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Ich war gestern bei einem Konzert von Ed Sheeran.
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Ja, und ich weiß nicht, ob du es gesehen hast, aber es war ja nicht nur Ed Sheeran da,
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sondern auch noch jemand anderes, die wir besonders toll finden.
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Ich hätte jetzt gesagt, war das Katy Perry, aber ich weiß nicht, ob ich sie besonders toll finde.
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Nee. Hast du sie nicht erkannt bei mir? Bei Instagram habe ich ein Video gepostet.
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Ich habe das nicht laut gesehen und ich habe das nur so nebenbei konsumiert,
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weil, du weißt, ich wäre auch so gern zum Ed Sheeran-Konzert gegangen.
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Deswegen wollte ich mich nicht selber quälen, indem ich mir das angucke bei dir.
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Genau, und als ich halt sie gesehen habe, habe ich noch mehr daran gedacht,
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wie schön es gewesen wäre, wenn du dabei gewesen wärst.
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Und zwar war das Millie Bobby Brown von Stranger Things.
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Ja, die hat den sozusagen anmoderiert.
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Hast du die neue Staffel eigentlich schon gesehen?
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Nee, die kommt doch jetzt erst, oder?
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Ich dachte, die ist schon online.
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Nee, ich glaube, die kommt jetzt.
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Die haben die, glaube ich, jetzt gerade angekündigt und ich bin ein bisschen ausgeflippt.
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Naja, auf jeden Fall, du hast gefehlt, auch weil ich noch etwas gelernt habe,
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was ich vorher nicht über Ed Sheeran wusste.
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Als Überfan, was ich nicht wusste.
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Und zwar, dass dieser Song hier von ihm ist.
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Du wusstest das.
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Ja, weißt du warum?
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Weil selbst wenn es Justin Bieber's Stimme ist, finde ich, hört man total, dass das von Ed Sheeran geschrieben wurde und komponiert wurde.
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Das habe ich dann, als ich es gehört habe, auch voll gedacht.
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Aber es war so witzig, weil er meinte dann so, soll ich euch mal was erzählen?
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Oder so nach dem Motto, soll ich euch mal ein Geheimnis erzählen oder so?
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Und da hat er halt so erzählt, dass er, als er in Amerika auf Tour war und von einer Stadt zur nächsten gereist ist in seinem Tourbus,
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dass er da irgendwie nicht schlafen konnte und deswegen noch relativ spät einen Song geschrieben hat.
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Und kurz dann, bevor er ins Schlafen gegangen ist, hat er diesen Song an Justin abgeschickt.
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Und als er aufgewacht ist, war der Song quasi schon aufgenommen und fertig produziert.
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Nicht dein Ernst?
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Doch, die fanden den alle so geil, und der hat das einfach in ein paar Stunden auf dem Weg irgendwo hingeschrieben.
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Wo man sich so denkt, krasser Dude einfach.
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Wo ich das erste Mal gemerkt habe, was für ein krasser Dude der ist, ist bei You Need Me, I Don't Need You.
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Das hat er auch gestern gesungen.
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Da gibt es ja diese YouTube-Version von, also diese Recording-Session, wo er einfach alles allein macht.
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Also der singt ja nicht nur, der rappt ja auch.
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Rappt und macht so Beatbox.
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Und mein Mann war ja gestern mit.
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Und er war dann aber wirklich auch total fasziniert, eben genau davon, was du gerade gesagt hast,
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dass der halt, der ist halt ein Musiker durch und durch.
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Und der steht da halt mit diesem Keyboard und seiner Gitarre und dann diesem komischen Ding auf dem Boden,
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das dann seine Sachen aufnimmt und dann singt er halt ins eine Mikro, nimmt dann da was auf,
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macht was mit seinen Füßen und es hört sich an, als wäre da eine komplette Band.
00:03:22
Aber es ist einfach nur er, wo man sich auch fragt, wie kann man alles gleichzeitig machen?
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Ich habe den ja zweimal getroffen und was ich halt so toll an dem finde ist, dass der, also
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der ist halt auch so richtig schüchtern und höflich.
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Der redet auch nicht so viel, aber wenn der antwortet, ist er nett.
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So, der liefert quasi ab, aber der ist auch so, ich weiß nicht, der ist einfach so narbar und so authentisch irgendwie.
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Das Einzige, was man nicht fragen darf, ist nach dieser Geschichte mit Harry und woher er die Narbe im Gesicht hat, weil das will er nicht erzählen.
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Und weiß man das denn?
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Ja, also das soll aus so einer Party von Harry gewesen sein und Prinzessin Beatrice wollte wohl wahrscheinlich im Vollsuff James Blunt zum Ritter schlagen und hat Ed Sheeran dabei aus Versehen das Schwert durchs Gesicht gezogen.
00:04:15
Ja, aber wo ich eigentlich drauf hinaus wollte oder was ich halt sagen wollte ist, da er Love Yourself gestern dann auch noch gespielt hat und ich dann eben als Ed Sheeran und Justin Bieber Fan komplett ausgerastet bin, gefühlt als Einzige in dieser Box, weil es war dann halt auch weiter oben.
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Ja, das kann ich mir richtig vorstellen, wie du da stehst, die Faust geballt und dann so, my mama don't like you.
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Keine Furcht vor den hohen Tönen übrigens.
00:04:51
Und damit herzlich willkommen zu Mordlust, einem Podcast der Partner in Crime. Wir reden hier über wahre Verbrechen und ihre Hintergründe. Mein Name ist Paulina Kraser.
00:05:00
Und ich bin Laura Wohlers. In jeder Folge gibt es ein bestimmtes Oberthema, zu dem wir zwei wahre Kriminalfälle nacherzählen, darüber diskutieren und auch mit Menschen mit Expertise sprechen.
00:05:10
Manchmal geht es hier bei uns auch etwas lockerer zu, das hat aber nichts damit zu tun, dass uns die Ernsthaftigkeit fehlt.
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Das ist für uns immer zwischendurch mal so eine Art Comic Relief, damit wir auch mal aufatmen können. Das ist aber natürlich nicht despektierlich gemeint.
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Heute geht es bei uns um Ableismus. Der Begriff kommt vom englischen Wort able und deswegen spreche ich das so aus.
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Wobei man ja sagen muss, dass es auf Deutsch auch sehr leicht von den Lippen gehen würde. Ableismus. Wäre auch schön.
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Ja, ich glaube aber auch, weil wir das jetzt schon so oft so bei der Vorbereitung jetzt falsch ausgesprochen haben, ist es einfach drin.
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Also verzeiht uns, wenn uns heute mal Ableismus statt Ableismus rausrutscht.
00:05:51
Also to be able heißt auf Deutsch ja fähig sein, etwas zu können und darum geht es.
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Denn Ableismus bedeutet, dass Menschen mit Behinderung auf ihre Behinderung reduziert werden.
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Also auf die fehlenden Fähigkeiten, die von einem vermeintlichen Normalzustand abweichen und die Betroffenen dadurch in den Augen von manchen Menschen minderwertig macht.
00:06:15
Und dabei kann man sich das Konzept Ableismus ein bisschen so vorstellen wie Rassismus oder Sexismus.
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Also es geht generell um Ungleichbehandlung, um das Ausschließen aus der Gesellschaft und um Vorurteile, die Menschen wegen ihrer Behinderung erleben.
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Ableismus ist eben Diskriminierung und Diskriminierung führt, wie wir wissen, häufig zu Verbrechen.
00:06:37
Und um eines der grausamsten dieser Art geht es jetzt.
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Übrigens wisst ihr damit dann jetzt auch schon gleich die Triggerwarnung für diese Folge.
00:06:46
Und es gibt noch eine kleine Warnung.
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Ich werde in meinem Fall öfter mal Begriffe aus der damaligen Zeit verwenden, die man heute so nicht mehr sagen würde.
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Das liegt jetzt aber daran, dass ich in den Fall einbaue, was damals nach außen hin kommuniziert wurde.
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Ihr müsst euch heute also ganz viel in Tüdelchen denken.
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Wenn ich also einmal kurz stoppe vor Pflegelinge, dann wisst ihr, dass das eigentlich nicht mein Wortlaut ist, okay?
00:07:15
Wir machen einen Ausflug.
00:07:16
Stellt euch vor, es ist ein Sonntag im Sommer.
00:07:19
Dann nimmt der historische Schienenbus seinen Betrieb durch die Mündinger Alb wieder auf.
00:07:24
Wir fahren Richtung Ulm.
00:07:25
Zu eurer Linken könnt ihr die im intensiven, gelb-strahlenden Rapsfelder sehen,
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während euch rechts die Waldbäume im saftigen Grün den Blick in die Ferne versperren.
00:07:35
In Fahrtrichtung tut sich auf einem künstlich angelegten Plateau stehend mit rotem Dach und leicht ausgewaschenem gelben Farbanstrich das einstige Jagdschloss Grafeneck auf.
00:07:45
An dieser Haltestelle steigen wir aus.
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Wir laufen über eine kleine Allee zum Grundstück des historischen Schlosses.
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Heute ist hier drin eine Einrichtung der Behindertenhilfe und eine Sozialpsychiatrie untergebracht.
00:07:57
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Gebäude darauf angelegt, Heim- und Anlaufstelle für Menschen mit Behinderung zu sein.
00:08:03
Unser Weg führt uns um das Schloss herum zu einem kleinen Neubau.
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Dokumentationszentrum steht draußen an der Tafel geschrieben.
00:08:11
Eine Mahnstätte, die verspricht, niemals in Vergessenheit geraten zu lassen, was an diesem Ort vor 82 Jahren geschah.
00:08:18
Die Uhren drehen sich rückwärts. Das Dokumentationszentrum ist verschwunden.
00:08:24
Wir haben das Jahr 1928.
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Ein Schritt vorwärts Richtung Krüppelfürsorge, schreibt die Presse.
00:08:32
Und die evangelische Kirche lobt die praktizierte Nächstenliebe, als Grafen-Eck 1928 in den Besitz der Samariterstiftung geht,
00:08:39
die das Schloss jetzt für die, Zitat, Versorgung krüppelhafter und gebrechlicher Leute nutzen will.
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Elf Jahre lang dienen die Gemäuer als Heim für 110 überwiegend männliche PatientInnen,
00:08:50
die zu der Zeit als sogenannte Asoziale gelten, weil sie aufgrund von Krankheiten,
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psychischen Störungen oder Fehlbildungen nicht so leistungs- und anpassungsfähig seien wie die Mehrheitsgesellschaft.
00:09:01
Es ist der 6. Oktober 1939.
00:09:05
Vor knapp einem Monat ist das Deutsche Reich in Polen einmarschiert und der Zweite Weltkrieg ausgebrochen,
00:09:11
als plötzlich unangekündigter Besuch vor den Toren des abgelegenen Schloss Grafenecks steht.
00:09:16
Vier Männer, darunter mindestens ein Herr vom Württembergischen Innenministerium,
00:09:21
die sich namentlich nicht vorstellen, möchten vom Heimleiter herumgeführt werden.
00:09:25
Wortkarg nehmen sie zur Kenntnis, was sie sehen.
00:09:28
Der Ort scheint ihnen zu gefallen.
00:09:30
Etwas ratlos bleibt der Heimleiter zurück, als die Herren so schnell, wie sie kamen, auch wieder verschwunden sind,
00:09:36
ohne einen triftigen Grund für ihren Besuch zu nennen.
00:09:40
Doch den soll der Heimleiter schon bald erfahren,
00:09:42
als eine Ankündigung vom Württembergischen Innenministerium in die evangelische Einrichtung flattert.
00:09:47
Das Heim werde vier bis sechs Monate beschlagnahmt.
00:09:50
Alle HeimbewohnerInnen sollen in den nächsten Tagen im katholischen Kloster Reute bei Bad Waldsee untergebracht werden.
00:09:56
Und so rollen am 12. Oktober, nur sechs Tage nach dem unangekündigten Besuch,
00:10:01
18 MitarbeiterInnen des Deutschen Roten Kreuzes an,
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die damit beauftragt sind, die Ausräumarbeiten im Schloss Grafeneck voranzutreiben.
00:10:09
Und ab da beginnt ein neues Kapitel für Grafeneck, von dem selbst die Heimleitung zu dem Zeitpunkt noch nichts weiß.
00:10:15
Ein dunkles Kapitel, das sich unter der Überschrift T4 in der deutschen Zeitgeschichte findet.
00:10:21
T4 steht für Tiergartenstraße 4 in Berlin, dem Sitz einer Tarnorganisation,
00:10:26
die gemeinsam mit der Kanzlei des Führers die Vorbereitung und Durchführung für das treffen soll,
00:10:31
was schon bald in Grafeneck und fünf weiteren Heimeinrichtungen passieren wird.
00:10:35
Nachdem es in den 20er Jahren immer mehr Heil- und Pflegeanstalten gibt,
00:10:39
schreibt Hitler schon 1924 in Mein Kampf,
00:10:42
Wenn die Kraft zum Kampfe um die eigene Gesundheit nicht mehr vorhanden ist,
00:10:48
endet das Recht zum Leben in dieser Welt des Kampfes.
00:10:52
Als dann infolge der Weltwirtschaftskrise Hausmittel knapper werden,
00:10:55
erlässt die Hitler-Regierung im Juli 1933 das Gesetz zur Verhütung Erbkrankennachwuchses.
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Heißt, zwischen 350.000 und 400.000 Menschen mit psychischen Krankheiten
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oder mit körperlichen und geistigen Behinderungen,
00:11:09
die den damaligen nationalsozialistischen Rasseidealen nicht entsprechen
00:11:13
und den Staat Geld kosten könnten, werden zwangssterilisiert.
00:11:18
Der Zweck, die versorgungsbedürftigen PatientInnen nahezu auszuradieren.
00:11:23
Am 18. August 1939 erfolgt dann der Runderlass des Reichsinnenministeriums
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für die sogenannte Kinder-Euthanasie.
00:11:31
Der verpflichtete ÄrztInnen und GeburtshelferInnen,
00:11:35
Säuglinge und Kleinkinder mit schweren angeborenen Leiden
00:11:39
bei dem Reichsausschuss zu melden.
00:11:42
Zunächst gilt das nur für Kinder bis zu drei Jahren.
00:11:44
Danach wird das Alter auf 16 erhöht.
00:11:46
Die Kinder werden zwangsweise in sogenannte Kinderfachabteilungen,
00:11:50
in Psychiatrie- und Heil- und Pflegeanstalten gebracht,
00:11:53
in denen sie für Experimente missbraucht und getötet werden.
00:11:56
Parallel zu diesen Verbrechen läuft die Vorbereitung für weitere auf Hochtouren.
00:12:01
Denn mit auf dem 1. September 1939 datierten Ermächtigungsschreiben von Hitler
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ist auch das Todesurteil für die Erwachsenen gesprochen.
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Reichsleiter Buhl und Dr. Medbran sind unter Verantwortung beauftragt,
00:12:13
die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern,
00:12:16
dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes
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der Gnadentod gewährt werden kann.
00:12:24
Ein ekelhafter Euphemismus der NationalsozialistInnen, genau wie Euthanasie.
00:12:30
Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und heißt übersetzt so viel wie schöner Tod.
00:12:34
Natürlich geht es nicht darum, Erkrankte von einem vermeintlichen Leid zu befreien
00:12:39
oder Sterbehilfe zu leisten, sondern um Rassenhygiene und darum, Ballastexistenzen zu töten.
00:12:45
Und genau das plant die Berliner Organisation in der Tiergartenstraße 4.
00:12:50
Unter dem Namen Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalt,
00:12:54
Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege und Gemeinnützige Krankentransport GmbH
00:12:59
sollen die Organisationen schon bald durch das Deutsche Reich fahren,
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um aus den Halleinrichtungen die lebensunwerten Esser herauszuholen,
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um nach Grafenegg zu bringen.
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Grafenegg hatte den Herren vom Ministerium auch deswegen so gut gefallen,
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weil sie hier im abgelegenen Schloss nur von Wald und Wiesen umgeben,
00:13:16
in aller Ungestörtheit ihren Plan verwirklichen konnten.
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Mittlerweile ist das Schloss ausgeräumt, es wird an- und umgebaut
00:13:24
und ab und an gewährt man hier einem Chemiker Zutritt,
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der sich mit der 300 Meter neben dem Schloss erbauten Baracke,
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die von einem fast drei Meter hohen Bretterzaun umgeben ist, beschäftigen soll.
00:13:33
Innerhalb von zwei Monaten werden aus den Zimmern, in denen vorher die HeimbewohnerInnen wohnten,
00:13:38
die Schlafräume und Arbeitszimmer von über 100 Angestellten,
00:13:42
darunter Polizisten, SS-Wachposten, Krankenschwestern, SekretärInnen,
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Schreibkräfte, KöchInnen und BusfahrerInnen, die ab jetzt hier leben und daran arbeiten,
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dass Grafenegg seine Tore schon bald öffnen kann.
00:13:54
Es ist Winter, als die ersten Fragebögen an die Pflege- und Heileinstalten rausgehen,
00:14:00
in denen die LeiterInnen anzugeben haben, welche der Erkrankten arbeiten
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und welche Art von Arbeit sie verrichten können.
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Außerdem muss darauf angegeben werden, wer an Schizophrenie, Paralyse oder beispielsweise Schwachsinn leide.
00:14:13
Dann noch jene, die sich seit mindestens fünf Jahren dauerhaft in Anstalten befinden
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und die, die als kriminelle Geisteskranke verwahrt sind.
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Natürlich auch all jene, die nicht deutschen oder
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Artverwandten Blutes sind.
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Als diese Meldebögen in den Heileinstalten eingehen, ist man dort erstmal ratlos,
00:14:32
hat aber teilweise die Vermutung, dass man wegen des Krieges Arbeitskräfte rekrutieren will.
00:14:38
Um ihre PatientInnen davor zu bewahren, lassen manche LeiterInnen sie etwas eingeschränkter dastehen,
00:14:44
als sie eigentlich sind.
00:14:45
Auch in der Pflegeanstalt Pfingstweide, die hauptsächlich an Epilepsie Erkrankte beherbergt,
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hatte man den Bogen ausgefüllt und jetzt Ende Januar 1940 ein weiteres Schreiben erhalten.
00:14:56
Die derzeitige Lage erfordere eine Verlegung von Kranken und man würde demnächst mit dem Sammeltransport beginnen.
00:15:04
In Pfingstweide sollen 13 Pflegelinge umquartiert werden.
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Ein Einspruch der Heimleitung läuft ins Leere.
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Am 1. Februar rollt vor der Anstalt ein grauer Omnibus der gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft an.
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Wohin die BewohnerInnen gebracht werden sollen und warum eigentlich, sagt man der Anstaltsleitung nicht.
00:15:26
Daraufhin schreibt der Stadtpfarrer einen Brief an den Landesverband Stuttgart.
00:15:31
Ich muss besonders eindringlich den Umstand erwähnen,
00:15:34
dass wir gegenüber den Angehörigen in eine sehr peinliche Lage gebracht sind.
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Umso mehr, weil wir durchweg über die künftige Unterbringung der Abgeholten
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über Ziel, Grund und Zweck der Verlegung bisher völlig im Dunkeln gelassen sind.
00:15:46
Doch auch Stuttgart hat darauf keine Antwort parat,
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sendet das Ersuchen aber weiter ans Innenministerium
00:15:52
und hofft, dass dieses Auskunft über den Verbleib der 13 BewohnerInnen geben könne.
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Wenig später liegt ein Umschlag im Briefkasten der Pflegeanstalt Pfingstweide,
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geschrieben von einer besorgten Frau.
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Ihr Angehöriger Wilhelm war unter den 13 Personen, die mit dem Bus abgeholt worden waren und sei nun offenbar in Grafenegg verstorben.
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Von dort traf eine Sterbeurkunde und ein Trauerschreiben bei ihr ein.
00:16:16
Lieber Hausvater, an Ball sende ich Ihnen eine Abschrift von der Landespflegeanstalt Grafenegg.
00:16:22
Groß war der Schrecken, als wir diesen Brief gestern mit den Sterbeurkunden bekamen.
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Was soll ich davon denken?
00:16:28
Wie kam Wilhelm von der Pfingstweide weg?
00:16:30
Gesund oder krank?
00:16:32
Die ganze Sache kommt mir komisch vor.
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Ich weiß gar nicht, was ich denken soll.
00:16:35
Alles ist in mir wund.
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Angina ist doch nicht ansteckend.
00:16:39
Und weitere solcher Briefe und Anrufe von Familienmitgliedern gehen in Pfingstweide ein,
00:16:43
denen zuvor Sterbeurkunden aus Grafenegg zugeschickt worden waren.
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Den Sterbeurkunden liegt immer ein Trostschreiben bei, in dem steht, an was ihre Liebsten angeblich gestorben seien.
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Und dass es eine Erlösung für sie gewesen sei.
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Sanft und schmerzlos sei der Tod gewesen.
00:16:59
Die meisten Habsilligkeiten wurden eingeäschert, aus solchen Schutzgründen.
00:17:03
Unten am Brief prangt ein Heil Hitler.
00:17:06
Und so festigt sich langsam ein schlimmer Verdacht, was mit den Leuten passiert,
00:17:10
die in die Busse geladen werden, die aus Grafenegg kommen.
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Trotzdem bemüht man sich hinter den Mauern darum, weiterhin zu verschleiern,
00:17:17
was mittlerweile aus dem Ort geworden ist, der sich noch bis vor kurzem der nächsten Liebe verschrieben hatte.
00:17:21
Hier läuft die Arbeit inzwischen immer routinierter.
00:17:26
Jeden Tag steigen ArbeiterInnen aus Grafenegg in die Busse
00:17:30
und fahren zu den unterschiedlichen Heilanstalten der Gegend,
00:17:33
um dort die durch Fragebögen ermittelten PatientInnen einzusammeln.
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Komplett freiwillig, versteht sich.
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Berlin hatte ihnen vor Antritt ausdrücklich gesagt,
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dass man die Arbeit ohne Nachteile zu erwarten ablehnen könne.
00:17:45
Welche Namen auf der Tötungsliste stehen, verlesen die PflegerInnen erst vor Ort.
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Zu Beginn der Aktion T4 werden die Leute aus Grafenegg noch freundlich von den Betreibern der Anstalten begrüßt.
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Doch das ändert sich mit den besorgten Briefen, die nach und nach von den Angehörigen kommen.
00:18:00
Pro Tag bringen die Angestellten Busse mit bis zu 75 Leuten zurück nach Grafenegg.
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An manchen Tagen sind es sogar 300.
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Wer sich wehrt, wird mit Gurten festgemacht.
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Am 4. Juni 1940 sitzt in einem der grauen Busse mit 88 anderen Frauen Emma Dapp.
00:18:18
Als Emma mit dem Bus Richtung Grafenegg fährt, weiß sie, was auf sie zukommt.
00:18:22
Kurz zuvor hatte sie ihrer älteren Schwester einen Brief geschrieben,
00:18:25
dass sie gehört hatte, dass Erkrankte dort getötet werden sollen.
00:18:29
Doch die Schwester nahm das nicht ernst.
00:18:31
Emma Dapp wird am 16. März 1889 in Stuttgart geboren.
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Der Vater ist Krebsforscher, die Mutter stirbt vier Tage nach ihrer Geburt.
00:18:41
Die Familie ist fromm und streng.
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1912 heiratet Emma den evangelischen Pfarrer Eugen Dapp.
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Die beiden ziehen in eine kleine Stadt in Heilbronn und bauen sich eine eigene Familie auf,
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bekommen drei Kinder.
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Doch eine stirbt bereits kurz nach der Geburt.
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Auch ihren Ehemann hat Emma nicht lang bei sich.
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Mit 29 wird sie zur Witwe, nachdem Eugen an der Grippe stirbt.
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Während Emma gerade schwanger von dem verstorbenen Kindsvater mit all den Schicksalsschlägen fertig werden muss,
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bekommt sie Besuch von ihrer Schwester, die ihr vorwirft, schlampig zu sein und den Haushalt nicht richtig führen zu können.
00:19:14
Emma war von ihrer Familie schon vorher als belastend wahrgenommen worden.
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Die dominante Schwester verkündet, dass Emma zu zwei Diakonissinnen nach Mannheim ziehen solle,
00:19:24
um Emmas Kinder würde sie sich kümmern, immerhin habe sie Ahnung von Erziehung.
00:19:29
Emma beugt sich dem Willen ihrer Familie und geht nach Mannheim.
00:19:32
Dort arbeitet sie in einer Spielzeugfabrik.
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Mitte der 20er Jahre lernt sie dort einen Mann kennen und wird nochmal schwanger.
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Als sie diese Nachricht 1927 zu Weihnachten bei ihrer Familie verkündet, ist die in heller Aufruhr.
00:19:45
Dass Emma verwitwet und jetzt nochmal schwanger ist, kann man nicht begreifen und beschließt, dass Emmas Verhalten krankhaft sein muss.
00:19:52
Haltlos, meint ihre Schwester und lässt Emma 1932 in die Psychiatrie einweisen.
00:19:57
Wegen angeborenen Schwachsins, sagt die ärztliche Diagnose.
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Auch das Neugeborene nimmt die Schwester an sich.
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Da ist Emma 43 Jahre alt.
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Acht Jahre lebt sie in der Heilanstalt Weinsberg.
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Mal in einer geschlossenen Abteilung, mal in einer, in der die Erkrankten ganz normale Arbeiten in den Weinbergen verrichten können.
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Dort erzählt man sich 1940 dann von den grauen Bussen, die zu den Anstalten fahren, um BewohnerInnen umzubringen.
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Als Emma das hört, schreibt sie ihrer Schwester, dass sie glaubt, in Gefahr zu sein.
00:20:27
Doch die sieht keinen Anlass, Emmas warnende Worte ernst zu nehmen.
00:20:30
Und so wird Emma am 4. Juni von einem dieser Busse mit 88 anderen Frauen abgeholt.
00:20:36
Nach diesem Tag gibt es kaum noch Informationen zu Emma.
00:20:40
Allerdings wird sie mit ziemlicher Sicherheit in Grafenegg demselben grausamen Tötungsprozess zum Opfer gefallen sein wie tausend andere.
00:20:46
Nachdem sich die Busse den langen Anfahrtsweg hoch zum Schloss gebahnt haben,
00:20:51
werden die darin Sitzenden registriert und zu den Untersuchungen geschickt.
00:20:54
Die bestehen daraus, dass sie ausgezogen, vermessen, gewogen und fotografiert werden.
00:20:59
Danach werden sie von ÄrztInnen begutachtet.
00:21:02
Einige bekommen ein Kreuz auf den Rücken gemalt.
00:21:04
Einige Ausnahmen werden wieder zurück in ihre Heilanstalten gefahren.
00:21:08
Nach der Untersuchung werden die Gefangenen in einer Bettenbaracke zwischengelagert,
00:21:12
ehe sie nackt zum Duschen geschickt werden.
00:21:15
Einige ahnen nichts von dem, was jetzt passieren wird.
00:21:19
Anderen, die panische Angst haben, wird eine Beruhigungsspritze gegeben.
00:21:22
Auf dem Weg zu den Duschen muss die Gruppe vorbei an den neu erbauten Krematoriumsöfen,
00:21:27
aus denen in der Regel ununterbrochen Rauch qualmt.
00:21:31
In dem Todesschuppen werden dann alle nochmal gezählt.
00:21:34
Maximal 75 Leute passen in diesen fensterlosen Duschraum mit Brauseköpfen, der alles andere ist als das.
00:21:41
Dann werden die luftdichten Stahltüren verschlossen.
00:21:43
Manchmal versuchen sich in den letzten Minuten einige noch zu wehren oder fangen an, laut zu schreien.
00:21:48
Dann wird von außen die Gaszufuhr aufgedreht und gewartet.
00:21:51
Später werden einige der TäterInnen behaupten, die Opfer seien ganz friedlich eingeschlafen, was eine Lüge ist.
00:21:58
Viele Opfer wissen damals, was mit ihnen passieren wird.
00:22:01
Die Eltern des 36-Jährigen an Schizophrenie erkrankten Theodor Künast finden bei seinen Sachen, die ihnen später zugesendet werden,
00:22:07
einen Keks, auf dem Theodor das Wort Mörder geschrieben hatte.
00:22:11
Nach 20 Minuten, wenn sich aus dem Inneren des Raums keine Bewegung mehr erkennen lässt, wird die Tür wieder geöffnet.
00:22:18
Die Arbeitenden tragen Gasmasken.
00:22:20
In dem Raum offenbart sich ein furchtbarer Anblick.
00:22:23
Einige der Leichen sind ineinander verkrallt, weil sie sich offenbar vorher aneinander festgehalten hatten.
00:22:28
Andere hatten sich erbrochen oder abgeführt.
00:22:31
Das Gas wird jetzt mithilfe von Ventilatoren nach draußen befördert, bevor der Brenner kommt, um die Leichen herauszuschleppen.
00:22:37
Denen, die vorher durch ein Kreuz auf den Rücken markiert worden waren, werden noch ihre Goldzähne herausgebrochen.
00:22:43
Ein paar Leichen bleiben meist zurück, weil die Leitung von Grafenegg sie für wissenschaftliche Experimente benutzen will.
00:22:49
Die anderen werden zu dem neuen Anbau gebracht, in dem die Verbrennungsöfen eingerichtet worden waren.
00:22:54
Drei Öfen verbrennen gleichzeitig jeweils eine Leiche.
00:22:58
Die Knochenreste werden dann von den Brennern in eine Mühle gegeben und später mit Asche vermischt, um die dann in Uhren an die Angehörigen zu verschicken.
00:23:05
Damit sich die Todesfälle in den einzelnen Städten nicht auffällig häufen, wird die sogenannte Absteckabteilung eingerichtet.
00:23:12
In dieser wird mithilfe einer Zeitkarte geguckt, aus welcher Stadt wie viele wann getötet wurden.
00:23:18
Wenn die Abteilung dann Gefahr läuft, in einem Ort zu viele Sterbeurkunden gleichzeitig rauszuschicken, werden die Akten eine längere Zeit lang zwischengelagert, sodass die Todesnachricht und auch der Todestag auf ein späteres Datum fallen.
00:23:31
Teilweise werden die Akten auch unter den Todesanstalten wie Grafenegg, Hadamar und Brandenburg verschickt, damit nicht eine Anstalt im Speziellen ins Visier rückt.
00:23:39
Wenn also später eine Sterbeurkunde aus Grafenegg bei einer Familie eintrifft, heißt das gar nicht unbedingt, dass ihr Angehöriger oder ihre Angehörige dort auch ermordet wurde, sondern lediglich, dass ihre Akte dort zuletzt aufbewahrt wurde.
00:23:50
Als Todesursache denken sich die bearbeitenden Krankheiten wie Angina, Lungentobakulose und dergleichen aus.
00:23:57
Es wird also alles dafür getan, weiterhin geheim zu halten, was in Grafenegg wirklich passiert.
00:24:02
Das Personal darf das Schloss über Monate nicht verlassen, damit nichts nach außen dringt.
00:24:08
Abends sitzen die MitarbeiterInnen zusammen beim Kartenspiel, trinken Wein und Schnaps, amüsieren sich zum Teil auch miteinander, während neben ihnen die Öfen rauchen.
00:24:16
Leuten von außerhalb wird wegen angeblicher Seuchengefahr der Zutritt auf das Gelände verwehrt.
00:24:22
Und trotz all dieser Bemühungen weiß man nach einigen Monaten, was es bedeutet, wenn die grauen Busse, die mittlerweile zu einer Metapher des Schreckens geworden sind, über die deutschen Straßen rollen.
00:24:34
Einige, an denen die Busse vorbeifahren, berichten, dass aus ihnen Schreie zu hören sind.
00:24:38
Rollen die Busse mal wieder an einer Gruppe Bahnarbeiter aus Mündingen vorbei, dann nehmen die ihre Kopfbedeckung ab.
00:24:43
Das Personal von Grafenegg wird in den Anstalten jetzt auch nicht mehr freundlich gegrüßt, sondern ihnen die Arbeit eher schwerer gemacht.
00:24:51
Die TäterInnen müssen sich die Ausgewählten jetzt selbst rausholen, um dann manchmal erst in den Bussen festzustellen, dass es die Falschen sind.
00:24:59
Einmal rennt den Männern aus Grafenegg aus einer Anstalt ein Mädchen mit offenen Armen entgegen.
00:25:04
Marianne ist offen und freut sich über den Besuch.
00:25:07
Auch sie steht auf der Liste. Davon weiß sie nichts.
00:25:10
Die Männer bitten daraufhin die Anstaltsleitung, ihnen ein anderes Mädchen statt Marianne rauszugeben, was die Leitung ablehnt.
00:25:16
Marianne Leutze ist zehn Jahre alt, als sie stirbt.
00:25:21
Langsam regt sich Widerstand in der Gesellschaft.
00:25:23
Auch Familien protestieren, weil sie die Todesursache, die auf der Urkunde steht, nicht glauben können.
00:25:28
Weil da zum Beispiel Blinddarmdurchbruch steht, obwohl der Blinddarm ihres Liebsten schon längst entfernt worden war.
00:25:34
Manche stellen sich sogar vor die Tore Grafeneggs, weil sie wissen wollen, was passiert ist.
00:25:38
Die stinkende Rauchwolke, die permanent über dem Schloss hängt, verrät es.
00:25:43
Am 19. Dezember, zwölf Monate nach dem Grafenegg von den Nazis in Betrieb genommen worden war,
00:25:48
schreibt Reisführer SS Himmler an Viktor Brack, einen der Hauptorganisatoren der Aktion T4,
00:25:53
Wie ich höre, ist auf der Alb wegen der Anstalt Grafenegg eine große Erregung.
00:25:58
Die Bevölkerung kennt das graue Auto der SS und glaubt zu wissen, was sich in dem dauernd rauchenden Krematorium abspielt.
00:26:05
Was dort geschieht, ist ein Geheimnis und ist es doch nicht mehr.
00:26:09
Somit ist dort die schlimmste Stimmung ausgebrochen und es bleibt meines Erachtens nur übrig,
00:26:13
an dieser Stelle die Verwendung der Anstalt einzustellen und allenfalls in einer klugen und vernünftigen Weise aufklärend zu wirken,
00:26:20
indem man gerade in der dortigen Gegend Filme über Erb- und Geisteskranke laufen lässt.
00:26:25
Diese Filme wurden in Grafenegg und anderen Anstalten gedreht und trugen unter anderem Namen wie
00:26:30
Dasein ohne Leben und die sollten halt aufklärend wirken,
00:26:34
in dem besonders beeinträchtigte Menschen oder jene mit erheblichen Fehlbildungen vor der Vergasung erst einmal vorgeführt wurden.
00:26:42
Allerdings wurden die Filme am Ende doch nicht veröffentlicht.
00:26:45
Letztendlich ist es aber nicht Himmlers Brief und die Unruhe in der Bevölkerung,
00:26:50
die Grafenegg im Dezember 1940 ein Ende bereitet.
00:26:54
Der wahre Grund ist viel schlimmer.
00:26:55
Der Auftrag Grafenegg geht sozusagen als fertiggestellt.
00:26:59
In der Gegend gibt es keine möglichen Opfer mehr.
00:27:02
Am 13. Dezember 1940 rauchen das letzte Mal die Öfen.
00:27:06
Dann wird das Personal erstmal in den Urlaub geschickt und danach in die Tötungsfabrik Hadamar in Hessen versetzt.
00:27:13
In den Jahren 1940 und 1941 wurden neben Grafenegg in Brandenburg, Hardheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar
00:27:22
mindestens 70.000 Erwachsene und Kinder mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen,
00:27:28
die nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten, vergast.
00:27:32
Also etwa 20 Prozent derer, die sich in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten befanden.
00:27:38
Über 10.000 davon in Grafenegg.
00:27:41
In Bernburg und Sonnenstein mordeten die Nazis bis 1943 weiter, in Hardheim sogar bis 1944.
00:27:48
Allerdings fokussierte man sich hier mittlerweile auf KZ-Inhaftierte, die krank, alt oder nicht arbeitsfähig waren.
00:27:55
Diese Aktion lief dann allerdings nicht mehr unter dem Namen T4, sondern 14F13.
00:28:00
Später besetzten einige der TäterInnen aus Grafenegg hohe Posten in anderen Vernichtungslagern.
00:28:06
Nur durch einen glücklichen Zufall kehren nach Kriegsende 1945 45 Männer aus der Gruppe zurück,
00:28:13
die vor T4 in Grafenegg gewohnt hatten.
00:28:16
Durch einen bürokratischen Fehler hatte man die Leute, die vorher in Grafenegg waren, nicht mehr auf dem Schirm.
00:28:21
Im Schloss selbst lässt zu diesem Zeitpunkt nichts auf das schließen, was hier in den Jahren vorher passiert ist.
00:28:28
All die Akten und Unterlagen, Listen und Sterbeurkunden wurden verbrannt, um keine Spuren zu hinterlassen.
00:28:33
Nur einigen Bäumen, die dem ständigen Rauch ausgesetzt waren, sieht man an, dass hier zwölf Monate lang die Ofen brannten.
00:28:40
Ein Verbrechen, mit dem die TäterInnen glimpflich davon kamen.
00:28:44
Dr. Horst Schumann beispielsweise, der ärztliche Direktor der Landespflegeanstalt Grafenegg, der allein die Gesamtverantwortung für die Durchführung der Morde innehatte,
00:28:52
wird erst 1966 nach langer Flucht vor Gericht gestellt.
00:28:56
Doch nach einem Jahr wird das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.
00:29:00
Angeblich sei er schwer krank.
00:29:03
Danach lebt Schumann noch 13 Jahre in Freiheit, unbekümmert von seiner Verantwortung.
00:29:07
Auch andere Prozesse sorgen nicht dafür, dass die Taten entsprechend gesühnt werden.
00:29:12
1948 und 1949 stehen in Freiburg und Tübingen zehn TäterInnen aus Grafenegg vor Gericht.
00:29:19
Vier werden freigesprochen, sechs bekommen Haftstrafen zwischen eineinhalb Jahren und lebenslang.
00:29:24
Doch niemand bleibt länger als bis Anfang der 50er Jahre hinter Gittern.
00:29:28
Die Uhren drehen sich wieder vor.
00:29:31
Wir sind wieder im Jahr 2022, in dem sich das Schloss, auf dessen Grundstück wir stehen,
00:29:36
erneut der Hilfe von Menschen mit Behinderung und der Sozialpsychiatrie verschrieben hat.
00:29:40
Damit man niemals in Vergessenheit geraten lässt, was damals passiert ist, steht in Grafenegg heute diese Gedenkstätte.
00:29:47
Wir steigen jetzt wieder in den Linienbus, der uns zurückbringt.
00:29:50
Als sich an unserer Haltestelle die Türen öffnen, geben sie den Blick auf eine Person frei, die dort auf uns wartet.
00:29:56
Es ist Laura, die uns abholt.
00:30:00
Ich hole euch alle ab.
00:30:02
Also, ich weiß schon wieder nicht, was ich sagen soll.
00:30:09
Ich finde es so eklig, dass diese Angehörigen dann Trostschreiben bekommen haben.
00:30:18
Weil es nochmal irgendwie zeigt, wie zynisch die mit dieser ganzen Sache umgegangen sind.
00:30:24
Und was mich natürlich auch wieder aufregt, ist dieses typische TäterInnen kommen irgendwie glimpflich davon.
00:30:33
Also, das hatten wir jetzt schon öfters im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Straftaten, wo man sich wirklich an den Kopf fassen muss und denken muss, diese schrecklichen Taten wurden vor der Nase ganz vieler Leute begangen.
00:30:46
Und niemand hat was getan.
00:30:48
Und jetzt oder da, wo es Zeit gewesen wäre, diese zu rächen, sag ich jetzt mal, hat man das dann auch schon wieder versäumt.
00:30:56
Das kann doch eigentlich gar nicht sein.
00:30:57
Und dann auch noch, dass dieser Arzt angeblich so schwer krank war, dass er dann nicht fahndungsfähig war, aber 13 Jahre dann noch leben konnte.
00:31:09
Ja, das ist auch wieder so eine eklige Ironie, der, der andere Leute, die nicht krank waren, diesen Stempel aufgedrückt hat, nur damit er seine Ideologie wahrzumachen, macht sich wahrscheinlich am Ende in Anführungszeichen selber krank, um da sich rauszuwieseln aus dieser ganzen Verantwortung, die er hatte.
00:31:32
Ja, genau. Also die, die in einem ähnlichen Zustand waren wie er vor Gericht, die wurden damals vergast und er kriegt dadurch jetzt einen Freispruch, so gefühlt.
00:31:43
Also, ja, es ist natürlich kein richtiger Freispruch, aber es ist halt, ja, er ist halt frei danach, ja.
00:31:51
Was ich jetzt auch wieder irgendwie erschreckend fand, also ich wusste ja, dass Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen und psychisch Erkrankte damals getötet wurden, aber was mir jetzt irgendwie wieder so neu war, ist, wer alles als psychisch krank galt.
00:32:09
Also, das ist wirklich so eine Willkür gewesen von den Menschen, die dann in solche Anstalten gesteckt worden waren.
00:32:15
Ein Mann, der war irgendwie Schuhmacher, der hatte halt Parkinson und weil sein Arm zitterte, war der halt dann eben in so einer Anstalt und der wollte auch gerne dann raus, als das 1940 so anfing und hat auch noch seiner Familie geschrieben.
00:32:31
Also, ich habe doch alles gelernt und jetzt, wo so viele Männer in den Krieg ziehen, könnte ich doch arbeiten und Arbeit verrichten und wollte auch noch was für diesen Staat tun und wird dann halt auch mit so einem Bus abgeholt.
00:32:43
Also, nicht, dass das eine jetzt schlimmer wäre als das andere, weil natürlich jedes Menschen dem gleich viel wert ist.
00:32:50
Aber es ist einfach so erschreckend zu sehen, dass damals einfach jeder und jede da hätten landen können und sie auch gar keine eigene Entscheidungsgewalt darüber hatten, ob sie da hinkommen oder nicht.
00:33:02
Ja, was du von der Emma auch erzählt hast, also nur weil sie sich nicht so verhalten hat, wie ihre Familie das wollte, wurde ihr dann dieser Stempel aufgedrückt.
00:33:14
Absinnig. Also, es ist halt immer so gefährlich, wenn jemand meint, irgendwie, dass alle sich so verhalten müssten wie die Mehrheitsgesellschaft oder was die dann denken, was in Anführungsstrichen normal ist.
00:33:28
Genau, und ja, auch gar nicht nur so Normalität, sondern so, wie Menschen sein müssen, damit sie der deutschen Rasse, wieder in Tüdelchen, nutzen würden.
00:33:40
Da will ich jetzt auch nochmal in meinem Aha drauf eingehen, nämlich auf diese Idee der Euthanasie und wie man überhaupt dazu kam, solche Taten irgendwie rechtfertigen zu können.
00:33:52
Was man nicht kann, aber um euch einmal in diese Gedankenwelt mitzunehmen.
00:33:57
Dem liegt nämlich die sogenannte Theorie des Sozialdarwinismus zugrunde.
00:34:01
Und als Vater dessen gilt der britische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer.
00:34:05
Der bezog sich damals auf Charles Darwin, der ja über die Entstehung der Arten vereinfacht gesagt hatte, dass sich am Ende die durchsetzen, die sich am besten den Umweltbedingungen anpassen würden.
00:34:17
Also so nach dem Motto, alles andere würde sich durch eine natürliche Auslese dann sowieso selbst regeln.
00:34:22
Und diesen Kampf ums Dasein, dass nur die besten, stärksten oder wer auch immer gewinnen können oder sollten, übertrug Spencer auf die Menschheit.
00:34:32
Und der prägte dann auch diesen Begriff Survival of the fittest.
00:34:36
In Deutschland fand diese Theorie vor allem Gehör, nachdem halt einige anerkannte Wissenschaftler in diese Idee aufgriffen, also eben auch diese Teilaspekte vom Darwinismus zweckentfremdeten und dann verbreiteten, dass die Evolution ja zeigen würde, dass sich immer nur eine bevorzugte Minderheit durchsetzen würde.
00:34:55
Und nur durch diese Durchsetzung die Menschheit dann auch vollkommen werden würde.
00:34:59
Und damit das auch weiterhin so bliebe, forderte man irgendwann die sogenannten Volksschädlinge auszusortieren und so dann eine Erbpflege zu betreiben, die man Eugenik beziehungsweise Rassenhygiene nannte.
00:35:13
Also man ging davon aus, dass die Natur einen Filter habe, der für die natürliche Selektion unter den Arten sorgte und eben ja dann nur die Stärksten überleben würden und dass dieser Filter bei den Menschen durch die Medizin und die Fürsorge und Pflege und Entwicklung und all das weggefallen sei.
00:35:29
Und das würde dann langfristig dazu führen, dass die Menschheit sich verschlechtern würde.
00:35:33
Und deshalb waren die EugenikerInnen aus der Zeit der Meinung, dass sie selbst diesen vermeintlich verlorengegangenen Filter, nochmal, ist alles purer Blödsinn, aber dass sie diesen Filter durch eine Fortpflanzungshygiene wieder einführen müssten.
00:35:49
Ansonsten sei das halt eben schlecht für die Rasse, weil man damals eben kommende Generationen nicht mit diesem Erbe belasten dürfe.
00:35:57
Und das fand in der Politik dann Anklang, als die Nazis an die Macht kamen.
00:36:02
Und wenn man schon hört, man wollte andere nicht belasten, aber dafür hat man dann andere Menschen getötet.
00:36:10
Wenn man das mal so laut ausspricht, muss man sich ja schon denken, also irgendwie macht diese Theorie oder was ihr da jetzt dann draus macht, auch gar keinen Sinn.
00:36:17
Weil ihr damit, wenn ihr Menschen tötet, diese Menschen zufälligerweise belastet, indem ihr ihnen Leid antut und auch deren Angehörigen.
00:36:26
Also was ist das für eine verquere Denkweise?
00:36:29
Ja, also die haben halt nie das Individuum an sich gesehen, sondern immer diese vermeintliche Rasse, die es in der Menschheit ja gar nicht gibt.
00:36:39
Aber das war deren Denke und die muss perfektioniert werden, die muss gezüchtet werden, sozusagen.
00:36:46
Und deswegen wurden dann halt auch erstmal die Menschen sterilisiert, von denen man meinte, sie seien minderwertig.
00:36:53
Und später ging es dann eben auch um die Ermordung junger Kinder und dann um Erwachsene, weil man sich damals sozusagen öffentlich fragte, also wie viel Geld kostet dieser Aufenthalt von, Zitat, solchen Idioten?
00:37:06
Oder man sprach auch von leeren Menschenhülsen in diesen Anstalten und wie viel gesunde Menschen könne man davon eigentlich ernähren?
00:37:15
Und da bezog man sich dann auch auf den Ersten Weltkrieg und streute dann das Narrativ, die Tüchtigen, die seien im Krieg gewesen, der Rest habe gehungert und die Pfleglinge hätten alle Nahrungsmittel in den Heil- und Pflegeanstalten aufgegessen und Lazarettbetten blockiert.
00:37:30
Kleine Randgeschichte, die das auch nochmal ad absurdum führt.
00:37:34
Es gibt diesen Fall von Karl-Eugen Albus, der musste als junger Mann in den Ersten Weltkrieg ziehen und ist danach dann seelisch und körperlich total mitgenommen gewesen und dann in eine Pflegeanstalt gekommen.
00:37:45
Und dem wurde dann 1935 in Hitlers Namen das Eiserne Ehrenkreuz für Frontkämpfer verliehen.
00:37:52
Und fünf Jahre später wird er dann vom Grauen Bus abgeholt.
00:37:55
Nicht dein Ernst?
00:37:56
Also das kann man ja gar nicht glauben.
00:38:00
Ja und die Nazis, die haben ja ihre Taten auch noch glorifiziert, indem sie gesagt haben, in der Natur würden die Betroffenen ja qualvoll verhungern.
00:38:10
Wir dürfen humaner sein und einen schmerzlosen Gnadentod bereiten.
00:38:15
Deswegen, weil du gerade meintest, die töten die, das haben die ja gar nicht so gesehen.
00:38:19
Also wahrscheinlich sie selber schon, aber so haben sie es halt nicht nach außen kommuniziert.
00:38:24
Sondern, dass sie Gnade walten lassen würden und damit ja gleichzeitig auch noch was Gutes tun, weil sie Volk und Rasse stärken.
00:38:31
Und die Euthanasie, die endete übrigens auch nicht mit der Schließung dieser Tötungsfabriken.
00:38:36
Man hat halt die Leute dann nur nicht mehr vergast alle zusammen, sondern ließ sie dann halt in Krankenhäusern oder in den Heil- und Pflegeanstalten entweder durch Medikamente töten oder sie verhungern.
00:38:47
Und ich habe das ja schon im Fall angeschnitten.
00:38:49
Euthanasie wird in Deutschland in der Regel im Zusammenhang mit der NS-Zeit gesehen, weil die damals diesen Begriff eben für die Morde benutzt haben.
00:38:57
Und das versteht man auch unter Euthanasie in anderen Ländern geht es ja dabei um aktive Sterbehilfe und Tötung auf Verlangen.
00:39:04
Und das ist ja auch so ein Themenbereich, wo es auch heute noch um die Frage nach lebenswertem und nicht lebenswertem Leben geht.
00:39:14
Weil da wird dann immer der Wert eines Lebens auch mit der Lebensqualität verbunden.
00:39:18
Und da fragt man sich dann eben sowas wie, was kann ich denn dann noch, wenn ich querschnittsgelehnt bin?
00:39:25
Und möchte ich dann überhaupt noch weiterleben?
00:39:28
Und beantwortet werden diese Fragen in der Regel immer mit dem Gedanken an so eine vermeintliche Norm.
00:39:35
Also was konnte ich früher oder was sollte man normalerweise können und bin ich dann da noch zu imstande oder so?
00:39:44
Und da werden viele Menschen mit Behinderung eigentlich ja von vornherein ausgeschlossen.
00:39:48
Und weil Behinderung und Leid in dieser öffentlichen Diskussion oft gleichgesetzt werden,
00:39:53
werden Menschen mit Behinderung da in eine ganz schlimme Lage versetzt bei dem Thema aktive Sterbehilfe.
00:40:01
Nämlich die, dass die das Gefühl bekommen, sich dafür rechtfertigen zu müssen,
00:40:05
dass sie jetzt trotz ihrer Behinderung nicht sterben möchten.
00:40:09
Ja, ich finde das eh so krass, dass von außen immer so ein Druck aufgebaut wird nach dem Motto,
00:40:13
also ich möchte so nicht leben.
00:40:16
Das kann man gar nicht sagen, weil du etwas, was dich nicht betrifft, auch nicht beurteilen kannst.
00:40:22
Du kannst ja als laufender Mensch nicht entscheiden, wie du dich fühlen wirst, wenn du dann im Rollstuhl sitzt.
00:40:28
Aber weil dieses Bild von vielen eben so aufrechterhalten wird nach dem Motto,
00:40:32
nee, für mich wäre das nichts, muss man halt da auch voll aufpassen,
00:40:36
dass das nicht noch Schuldgefühle bei anderen weckt, die dann am Ende halt nicht zur Last fallen wollen oder so.
00:40:43
Ist ja oft ein Thema bei der Sterbehilfe.
00:40:47
Und deswegen stellen sich auch viele Betroffene gegen so eine Legalisierung,
00:40:53
Weil sie eben die Sorge haben, dass sich vielleicht der Blick auf sie noch weiter, kann man ja sogar sagen,
00:41:00
irgendwie verändert und die dann auch irgendwann unter so einen Druck geraten,
00:41:05
dann eher Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, als irgendwie teure Assistenz- und Medizinleistungen.
00:41:12
Weil sie irgendwie dann das Gefühl haben, das würde von der Gesellschaft so erwartet werden.
00:41:19
Mein Fall zeigt, wie tief der Ableismus auch heute noch in unserer Gesellschaft verankert ist.
00:41:24
Einige Namen habe ich geändert.
00:41:28
Das rot-gelbe Gebäude liegt direkt an der Hauptstraße, mitten im Herzen von Potsdam-Babelsberg.
00:41:34
Im obersten Stockwerk sind wie überall im Haus bodentiefe Fenster eingelassen,
00:41:38
doch das bunte Treiben draußen ist für die Bewohner in dieser Etage sehr weit weg.
00:41:44
Denn schon seit einiger Zeit dürfen die Menschen auf der Wohnpflegestation des Zusnelda-von-Saldern-Haus
00:41:49
nicht mehr nach draußen, dank Corona.
00:41:52
Meistens liegen sie daher in ihren Betten.
00:41:57
Hinter den großen Fenstern des Zimmers 3020 liegt Lucille.
00:42:01
Sie ist 42 Jahre alt und gelernte Friseurin.
00:42:05
Silly, wie Familie und Freundinnen sie liebevoll nennen, ist noch nicht lange auf der Wohnpflegestation.
00:42:11
Ein fremdverschuldeter Verkehrsunfall hatte sie 2014 hierher gebracht.
00:42:15
Als sie auf dem Weg zu ihrem Lebensgefährten und ihrem siebenjährigen Sohn war,
00:42:19
hatte ihr ein Autofahrer die Vorfahrt und damit ihr Leben, wie sie es bisher kannte, genommen.
00:42:25
Da war sie erst 34 Jahre alt.
00:42:27
Lucille erlitt dadurch eine Hirnblutung und fiel in einen Wachkoma-artigen Zustand.
00:42:32
Zum Zeitpunkt des Unfalls war sie in der siebten Woche schwanger.
00:42:35
Das Baby, ihren zweiten Sohn, entband Lucille während des Wachkomas per Kaiserschnitt.
00:42:41
Und obwohl sie kurze Zeit später aus dem Koma erwachte und immer wieder kleinere Fortschritte erzielen konnte,
00:42:46
hat sie ihren jüngsten Sohn bisher nur ein paar Mal sehen können, denn sie ist jetzt auf Hilfe angewiesen.
00:42:53
Lucille kann nämlich weder ihre Arme noch ihre Beine bewegen, nur leicht den Kopf drehen.
00:42:58
Mit ihrer Umwelt kommuniziert sie heute vor allem durch Augenzwinkern.
00:43:02
Einmal blinzeln heißt ja, zweimal nein.
00:43:06
Weil Lucille zwischenzeitlich immer mal wieder krank war, hatten die ÄrztInnen sie als Palliativpatientin eingeschätzt, die kurz vor dem Tod stand.
00:43:13
Doch ihr Zustand hatte sich vor allem auch wegen ihres starken Lebenswillens in letzter Zeit wieder stabilisiert.
00:43:20
Ein paar Zimmer weiter wohnt Andreas.
00:43:21
Der 56-Jährige ist seit seiner Geburt zu 50% geistig behindert.
00:43:26
Er hatte die Förderschule besucht und danach in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung gearbeitet.
00:43:31
Doch 2016 erlitt er dann eine Gehirnblutung und fiel ins Koma.
00:43:35
Als Andreas wieder erwachte, war er linksseitig gelähmt und hatte sein Sprachvermögen verloren.
00:43:41
Lesen kann er noch und sich verständigen geschieht heute mithilfe seines Daumens.
00:43:46
Heben heißt einverstanden, Senken nicht einverstanden.
00:43:50
Und wenn er unzufrieden ist, dann zeigt Andreas das durch eine abweisende Armbewegung.
00:43:54
Auch Christian, der zwei Zimmer neben Andreas wohnt, lebt seit Kindertagen mit einer Behinderung.
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Er kam mehrere Wochen zu früh zur Welt und erlitt bereits kurz nach der Geburt eine Hirnschädigung.
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Im achten Monat wurde bei ihm außerdem Epilepsie festgestellt.
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17 Jahre lang pflegten seine Eltern ihn zu Hause.
00:44:13
Dann kam er ins Tusnelda-von-Saldern-Haus.
00:44:16
Christian, der nie Laufen oder Sprechen gelernt hat, zeigt seine Gefühle durch Mimik und Gestik und durch Weinen und teilt sich so seiner Umwelt mit.
00:44:24
Aufgrund einer stark ausgeprägten Spastik wird er über eine Magensonde ernährt und seit einem Jahr braucht er eine Halskrause, wenn er im Bett liegt, damit er seinen Kopf nicht zu sehr überstreckt.
00:44:35
Elke wohnt im Zimmer 3001.
00:44:38
Sie hatte mit 31 Jahren ihren ersten Herzinfarkt, nach welchem sie zunächst noch eigenständig leben konnte, bis sie im Juli 2017 den zweiten erlitt.
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Seitdem ist Elke hier.
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Sie ist heute nicht mehr in der Lage, sprachlich zu kommunizieren und sich eigenständig fortzubewegen.
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Und so geht es auch Martina, die aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens schwer geistig und körperlich behindert ist.
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Die 31-Jährige ist fast blind.
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Um sich bemerkbar zu machen, schreit sie.
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Beruhigend wirken sich auf Martina Geräusche aus, weshalb der Fernseher in ihrem Zimmer fast andauernd läuft.
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Diese fünf BewohnerInnen des Too Snell da von Seidern Hauses brauchen besonders viel Aufmerksamkeit.
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Eine, die schon seit Jahren für sie da ist, ist Tanja.
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Tanja ist Pflegerin mit Leib und Seele.
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Eine, die die Pflegetätigkeit als Berufung ansieht.
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Seit mittlerweile mehr als 30 Jahren ist sie schon im Oberlin-Haus tätig.
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Zudem neben dem Too Snell da von Seidern Haus auch noch andere Einrichtungen für Menschen mit Behinderung zählen
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und kümmert sich in mütterlicher Weise um ihre Leutchen, wie sie ihre KlientInnen liebevoll bezeichnet.
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Wann immer es ihr möglich ist, geht die 51-Jährige auf ihre Bedürfnisse ein und versucht, ihre Wünsche zu erfüllen,
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indem sie zum Beispiel dabei hilft, die Zimmer liebevoll zu dekorieren.
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Durch respektvolle Ansprache und körperliche Berührungen stellt Tanja eine emotionale Nähe zu den BewohnerInnen her
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und trägt mit ihren gelegentlichen Späßen zur fröhlichen Stimmung auf der Wohnpflegestation bei.
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Gemeinsam mit zwei Kolleginnen ist Tanja auch heute, am 28. April 2021, wieder im Einsatz.
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Und zwar in der Spätschicht.
00:46:14
Doch noch bevor diese für sie gegen 20 Uhr endet, sind vier Menschen auf der Station tot.
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Tanjas größter Wunsch ist es, Krankenschwester zu werden.
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Doch weil sie nicht den richtigen Schulabschluss gemacht hat, entscheidet sie sich im September 1987 dafür,
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als pflegerische Hilfskraft in einem Altenheim anzufangen.
00:46:34
So können sie Menschen auf andere Weise helfen.
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Während ihrer Arbeit dort absolviert Tanja berufsbegleitend eine Krankenpflegeausbildung
00:46:41
und fängt im Mai 1990 im Oberlinhaus als Pflegekraft in einem Wohnheim für schwerstmehrfach behinderte Kinder und Jugendliche an.
00:46:48
Immer an ihrer Seite, ihr Lebensgefährte Erich, den sie schon seit Teenagertagen kennt.
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1994 wird dann Tanjas erster Sohn geboren, Manuel.
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Als dieser zwei Jahre alt ist, erkrankt er an einer Hirnhautentzündung und leidet seitdem unter einer geistigen Behinderung.
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Ein Jahr später wird Tanjas zweiter Sohn geboren, Lukas.
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Doch mit zwei kleinen Kindern und einem davon mit geistiger Behinderung sind Tanja und Erich bald überfordert.
00:47:14
Erst holen sie sich einen Familienhelfer ins Haus, doch als Manuel sechs Jahre alt ist, entscheiden sie sich dafür, ihn ins Oberlinhaus zu geben,
00:47:21
der Pflegeeinrichtung, in der Tanja arbeitet.
00:47:24
Weil Tanja aber immer mehr unter diesem Umstand leidet, wechselt sie im Jahr 2000 in den Erwachsenenbereich des Oberlinhaus.
00:47:32
Hier macht ihr die Arbeit wieder Spaß, bis es ihr 2007 psychisch immer schlechter geht.
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Ihren Job auf der Wohnpflegestation kann Tanja in dieser Zeit nur noch ausüben,
00:47:41
wenn sie sich nach der Schicht mit Alkohol oder Beruhigungstabletten betäubt.
00:47:44
Im September des Jahres wendet sie sich deshalb an ihre Hausärztin.
00:47:48
Diese weiß, dass solch ein Hilfeschrei ihrer Patientin ernst genommen werden sollte,
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denn Tanja unternahm als Teenager mehrere Suizidversuche.
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Daher überweist sie Tanja in eine Psychiatrie, in der diese mehrere Tage behandelt wird.
00:48:02
In den nächsten Jahren kommt Tanja noch fünfmal in diese Klinik.
00:48:05
Sie wird verschiedene ÄrztInnen sprechen, die bei ihr unter anderem eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung,
00:48:10
eine posttraumatische Belastungsstörung, eine Ich-Störung und Suizidgefahr feststellen werden.
00:48:16
2009 vertraut Tanja einer Psychologin an, dass sie vor kurzem die Vorstellung gehabt hatte,
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ihre KlientInnen, Zitat, langsam zu massakrieren.
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Auch 2012 äußert Tanja, sie habe Fantasien, ihren Mitmenschen und vor allem ihren KlientInnen etwas anzutun.
00:48:35
Doch trotz ihrer teils wochenlangen Aufenthalte in der Psychiatrie arbeitet sie weiter im Tosnelder von Saldernhaus,
00:48:42
als wäre nichts geschehen.
00:48:43
Nachdem sie 2019 dann wieder für mehrere Wochen krankheitsbedingt ausfällt,
00:48:48
bietet ihr ihre Chefin an, in den Hauswirtschaftsbereich zu wechseln,
00:48:51
in dem das Arbeitspensum deutlich geringer ist.
00:48:54
Weil ein solcher Wechsel durch den Wegfall von Schichtzulagen aber deutlich schlechter bezahlt wird,
00:49:00
Das Haus wird nämlich gerade saniert und dafür braucht sie jeden Cent.
00:49:03
Im Sommer 2020 klagt Tanja ihrer Chefin dann aber, dass sie mit der Belastung überfordert ist.
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Durch die immer wiederkehrenden Personalengpässe sei die Situation nicht mehr haltbar, findet sie.
00:49:14
Ihr wird vorgeschlagen, im Förderteam eingesetzt zu werden,
00:49:17
in dem der Workload deutlich geringer ist.
00:49:20
Obwohl sich bei dem Wechsel nichts an ihrem Verdienst ändern würde, will Tanja nicht.
00:49:24
Wie schlecht es ihr psychisch wirklich geht, merkt man im Haus nicht.
00:49:29
Unter ihren KollegInnen ist auch nicht bekannt, weshalb sie so oft krankheitsbedingt ausfällt.
00:49:34
Bei ihrer Arbeit wirkt Tanja immer ausgeglichen.
00:49:37
Trotz hoher Belastung erscheint sie zu keiner Zeit gestresst oder genervt.
00:49:41
Im Gegenteil, sie ist der Ruhepol der Station.
00:49:44
Eine Frau, bei der die BewohnerInnen in guten Händen sind.
00:49:47
Sie springt sogar kurzfristig ein, wenn KollegInnen ausfallen und verrichtet Tätigkeiten,
00:49:52
die über ihre üblichen Aufgaben hinausgehen.
00:49:54
Mit Beginn des Jahres 2021 spitzt sich die Personalsituation auf der Wohnpflegestation allerdings weiter zu.
00:50:01
Infolge der personellen Unterbesetzung wegen Corona stehen für den Spätdienst
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oft mehrere Tage hintereinander nur zwei Pflegekräfte zur Verfügung.
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Für 20 BewohnerInnen, die intensiv betreut werden müssen.
00:50:13
An solchen Tagen können die schwerstbehinderten BewohnerInnen mit Pflegegrad 5 oder 5 plus aus Zeitmangel gar nicht mobilisiert werden.
00:50:21
Sie erhalten nur eine Grundpflege und müssen den ganzen Tag im Bett verbringen.
00:50:24
Dass es Tanja dann nicht möglich ist, ihre Leutchen, wie sie sagt, so intensiv zu pflegen, wie sie es bisher tut und auch für erforderlich hält, belastet sie.
00:50:33
Um die Situation auszuhalten, greift sie zu Altbewährtem, Alkohol und Medikamenten.
00:50:38
Obwohl sie jetzt auch gegenüber KollegInnen zum Ausdruck bringt, dass sie der Herausforderung des Jobs nicht mehr gewachsen ist,
00:50:43
kann sich Tanja nicht dazu durchringen, sich krankschreiben zu lassen.
00:50:46
Sie will ihre KollegInnen nicht im Stich lassen.
00:50:50
Nachdem es so schlimm wird, dass ihr Mann Erich sie sogar dazu drängt, die Ärztin anzurufen,
00:50:55
um sich sofort in stationäre Behandlung zu geben, verspricht Tanja ihm, das am 29. April zu tun.
00:51:00
Am Abend davor hat sie Spätschicht.
00:51:03
Um den Dienst überhaupt antreten zu können, hat sie zu Hause noch ein stimmungsaufhellendes Medikament geschluckt.
00:51:09
Trotzdem fällt Tanja ihren KollegInnen an diesem Tag auf.
00:51:12
Sie ist ungewöhnlich ruhig und wirkt traurig.
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Mehrere Menschen fragen Tanja, ob alles okay sei.
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Doch in ihrem Inneren sieht es anders aus.
00:51:22
Eine Wut macht sich breit und die Gewaltfantasien drängen in ihr Bewusstsein.
00:51:27
Diesmal kann sie den Drang, diese in die Realität umzusetzen, nicht mehr zurückhalten.
00:51:31
Und so macht sich Tanja auf den Weg ins Zimmer 3008.
00:51:35
Zu Christian, der mit der Halskrause in seinem Bett liegt, damit er den Kopf nicht überstreckt.
00:51:40
Einem Mann, der aufgrund seines hohen Pflegeaufwands in Tanjas Augen mitursächlich für ihre Überforderung ist.
00:51:47
Sie tritt an sein Bett, legt beide Hände um seinen Hals und drückt zu.
00:51:52
Mit aller Kraft.
00:51:53
Als Christian Blau anläuft, lässt sie von ihm ab und geht weiter ins benachbarte Zimmer 3016.
00:51:58
Hier liegt Martina, die zwar nicht sehen kann, wenn Menschen ihr Zimmer betreten, die es aber hört und spürt.
00:52:05
Auch sie wirkt Tanja mit solch einer Kraft, das Blut aus Martinas Ohren austritt.
00:52:11
Doch die 31-Jährige überlebt.
00:52:13
Tanja wird klar, dass sie ihr Ziel auf diese Weise nicht erreichen kann, weil es für sie eine zu große Kraftanstrengung bedeuten würde.
00:52:20
Um sich zu vergewissern, dass Christian aber tatsächlich tot ist, geht sie noch einmal in sein Zimmer zurück.
00:52:25
Doch zu ihrer Überraschung stellt sie fest, dass auch er ihren Angriff überlebt hat.
00:52:29
In dem Moment fällt Tanja das Keramikmesser ein, das sie seit einiger Zeit zu ihrem Schutz mit zur Arbeit nimmt,
00:52:35
um sich auf dem Weg zum Auto im Falle eines Angriffs besser verteidigen zu können.
00:52:38
Tanja geht also in den Aufenthaltsraum der Pflegekräfte, in dem ihr Kollege gerade am Laptop sitzt und greift nach ihrem Stoffbeutel.
00:52:46
Ich hole nur kurz Zigaretten, sagt Tanja und verschwindet mit dem Beutel in der Hand.
00:52:52
Als nächstes betritt sie das Zimmer 3020, Lucils Raum.
00:52:56
Mit dem Messer in der rechten Hand tritt sie ans Bett der 42-jährigen Friseurin und schneidet Lucille in den Hals.
00:53:02
Dasselbe macht sie im Zimmer 3016 bei Martina, die sie zuvor erfolglos gewirkt hatte.
00:53:09
Auch zu Andreas stellt sich Tanja ans Bett.
00:53:11
Weil sich der 56-Jährige, der nur auf der linken Seite gelähmt ist, versucht sich mit seinem rechten Arm zu wehren,
00:53:17
setzt Tanja das Messer bei ihm mehrfach an.
00:53:19
Anschließend geht sie an drei angrenzenden Zimmern vorbei, bis zum Raum 3001, in dem Elke wohnt.
00:53:26
Auch Elke, die zwei Herzinfarkte in dieses Bett gebracht hatten, wird von ihrer langjährigen Pflegerin angegriffen.
00:53:32
Danach macht sich Tanja noch einmal auf in Christians Zimmer, den zu erwürgen ihr ebenfalls nicht gelungen war.
00:53:38
Um diesmal sicher zu gehen, fügt sie dem 36-Jährigen einen tiefen Schnitt am Hals zu.
00:53:43
Danach wäscht sich Tanja das Blut am Waschbecken ab und reinigt auch das mitgebrachte Keramikmesser.
00:53:48
Ohne sich wie sonst von ihren KollegInnen zu verabschieden, verlässt sie um Viertel nach acht das Gebäude.
00:53:53
Auf dem Weg zum Auto begegnet sie noch einer Pflegerin, die ihr einen schönen Feierabend wünscht.
00:53:58
Tanja entgegnet, dir später auch.
00:54:01
Es ist 20.43 Uhr, als das Telefon auf der Wohnpflegestation des Zusnelda von Seildernhauses klingelt.
00:54:08
Pflegerin Irma hebt ab.
00:54:10
Es ist Erich, der Ehemann ihrer Kollegin Tanja.
00:54:13
Er möchte wissen, was auf der Station passiert sei.
00:54:16
Seine Frau rede nicht mit ihm und sei völlig aufgelöst.
00:54:19
Tanjas Kollegin erklärt dem Mann, dass alles in Ordnung sei.
00:54:22
Wie lange war das da zwischen Tat und Anruf?
00:54:25
Um 20.50 Uhr klingelt es erneut.
00:54:37
Wieder ist Erich am Apparat.
00:54:39
Er fordert Irma auf, in den Zimmern der BewohnerInnen nachzuschauen.
00:54:43
Dort müsste etwas passiert sein.
00:54:44
Nachdem Irma aufgelegt hat, dauert es nicht lange, bis sie nacheinander fünf Menschen blutüberströmt in ihren Betten findet.
00:54:52
Oh mein Gott, das ist ja ein absolutes Horrorszenario.
00:54:56
Die Polizei wird gerufen und als zwei Beamte die Station absuchen, fällt einem von ihnen auf, dass Elke ihre Augen leicht bewegt.
00:55:05
Sofort stürzt er zu ihr und beginnt mit Erste-Hilfe-Maßnahmen, bis die NotärztInnen übernehmen und Elke in ein Krankenhaus bringen.
00:55:13
Noch am Abend des 28. April wird Tanja vorläufig festgenommen, untersucht und kurze Zeit später in einer forensischen Psychiatrie untergebracht.
00:55:22
Am nächsten Tag wird Haftbefehl gegen sie wegen Totschlags beantragt.
00:55:26
Zur gleichen Zeit breitet sich ein Blumenmeer vor dem rot-gelben Gebäude in Potsdam aus.
00:55:31
Die Tat schockiert weit über die Stadtgrenzen hinaus.
00:55:34
Bei einem Gottesdienst in Potsdams größter Kirche wird den Toten gedacht.
00:55:39
Vier weiße Rollstühle stehen vor dem Altar.
00:55:42
Vier Rollstühle für vier verlorene Leben.
00:55:44
Für Martina, geboren 1990, für Christian, geboren 1985, für Lucille, geboren 1978 und für Andreas, geboren 1964.
00:55:55
Im vollen Gotteshaus sitzen nicht nur Angehörige der Opfer, Mitarbeitende und BewohnerInnen des Oberlin-Hauses, sondern auch Menschen aus der Politik.
00:56:04
Unter anderem spricht der brandenburgische Ministerpräsident zur Trauergemeinde.
00:56:09
Die Tat sei auch deshalb so erschütternd, weil sie die, Zitat, schwächsten getroffen habe.
00:56:13
Menschen, die unsere Hilfe brauchen.
00:56:15
Beendet wird der Gottesdienst mit einer Schweigeminute, zu der um 19 Uhr die Glocken aller Potsdamer Kirchen läuten.
00:56:22
Die Frage, die sich nicht nur die Menschen in der Kirche stellen, ist die nach dem Warum.
00:56:27
Darauf versucht die Presse eine Antwort zu finden.
00:56:30
Mit Spekulationen.
00:56:31
Denn Informationen zur Tat und deren Umständen gibt es wenig.
00:56:35
Die ermittelnde Polizei und die Staatsanwaltschaft halten sich bedeckt.
00:56:38
Und so kommen eben andere zu Wort.
00:56:40
Pflegepersonal, geistliche oder sonstige selbsternannte ExpertInnen.
00:56:45
Ein Polizeipsychologe vermutet im RBB beispielsweise, dass das Tatmotiv, Zitat, Erlösung gewesen sein könnte.
00:56:53
Von dem Leid, das, Zitat, vielleicht sogar unheilbar war.
00:56:58
Andere sprechen von Überforderung und Überlastung in der Pflege.
00:57:01
Von Personalmangel und schlechter Bezahlung ist die Rede.
00:57:04
Menschen mit Behinderung kommen nicht zu Wort.
00:57:07
Auch über die Opfer wird nichts veröffentlicht, außer dass es sich bei ihnen um Menschen mit Behinderung handelt und die meisten von ihnen gelähmt waren.
00:57:15
Nicht mal ihre Namen kann man in dieser Zeit in der Presse lesen.
00:57:18
Sie bleiben auch nach ihrem Tod von der Gesellschaft ausgeschlossen.
00:57:23
Sechs Monate nach der Tat beginnt der Prozess vor der ersten großen Strafkammer des Potsdamer Landgerichts.
00:57:29
Im Saal 8 stehen hohe Glaswände zwischen den einzelnen Plätzen und hinter einer dieser Absperrungen sitzt Tanja.
00:57:34
Mit langen, blonden Haaren, in einer grünen Blümchenbluse und einem hellblauen Mund- und Nasenschutz.
00:57:39
Angeklagt ist die mittlerweile 52-Jährige wegen Mordes und versuchten Mordes.
00:57:45
Bei ihrer Tat sei Tanja laut Anklageschrift planvoll und heimtückisch vorgegangen.
00:57:50
Habe gewartet, bis die beiden Pflegekräfte der Spätschicht in anderen Teilen der Station beschäftigt waren,
00:57:54
sei dann in die Zimmer der BewohnerInnen geschlichen, die sich am wenigsten hätten wehren oder um Hilfe schreien können und habe diese getötet.
00:58:01
Nach der Anklageverlesung kommt Tanja zu Wort.
00:58:05
Vor ihr liegt ein zerknitterer DIN A4-Zettel, von dem sie so gut wie nie aufschaut.
00:58:10
Sie erzählt zwar nichts zur Tat, dafür aber sehr viel über ihr Leben.
00:58:14
Schon als Kind habe sie immer wieder das Gefühl gehabt, nicht normal zu sein.
00:58:18
Bereits als Fünfjährige sei da in ihr diese tiefe Traurigkeit und Angst vor dem Leben gewesen.
00:58:23
Tanja berichtet von einer schwierigen Kindheit, psychischen Erkrankungen, von ihrem behinderten Kind und dem anderen,
00:58:30
bei dem vor ein paar Jahren ein inoperabler Hirntumor gefunden wurde.
00:58:33
Die Arbeit sei in ihrem Leben der einzige Lichtblick gewesen.
00:58:37
Es habe ihr immer Spaß gemacht.
00:58:40
Nach ihrer Aussage werden eine halbe Stunde lang Fotos vom Tatort angeschaut.
00:58:45
Außerdem sprechen ZeugInnen der Tatnacht.
00:58:47
Ein Notarzt erzählt zum Beispiel, dass er seit einem halben Jahr zu seinem Selbstschutz versuche zu vergessen, was er gesehen hat.
00:58:55
Ein anderer schildert, wie viel die Opfer in ihren letzten Minuten vermutlich noch wahrgenommen haben.
00:59:01
Während Tanja bei ihrer Aussage vor Selbstmitleid strotzte, wirkt sie jetzt angesichts des Leids ihrer Opfer gleichgültig und kalt.
00:59:08
In den kommenden Prozesstagen werden noch mehr als 40 ZeugInnen gehört, darunter auch KollegInnen, Tanjas Ehemann und behandelnde ÄrztInnen.
00:59:18
Auch die Angehörigen werden in den Zeugenstand gebeten.
00:59:21
Sie erzählen von ihren Liebsten und den letzten Momenten mit ihnen.
00:59:25
Da ist zum Beispiel Manuela, die ältere Schwester von Lucille.
00:59:29
Sie berichtet von einem Besuch wenige Tage vor der Tat.
00:59:33
Wie immer hatte Manuela die Treppe in den dritten Stock genommen, weil sie gewusst hatte, was ihre Schwester dafür gegeben hätte, auch wieder Treppen laufen zu können.
00:59:41
In Lucilles Zimmer hatte sie die toten Hosen aufgelegt, denn die liebte ihre Schwester.
00:59:47
Je lauter, desto besser.
00:59:49
Auch bei diesem letzten Besuch zauberte ihr die schrille Musik ein Lächeln auf die Lippen.
00:59:54
Birgit, die Lucille zweimal in der Woche vorgelesen hat, erzählt, dass Lucille immer an den richtigen Stellen gelacht hatte und dass, als sie sie in der Anfangszeit einmal nach ihrem Sohn gefragt hatte, Lucille eine Träne, die Wange heruntergelaufen war.
01:00:07
Christians Mutter Karin, die als Nebenklägerin im Prozess dabei ist, kann auch von Tränen ihres Sohnes berichten.
01:00:15
Besonders, wenn die Töne der Musik, die er hörte, sehr tief waren.
01:00:18
Da konnte er ganz doll weinen.
01:00:20
Bei Kinderliedern hingegen war Christian immer sehr aufgeregt.
01:00:24
Wenn er Musik hörte, dann aber immer leise.
01:00:26
Christian hatte es gerne ruhig.
01:00:29
Das hieß auch, dass sich Karin, immer wenn er am Wochenende bei ihnen zu Hause eingekuschelt in seiner Decke lag, gehütet hatte, den Staubsauger zu lange anzuhaben.
01:00:36
Das mochte er gar nicht, erzählt sie.
01:00:40
Es war ein gutes, menschenwürdiges Leben, trotz aller Handicaps, fasst Karin das Leben ihres Sohnes zusammen.
01:00:46
Falco ist Martinas Onkel und der Einzige, der sie besucht hat.
01:00:50
Seine Mutter und seine Geschwister, bei denen Martina aufgewachsen war, weil ihre Mutter mit ihr überfordert war, konnten es nicht übers Herz bringen.
01:00:58
Zu schwer war es, sie dort so zu sehen.
01:01:01
Falco erzählt, dass Martina es gespürt hat, wenn er da war.
01:01:05
Dass er aber in letzter Zeit das Gefühl hatte, dass man sich zu wenig um Martina kümmert und sie zu viel im Bett lag.
01:01:10
Angelika erzählt über ihren Bruder Andreas, dass er bis zum Schluss gerne gelesen hat und dass er immer fein sein wollte.
01:01:18
Er war immer so ein Korrekter, sagt sie.
01:01:20
Sie erzählt von früher, von Urlauben, bei denen er dabei war und die er genossen hat.
01:01:25
Vor der Hirnblutung, als das alles noch ging.
01:01:29
Über Tanja können die Angehörigen nichts Schlechtes sagen.
01:01:31
Im Gegenteil haben die meisten von ihnen sie als liebevolle und kompetente Pflegerin erlebt, weshalb die Tat noch schwerer zu begreifen ist.
01:01:39
Daran, dass Tanja die Täterin ist, hat aber niemand Zweifel.
01:01:43
Verhandelt wird ihr jetzt vielmehr die Frage, ob sie schuldfähig ist oder nicht.
01:01:48
Um dies zu beantworten, wird die psychiatrische Sachverständige in den Zeugenstand gerufen.
01:01:52
Sie erzählt, dass Tanja ihr von einer Wut berichtet hat, die sie schon ihr ganzes Leben in sich trage.
01:01:58
Aber nur innerlich.
01:01:59
Diese Wut sei am 28. April nicht mehr zu bändigen gewesen.
01:02:03
So habe sie sie erst an Christian und Martina ausgelassen, in denen sie sie gewirkt hatte.
01:02:08
Als sie danach nochmal in Christians Zimmer kam und Christians durch die Spastik verzerrten Gesichtsausdruck sah,
01:02:15
kam ihr dieser in dem Moment wie ein Lachen vor.
01:02:17
So als würde er sie dafür auslachen, dass sie ihn nicht hatte töten können.
01:02:21
Das habe ihre Wut noch weiter gesteigert und dazu gebracht, das Messer zu holen.
01:02:25
Dass sich Christian seiner Tötung widersetzt hatte und noch, Zitat,
01:02:28
quietschfidel in seinem Bett lag, empfand sie als regelrechte Frechheit.
01:02:34
Nach dem Angriff auf die fünf BewohnerInnen habe Tanja das Gefühl gehabt, fertig zu sein
01:02:39
und keinen Verlangen gehabt, noch weitere Menschen zu töten.
01:02:42
Während der Tat habe Tanja, so erzählt die Sachverständige,
01:02:45
weder etwas empfunden, noch wüsste sie, wieso sie so gehandelt habe.
01:02:49
Sie habe sich wie unter einer Käseglocke gefühlt.
01:02:52
Für die Gutachterin ergebe sich durch ihre Gespräche
01:03:01
und die Unterlagen aus vorherigen Klinikaufenthalten
01:03:03
die Diagnose einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus.
01:03:07
Es falle Tanja ausgesprochen schwer, ihre Gefühle differenziert wahrzunehmen
01:03:12
und vor allem angemessen zu steuern.
01:03:14
In erheblicher Weise beeinträchtigt sei vor allem ihre Fähigkeit,
01:03:18
mit Gefühlen wie Ärger, Wut und Traurigkeit umzugehen.
01:03:22
In Belastungssituationen führe dies zu Impulsdurchbrüchen,
01:03:25
die sich in der Vergangenheit vor allem gegen sich selbst gerichtet hatten.
01:03:27
Laut der Sachverständigen sei diese Störung so weit ausgeprägt,
01:03:31
dass die schwere andere seelische Störung nach §21 des Strafgesetzbuchs vorliege
01:03:36
und damit auch die verminderte Schuldfähigkeit.
01:03:39
Sie empfiehlt die Unterbringung von Tanja im Maßregelvollzug,
01:03:42
weil sie von einer Gefährlichkeit für die Allgemeinheit ausgeht.
01:03:45
Denn Tanja habe ihr gegenüber ebenfalls Gewaltfantasien geäußert,
01:03:50
in Bezug auf das Pflegepersonal der Psychiatrie, in der sie gerade untergebracht ist.
01:03:54
Kurz vor Ende der Verhandlung hält die Staatsanwältin ihr Plädoyer.
01:03:58
Darin bezeichnet sie die Tat als abgrundtiefböse.
01:04:01
Sie fordert die Verurteilung wegen Mordes, ein lebenslanges Berufsverbot
01:04:05
und die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik.
01:04:08
Wegen der Persönlichkeitsstörung und der damit erheblich verminderten Schuldfähigkeit
01:04:12
sei aber von einer lebenslangen Freiheitsstrafe abzusehen.
01:04:16
15 Jahre ist daher ihr Vorschlag.
01:04:18
Tanjas Verteidiger fordert das Gericht hingegen auf,
01:04:21
die völlige Schuldunfähigkeit seiner Mandantin anzuerkennen.
01:04:24
Ihm zufolge habe sich Tanja während der Tat in einem Tunnel befunden
01:04:27
und überhaupt nicht steuern können.
01:04:30
Bevor das Urteil gesprochen wird, meldet sich auch Tanja noch einmal zu Wort.
01:04:33
Dabei trägt sie einen schwarzen Windbreaker, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hat.
01:04:38
Als ich zur Arbeit ging, habe ich nicht gedacht, dass ich die Kontrolle verliere.
01:04:42
Auch wenn ich hier nicht weine oder zusammenbreche, ist es so,
01:04:45
dass ich immer noch nicht glauben kann, was ich gemacht habe.
01:04:48
Es tut mir ganz doll leid.
01:04:52
Zwei Tage vor Heiligabend verkündet der Vorsitzende das Urteil.
01:04:55
Tanja wird wegen heimtückischen Mordes in vier Fällen in Tateinhand mit schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen
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sowie wegen versuchten Mordes zu 15 Jahren verurteilt.
01:05:04
Außerdem wird ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
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Das Gericht ist davon überzeugt, dass Tanja ihre Impulse nicht mehr in ausreichendem Maß kontrollieren konnte.
01:05:14
Völlig aufgehoben sei das Kontrollvermögen aber nicht gewesen.
01:05:17
Dafür spreche, dass sich Tanja noch sehr genau an ihre Tat erinnern konnte
01:05:21
und auch in der Lage war, während der Tat bewusste Entscheidungen zu treffen.
01:05:24
So holte sie, nachdem es ihr nicht gelungen war, zwei BewohnerInnen bis zum Tor zu erwürgen,
01:05:29
ein zum Töten geeignetes Werkzeug und suchte ihre Opfer gezielt danach aus,
01:05:33
bei wem sie mit keiner oder lediglich geringer Gegenwert zu rechnen hatte
01:05:36
und wo wegen der fehlenden Möglichkeit laut um Hilfe zu rufen kein großes Risiko entdeckt zu werden bestanden hatte.
01:05:43
In seiner Urteilsbegründung erklärt der Vorsitzende,
01:05:45
dass Tanja wegen ihres psychischen Zustandes dringend ärztliche Hilfe gebraucht hätte.
01:05:49
Wäre sie an dem Tag, wie es richtig gewesen wäre, zum Arzt gegangen,
01:05:53
könnten die Opfer noch leben und wären nicht auf so grausame Weise ums Leben gekommen,
01:05:58
Elke lebt noch heute in dem rot-gelben Gebäude an der Hauptstraße in Potsdam-Babelsberg.
01:06:04
In der ersten Zeit nach dem Angriff war die 31-Jährige sehr schreckhaft.
01:06:08
Weil sie über Gespräche nicht zu erreichen ist,
01:06:11
hat sie eine sehr intensive, klanggestützte Therapie gemacht.
01:06:14
Außerdem hat sie einen Therapiehund bekommen, der sich an sie kuschelt, wenn sie traurig ist.
01:06:19
In zwei Wochen, am 28. April 2022,
01:06:23
jährt sich die unglaubliche Tat, die Elke als einzige überlebt hat.
01:06:27
Anlässlich des Jahrestages ist ein Gottesdienst in der Oberlinkirche geplant,
01:06:31
an dem in besonderer Weise den vier Opfern gedacht werden soll.
01:06:35
Auch ein Ort des Gedenkens soll auf dem Gelände des Oberlinhauses geschaffen werden,
01:06:39
zusammen mit den Angehörigen.
01:06:41
Denn die Namen Lucille, Martina, Christian und Andreas sollen niemals vergessen werden.
01:06:49
Also ich kann das gar nicht glauben, dass die Tanja das vorher einer Psychologin erzählt hat,
01:06:55
dass sie diese Mordfantasien hat und da nicht eingegriffen wurde.
01:06:59
Ja, das wurde diese Frau natürlich auch befragt.
01:07:02
Die wurde auch vor Gericht geladen und hat dann da gesagt,
01:07:06
dass das immer wieder vorkommt, dass Leute Gewaltfantasien ihr gegenüber äußern,
01:07:11
dass die wenigsten diese aber auch dann tatsächlich in die Realität umsetzen.
01:07:16
Die wenigsten, was heißt das?
01:07:19
Was heißt das denn? Wie viele sind denn das?
01:07:23
Also ganz ehrlich, also Schweigepflicht in allen Ehren.
01:07:27
Aber wenn man so realistische Gewaltfantasien sogar verbalisiert jemand anderem gegenüber,
01:07:35
jemandem Fremden gegenüber und es sich bei den Menschen,
01:07:39
auf die sich das sozusagen fokussiert, um Menschen handelt, die sich nicht wehren können,
01:07:44
finde ich das tatsächlich auch sehr problematisch,
01:07:47
dass die da nicht bei dem Arbeitgeber Bescheid gesagt hat oder irgendwie eingegriffen hat.
01:07:52
Ja, und vor allem, weil sie in so einem Fall das ja machen könnte.
01:07:57
Und dann läuft die Tanja da wie so ein Zombie durch diese Einrichtung
01:08:00
und metzelt da alle ab oder was?
01:08:03
Also, nee, ernsthaft.
01:08:09
Ich meine, du musst dir das ja auch mal als Angehörige überlegen.
01:08:12
Du gibst ja immer jemanden weg, weil du denkst, die Person ist da besser aufgehoben
01:08:16
als bei dir zu Hause, weil du es vielleicht nicht leisten kannst, ne?
01:08:20
Und dann ist eine von den Leuten, die dazu ausgebildet sind,
01:08:24
begeht dann so eine Tat.
01:08:26
Und vor allem das allerbeste ist, warum?
01:08:29
Weil sie den KollegInnen nicht noch mehr Last aufbürden wollte.
01:08:34
Das ist mir ja eh immer das liebste, so möchtegern Altruistische,
01:08:38
die dann mit 43 Fiebern noch zur Arbeit gehen und sagen,
01:08:41
hab ich mich jetzt aber auch wieder zur Arbeit geschleppt und so.
01:08:44
Herzlichen Glückwunsch, Applaus dafür, das wäre für alle besser gewesen, wenn du zu Hause geblieben wärst.
01:08:49
Das ist ja auch das, was der Richter gesagt hat.
01:08:52
Das wäre das Einzige, sie kennt sich ja, ja.
01:08:55
Und die hat sich ja auch schon öfters selber, es war ja nicht so, dass andere Leute die eingewiesen haben,
01:09:00
die hat sich selber fünfmal in diese Klinik eingewiesen, ja.
01:09:04
Also, dass sie sich da nicht hat stoppen können, das, ja, das muss man eben ihr komplett zur Last legen, ja.
01:09:12
Egal, wie viel Überforderung auf dieser Station geherrscht hat.
01:09:16
Also, ich bin auch überrascht, wirklich überrascht, wie du diesen Fall jetzt erzählt hast und wie ich den damals wahrgenommen habe.
01:09:25
Weil, ich weiß das zwar nicht mehr so genau, aber ich weiß noch, ich hatte niemals so ein Bild von dieser Tat durch die Presse übermittelt bekommen.
01:09:33
Was hattest du denn da oder wie hattest du das denn mitbekommen?
01:09:36
Das weiß ich nicht mehr.
01:09:37
Ja, ich weiß nur, dass natürlich auch das, was du jetzt alles erzählt hattest, da von Überforderung und so gesprochen wurde.
01:09:44
Und man einfach nicht vor Augen hatte, dass das so ein brutaler Mord war, weil es halt auch nicht so betitelt wurde.
01:09:55
Und du wusstest ja wahrscheinlich auch fast gar nichts über die Opfer, ne?
01:10:00
Ja, weil das ist mir nämlich auch aufgefallen, also ehrlicherweise muss ich sagen, dass mir das 2021 im April gar nicht aufgefallen ist.
01:10:10
Also, das ist komplett an mir vorbeigegangen.
01:10:13
Und als ich jetzt recherchiert habe, ist mir dann auch aufgefallen, warum das wahrscheinlich so war.
01:10:18
Und zwar, weil es so gut wie gar nichts gab in der Presse dazu, dafür, dass das halt so eine brutale Tat war.
01:10:24
Und wenn dann doch berichtet wurde, dann leider oft ableistisch.
01:10:28
Weil der Fall damit aber beispielhaft für den Umgang mit behinderten Menschen in der Berichterstattung steht, handelt mein Aha jetzt von Ableismus in der Presse.
01:10:39
Und der fängt schon damit an, dass Menschen mit Schwerstbehinderung, dafür, dass sie circa 10 Prozent unserer Gesellschaft ausmachen, so gut wie gar nicht in den Medien vorkommen.
01:10:48
Eine Studie der Uni Rostock hat zum Beispiel ergeben, dass nur 0,4 Prozent der ProtagonistInnen, die im Fernsehen zu sehen sind, eine sichtbare Behinderung haben.
01:10:56
Auch in Straßenumfragen, das wissen wir ja selbst aus unserer Arbeit als Reporterin, werden Betroffene nicht gefragt, obwohl sie unsere Gesellschaft ja genauso repräsentieren.
01:11:08
Und wenn dann eben doch berichtet wird, dann steht in der Regel entweder das Leid im Vordergrund, das ihnen von außen zugeschrieben wird, oder das Leben, das sie, Zitat, trotz ihrer Behinderung meistern.
01:11:21
Lilian Masur, Autorin und Leiterin der SozialheldInnen Akademie in Berlin, bringt die Berichterstattung auf den Punkt.
01:11:28
Sie sagt nämlich, Medienschaffende berichten selten auf Augenhöhe über Menschen mit Behinderung, etikettieren sie als Opfer oder als Helden.
01:11:36
Dies sind typische Stilmittel von Massenmedien, um Schicksale von 10 Prozent der deutschen Bevölkerung zu inszenieren.
01:11:43
Und bei diesen Inszenierungen bedient man sich auch oft komplett falschen Vokabeln.
01:11:48
Da sind Betroffene nämlich, Zitat, an den Rollstuhl gefesselt.
01:11:53
Es handelt sich um, Zitat, Schützlinge oder eben, wie in meinem Fall, die Schwächsten der Gesellschaft.
01:11:59
Ja, oder Pflegelinge noch, wie in meinem Fall.
01:12:02
Oder wurden die nicht auch in deinem Fall, also damals als Idioten bezeichnet?
01:12:09
Aber Pflegelinge hatte man ja sogar in den Anstalten selbst gesagt.
01:12:13
Weißt du, also das kam ja nicht mal nur von den Nazis.
01:12:17
Ja, und vielleicht an dieser Stelle mal kurz, weil ich in meinem Fall ja von KlientInnen gesprochen habe und diese Bezeichnung unserem Redakteur irgendwie so ein bisschen komisch vorkam.
01:12:29
Nochmal kurz, warum man da KlientInnen sagt, ist, weil es eben keine PatientInnen sind.
01:12:34
Diese Menschen sind nicht krank, was leider auch ganz oft in der Presse falsch dargestellt wird, weil Behindertsein nämlich oft mit Kranksein entweder verglichen wird oder sogar synonym gesetzt wird.
01:12:45
Und man sagt auch nicht Pflegebedürftigen, weil das die Menschen eben dann auf diese Pflegebedürftigkeit reduziert, sondern man sagt KlientInnen, weil es sich bei der Pflege um sie oder bei der Assistenz eben um eine Dienstleistung handelt.
01:12:58
Und es deswegen die KlientInnen sind.
01:13:00
Ja, eben. Und die werden halt auch nicht behandelt von den Leuten, also von den AssistentInnen.
01:13:07
Eine meiner besten Freundinnen, die macht das ja.
01:13:10
Die hat eine Klientin, um die sie sich im Speziellen kümmert.
01:13:14
Und meine Freundin hat mich ehrlicherweise auch auf viele Dinge so aufmerksam gemacht, die ich natürlich vorher auch gar nicht wusste.
01:13:21
Also bei uns aus dem Dorf, da hat man halt früher auch immer behindert gesagt.
01:13:28
Ich habe heute natürlich auch noch Freundinnen, die das so sagen, wo ich jetzt schon immer selber zusammenzucke.
01:13:35
Oder dass man halt nicht Handicap sagt, weil man sich nicht vergleicht oder weil man die Leute nicht in dieses Stadium der Schwäche setzen soll, weil sie gehandicapt sind oder so.
01:13:47
Und das alleine sind nur so sprachliche Sachen.
01:13:50
Ich wusste auch nicht, dass auf Gehwegen, dass es da so eine Markierung gibt, die halt für Menschen mit einer Sehbehinderung sind, damit sie sich orientieren können, wo der Bordstein abflacht oder so.
01:14:02
Ja, das wusste ich nicht, bis ich mich mal mit meinem Auto aus Versehen dahingestellt habe und ein Polizist mir das erklärt hat.
01:14:07
Also und dann denke ich manchmal, wie sehr kann man eigentlich die Augen verschließen vor Dingen, die es Menschen mit einer Behinderung ein bisschen einfacher machen sollen, sich ganz normal eingliedern zu können und damit sie nicht behindert werden von der Außenwelt.
01:14:24
Und ich glaube, das ist ja wie mit allen Dingen, dass Sprache alleine da einen großen Beitrag zu schaffen könnte, dass man mehr aware ist.
01:14:33
Ja, ja, genau, dass man mehr aware ist, aber dass man auch mehr Berührungspunkte schafft sozusagen.
01:14:40
Weil dadurch, dass man ganz oft in den Medien nur über die Betroffenen redet, aber nicht mit ihnen spricht, macht man sie ja zu sozusagen anderen und baut irgendwie so eine unsichtbare Mauer zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen auf.
01:14:55
Was wir hier bisher auch gemacht haben, bei uns kommen aber gleich noch Leute zu Wort.
01:15:01
Ja, sogar jetzt sehr gleich schon.
01:15:03
Aber besonders problematisch wird es halt bei der Berichterstattung, wenn es wie in meinem Fall zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt, weil da gab es ja diesen Polizeipsychologen, der beim RBB kurz nach der Tat ernsthaft spekuliert hat, dass das Motiv auch Erlösen gewesen sein könnte.
01:15:21
Also da kriegt man doch ganz eklige Erinnerungen an das, was in meinem Fall passiert ist, oder nicht?
01:15:26
Genau, und das impliziert, dass ein Leben mit Behinderung eben nicht lebenswert sei und man davon erlöst werden sollte.
01:15:34
Alexander Ahrens von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, der selbst mal im Oberlin-Haus gewohnt hat, hat uns erzählt, was ihn an der Berichterstattung zu meinem Fall besonders gestört hat.
01:15:46
Eigentlich wollte man eigentlich nur wissen, was hat sozusagen die Täterin dazu getrieben, diese Menschen umzubringen.
01:15:54
Und da sozusagen kam genau das sozusagen, was halt ganz tief noch verwurzelt ist, diese ganze Denke aus der NS-Zeit, die schwingt da einfach mit, ganz schlimm.
01:16:03
Und natürlich, man hat auch gesehen, muss man auch mal sagen, wie der RBB, der Rundfunk Berlin-Brandenburg an dem Abend agiert hat.
01:16:11
Ich meine, die haben nach einer Sondersendung, wo vier Menschen getötet worden sind und ein Mensch mega schwer verletzt worden ist, ziemlich beste Freunde gezeigt.
01:16:20
Das heißt, wo ein privilegierter, reicher, weißer Mensch im Rollstuhl sozusagen so viel Geld hat, um seine eigene Pflege so zu organisieren, wie er es halt gerne möchte.
01:16:32
Also eine Komödie.
01:16:34
Und wenn man so wenig Sensibilität an den Tag legt, da frage ich mich auch, welche journalistischen Werte da an den Tag gelegt worden sind.
01:16:42
Und man hat auch eigentlich nur aus der Täterperspektive gesprochen.
01:16:45
Es ging halt wirklich anfangs nur um die PflegerInnen und ihre Arbeit, also auch an das, was du dich halt erinnert hast.
01:16:51
Und zum Beispiel sprach der Oberbürgermeister auch von einer, Zitat, aufopferungsvollen Pflege, die da betrieben wurde, wo man sich ja auch schon wieder an den Kopf fassen muss bei dieser Wortwahl, weil es ja auch dann impliziert, dass die PflegerInnen Opfer bringen würden.
01:17:06
Das ist ihr fucking Job.
01:17:08
Ja, genau. Wie gesagt, es handelt sich um eine Dienstleistung und nicht um eine Mission Impossible, wie es laut dem Aktivisten Raoul Krauthausen leider immer wieder dargestellt wird.
01:17:20
Was da in meinem Fall auch ja mitgeschwungen ist, ist Victim Blaming, weil es quasi so dargestellt wurde, dass Tanja überfordert war, weil die Opfer so hilfsbedürftig waren und so viel Aufmerksamkeit brauchten.
01:17:34
Und sie meinte ja selber, dass wenn sie jetzt diese fünf, die eben besonders pflegebedürftig waren, tötet, dass es sie dann entlastet.
01:17:43
Ja, und dann kann sie auch noch ihr Haus abbezahlen.
01:17:47
Eigentlich sollte ja klar sein, dass so nicht berichtet werden darf. Und es ist auch festgeschrieben, nach Artikel 8 Absatz 2 der UN-Behindertenrechtskonvention sind alle Medienorgane eigentlich dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung so darzustellen, dass ihre Würde geachtet, Vorurteile bekämpft und Fähigkeiten betont werden.
01:18:07
Damit sich mehr Leute daran halten, bietet Lilian Masur in Berlin Workshops zum Thema Disability Mainstreaming und barrierefreie Medienarbeit an.
01:18:15
Und um den Ableismus in der Presse aber an der Wurzel zu bekämpfen, sollten Redaktionen auch Menschen mit Behinderung als selbstverständliche InterviewpartnerInnen einbeziehen und ihnen auch generell den Zugang zum Journalismus leichter machen,
01:18:29
Weil wir viel zu wenig Menschen mit Behinderung überhaupt in den Redaktionen sitzen haben.
01:18:34
Weil am Ende sind es ja die Medien, die auch irgendwie zeigen, wie die Welt ist.
01:18:39
Und deshalb haben wir auch, wir als Medienschaffende und alle anderen, eine klare Verantwortung darüber aufzuklären, wie die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung tatsächlich aussieht.
01:18:51
Genau, und wir machen das ja auch jetzt hier heute nicht nur, weil das gesellschaftlich wichtig ist, darauf aufmerksam zu machen, wie wir mit Menschen mit Behinderung umgehen,
01:18:59
sondern auch, weil sie tatsächlich, sag ich jetzt mal, so eine bevorzugte Opfergruppe sind.
01:19:05
Weil Menschen mit Behinderung werden nämlich zwei- bis viermal häufiger Opfer von Gewalt und darunter sexueller Missbrauch und halt auch andere Übergriffe jeglicher Art.
01:19:13
In Deutschland leben übrigens knapp neun Millionen, die als schwerbehindert gelten.
01:19:18
Und die werden wahrscheinlich in ihrem Leben mal Opfer von Gewalt sein, sagt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, in einem Interview mit SWR 2 Wissen.
01:19:29
Und das sei auch durch Studien nachgewiesen.
01:19:31
Mindestens doppelt so groß sei das Risiko, als Frau mit Behinderung Gewalt zu erleben, als ohne Behinderung.
01:19:37
Aber auch bei Männern sei das ähnlich, dazu gibt es allerdings wenig Studien.
01:19:41
Und deswegen hat sich Deutschland ja auch dazu verpflichtet, Maßnahmen in die Wege zu leiten, um diese Menschen gegen jede Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu schützen.
01:19:49
Das ist natürlich auch deswegen besonders wichtig, weil Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen es halt nochmal schwerer haben,
01:19:57
sich selbst aus solchen Gewaltsituationen befreien zu können, weil sie vielleicht körperlich oder geistig nicht dazu in der Lage sind.
01:20:03
Und die TäterInnen eben auch oft KollegInnen sind oder Familienmitglieder oder eben BetreuerInnen.
01:20:10
Ja, so wie eben im Fall von Tanja, der tatsächlich kein Einzelfall war, auch wenn man über Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung nur selten was hört.
01:20:18
Aber auch nach der Tat ist kein Mensch auf die Idee gekommen, dieses Thema mal als strukturelles Problem aufzugreifen
01:20:26
oder generell mal über das Leben in solchen Einrichtungen zu berichten.
01:20:30
Dabei sind diese Heime, Zitat, totale Institutionen, wie Raoul Krauthausen sagt, und als solche besonders anfällig für Gewalt.
01:20:39
Das wissen wir von anderen geschlossenen Institutionen wie eben der Kirche oder auch von Internaten.
01:20:44
Auch unser Experte Alexander Ahrens sieht das Problem in der Abschottung der Menschen.
01:20:50
Schon seitdem es diese Einrichtungen gibt, dass es einfach Fälle von Gewalt gibt, in welcher Form auch immer.
01:20:55
Und sie definitiv nicht weniger werden.
01:20:58
Nur eben, dass sie sozusagen, dass sie schon immer da waren.
01:21:02
Einfach weil sozusagen das Machtverhältnis in diesen Einrichtungen, wir reden jetzt von Wohneinrichtungen für behinderte Menschen.
01:21:08
Wir reden von geschlossenen psychiatrischen Einrichtungen, von diesen ganzen Wohnheimen sozusagen, von über 300.000 Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten.
01:21:17
Das sind geschlossene Systeme, geschlossene Dörfer in sich, die sozusagen komplett abgeschottet sind von der Außenwelt.
01:21:26
So auch wie zum Beispiel die Mordfälle im Oberlinhaus.
01:21:30
Das Oberlinhaus ist ein hermetisch abgeriegeltes Konstrukt, wo von außen in der Regel nur Mitarbeitende reingehen.
01:21:38
Und die Leute, die dort drinnen sind, also das ist ja sozusagen so eine All-Inclusive-Veranstaltung.
01:21:43
Da kommen sie als Kind hin im Kindergarten, sind dort in der Schule, machen dort eine Ausbildung und können auch noch gleich noch in so einem Wohnheim da wohnen.
01:21:51
Und wenn sie da sozusagen, und da kommen sie auch nicht raus.
01:21:53
Und die Menschen kommen da auch sozusagen auch nicht alleine raus.
01:21:56
Wenn, dann geht man mal vielleicht in einer Gruppe raus und geht ein Eis essen oder so.
01:22:00
Aber deswegen sozusagen, das ist wie so eine eigene Enklave.
01:22:03
Das ist so wie der Vatikan in Rom.
01:22:04
Nur eben, dass da wenigstens Touristen hinkommen.
01:22:07
Bei dem Oberlinhaus ist es auch so, dass darunter ganz viele Einrichtungen fallen.
01:22:12
Also quasi vom Kindergarten über Schule bis zum Wohnheim.
01:22:15
Das ist dann alles innerhalb von, keine Ahnung, in so einem großen Gebäudekomplex in einem Umkreis von einem Quadratkilometer oder so.
01:22:25
Das heißt, manche verbringen da ihr ganzes Leben in diesem Gebäudekomplex.
01:22:29
Das Problem ist laut Ahrens, dass wenn dann etwas passiert und irgendwie zum Beispiel Gewalt an der Tagesordnung steht, dass das gar nicht nach draußen dringt.
01:22:39
Weil die Betroffenen erstens oft nicht wissen, was Gewalt ist, weil die das vielleicht als Normalität kennenlernen und das zweitens auch oft nicht nach außen kommunizieren können.
01:22:49
Und wenn nicht darauf aufmerksam gemacht wird, ändert sich ja auch in der Regel nichts.
01:22:54
Ahrens und viele andere Betroffene sind daher dafür, solche Institutionen abzuschaffen.
01:22:58
Nicht nur wegen der Anfälligkeit für Gewalt, sondern auch, weil solche Einrichtungen chronisch unterbesetzt sind und es zu wenig Freizeitgestaltung gibt.
01:23:08
Und weil, wie Ahrens auch sagt, solche Einrichtungen auch von der restlichen Gesellschaft einfach ausgeschlossen werden.
01:23:13
Und deswegen gibt es natürlich dann auch keine Inklusion für die Leute, die darin leben.
01:23:18
Und dadurch bleibt es den Leuten eben auch verwehrt, so am Leben teilzunehmen, wie andere es tun.
01:23:23
Das empfindet auch unser Experte so.
01:23:25
Das Problem ist ja, dass wir seit Jahrzehnten in Sonderwelten leben.
01:23:30
Also die meisten Menschen mit Behinderung sind immer in irgendwelchen Einrichtungen.
01:23:34
Also es fängt an mit einem Sonderkindergarten, dann ist es die Förderschule.
01:23:38
Nach der Förderschule oft ist es dann das Berufsbildungswerk oder wenn man dann keinen Job findet,
01:23:45
dass man dann sogar in einer Werkstatt für behinderte Menschen landet.
01:23:48
Und dadurch sind wir sozusagen in dieser Gesellschaft sehr wenig sichtbar.
01:23:53
Und dadurch sind die meisten Menschen noch nie Kontakt mit einem Menschen mit Behinderung hatten.
01:23:58
Wenn das anders wäre, dann würden vielleicht auch Situationen nicht entstehen,
01:24:04
wie ich sie einmal erlebt habe.
01:24:05
Eine furchtbare Szene, die sich in meinen Kopf eingebrannt hat.
01:24:09
Und ich verachte mich selbst dafür, dass ich in diesem Moment nichts gesagt habe.
01:24:12
Also ich mache das schon selber.
01:24:13
Also ich stehe damals im Supermarkt an der Kasse und vor mir war noch eine andere Frau.
01:24:17
Und plötzlich macht die Kassiererin so,
01:24:19
Hä? Oh mein Gott!
01:24:24
Wie haben Sie das denn gemacht?
01:24:25
Und dann habe ich erst gesehen, also habe ich so geguckt und die Kassiererin guckte so völlig entsetzt auf die Frau vor mir.
01:24:32
Und dann habe ich erst gesehen, dass die halt eine Fehlbildung an den Armen hatte.
01:24:36
Also die waren halt stark verkürzt und die Dame hatte auch keine zehn Finger.
01:24:40
Und die Frau war dann selber total perplex von dieser Reaktion von dieser Kassiererin und meinte so, ja, das ist schon immer so.
01:24:49
Und dann meinte die Kassiererin so, nein, ist es nicht bei einem Unfall passiert oder so?
01:24:54
Also so, so, hat auch noch gesagt, die Arme und so, ne?
01:24:59
Ja, also ich hätte natürlich der Kassiererin sagen sollen, dass sie ihre Schnauze halten soll, weil es der Frau damit ja auch offenbar nicht gut ging.
01:25:10
Und sie offenbar ja selber dann in dem Moment nicht die Kraft hatte, was dagegen zu sagen oder die Kassiererin auf ihre Reaktion dahin zu weisen, die völlig fehl am Platz war.
01:25:21
Aber wenn eben Menschen mit Behinderung integriert werden würden und es eine Inklusion geben würde, wie es sie geben sollte, dann würde es auch nicht solche Schockmomente geben, wenn dann Menschen wie diese Kassiererin mal jemanden sehen, der nicht so geformt ist wie sie. Weißt du?
01:25:41
Ja, es ist ja wirklich schon, es fängt ja schon damit an, dass in der Grundschule oder in der Schule an sich nicht inkludiert wird, dass man schon als Kind gar keinen Kontakt hat oder in der Regel nicht viel Kontakt hat mit Menschen mit Behinderung, wenn man sie nicht im Bekanntenkreis oder im Familienkreis hat und deswegen so eine komische, unsichtbare Mauer eben aufgebaut werden kann mit Vorurteilen, was eben auch durch die Presse passiert, durch die Medien passiert.
01:26:10
Und am Ende kann sich das nur ändern, wenn man eben nicht diese Institutionen hat, wo man Menschen mit Behinderung einfach sozusagen abgibt, schon als kleine Kinder, die dann bis zum Lebensende quasi in diesen geschlossenen Institutionen sind und man nicht ein gemeinsames Leben irgendwie hinkriegt, auch wenn das ganz teuer ist und man sich ja ganz viele Maßnahmen ergreifen muss.
01:26:33
Aber ohne die Anstrengung, da sehe ich dann auch eben keine großen Veränderungen in Zukunft.
01:26:39
Ja, voll. Also bei mir ist es so, ich habe halt in der Familie zwei Personen, mit denen ich aufgewachsen bin. Die eine sitzt im Rollstuhl, die andere Person auch und hat dazu noch eine geistige Behinderung.
01:26:49
Deswegen hatte ich jetzt nie so Berührungsängste. Ich weiß aber, dass ich sie genauso hätte, also zumindest als Kind, weil das passiert ja tatsächlich öfter, dass Kinder dann perplex sind oder nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen oder so.
01:27:04
Aber ich denke mir auch, ich bin ja jetzt auch schon eine Weile im Arbeitsleben und ich finde es auch einfach krass, dass ich bisher maximal mit einer Person, die im Rollstuhl gesessen hat, zusammengearbeitet habe. Weißt du? Und sonst halt nicht.
01:27:19
Und das kann ja eigentlich gar nicht sein, wenn Menschen mit Behinderung wirklich überall so vertreten wären, wie sie es eigentlich sollten.
01:27:26
Ja, und dabei ist diese UN-Behindertenrechtskonvention schon sehr, sehr viele Jahre alt. Und im Zusammenhang mit den Medien und dem Ebleismus in der Presse habe ich eben auch gelesen, dass der Deutsche Journalistenverband alle Redaktionen dazu aufruft, barrierefreier zu sein und die Hürden halt abzubauen, damit Menschen mit Behinderung da eben auch ganz normal arbeiten können.
01:27:52
Und da wird aber dann zum Beispiel von Arbeitgebern gesagt, ja, dass VolontärInnen bei ihnen aber flexibel sein müssen, wenn dann jetzt auf einmal ein Unfall passiert, dass sie dann schnell hinfahren und so weiter und dass das deswegen halt schwierig ist.
01:28:08
Ja, dann fahren halt die dahin, die das können.
01:28:11
Und dann gibt man denen, die das nicht können, halt eine andere Aufgabe.
01:28:14
Ja, also, naja, so oder so, das war jetzt eine heftige Folge für uns zur Vorbereitung.
01:28:22
Das ist so, wir haben uns wie bei allen Themen, wo es um Diskriminierung geht, wirklich Mühe gegeben, hier jetzt die richtige Wortwahl zu benutzen, wenn wir selber reden.
01:28:31
Wie gesagt, manchmal habe ich Ausdrücke aus der Zeit damals benutzt, wenn jemand anderes gerade gesprochen hat oder was kommuniziert wurde oder so.
01:28:41
Aber natürlich ist es wichtig, dass sich hier niemand von uns diskriminiert wird oder so.
01:28:45
Das wird uns aber ehrlicherweise nicht immer gelungen sein, weil was wir auch mitbekommen haben, deutlich mitbekommen haben, ist, dass es die richtige Wortwahl bei vielen Dingen halt nicht gibt und sich Betroffene untereinander da ja auch manchmal nicht einig sind.
01:29:01
Also, das ist ja auch normal und okay.
01:29:04
Aber es ist halt oft so, dass eine Seite der Betroffenen sagt, das ist jetzt für mich das richtige Wort und die andere Seite sagt, aber dadurch fühle ich mich jetzt aber stigmatisiert oder so.
01:29:13
Zum Beispiel, also man kann so oder so nicht immer allen gerecht werden.
01:29:17
Ich will nur einmal ein Beispiel nennen, was für mich auch so ein bisschen problematisch ist.
01:29:22
Ich hatte die Woche ein Interview mit jemandem, der in der nächsten Folge eine Rolle spielen wird.
01:29:27
Und diese Person hat eine Behinderung und zwar hat sie als Kleinkind durch einen Unfall ihren rechten Fuß verloren.
01:29:33
Und seitdem hat sie eine Prothese, was sie ja mobil macht, also fast so mobil vielleicht wie vorher.
01:29:40
Und wenn sie jetzt öffentlich sagt, dass sie behindert ist oder dass sie behindert wird, was auch immer, dann kriegt sie manchmal ein Feedback, das könne oder dürfe sie gar nicht sagen, weil sie ja nicht so sehr behindert ist, wie jemand, der im Rollstuhl sitzt zum Beispiel.
01:29:58
Sie sei also nicht behindert genug.
01:30:01
Also nicht behindert genug, um selbst entscheiden zu dürfen, wie sie das für sich artikuliert.
01:30:07
Also das finde ich echt nicht in Ordnung, ja.
01:30:10
Ich finde es sowieso, manchmal habe ich das Gefühl, dass die Debatte ein bisschen so manchmal auch von Leuten geführt wird, die gar nicht selbst betroffen sind und dann Betroffenen am besten noch erzählen wollen, wie sie das dann am besten zu artikulieren haben.
01:30:26
Und ich finde, da muss man aufpassen, dass eben wieder nicht, nicht wieder Debatten über Köpfe hinweg geführt werden, sondern dass wir den Menschen, die selbst betroffen sind, zuhören und denen auch natürlich zugestehen, selber so mit ihren Behinderungen umzugehen, wie die das auch möchten und die auch so benennen, wie die das möchten.
01:30:44
Genau, aber da jetzt wieder das Problem, es gibt ja nicht so, wie die das möchten, weil sie sich untereinander betroffen sind.
01:30:51
Und sie selber meine ich jetzt, achso, ich meinte jetzt die individuelle Person, ja.
01:30:55
Genau, aber das Problem ist eben auch, dass sich manchmal Betroffene untereinander angehen und ich finde, das ist okay, wenn man Kritik äußert oder sich angegriffen fühlt oder stigmatisiert wird, dann möchte ich natürlich auch, dass man uns das sagt.
01:31:11
Die Frage ist ja immer nur manchmal, wie. Und wichtig finde ich auch, dass man nicht irgendwann am Thema vorbei redet. Also wir haben die Erfahrung mit FeministInnen gemacht, die uns wegen einer Folge, wo wir Gewalt gegen Männer thematisiert haben, einen Vorwurf gemacht haben, wo man sich denkt, wir sind nicht deine Feinde.
01:31:33
Also es gibt ganz viele andere Medien auf der Welt, mit denen du dich beschäftigen kannst. Du musst uns jetzt nicht die Energie rauben und auch die Lust, dieses Thema weiter zu behandeln, weil du dich jetzt angegriffen fühlst, dass wir auch auf andere Sachen aufmerksam machen.
01:31:47
Also ich wollte nur mal sagen, wir geben uns hier Mühe. Wir werden nicht immer den perfekten Ton für jeden treffen. Wenn ihr was zu kritisieren habt, gerne dürft ihr immer machen. In einem ordentlichen Ton sind wir dafür immer offen. Liebe geht raus.