er zweimal auf die falschen Zahlen, verwehlt sich.
Und dann bremst der BMW auf einmal, wird langsamer und hält an.
Nach zweieinhalb Kilometer sind sie nun auf einem großen Parkplatz angekommen, mitten am Kurt-Schumacher-Platz.
Vor Willi leuchtet jetzt die Reklame-Tafel der Arena-Bar in bunten Buchstaben.
Der Mann vor ihm steigt aus, stellt sich vor Willis Fensterscheibe, zielt und drückt viermal ab.
Dieses Mal trifft er.
In Willis Brust, in die Schulter, in die Stirn.
Gerade ist Halbzeit bei Atalanta Bergamo gegen FC Valencia, als Etris es viermal laut knallen hört.
Was ist das? Es ist doch Februar und Silvester schon längst vorbei, denkt Etris.
Das hört sich nicht gut an, sagt er zu seinen Kumpels in der Arena-Bar und dreht sich Richtung Eingangsbereich, um zu schauen, was da vor sich geht.
Und da sieht er ihn.
Einen Mann mit Waffe, direkt im Eingangsbereich.
Als der Richtung Kiosk geht, schaut er Etris direkt in die Augen.
Dann bricht Panik in der Bar aus.
Denn wegen der durchgängigen Wand zwischen den zwei Räumen können Etris und seine Freunde genau hören, was im Kiosk nebenan passiert.
Gökhan Gültekin wird als erstes von den Schüssen des Mannes getroffen.
Ihn nennen hier in Kesselstadt alle nur Gogo.
Ein Mensch, der immer gerne für jeden da ist, seine Familie eng beisammen hält und jeden optimistisch stimmt.
Der 37-Jährige hat normalerweise für jede Lebenslage einen Plan B, doch an diesem Tag wird ihm jeder Ausweg genommen.
In sechs Sekunden schießt der Täter fünfmal.
Gogo treffen zwei Kugeln, eine ins Herz, eine in den Kopf.
Auch Mercedes Kierpatsch wird zweimal getroffen.
Sie ist 35, Mutter von zwei Kindern.
Unglaublich offen und sympathisch.
Sie arbeitet in dem Kiosk, doch auch wenn sie nicht dort aushilft, ist sie oft da.
Einfach so, zum Abhängen.
Dann dreht sie die Musik laut auf, lacht und tanzt ausgelassen.
Heute Abend ist sie nur kurz im Kiosk vorbeigekommen, um für ihre Kinder etwas zu essen zu besorgen.
Nun verletzt eine Kugel Mercedes Organe, die andere durchtrennt ihre Halsschlagader.
Die letzte Patrone trifft Ferhat unwahr.
Er ist 23 Jahre alt.
Vor etwa zwei Wochen hat er seine Lehre zum Heizungsinstallateur abgeschlossen.
Ferhat ist tiefgründig, fast philosophisch, sagt sein Umfeld.
2015 postet er auf Facebook, tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.
An diesem Abend hat Ferhat selbst gerade erst den Kiosk betreten.
Und nun, sechs Minuten später, durchbohrt eine Patrone seine Leber, eine Niere und die Wirbelsäule.
Er schafft es noch, sich über den Boden zu ziehen und hinter die Theke zu kriechen.
Dort holt er sein Handy aus der Tasche und mit seinem letzten Atemzug raunt er auf Türkisch.
Ich brenne, ich brenne.
Während die Schüsse noch durch den Kiosk dröhnen, rennen Etris und seine Kumpels in der angrenzenden Arena-Bar Richtung Tresen,
obwohl es einen Notausgang gibt.
Doch weil der immer verschlossen ist, ist die Theke jetzt gerade die einzige Option, um nicht mitten im Schussfeld zu stehen.
Doch hinter der Theke geht es für die jungen Männer nicht weiter.
Der Raum ist eine Sackgasse und damit sind sie dem Täter hilflos ausgeliefert, der jetzt die Bar betritt.
Den letzten Schutz finden die fünf hinter einer Säule.
Alle pressen sich dahinter, Körper an Körper.
So versuchen sie sich abzuschotten, indem sie eine Reihe bilden.
Etris steht ganz vorne, drückt seinen Bauch gegen den kalten Putz.
Hinter ihm Momo, dann sein kleiner Bruder Nessa.
Dahinter Peter und Hamza neben ihm.
Und dann kommt er.
Gerade einmal neun Sekunden hatte der Täter gebraucht, nebenan drei Leben auszulöschen.
Und jetzt läuft er in den hinteren Teil der Bar Richtung der Säule.
Aus nächster Nähe feuert er 16 Schüsse auf Etris und seine Freunde ab.
16 Mal knallt es Mark erschütternd laut.
Immer wieder erwischt der Mann die Säule.
Etris wundert sich.
Wieso treffen ihn keine Schüsse?
Wieso wird er nicht verwundet?
Ist das vielleicht doch alles nur ein schlechter Scherz?
Etris nimmt all seinen Mut zusammen und späht für einen Bruchteil einer Sekunde um die Säule herum.
Sein Blick fällt direkt in das Gesicht des Angreifers.
Und da erkennt er in dessen weit aufgerissenen Augen etwas.
Es ist der pure Hass.
Der Mann zeigt seine Zähne und presst sie aggressiv aufeinander.
Die Patronen donnern weiter gegen die Säule,
so dass sich ganze Stücke von ihr lösen,
als der Täter den fünf jungen Männern immer näher kommt.
Schutz bietet die Säule jetzt kaum noch jemandem.
Die Freunde springen daher in Verzweiflung hinter den Tresen,
drängen sich nebeneinander,
bis sie keinen Halt mehr haben und umfallen.
Einer über den anderen.
Der Schütze steht jetzt auf der anderen Seite der Theke und feuert von oben auf die am Boden liegenden.
Bis die Schüsse verstummen und sich Schritte entfernen.
Der erste, der sich regt, ist Etris.
Er liegt immer noch unter der Theke, wo er jetzt sein Handy aus der Tasche zieht.
Immer noch in Schockstarre wählt er die Nummer der Polizei.
Einmal, zweimal.
Doch niemand nimmt ab.
Dann wählt er die 112.
Und endlich kann er jemanden verständigen.
Er erzählt dem Menschen, am anderen Ende der Schüsse gefallen sind,
es Verletzte und sogar Tote gibt.
Hier in der Arena-Bar, mitten in Hanau-Kesselstadt.
Während Etris telefoniert, merkt er, dass seine Zunge taub wird und er zu nuscheln beginnt.
Er nimmt sein Handy vom Ohr und schaut es an, sieht, dass der Bildschirm mit Blut überzogen ist.
Erschrocken wirft er es zur Seite.
Zu der Seite, auf der sein Freund Momo liegt, dessen Schulter blutet.
Etris wirft ihm einen ernsten Blick zu und sagt,
Momo, schau mich an, du musst jetzt ehrlich sein.
Wurde ich auch getroffen.
In diesem Moment fühlen sich Momos Augen mit Tränen.
Und gerade noch so bringt er,
Dein Hals blutet, über seine Lippen.
Etris tastet danach.
Seine ganze Hand ist voller Blut.
Irgendwo in dem Chaos hinter der Theke findet er einen Pulli.
Etris greift nach ihm.
Dann helfen sich die Freunde gegenseitig.
Etris hält Momos Schulter.
Dafür drückt Momo auf den improvisierten Pulliverband auf Etris' Hals.
Und dann, wie aus dem Nichts, steht auf einmal Peter vor ihm.
Unverletzt.
Peter zieht Momo unter der Theke hervor.
Aus eigener Kraft schafft er es nicht mehr.
Dann ruft Peter,
Wir müssen hier raus, schnell, bevor er wiederkommt.
Etris nimmt all seine Kräfte zusammen und steht auf.
Er kann jetzt nicht einfach hier liegen und sterben, denkt er.
Und die anderen auch nicht.
Vielleicht braucht ja noch jemand Hilfe.
Etris geht um die Theke herum.
Da fällt sein Blick als erstes auf Hamza.
Er liegt auf dem Boden, zweifach getroffen.
Daneben entdeckt Etris seinen kleinen Bruder Nessa.
Auch er ist verletzt und regungslos.
Etris rennt zum Kiosk nebenan.
Kann er da jemandem helfen?
Er sieht auch da drei Menschen leblos auf dem Boden liegen.
Einer von ihnen ist Ferhat.
Ein Freund von Etris, den er schon seit der Grundschule kennt.
Dann läuft er weiter nach draußen, an die frische Luft.
Sein Blick fällt auf einen silbernen Mercedes mit Einschusslöchern und kaputter Frontscheibe,
der direkt vor der Bar steht.
Das müssen die Schüsse gewesen sein, denkt er.
Das Knallen, das wir von draußen gehört haben.
Hunderte kleine Scherben liegen quer über den ganzen Asphalt verstreut.
Etris rennt hin und sieht hinein.
Hinter dem Steuersitz zusammengesackt ein junger Mann.
Auch er ist verwundet.
Einen Schuss in die Brust, einer in die Schulter und einer mitten in seine Stirn.
Und Etris realisiert, dass er hier nicht mehr helfen kann.
Er lehnt sich gegen den Wagen, dessen Motor noch läuft.
Seine Kräfte schwinden.
Fest drückt er auf seinen Hals.
Inzwischen spürt er seine Zunge gar nicht mehr.
Etris verharrt dort und wartet nun selbst auf die Hilfe, die er gerufen hat.
Doch als die BeamtInnen endlich eintreffen, ist Etris überrascht.
Sie kommen ihm nervös und zittrig vor.
Einer von ihnen betritt die Arena-Bar, kommt wieder raus und übergibt sich bei dem Anblick dessen,
was ihn drinnen erwartet hat.
Später wird Etris im Spiegel erzählen, dass es an diesem Tag lange dauert,
bis er endlich medizinisch versorgt wird.
Dass ihm das Sprechen von Minute zur Minute schwerer fällt,
und er zu nuscheln beginnt.
Und dass nach und nach Polizeiwagen, Hubschrauber und Einsatzkräfte anrücken,
aber niemand, der ihm helfen kann.
Sieht nach einem Streifschuss aus, sagt einer der Polizisten.
Etris schöpft Hoffnung.
Vielleicht ist es dann ja doch nicht so schlimm.
Als endlich ein Krankenwagen kommt, wird Etris von den Rettungskräften abgetastet.
Ein Schusswunde Hals und dann keine Austrittswunde.
Die Kugel ist noch drin.
Etris wird auf einer Trage befestigt.
Dann schreit plötzlich jemand.
Der Täter ist wieder da.
Und von einer auf die andere Sekunde verschanzen sich alle.
Teilweise hinter seiner Trage, auf der Etris festgebunden liegt.
Mit dem Blick zur Arena-Bar.
Ein Fehlalarm.
Doch bis der Krankenwagen mit Etris, dessen Kräfte weiter und weiter schwinden,
endlich losfährt, vergehen wichtige Minuten.
Dabei ist Etris' Gesundheitszustand kritisch.
Die Kugel steckt noch immer in seinem Hals.
Eine andere hat seine Schulter verletzt.
Im Krankenhaus zieht man ihm die Schuhe aus.
Dann wandert eine Spritze in seinen Armen.
Wir legen dich jetzt schlafen, hört Etris noch.
Und dann ist es, als hätte jemand den Horrorstreifen, der gerade lief, ausgeknipst.
Während rund um die Arena-Bar immer noch Chaos herrscht
und die Angehörigen um das Leben ihrer Liebsten bangen,
melden sich mehrere ZeugInnen bei der Polizei.
Sie haben den Täter gesehen, wie er in ein Auto gestiegen ist
und sich das Kennzeichen gemerkt.
Darüber kommen die Beamtinnen an einen Namen.
Stefan S.
Und an eine Adresse.
Sofort macht sich die Polizei auf den Weg
zu dem terracottafarbenen Reihenhaus in Hanau-Kesselstadt.
Doch erst circa vier Stunden später
verschaffen sich Einsatzkräfte Zugang zum Gebäude.
Darin treffen sie als erstes auf den Vater des Gesuchten.
Er steht im Flur und ahmt Schießbewegungen nach,
ruft dann zweimal die 110,
obwohl die Einsatzkräfte ja in seinem Haus sind,
und berichtet denen von einem Terroranschlag mit großer Detonation.
Während der augenscheinlich verwirrte Mann befragt wird,
findet das Einsatzkommando in einem anderen Zimmer
die Leiche einer 72-jährigen Frau.
Es ist die Mutter von Stefan.
Im Keller des Hauses entdeckt man schließlich auch den Gesuchten.
Er liegt am Boden.
Stefan hatte zunächst seine Mutter und dann sich selbst erschossen.
Er selbst kann der Polizei also nicht mehr erklären,
warum er an diesem Abend innerhalb von nur wenigen Minuten
so viele Menschen getötet hatte.
Doch die Dateien auf seinem PC
zeichnen noch in dieser Nacht ein sehr klares Bild davon,
was Stefan angetrieben hatte.
Stefan S. wird 1977 in Hanau geboren,
geht hier zur Schule und spielt Fußball im Verein.
Schon früh fällt er mit seinem Verhalten auf.
Ein Eintrag in der Abi-Zeitung liest sich so.
Nach dem Abi macht Stefan eine Lehre zum Bankkaufmann.
Anschließend studiert er BWL in Bayreuth.
Die angestrebte Karriere scheint zu funktionieren,
doch Weggefährten hat Stefan nicht.
Keine engen Freunde, keine Partnerin.
Stefan bleibt allein.
Auch als er irgendwann zum Arbeiten in verschiedene Städte zieht.
Als er 2019 wegen mangelhafter Leistungen
bei einer Softwarefirma gekündigt wird,
kehrt er nach Hanau zurück,
zieht in den Keller des Elternhauses
und hilft seinem Vater,
die an Parkinson erkrankte Mutter zu pflegen.
Wenn er sich da nicht gerade um seine Mutter kümmert,
geht Stefan unter anderem schießen.
Seit 2013 hat er eine Waffenbesitzkarte.
Für die Ausübung des Hobbys des sportlichen Schießens
hatte er dort als Zweck angegeben.
Doch der eigentliche Zweck wird deutlich,
als die Ermittlenden nun Stefans PC durchsuchen.
Denn dort finden sie ein 24-seitiges Dokument,
das seine abscheuliche und groteske Sicht
auf die Welt erkennen lässt.
In dem Pamphlet,
das Stefan auf seiner Website hochgeladen hatte,
vermittelt er ein rassistisches,
islamfeindliches, antisemitisches
und von verschiedenen Verschwörungstheorien
geprägtes Weltbild.
Er schreibt beispielsweise,
dass er schon als junger Mann erkannt habe,
dass das, Zitat,
schlechte Verhalten bestimmter Volksgruppen
ein Problem sei
und über Menschen mit Migrationshintergrund,
dass diese, Zitat,
äußerlich instinktiv abzulehnen seien
und sich, Zitat,
zudem in ihrer Historie
nicht als leistungsfähig erwiesen hätten.
Umgekehrt habe er sein eigenes Volk
als ein Land kennengelernt,
Zitat,
aus dem das Beste und Schönste entsteht
und herauswächst,
was diese Welt zu bieten hat.
Als Lösung für die Probleme,
die andere Völker verursachen würden,
schlägt Stefan vor,
Teile der Menschheit zu vernichten
und setzt sich diese Mission
selbst zum Ziel.
Wegen des Verdachts auf einen
ausländerfeindlichen Hintergrund
und der besonderen Bedeutung der Tat
werden die Ermittlungen noch am Morgen
des 20. Februars
an die Bundesanwaltschaft Karlsruhe übergeben.
Denn jetzt ist klar,
die Opfer wurden aufgrund ihres
erkennbaren Migrationshintergrunds
ausgewählt.
Am Abend des 19. Februar
ist Julia gerade dabei,
ein Schnitzel für ihren Sohn Willi
zuzubereiten,
als ihr Mann Niculescu es draußen
viermal knallen hört.
Das sind Schüsse, sagt er zu seiner Frau,
doch Julia meint,
dass es sowas in Deutschland nicht gäbe.
Nico muss sich zurückhalten
mit seinem Appetit,
für Willi soll immerhin was übrig bleiben,
wenn er von der Arbeit nach Hause kommt.
Die Pounds gehen wie jeden Abend
gegen 22 Uhr ins Bett.
Am nächsten Tag müssen sie wieder früh raus,
bevor sie zur Arbeit
in den Supermarkt müssen.
Vater Niculescu fährt dort Stapler
und Mutter Julia sortiert die Waren ein.
Doch als Nico am nächsten Morgen
das Zimmer seines Sohnes betritt,
ist das Bett noch immer leer.
Nico hat sofort ein seltsames Gefühl,
versucht Willi mehrmals anzurufen
oder ihn über den Messenger zu erreichen.
Doch Willi antwortet nicht.
Als Nico und Julia auf dem Weg zur Arbeit sind,
wird im Radio ein Beitrag gesendet,
in dem erzählt wird,
dass es gestern in Hanau
einen rassistischen Anschlag gab.
Nico dreht das Radio lauter,
kann nicht glauben, was er da hört.
Er übersetzt seiner Frau,
die kaum Deutsch spricht,
was gerade erzählt wird.
Danach versucht er wieder,
seinen Sohn zu erreichen.
Um 11 Uhr hält er es dann nicht mehr aus
und erzählt seinem Chef,
dass Willi gestern Abend
nicht nach Hause gekommen ist.
Geh sofort zur Polizei,
sagt er.
Wenig später stehen Nico und Julia
in der Polizeistation am Marktplatz.
Über eine Stunde verbringen sie dort mit Warten,
nur damit man ihnen erzählt,
dass sie zu einer anderen Polizeistation
am Freiheitsplatz gehen sollen.
Diese Station ist voll mit Menschen.
Menschen, die traurig,
aufgewühlt und verzweifelt sind,
die weinen und nicht weiter wissen.
Was ist passiert?
Was ist los?
Fragt Julia ihren Mann.
Die beiden nennen den PolizistInnen
Willis Daten und sein Autokennzeichen.
Eine weitere Stunde vergeht,
bis sie von jemandem
in ein Zimmer gebeten werden.
Es tut mir leid,
ihr Sohn ist gestern bei dem Attentat
am Kurzschuhmacherplatz gestorben.
Dann werden sie nach Hause geschickt.
Was macht man,
wenn sein Kind tot ist?
Wo geht man dann hin?
Wohin mit sich selbst?
Auch Nico und Julia fragen sich das.
Vom Kurzschuhmacherplatz
haben die beiden noch nie gehört.
Was hat Willi da gemacht?
Es ist 20 Uhr,
als Nico entscheidet,
zu dem Platz zu gehen,
um dort eine Kerze für Willi anzuzünden.
Eine von vielen,
die an diesem Abend
für die Opfer brennen.
Dort kommt Nico
mit anderen Angehörigen ins Gespräch.
Wo warst du bis jetzt?
Wo warst du?
Vor einer halben Stunde
ist dein Sohn von hier weggebracht worden.
Was für eine Familie seid ihr?
Sagt einer.
Nico und Julia hatten keine Ahnung.
Sie sind nur für eine Kerze hergekommen.
Auf der Polizeistation hatte man ihnen erzählt,
dass ihr Sohn schon zur Obduktion gebracht wurde.
Und jetzt erfahren sie von einem aufgebrachten Mann,
dass Willi bis eben hier tot in seinem Auto lag.
wieder angeknipst.
Nach zwei Tagen ist Etris plötzlich wieder da
und der Film läuft weiter.
Schläuche hängen an ihm dran.
Reden geht nicht.
Etris ist jetzt auf der Intensivstation
im Frankfurter Uniklinikum.
Dort erfährt er,
dass die Kugel rausoperiert wurde.
17 Stunden steckte sie in seinem Kopf.
Eigentlich ist er jetzt in Sicherheit,
in Obhut der Ärzte schafft.
Doch sicher fühlt sich Etris nicht.
Er hat schlimme Flashbacks.
In einer Nacht wird im Krankenhaus etwas auf eine Rampe geladen.
Es knallt.
Etris schreckt sofort hoch,
will sich unter seinem Bett verstecken.
Noch immer kann er nicht sprechen.
Deshalb reicht man ihm ein Klemmbrett,
auf dem er etwas notieren kann.
Etris schreibt genau ein Wort.
Fünf Buchstaben und ein Fragezeichen.
Die Frage, die ihn die letzten Stunden
am meisten beschäftigt hat.
Nessa.
Die ÄrztInnen erklären ihm,
sein Bruder sei hier,
auf der Intensivstation.
Sein Zustand sei kritisch.
Etris stutzt kurz.
So wie er seinen Bruder dort
in der Arena-Bar hatte liegen sehen,
dachte er, er sei tot.
Doch jetzt ist er beruhigt.
Nessa lebt
und in Etris macht sich Erleichterung breit.
Ein paar Stunden später.
Etris liegt in seinem Krankenbett
und spielt an der Fernbedienung dafür rum.
Plötzlich hört er eine Stimme.
Er hatte aus Versehen das Radio eingeschaltet.
Es ist Bundespräsident Frank-Balter Steinmeier,
der auf dem Marktplatz in Hanau
eine Mahnwache für die Opfer gehalten hatte.
Was geschehen ist, das ist furchtbar,
denn geschehen ist,
was wir alle doch zutiefst fürchten,
geliebte Menschen zu verlieren, nämlich.
Nichts kann uns den Schmerz um sie nehmen.
Und dann hört Etris,
wie im Radio die Namen der Opfer
des rassistischen Anschlags vorgelesen werden.
Und dann realisiert Etris,
dass Frank-Walter Steinmeier recht hat.
Nichts kann ihm den Schmerz nehmen.
Sein kleiner Bruder ist tot.
Die Ärztinnen und seine Eltern hatten ihn angelogen,
damit sein Schmerz,
seine Heilung nicht im Weg steht.
In Hanau herrscht derweil Ausnahmezustand.
Die Gewissheit,
dass Menschen nur aufgrund ihrer Rassifizierung
kaltblütig erschossen wurden,
trifft mitten ins Herz.
Am Wochenende bekunden Tausende
öffentlich ihr Mitgefühl und ihre Bestürzung,
gedenken den Opfern
und wollen ein Zeichen setzen,
Flagge zeigen gegen Rassismus.
Gemeinsam laufen die Menschen die Route vom Kurt-Schumacher-Platz
bis in die Hanauer Innenstadt,
bis zum Marktplatz,
auf den Wilhelm und Jakob Grimm,
von oben nun nicht auf Fotos schießende TouristInnen,
sondern auf Blumen, Grabkerzen und Fotos hinabblicken,
die fast den ganzen Boden bedecken.
Bei der Kundgebung vor Ort
meldet sich der Oberbürgermeister Klaus Kaminski zu Wort
und erklärt,
die Tage und Stunden sind zu Friedenszeiten,
die schwärzesten und dunkelsten,
die unsere Stadt je erlebt hat.
Und wendet sich danach direkt an die Angehörigen.
Ihr seid nicht alleine.
Wir können euren Schmerz natürlich nicht lindern,
aber ein klein wenig Trost können wir spenden.
Die Zeitungen sind voll mit den Bildern der Trauernden.
Und in Deutschland gibt es für kurze Zeit
nur das eine Thema.
Kannst du dich noch daran erinnern,
an den 19. Februar oder beziehungsweise an den 20.
Also jetzt nicht so in dem Sinne von,
ich weiß noch genau, wo ich war,
als ich davon erfahren habe,
so wie man das mit anderen Terroranschlägen oder so hat,
was eigentlich ja auch schlimm ist.
Weil dadurch,
dass es davor schon einige solcher Anschläge gab,
hat man nicht mehr dieses Schockgefühl.
Und das ist ja ganz schlimm eigentlich,
dass das nicht normal geworden ist,
aber dass man das wahrnimmt natürlich noch
und auch noch wahrnimmt,
wie das so war in der Zeit,
aber dass man jetzt nicht mehr sich genau
an diesen Moment erinnert,
wo man davon erfahren hat.
weil es für uns,
weil es für uns,
die nicht in Hanau wohnen,
nicht diesen Bezug dann hat.
Ja, und dadurch,
dass eben der Anschlag von Halle auch nicht so lange her war,
war das für mich persönlich auch dann in der Zeit danach relativ schwierig,
das auseinanderzuhalten,
obwohl das ja ganz andere Taten auch waren sozusagen.
Und ich ehrlicherweise da im Februar 2020
nicht so viel davon mitbekommen habe.
Also was ich noch weiß,
dass man am Anfang,
und vielleicht ist es mir auch deswegen nicht so hängen geblieben,
man wirklich teilweise noch so von Shisha-Morden
oder von Klagenkriminalität gehört hat.
Was ja auch in den Medien dann war.
Ja, ja, genau.
Und deswegen,
also mir war das am Anfang nicht so klar,
dass es ein rassistisches Attentat jetzt ist.
Und das haben im Nachhinein ja auch Angehörige stark kritisiert,
dass die Medien in der ersten Berichterstattung so getan haben,
als wären das Zitat,
das habe ich aus diesem Spotify-Podcast 1902-20,
dass da ein Angehöriger sagt,
das waren da die Kanacken unter sich.
So hat er die Berichterstattung damals wahrgenommen.
Ja, das ist richtig schlimm.
Also ich hatte auch das Gefühl,
dass sich das aber relativ schnell gewendet hat,
als dann klar war,
dass Rassismus das Motiv des Täters auch war,
dass man sich auch als Presse da zusammengerissen hat
und so eine öffentliche Debatte dann geführt wurde,
wie und über wen man eigentlich berichten sollte.
Und dass man sich dann schon bemüht hat,
auch die richtigen Begriffe zu benutzen
und dass man eben eher zum Beispiel von Rassismus spricht
als von Fremdenfeindlichkeit.
Ja, das weiß ich auch noch.
Genau, dass da, also dass unter anderem diese Tat
auch erstmal darauf aufmerksam gemacht hat,
dass man dieses Wort Fremdenfeindlichkeit nicht benutzt,
weil es keine Fremden sind.
Ja.
Genau.
Aber ansonsten muss man ja einfach sagen,
dass generell auch gar nicht so viel Augenmerk darauf gelegt wurde,
weil einfach eben danach Corona kam.
Und dann war das das Thema,
was ja bis heute auch immer noch über allem schwebt
und was einfach alles andere so weggeschwemmt hat
aus dem öffentlichen Interesse.
Viele Angehörige und Überlebende des Hanauer Anschlags
haben durch Corona und die Berichterstattung über das Virus
jetzt natürlich Sorge,
dass die Tat und damit auch ihre Aufarbeitung
nicht nur in der Öffentlichkeit in den Hintergrund rutscht.
Und deshalb wird am 6. März die Initiative 19. Februar Hanau gegründet.
Mit dem Ziel, die Namen der Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen
und dafür zu kämpfen, das Verbrechen aufzuarbeiten,
um andere zu verhindern.
Die Tat aufzuklären ist auch der Auftrag der Bundesanwaltschaft.
Dazu wenden sie sich unter anderem an den renommierten
forensischen Psychiater Henning Saß.
Er soll ein Gutachten erstellen,
das Auskunft über Stephans Psyche geben soll.
Denn wenn man die Website von ihm genauer unter die Lupe nimmt,
bemerkt man, dass ihn nicht nur Rassismus
und rechtsextremes Gedankengut umgetrieben haben.
Vielmehr wird anhand von Stephans Dateien
auch sein Blick auf sich selbst klar.
In seinem Pamphlet steht nämlich,
dass er sich schon von Geburt an
von einem großen Geheimdienst überwacht fühlt
und dieser in der Lage sei,
sich in die Gehirne von Menschen einzuklinken
und sie bis zu einem gewissen Grad fernzusteuern.
Dass er in der Liebe bisher kein Glück hatte,
ist seiner Ansicht nach übrigens auch bewusst
von dieser Geheimorganisation gesteuert.
In diffusen Online-Videos erklärt Stephan der Welt
seine abstrusen Theorien
und gibt sich leidenschaftlich Verschwörungstheorien hin.
Beispielsweise warnt er US-AmerikanerInnen
vor unterirdischen Militärbasen,
in denen der Teufel persönlich angebetet würde
und kleine Kinder missbraucht,
gefoltert und getötet würden.
Er rät dem deutschen Volk außerdem,
dass man um die Welt vor dem Leid
der vergangenen Jahrhunderte zu bewahren,
eine Zeitschleife fliegen
und die Erde in der Vergangenheit zerstören müsste.
Alles klar!
Und diese Ideen sind tatsächlich nicht neu.
Schon Anfang der 2000er Jahre
stellt Stephan bei der Polizei eine Anzeige,
weil er durch die Wand und durch die Steckdose
abgehört, belauscht und gefilmt werde.
Daraufhin diagnostiziert ihm ein Amtsarzt
auch eine Psychose aus dem schizophrenen Formkreis
und spricht sich für die sofortige Unterbringung
in einem psychiatrischen Krankenhaus aus.
Daraufhin rammt Stephan einen Polizisten mit dem Kopf
und stürmt aus dem Zimmer.
In Handschellen wird er ins psychiatrische Krankenhaus eskortiert.
Mithilfe eines Anwalts verlässt er dieses allerdings
schon am selben Abend wieder.
So bleibt Stephan unbehandelt.
Fünf Jahre später greift er dann einen Wachmann an.
Doch auch dafür gibt es keine Konsequenzen.
Genauso wenig wie für die Waffen,
die sich Stephan ab 2013 legal beschaffen kann,
weil sein Antrag auf die Waffenbesitzkarte
nicht ordentlich geprüft wird.
Nach dem Sichten des Pamphlets und anderer Unterlagen
kommt der forensische Psychiater Sass
auf über 140 Seiten letztendlich zu dem Schluss,
dass bei Stephan klare Anzeichen
einer paranoiden Schizophrenie zu erkennen sind.
Wir hatten ja schon mal eine eigene Folge zu dem Thema.
Trotzdem nochmal hier zur Einordnung.
Die paranoide Schizophrenie ist die verbreitetste Form einer Schizophrenie.
Generell ist das Krankheitsbild sehr komplex und vielfältig.
Heißt, es gibt nicht die eine typische Psychose.
Aber mehrere Symptome tauchen immer wieder auf.
So zum Beispiel akustische Halluzinationen,
bei denen die Betroffenen Stimmen hören,
die ihnen beispielsweise Befehle erteilen.
Auch der Wahn kommt nicht selten vor.
Hierbei entwickeln Betroffene falsche Vorstellungen,
die von der Realität stark abweichen.
Fühlen sich zum Beispiel verfolgt, überwacht oder kontrolliert,
so wie das auch Stephan berichtet hat.
Die Betroffenen sind so überzeugt von ihren Vorstellungen,
dass sie unbeirrbar daran festhalten,
auch wenn man ihnen ganz klare, logische Beweise für das Gegenteil darlegt.
Zudem erleben sie sich häufig selbst und ihre Umwelt unwirklich und fremd.
Experten sprechen dann da von einer Ich-Störung,
wo dann sozusagen die Grenzen zwischen dem Ich und dem Umfeld verschwimmen.
Laut der forensischen Psychiaterin Dr. Nala Samin,
mit der wir für diese Folge gesprochen haben,
ist es aber ganz wichtig, festzuhalten,
dass die psychiatrische Erkrankung des Täters
nicht das einzige Problem, nennen wir es mal, war,
sondern er eben auch eine eindeutige Gesinnung hatte.
Es kommt eben eindeutig hinzu,
ein rechtsextremistisches Gedankengut,
ein völkisch-extremistisches, rassistisches Gedankengut.
Das ist ja zunächst mal keine Erkrankung,
das ist eine politische Überzeugung,
die sich aus verschiedenen Gründen und Ursachen bei jemandem entwickelt.
Aber hier kommt es sozusagen zu einer Überlagerung
von schizophrener Symptomatik
und von einer persönlichen ideologischen Aufhängung.
Und darüber hinaus gibt es eine doch beträchtliche
narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Also jemand, der sich selber sehr aufwertet,
sehr aggrandisiert, sehr grandios sieht,
seine Volksgemeinschaft sehr grandios sieht,
der sich überlegen fühlt über andere Menschen
und dadurch im Grunde seinen Selbstwert stabilisiert
und auf der anderen Seite in seinem Leben ja scheitert.
Er hat keine Intimbeziehungen,
er ist beruflich nachher nicht mehr erfolgreich gewesen.
Das heißt, es gibt den sogenannten Knick in der Lebenslinie,
im Übrigen auch ganz typisch für Menschen mit einer Schizophrenie,
sodass sich bei diesem Attentäter in der Tat
drei Auffälligkeiten ergeben.
Zwei Auffälligkeiten im Bereich der psychiatrischen Diagnose
und eben eine spezifische ideologische Überzeugung.
Der Meinung, dass sich bei Stefan die paranoide Schizophrenie und der Rassismus kreuzen,
ist übrigens auch Psychiater Henning Sass.
Er meint, Stefans krankheitsbedingte Fantasien
und sein politisch-ideologischer Fanatismus seien untrennbar verwoben.
Dr. Salmee hat uns aber erklärt,
dass die Schizophrenie hier nicht einfach als Ursache für die Tat herangezogen werden kann.
Die Tat ist ja eindeutig rassistisch,
weil ich könnte ja rein theoretisch auch die wahnhafte Überzeugung haben,
dass, was weiß ich, alle rothaarigen Frauen Hexen sind
und könnte ja die draußen erschießen.
Dann wäre es nicht rassistisch, nicht?
Dann wäre es auch verrückt, aber nicht in dem Sinne.
Das heißt, die Motivwahl und die Begründungen,
also die Rationalisierungen, die dem zugrunde liegen,
sind eindeutig rassistisch motiviert.
Die spannende Frage ist aber natürlich,
ob die Schizophrenie sozusagen die Schwelle zur Tatbereitschaft gesenkt haben könnte oder nicht.
Das kann man nachher schwer auseinanderhalten.
Allerdings reicht ein schwerer, maligner Narzissmus,
ein bösartiger Narzissmus und eine rassistische Ideologie auch aus,
um gegebenenfalls solche Attentate zu verüben.
Also es bedarf keiner Schizophrenie, aber die Schizophrenie ist eine Erkrankung,
die die Persönlichkeit nochmal sehr verändert.
Und von daher kann man das jetzt sozusagen im Nachhinein natürlich sehr schwer auseinanderklamüsern.
Aber das Motiv, das Handlungsmotiv ist ein rassistisches.
Das ist schon sehr eindeutig.
Also irgendwie habe ich das Gefühl, dass wenn bei solchen Tätern irgendwie ein kleiner Hinweis auf eine psychische Erkrankung auftaucht,
dass dann oft die Reaktion ist, ach, ach so, der war krank.
Ja, dann kann man das ja alles eh gar nicht so ernst nehmen, was er da vor sich rumgeblabbert hat
oder wenn er irgendwelche rassistischen Sachen erzählt hat.
Ich glaube aber, dass das hauptsächlich bei Personen ist, die sich diese Tat unbedingt erklären wollen.
Und das ist natürlich schwer bei so einer Tat.
Ich glaube aber zum Beispiel, dass das gar nicht in den Köpfen der Angehörigen stattfindet.
Denn wenn die sagen würden, die Person ist krank,
dann müssten sie sich ja eventuell auch eingestehen, dass der nicht hundertprozentig was selbst dafür kann.
Und deswegen glaube ich, dass das aber bei Angehörigen zum Beispiel wirklich nur ganz, ganz selten der Fall ist.
Und wir wissen das aus Uethe ja zum Beispiel ja auch.
Da stand ja auch im Raum, dass der Täter vielleicht eventuell wegen seiner Krankheit schuldunfähig ist.
Und da haben ja die Angehörigen und gefühlt ganz Norwegen dafür gekämpft,
dass der nicht schuldunfähig gesprochen wird.
Und dass man ihm wirklich die Schuld dafür geben kann und dass man sagen kann, der war nicht krank.
Das war seine Ideologie und der hat ganz genau gewusst, was er da tut.
Genau. Und ich finde es halt wichtig, dass nicht immer so eine Reaktion direkt kommt,
weil erstens man oft nicht nach einer Tat, wenn sich der Täter auch selber umgebracht hat,
wie schnell weiß man da, ob da wirklich eine psychiatrische Erkrankung dahinter lag
und wie weit vorangeschritten war die oder ausgebreitet.
Und wäre diese Tat vielleicht ja auch ohne die passiert.
Und nur weil, wenn ich jetzt zum Beispiel an andere Anten von Terror denke
und Menschen, die in den Dschihad ziehen und sich da selber in die Luft sprengen,
dann habe ich nicht das Gefühl, dass man irgendwie als Öffentlichkeit oder Presse
da dann psychiatrische Sachen mit reinzieht,
sondern da ist es dann eher die Religion, weißt du.
Und irgendwie bei rechtsextremen Tätern oder Täterinnen ist das anders.
Und ich glaube auch, dass es dann so gemacht wird, weil man damit leichter umgehen kann,
wenn einer aus der eigenen Stadt krank war und deswegen so eine Tat begangen hat.
Ich finde aber deswegen das auch gerade sehr wichtig und auch gut,
dass hier im Nachhinein das so aufgeklärt wurde mit der Psyche.
Das liegt natürlich auch daran, dass er vorher schon psychisch auffällig war
und es da Dokumentationen drüber gab.
Aber es ist natürlich ganz schwierig, wenn sich der Täter oder die Täterin suizidiert hat,
im Nachhinein darüber eine Aussage ansonsten zu treffen.
Und dann tappen natürlich sehr viele im Dunkeln.
Und ich finde das hier in diesem Fall zumindest einen guten Aspekt,
dass das einigermaßen aufgeklärt schien.
Ja, und wie der Rassismus in diese Fantasien reingespielt hat
und wie es sich sozusagen bedingt hat.
Aber diese Einblicke in Stefans Psyche bringen den Angehörigen
weder ihre Kinder zurück, noch beantworten sie ihnen Fragen,
die ihnen wirklich auf der Seele brennen.
Sie wollen weitere Hintergründe der Tat geklärt wissen.
Nicolesco und Julia Paun treibt vor allem um,
warum sie sich alle Antworten auf ihre Fragen selbst suchen müssen.
Willi hatte an dem Abend des Anschlags seinen Ausweis und seinen Führerschein dabei.
Er saß in seinem Auto, das auf seinen Namen angemeldet war.
Und trotzdem ist niemand zu der Adresse gegangen, unter der er gemeldet war
und in der auch seine Eltern leben.
Nico und Julia hatten selbst zur Polizei gehen müssen,
um herauszufinden, dass ihr Sohn tot ist.
Und jetzt müssen sie selbst herausfinden, warum.
Bis jetzt wissen Nico und Julia nämlich noch immer nicht,
was Willi eigentlich am Kurt-Schumacher-Platz gemacht hat.
Ich kenne deinen Sohn.
Dein Sohn hat den Täter vom West-Attentat verfolgt.
In der Nacht war es in den Nachrichten so,
zwei Autos, zwei Täter, eins schwarz, eins silber.
Im Schwarzen war der Täter, im Silbernen war dein Sohn.
Aber dein Sohn hat ihn verfolgt, hatte jemand zu Nico gesagt.
Und erst da fangen Nico und Julia an, selbst zu rekonstruieren,
was in der Tatnacht geschah.
Sie erfahren von Willis gescheitert und versuchen, die Polizei zu kontaktieren.
Dass der Täter auf Willi geschossen hatte und er ihm trotzdem gefolgt war.
Aber so war Willi einfach.
Er hat immer allen geholfen.
Selbst dem kleinen Waisenkätzchen in ihrem Heimatdorf in Rumänien,
die er so oft mit nach Hause brachte, weil er Mitleid mit ihnen hatte.
Nico und Julia sind sich aber sicher,
dass Willi den Täter nicht auf eigene Faust stoppen wollte.
Ihr Sohn hatte der Polizei vertraut.
Er hatte mehrmals aus dem Wagen die Nummer gewählt.
Er wollte die Arbeit denen überlassen, die dafür zuständig waren.
Aber es nahm keiner ab.
Willi wählte fünfmal, zweimal falsch
und um 21.57 Uhr, 58 und 59 richtig
Wieso, fragen sich Willis Eltern immer wieder.
Denn sie sind sich sicher, dass Willi den Täter nicht verfolgt hätte,
wenn die Polizei sich darum gekümmert hätte.
Deswegen erstattet Nicolesco Anzeige gegen die BetreiberInnen der Notrufzentrale
und die verantwortlichen Polizeikräfte wegen fahrlässiger Tötung ihres Sohnes.
Also wie schlimm, dass man sich da jede Info selbst zusammensuchen muss.
Also da bekommt man ja das Gefühl, das wäre dann halt nicht wichtig genug,
die Umstände der Ermordung des eigenen Sohnes zu erfahren.
Ja und nicht nur, dass sich da irgendwie offenbar niemand interessiert hat.
Die haben auch teilweise richtig schlampig gearbeitet, weil als Willis Eltern die Sterbeurkunde ihres Sohnes nach Hause geschickt bekommen haben, stand da nicht Willis Name, sondern der Name seines Vaters.
Also hielt der Vater quasi seine eigene Sterbeurkunde in den Händen.
Geht's noch?
Ja.
Also und das war halt ja auch nicht die einzige Familie, bei denen das so schief gelaufen ist.
Also die Betroffenen waren halt wirklich schockiert von dem Umgang mit ihnen.
So Peter zum Beispiel, der ja auch in der Arena Bar war und auf den auch geschossen wurde, sollte dann nach der Tat zur Polizeiwache am Freiheitsplatz drei Kilometer zu Fuß gehen.
Und da war der Täter ja noch nicht mal gefasst.
Also in was für einem Zustand war der da bitte?
Total verängstigt ja auch und muss dann da zur Polizeiwache laufen.
Und dann versteht man es natürlich als Angehöriger auch nicht, dass sich dann da der hessische Innenminister danach irgendwo hinstellt und sagt, dass die Betreuung der Angehörigen quasi super gelaufen sei.
Ja, das geht gar nicht.
Und was so eine Sache war, an die ich jetzt gar nicht direkt gedacht hätte, war, dass es für die Angehörigen sehr schlimm war, dass die Opfer obduziert wurden.
Weil sie aber auch teilweise gar nicht wussten, dass es so war und als sie sich dann von denen verabschieden wollten, quasi diese zugenähten Körper dann gesehen haben und sozusagen nochmal ein zweites Mal dadurch traumatisiert wurden.
Ja, und dann kann man natürlich auch verstehen, wie bestürzt diese Familien und vor allem halt die Familie auch von Willi natürlich war, als sie dann erfährt, dass diese Anrufe nicht durchgekommen sind.
Hier war es nun aber tatsächlich so, dass die Staatsanwaltschaft Hanau da schon ermittelt hat im Vorfeld zu diesen nicht angenommenen Anrufen, weil ja auch nicht nur Willi es dort versucht hat, sondern auch Etris, bevor er die 112 wählte.
Am 19. Februar 2020 gingen zwischen 21.55 Uhr und 22.09 Uhr nur fünf Notrufe bei der 110 ein.
Alle anderen sind offenbar nicht durchgekommen.
Laut Informationen des Spiegel ging der erste Notruf circa eine Minute, nachdem das erste Opfer erschossen wurde, ein und der dritte, erst nachdem schon alle Opfer des rassistischen Anschlags tot waren.
In einem Bericht des ARD-Nachrichtenmagazins Monitor äußert sich der Vorsitzende des Bundesdeutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, und sagt, es sei nicht unwahrscheinlich, dass man mit mehr Kenntnis von Zeugen auch Gelegenheiten gehabt hätte, nachfolgende Taten noch zu verhindern.
An diesem Abend hätten zwei Leitungen besetzt sein sollen.
Allerdings sah es nur an einem Apparat eine Beamtin, die Anrufe entgegennahm.
Angeblich wurde die sogenannte Mindestwachstärke an diesem Abend unterschritten, weil zu der Zeit die BeamtInnen zu einer Bombenentschärfung andersweitig eingesetzt gewesen seien.
Es dauert ein ganzes Jahr, bis Hessens Innenminister Peter Beuth Probleme bezüglich der Besetzung und der Weiterleitung von Notrufen in der Tatnacht einräumt.
Außerdem wird bekannt, dass vier Jahre vor dem Anschlag in Hanau polizeiintern sogar bekannt war, dass bei einer Unterversorgung der technischen Notrufkapazitäten die Gefahren durch einen sogenannten mobilen Täter besonders hoch seien,
da so Ortsangaben und andere wichtige Informationen zu spät übermittelt werden würden.
Einen Zusammenhang zwischen Willis Tod und den Notrufen, die ins Leere führten, will man aber nicht erkennen.
Denn es sei nicht eindeutig zu klären, ob es bei Willis Anrufen überhaupt zu einem Verbindungsaufbau gekommen sei.
Und ob Willi seine Verfolgungsjagd beendet hätte, auch wenn er den Notruf erreicht hätte.
Außerdem sei Willi bewusst gewesen, dass Stefan, Zitat, ohne weiteres auf ihn schießen würde.
Für Willis Eltern ist das ein Schlag ins Gesicht.
Sie sind fassungslos.
Die Initiative 19. Februar Hanau teilt mit, es sei beschämt, wie die Staatsanwaltschaft zwischen den Zeilen durchklingen lasse,
dass Willi selbst an seinem Tod schuld sei, weil er dem Täter hinterhergefahren war.
Julia und Nicolesco reichen Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen ein.
Anderhalb Wochen lang kann Etris nicht sprechen.
Danach muss er auch laufen, erstmal wieder neu lernen.
Doch neben seinen körperlichen Gebrechen quält ihn noch etwas anderes.
Die Frage, warum er und seine Freunde am 19. Februar dem Täter eigentlich schutzlos ausgeliefert waren und keine Möglichkeit zur Flucht hatten.
Wir erinnern uns, in der Arena Bar gab es auf der anderen Seite des Tresens einen Notausgang,
von dem die Überlebenden sagten, dass sie dorthin nicht geflüchtet waren, weil sie wussten, dass er verschlossen war.
Zwei Überlebende aus der Bar und Hamzas Familie erstatten Anzeige gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Tötung
und werfen der Polizei vor, gewusst und sogar angeordnet zu haben, die Tür geschlossen zu halten,
damit im Falle einer Razzia niemand durch den Hinterausgang fliehen könne.
Diese Behauptung weist die Polizei aber vehement zurück.
Im Nachhinein lasse sich noch nicht mal klären, ob die Tür am Abend tatsächlich verschlossen gewesen war.
Arbeitende aus der Bar hätten ausgesagt, sie sei offen gewesen.
Und selbst wenn nicht, lasse sich nach der Auswertung der Überwachungskameras im Nachhinein nicht mehr feststellen,
ob die Gäste an dem Abend durch den Fluchtausgang hätten fliehen können.
Die Initiative 19. Februar Hanau beauftragt daraufhin Forensic Architecture, diese Aussagen zu untersuchen.
Dafür wird ein Video erstellt.
Das könnt ihr euch auch unter unseren Quellen ansehen.
Das ist nämlich sehr spannend.
Und in dem werden die Bewegungen der Gäste in der Bar nachgestellt.
Unter Berücksichtigung der Geschwindigkeit, mit der sich Ätris, Nessa und die anderen im Raum bewegt haben,
nachdem es zu den Schüssen im Kiosk kam,
und der Tatsache, dass sich die Männer auch kurzzeitig im Weg hätten stehen können,
kommt Forensic Architecture zu folgendem Ergebnis.
Wäre die Gruppe statt in die hintere Ecke der Bar in die Richtung des Notausgangs gelaufen
und wäre dieser offen gewesen,
dann wären zu dem Zeitpunkt, als der Täter die Bar betrat,
vier von fünf Personen außerhalb und die fünfte Person nur einen Sekundenbruchteil innerhalb seines Sichtfelds gewesen.
Demnach hätten alle den Anschlag überleben können.
Damit steht das Gutachten entgegen dem der Staatsanwaltschaft.
Für die Betroffenen in Hanau-Kesselstadt hat der Tag alles verändert.
Ein Freund von Ferhat, der ihn noch kurz vor der Tat gesehen hat,
erzählt im Podcast 190220, dass vorher Alltagsrassismus immer an ihm abgeprallt ist
und er jetzt total emotional reagiert und sofort rot sieht.
Er sagt, selbst wenn man hier geboren ist, wird man nicht akzeptiert
und viele seiner Freunde würden das ähnlich sehen.
Nach dem 19. Februar fühlt er sich viel mehr als Ausländer.
Kesselstadt fühlt sich seitdem anders an.
Der Täter hatte genau hier mit ihnen gewohnt, in ihrer Mitte.
Der Gedanke ist unheimlich.
Die Vierzimmerwohnung der Hashemis liegt nur gut 300 Meter von dem reinen Haus,
in dem Stefan lebte, entfernt.
Und genau dort wohnt sein Vater heute noch.
Als dieser im März, nachdem die Polizei ihn noch am Tatabend in die Psychiatrie gebracht hatte,
zurück nach Hanau-Kesselstadt kehrt, erfahren die Angehörigen der Opfer dies durch Anrufe der PolizistInnen.
Aber nicht etwa, um sie vorzuwarnen, sondern, so Armin Kurtovic, Vater des getöteten Hamza,
um sie aufzufordern, keine Straftaten zu begehen.
Sie, die, die Opfer von Stefan S. wurden.
Dabei war der Vater von Stefan, Helmut S., schon vor dem 19. Februar wegen Sachbeschädigung,
Erpressung und Beleidigung polizeilich bekannt.
Und es gibt Hinweise darauf, dass er zumindest einige Gedankengänge seines Sohnes teilt.
Immerhin stellten beide zusammen eine Anzeige wegen Bespitzelung durch eine Geheimorganisation.
Bereits drei Jahre vor dem Anschlag fällt Helmut S. auf, weil er im Bürgerbüro der Stadt wünscht,
nur von, Zitat, deutschen Mitarbeitern betreut zu werden.
Laut Aktenvermerk sagt er dabei zu seiner Frau, stell dir mal vor, jetzt arbeiten hier Afrikaner, Polen und Türken.
Kurz darauf stellt er einen Antrag auf einen Schutzhund, um sich von den, Zitat, Ausländern zu schützen.
Außerdem stellt der Vater selbst einige Anzeigen, weil er die Webseite zu seines Sohnes wieder online und die Waffen und Munition zurückhaben will.
Wer schützt hier eigentlich wen, fragt die Mutter von Ferahat Unvar in der FAZ.
Dieser Mann ist gefährlich und keiner macht was.
Als im Dezember 2020 mehrere Angehörige eine Mahnwache vor dem Haus des Täters, wo ja auch immer noch der Vater drin wohnt, halten, stellt der wieder eine Anzeige.
Sie sollen, Zitat, das Maul halten, sagt er und beleidigt sie rassistisch.
Außerdem empfindet er die Gedenkstätten und Beschmückung der Tatorte als Volksverhetzung.
Obendrein hat Stephans Vater eine ganz eigene Version vom Abend des 19. Februar.
Demnach sei Stefan einer weltweit agierenden Geheimdienstorganisation zum Opfer gefallen.
Deren Agenten hätten ihn im Wald getötet und anschließend seine Leiche im Haus abgelegt.
Zur gleichen Zeit habe ein Agent sich als Stefan verkleidet und die Morde begangen.
Momo, der auch am Tatabend in der Bar war, fühlt sich von Helmut S. bedroht.
Für die Hinterbliebenen ist der 73-Jährige eine tickende Zeitbombe.
Deshalb stellen sie im Februar 2021 Strafanzeige wegen Beihilfe zum Mord.
In der steht auch, dass der Vater von den geplanten Taten gewusst und seinen Sohn darin bestärkt habe.
Sie sehen in dem Vater einen psychischen Helfer von Stefan S., von dem Stefan selbst sogar abhängig gewesen sein soll.
Was der Vater gesagt hat, war Gesetz, sagt ein Mitarbeiter eines Jobcenters, der Stefan und Helmut S. kannte.
Diese Aussage untermauert die Einschätzung eines Psychiaters, der Stefan S. 2002 betreute.
Der sprach sogar von einer Folie adieu, bei der es zu einer Übernahme von Wahnvorstellungen durch eine zweite Person kommt.
Klar scheint zumindest, dass er etwas zu verheimlichen hat.
Gegenüber den Ermittlungsbehörden gab er nämlich an, nichts von dem Manifest seines Sohnes gewusst zu haben.
Später wird aber nachgewiesen, dass Helmut S. in der Nacht des 19. Februars mehrmals auf der Webseite seines Sohnes unterwegs war.
Ende 2021 stellt die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlung aber ein.
Nach ihren Erkenntnissen hatte Stefan S. keine Helfer oder Mitwissenden.
Die Bundesanwaltschaft und das BKA seien über 300 Spuren nachgegangen und hätten dabei, Zitat,
insbesondere auch den Anregungen von Seiten der Opferanwälte Beachtung geschenkt.
Am Ende muss sich Helmut S. also nur wegen der Beleidigung vor dem Amtsgericht verantworten.
Weil er nicht erscheint, ordnet die Richterin die polizeiliche Vorführung an.
Vor Gericht tobt Helmut S. Er will den Gutachter des Gerichtssaals verweisen.
Dieser charakterisiert S. als egozentrisch, selbstverliebt, unreflektiert und völlig unempathisch für die Bedürfnisse seiner Umgebung.
Helmut S. weigert sich, seine Personalien vorzutragen und versucht den Prozess bei jeder Gelegenheit zu stören.
Am Ende wird er zu 90 Tagessätzen a 60 Euro verurteilt.
Ja, aber es ist wahrscheinlich ja auch schwierig nachzuweisen, dass der Vater da irgendwas von der Tat wusste oder Einfluss auf Stefan hatte.
Weil schließlich haben die ja zusammen gewohnt und konnten halt deswegen ja auch miteinander reden.
Und dann ist es auch wahrscheinlicher, dass man eben keine schriftliche Kommunikation hat,
die jetzt sozusagen als Beweis gelten kann, dass der irgendwie in Stefans Tat involviert war.
Ich finde, der Vater ist sowieso einfach eine rätselhafte Figur in diesem Fall für mich.
Was ich aber auch einmal zumindest erwähnen möchte und ich weiß, es ist eine rassistische Tat und diese politische Tragweite des Falls gebietet es,
über die Opfer des rassistischen Angriffs zu sprechen und sie in den Vordergrund zu stellen.
Aber ein weiteres Opfer dieses Mannes ist halt auch einfach seine Mutter.
Und über die wissen wir nicht viel, aber auch sie wurde halt an diesem Tag getötet.
Und irgendwie interessiert sich niemand für diese an Parkinson erkrankte Frau in den Medien.
Also wahrscheinlich auch einfach, weil sie eine Angehörige des Täters war.
Aber irgendwie finde ich auch das traurig.
Und mehr muss man dazu auch nicht sagen.
Für die Generalstaatsanwaltschaft war Stefan S. also ein Einzeltäter.
Dieses Wort Einzeltäter oder Einzeltat ist eins, das für die Initiative 19. Februar problematisch ist.
Ja, es sieht so aus, als hätte Stefan an diesem Abend alleine gehandelt.
Aber er lässt sich erstens eingliedern in eine Gemeinschaft, die diese Taten zulässt.
Und zweitens in eine Liste von TäterInnen, die in den letzten Jahren für ähnliche Taten gesorgt haben.
Wir erinnern uns ja noch an Halle, Christchurch, dem Münchner Einkaufszentrum und den Anschlag von Uthoja.
Die beiden letzten habe ich hier ja auch schon mal ausführlicher im Podcast behandelt.
Und gemein hatten all diese Täter, dass sie in ihrem Leben vorher auf irgendeine Art und Weise gescheitert waren
und dann halt nach Halt oder Sinn im Leben gesucht haben.
Und den dann auch irgendwie in rechtsextremen Ideologien gefunden haben.
Und das halt größtenteils im Internet, wo sie sich radikalisiert haben, in Foren.
Und in denen dann halt rechtes und homophobes und auch frauenfeindliches Gedankengut ausgetauscht haben.
Und da sind sie dann halt nur einer von vielen.
Also die operieren dann eigentlich nicht wirklich als komplett unabhängige Einzeltäter,
weil sie ja ihre Ideologien austauschen und dann auch eine Art Community haben.
Und auch wenn jetzt nicht bekannt ist, dass Stefan sich explizit in rechten Formen bewegt hat,
hatte er das Internet ja trotzdem für sich als Plattform entdeckt und benutzt
und sich da auch Ideen angeeignet und sie halt vor allem verbreitet.
Ideen, die am Ende unter anderem das Leben von Willi Viorel Paun auslöschten,
der versucht hatte, sich dem Täter in den Weg zu stellen.
14 Monate nach Willis Tod wird ihm vom hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier
die Medaille für Zivilcourage verliehen.
Julia und Nicolescu sind stolz auf ihren Sohn.
Und gleichzeitig erklären sie, unser Herz sagt, wir brauchen keinen Helden.
Wir brauchen Willi zu Hause.
Den Ort, an dem sowohl Willis Verfolgung als auch sein Leben endete,
markiert jetzt ein weißes Kreuz aus Stein.
Ganz oben ist ein Foto von ihm zu sehen, auf dem er breit grinst.
Darunter sieht man die Inschrift, dieses Kreuz wird errichtet im Namen Jesus Christus für den Helden Willi Viorel Paun.
Willis Leichnam wurde nach Rumänien überführt.
Dort haben seine Eltern ihm eine große Grabstätte gekauft.
Julia und Nico wissen, dass sie die Lücke, die er hinterlassen hat, niemals füllen können werden.
Trotzdem versuchen sie noch einmal schwanger zu werden.
Doch es klappt wie all die Jahre zuvor auch schon nicht.
Dann adoptieren sie eben jetzt ein Kind.
Den Namen wissen sie auch schon.
Es soll Rares heißen.
So hatte Willi sein Kind nennen wollen.
Julias und Nicos Enkel, den er ihnen schenken wollte, den sie jetzt nie bekommen werden.
Halt gibt ihnen noch immer, dass sich Menschen in der Initiative dafür einsetzen,
dass ihre offenen Fragen beantwortet werden.
Das ist wichtig, wenn sie mal selbst nicht die Kraft dazu haben.
Die Initiative gibt sich zum Beispiel auch nicht damit zufrieden,
dass die Ermittlungen eingestellt werden.
Sie wollen antworten auf Fragen wie
Warum werden solche Foren und Websites, wie Stefan online gestellt hat, nicht besser überwacht?
Wieso bekommt ein Mensch, der eine psychische Erkrankung hat, überhaupt einen Waffenschein ausgestellt?
Hätte die Tat also verhindert werden können?
Warum werden Notrufe nicht angenommen?
Warum war ein Notausgang abgeschlossen?
Und wieso hat man eigentlich so lange gewartet, bis das Haus des Täters gestürmt wurde?
Bisher, zwei Jahre nach der Tat, haben sie auf fast keine dieser Fragen eine Antwort erhalten.
Und auch keine Entschuldigung für das Verhalten der Beamtinnen am Tatabend und danach.
Eine Zumutung für Edris und die anderen Hinterbliebenen,
wie er uns im Interview erzählt hat.
Vor allem sind wir auch sehr enttäuscht, was Ermittlungsbehörden angeht.
Weil wir haben ja mehrere Anzeigen gestellt gehabt, mehrere Ermittlungen eingeleitet,
was alles schief gelaufen ist während dieser Tat und wie die Ermittlungsbehörden damit umgegangen sind,
beziehungsweise was dabei rauskam, ist für uns leider nicht so, wie wir es erhofft haben.
Da sind wir einfach enttäuscht.
Wir haben mit der Initiative 19. Februar so eine Auflistung gemacht, die nennen wir die Kette des Versagens.
Da ist gelistet, was alles vor der Tat schief gelaufen ist, während der Tat und auch nach der Tat.
Die Hoffnung der Hinterbliebenen und Überlebenden liegt jetzt ganz in dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags,
der erst mit ihrer Hilfe ins Rollen kam.
Durch den unerlässlichen Druck, den sie mithilfe der Öffentlichkeit geschafft haben.
Der Ausschuss untersucht nun, ob es ein Behördenversagen vor, während und nach der Tat gab.
Wenn ja, sollen sich dadurch Hinweise auf einen möglichen Veränderungsbedarf bestehender Strukturen ergeben.
Das, was sich die Initiative so sehr wünscht, wie Etris uns erzählt hat.
Genau.
Wir schauen einfach, beziehungsweise hoffen darauf, dass es auch da eine Veränderung in Zukunft gibt,
dass es beziehungsweise Konsequenzen gezogen werden aus den Fehlern, die bisher bei den Behörden passiert sind.
Und auch vor allem, was der Umgang mit Betroffenen nach so einer Situation, wie man mit den Betroffenen umgeht,
dass man da mit einer gewissen Sensibilität auch rangeht.
Das sind so Punkte, die haben wir auch zum Thema gemacht, die haben wir auch im Untersuchungsausschuss jetzt vorgebracht.
Und wir hoffen einfach, dass sich da in Zukunft definitiv etwas ändert.
Ja, und dafür ist allerhöchste Zeit, was die Zahlen zu rechtsextremen Straf- und Gewalttaten in Deutschland zeigen.
Seit 2015, dem Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise, sind die Taten deutlich angestiegen und seitdem auf einem sehr hohen Niveau geblieben.
2020 ist die Zahl zum Vorjahr noch einmal gestiegen und lag damit bei 22.357.
Warum er und nicht ich?
Diese Frage stellt sich Etris seit Wochen und Monaten.
Eine Antwort darauf findet er nicht.
Die gibt es auch nicht, das weiß er.
Doch die Lücke, die Nessa bei den Hashemis hinterlässt, ist immens.
Das Foto der Kinder, das bis vor dem 19. Februar 2020 das Wohnzimmer schmückte,
liegt jetzt mit der Vorderseite umgeklappt auf dem Schrank.
Der Schmerz ist noch zu groß.
Früher kamen alle immer gemeinsam an den Essenstisch zusammen, jetzt bleibt ein Platz immer leer.
Auch das Zimmer, das Etris sich früher mit Nessa geteilt hatte, wirkt jetzt kalt.
Die Hashemis haben dort alles so gelassen, wie es war.
Sogar Nessas Bett steht immer noch darin.
Doch nun ist da niemand mehr, der Etris nachts aus dem Schlaf reißt, weil er vor sich hin plappert.
So wie Nessa es getan hatte.
Etris versucht weiterzumachen, nicht aufzugeben.
Mehrere Male versucht er eine neue Ausbildung anzufangen, doch scheitert immer wieder.
Das liegt auch an den vielen Arztbesuchen und Operationen, denen sich Etris fast jede Woche stellen muss, um irgendwann vollständig zu genesen.
Aber ihn machen nicht nur die sichtbaren Wunden zu schaffen.
Seine Seele ist verletzt.
Noch ein Jahr nach dem Anschlag kann er keine geschlossenen Räume betreten, ohne vorher zu kontrollieren, ob es einen Fluchtweg gibt.
Gerne würde Etris wieder wie vorher leben.
Mittlerweile hat er ein Studium angefangen, nach vorne blicken.
Hanau hat sich definitiv verändert seit dem Anschlag.
Ich meine, der 19. Februar ist hier in unserer Stadt mittlerweile allgegenwärtig.
Überall gibt es Gedenkmäler, überall finden Veranstaltungen mit.
Wenn man durch die Stadt läuft, dann wird man auf jeden Fall mit diesem Thema konfrontiert.
Die Menschen in Hanau haben sich auch verändert gehabt.
Ich meine, nach so einem Anschlag waren die Leute einfach nur geschockt gewesen, dass so etwas gerade in so einer Stadt wie Hanau, die vielfältig ist und wo man Menschen aus jedem Land trifft und jeder ist mit jedem immer gut ausgekommen.
Und dass gerade so etwas hier in Hanau in unserer Stadt passiert ist, zeigt eigentlich, dass es in jeder anderen Stadt in Deutschland auch passieren kann.
Was ich sagen kann, was gut gelaufen, was beziehungsweise positiv sich entwickelt hat, ist einfach der Zusammenhalt, dass die Menschen jetzt mehr zusammenhalten.
Und dass ich mir die Frage gestellt habe, ob Hanau immer noch meine Heimat ist, das stand gar nicht zur Debatte.
Diese Frage habe ich jetzt öfters bekommen gehabt in der Vergangenheit, aber ich meine, wenn wir jetzt sagen würden, dass Hanau nicht mehr unsere Heimat wäre und wir umziehen würden, dann hätten die Rechten ja gewonnen.
Das ist auf jeden Fall nicht das, wofür wir kämpfen.
Hanau ist nach wie vor meine Heimatstadt.
Ich bin hier geboren, ich bin hier aufgewachsen, ich bin hier zur Schule gegangen, ich habe Freunde und Familie hier.
Also das ist gar keine Option, dass ich hier irgendwann mal, beziehungsweise, dass ich hier wegziehe und das nicht mehr als meine Heimat ziehe.
Ganz im Gegenteil.
Hanau wird immer sein Zuhause bleiben.
Genauso wie Nessas, der diesen Ort so geliebt hatte, dass er sich sogar die Postleitzahl tätowierte.
Edris hat auch mit uns gesprochen, weil es für ihn wichtig ist, dass der Fall hier im Podcast, aber auch sonst überall ins Gedächtnis gerufen wird, hat er uns erzählt.
Die Medienarbeit und Öffentlichkeitsarbeit ist ein sehr, sehr wichtiger Punkt bei uns.
Ich meine, wenn wir uns die vergangenen Anschläge anschauen, da haben die Behörden und die Politiker am liebsten alles unter den Teppich gekehrt und die Akten zugemacht und wollten nie wieder mehr darüber sprechen, was da alles schief gelaufen ist.
Und uns war relativ schnell klar gewesen, dass es bei uns nicht so sein wird, sondern dass wir alles auf den Tisch legen, was schief gelaufen ist.
Wir führen jetzt schon seit knapp zwei Jahren einen Kampf gegen die Politik und gegen die Regierung hier im Land Hessen.
Und da ist es wichtig, dass das Thema Hanau präsent in den Medien erscheint und dass die Bevölkerung vor allem mitbekommt, was alles da passiert ist.
Und dass wir dann durch diese Arbeit dann mehr Rückenwind bekommen von der Bevölkerung und auch gegen die Politik vorgehen können.
Und das größte Anliegen ist es, dass das, was er erlebt hat, sich niemals wiederholt.
Und dass die Menschen, die so schmerzhaft aus ihrem Leben gerissen wurden, niemals in Vergessenheit geraten.
Was mich an der Recherche zu dem Fall besonders berührt hat oder ich auch irgendwie vorher gar nicht so auf dem Schirm hatte,
war diese Kraft, die die Angehörigen, Hinterbliebenen und Überlebenden hatten, so viel für die Aufklärung zu sorgen.
Das hatte ich vorher irgendwie erstens nicht auf dem Schirm und auch tatsächlich bei anderen Fällen noch nie so gesehen mit so einer Initiative und so einer Öffentlichkeitsarbeit, was die da auf die Beine gestellt haben.
Ja, gleichzeitig finde ich es aber auch traurig, dass sie es mussten, ehrlicherweise.
Weil ich glaube nicht, dass sie das gemacht hätten, wenn sie von Anfang an das Gefühl gehabt hätten, dass genug aufgeklärt würde, dass man sich da auch wirklich um ihre Belange kümmert.
Und dass man von Anfang an anerkennt, was sie waren.
Und zwar die Angehörigen von Opfern einer rassistischen Gewalttat.
Und wie ich das jetzt aus diesen ganzen Interviews rausgehört habe, war das denen einfach sehr wichtig, Deutschland zu zeigen.
Hallo, hier ist neben Corona noch was anderes passiert.
Es ist ein rassistisches Attentat gewesen.
Wir fühlen uns jetzt hier in unserem Land.
Weil es ist auch ihr Land.
Natürlich genau wie Deutschland das Land von uns beiden ist, es ist das Land von jeder anderen Person.
Und dann muss man den Menschen zuhören, wenn sie sagen, fühlen uns jetzt hier nicht mehr sicher und ihr müsst uns diese Beachtung schenken und ihr müsst uns auch die Aufmerksamkeit schenken, weil wir die verdient haben.
Ja.
Und weil nur so genug Energie von Behördenseiten reingesteckt wird, das dann auch richtig aufzuklären.
Ja, ich weiß nicht, ob ich sozusagen die Kraft gehabt hätte, wie die das ja noch heute, zwei Jahre danach, weiterkämpfen für Öffentlichkeit, um dann irgendwann mal diese Antworten auf ihre Fragen auch zu haben, ja.
Und was ich absolut verstehen kann, ist, dass sie halt wissen wollen, natürlich wie die letzten Minuten ihrer Liebsten abgelaufen sind.
Aber was sie ja auch sagen ist, es geht ja nicht nur um sie, es geht auch um die Zukunft, um andere Menschen, um TäterInnen, die frühzeitig gestoppt werden können, wenn man sich wirklich mit dem Fall auseinandersetzt und überlegt, hätten wir vielleicht den auf dem Schirm haben können.
Und es haben sich ja einige Hinweise aufgetan, dass er schon eigentlich auf dem Radar war, beziehungsweise auf jeden Fall keine Waffe hätte haben dürfen.
Ja, es ist auf jeden Fall noch viel zu klären und zu tun.
Und wenn ihr die Initiative des 19. Februar unterstützen wollt, worüber wir und alle Angehörigen sich sehr freuen werden, dann könnt ihr das unter 19 als Zahl und dann FE-App für februar-hanau.org tun.
Ich hoffe einfach, dass dieser Untersuchungsausschuss da Antworten liefern kann und vielleicht eben auch hoffentlich klare Ziele, wie das in Zukunft nicht mehr passiert.
Er muss.
Er muss. Also ich habe heute wirklich, bevor wir jetzt hier aufgenommen haben, bei der Recherche angefangen zu heulen, weil ich mir dachte, es kann nicht sein, dass in Deutschland, in dem Land, in dem ich lebe und mich sicher fühle, sich andere Menschen nicht sicher fühlen.
Ja.